Buch
DI Logan McRae hat keinen leichten Stand in seinem neuen Job als interner Ermittler bei der schottischen Polizei. Und es wird nicht leichter, als die Leiche eines alten Bekannten in einem Autowrack gefunden wird. Das Problem: Der Tote, DI Duncan Bell, wurde bereits vor zwei Jahren mit allen polizeilichen Ehren begraben. Damit nicht genug, in Bells letztem Fall ging es um einen vermissten dreijährigen Jungen. Und wieder verschwinden Kinder in Aberdeen. McRae muss in den eigenen Reihen ermitteln, um die Verbindung herzustellen und weiteres Blutvergießen zu verhindern. Doch auf sich allein gestellt, geht er ein tödliches Risiko ein.
Weitere Informationen zu Stuart MacBride sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.
Stuart MacBride
Totengedenken
Der elfte Fall für Logan McRae
Thriller
Aus dem Englischen
von Andreas Jäger
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel
»Bloor Road«
bei HarperCollinsPublishers, London.
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Deutsche Erstausgabe Oktober 2020
Copyright © der Originalausgabe
2018 by Stuart MacBride
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagfoto: Elena Brasili/EyeEm/Getty Images
Redaktion: Eva Wagner
AB ∙ Herstellung: kw
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-23779-0
V003
www.goldmann-verlag.de
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In liebevoller Erinnerung an Peggy Reid – Katzenfreundin, Blumen-Arrangeurin und Schöpferin der besten Käsestangen der Menschheitsgeschichte.
1937–2017
Duncan schlug die Augen auf, packte das Steuer und riss den Wagen vom Straßenrand weg. Der regenglatte Asphalt glitzerte im Scheinwerferlicht, das über Trockenmauern und hohle Bäume hinwegstrich.
Nicht einschlafen.
Nicht ohnmächtig werden.
AM LEBEN BLEIBEN!
Madre de Dios, tat das weh … Feuer und Eis tobten tief drinnen in seinem Bauch, Hitze und Kälte frästen sich durch seine Wirbelsäule, quetschten seinen Brustkorb zusammen, jeder Atemzug ein reißender Schmerz wie Stacheldraht in wundem Fleisch.
Die Wischerblätter kratzten quietschend über die Scheibe, im Takt mit dem Pochen in seinen Ohren, während das Gebläse ihm kalte Luft ins Gesicht röhrte.
Er schaltete das Radio ein und drehte es laut, um das Getöse zu übertönen.
Eine schmalzige Stimme dröhnte aus den Boxen: »… dauert die Suche nach der dreijährigen Ellie Morton an. Sie hören Late Night Smoothness auf Radio Garioch und lassen sich von uns die frühen Morgenstunden an diesem trüben Freitag verkürzen …«
Duncan blinzelte, fletschte die Zähne – und stieß zischend die Luft aus, als der Wagen wieder zur Seite driftete. Knapp vor dem Randstreifen riss er das Steuer herum, wischte sich mit einer Hand den kalten Schweiß von der Stirn.
»Um vier ist dann Sally an der Reihe mit ihrer »O.M.G. It’s Early!«-Show, aber jetzt wollen wir es erst mal ganz gemächlich angehen lassen mit David Thaw und ›Stones‹.«
Seine linke Hand glänzte feucht – dunkel und klebrig.
Er ballte sie wieder zur Faust und presste sie auf den brennenden Schmerz in seiner Seite. Bohrte sie in den feuchten Stoff. Blut troff von seinen Fingern, als ihm die Augen wieder zufielen …
Teresa überquert den Stadtplatz, der Wind spielt mit ihren braunen Haaren. In ihren Armen blickt der kleine Marco zu ihr auf, himmelt sie an wie die Göttin, die sie tatsächlich ist. Der Himmel ist blau wie eine Schottlandfahne, die Kirche golden in der Sommersonne.
Duncan legt ihr den Arm um die Schultern und zieht sie zu sich, um sie zu küssen – warm und rauchig vom estofado de pollo ihrer Mutter.
Sie legt ihm zärtlich die Hand auf die Wange und lächelt ihn an. »Te quiero mucho, Carlos.«
Er strahlt zurück. »Te quiero mucho, Teresa!« Und es stimmt. Er liebt sie mit jeder pulsierenden Faser seines Herzens.
Das Auto brach nach rechts aus, schoss auf die Trockenmauer zu.
Duncan riss es zurück, packte das Lenkrad fester mit der rechten Hand und atmete zischend aus, Stacheldraht in seiner Lunge. Er schüttelte den Kopf. Blinzelte wieder …
Ein feiner Sprühnebel driftete aus dem lehmfarbenen Himmel herab. Er lag wie ein feuchter Deckel über einem tristen grauen Feld am Fuß eines tristen grauen Hügels. Die aufgehende Sonne schob sich dazwischen und tauchte eine halb nackte Eiche in Feuer und Blut.
Durchaus passend.
Ein brauner Ford Focus hatte sich um den Stamm des Baums gewickelt, die Motorhaube war zerdrückt, die Windschutzscheibe ein Spinnennetz von Rissen. Eine Gestalt saß zusammengesackt auf dem Fahrersitz. Reglos und bleich.
Das Absperrband zuckte und surrte im Wind, gelb-schwarz wie eine wütende Wespe, während eine Handvoll Kriminaltechniker in voller Tatortmontur um das Wrack herumstaksten. Blitzlichter flammten auf, Fingerabdruckpulver wirbelte durch die Luft, es roch nach Diesel und verrottendem Laub.
Logan zupfte die Kapuze seines Schutzanzugs zurecht. Das weiße Tyvek-Material raschelte wie Zeitungspapier, als er mit den quietschigen Nitrilhandschuhen den Reißverschluss hochzog. Er reckte das Kinn, um sich nicht die Haut am Hals einzuzwicken. »Mir ist immer noch nicht klar, was ich hier soll, Doreen.«
Detective Sergeant Taylor schlängelte sich mit der ganzen Grazie einer molligen Tante, die bei der Hochzeit ihrer Nichte das Tanzbein schwingt, in ihren Tyvek-Anzug. Die Kapuze verbarg ihre ergrauende Bobfrisur, den Rest verhüllte ein Outfit, das man bestenfalls als »Strickjacken-Chic« charakterisieren mochte. Wenn man gnädig gestimmt war. Sie wies auf den zerknautschten Ford. »Das wirst du gleich sehen.«
Typisch – reizte es aus bis zum Gehtnichtmehr.
Sie setzten ihre Schutzmasken auf, dann ging sie voran, den Hang hinunter zur Absperrung. Sie hielt das Band hoch, damit er darunter durchschlüpfen konnte. Er schlüpfte.
»Ich meine nur, weil Verkehrsunfälle doch normalerweise kein Fall für die Interne Ermittlung sind.«
Sie drehte sich um und wies hinauf zur Straße. »Der Postbote war auf dem Weg zur Arbeit und hat die Bremsspuren gesehen. Er schaut den Hang hinunter, sieht den verunglückten Wagen und ruft die Polizei an.«
Eine doppelte Reifenspur zog sich in wilden Schlangenlinien durch das vergilbte Gras bis zu den Überresten des Ford Focus. Wie der Fahrer es geschafft hatte, einen Überschlag zu vermeiden, blieb sein Geheimnis.
»Weißt du, wir sind nämlich eher zuständig für die Untersuchung von Beschwerden gegen Polizeibeamte, die sich danebenbenommen haben.«
»Die Kollegen vom Verkehr treffen um sechs Uhr fünfzehn ein, stapfen den Hang hinunter und finden unseren Fahrer hier.«
Logan spähte durch das Beifahrerfenster.
Der Mann hinter dem Steuer war gebaut wie ein Bär. Er war nach vorne in den Gurt gefallen, sein kahler Schädel glänzte matt im Schein der ersten Sonnenstrahlen. Das breite Gesicht erschlafft und blass, trotz der ausgeprägten Sonnenbräune. Die Augen offen, der Mund wie ein Einschussloch im wuchernden Dickicht seines Vollbarts. Eindeutig tot.
»Ich kapier’s immer noch nicht, Doreen.«
Sie winkte ihn auf die andere Seite. »Klar, es sieht aus wie ein Unfalltod, aber dann machen sie die Fahrertür auf, und was finden sie da?«
Logan ging um den Wagen herum zur offenen Fahrertür … und hielt inne.
Blut. Es bildete eine Lache im Fußraum, zog sich in dunkelroten Bahnen über die Polster. Logan verfolgte seine Spur zurück zu einem klaffenden Loch im Hemd des Fahrers. Dunkel, beinahe schwarz innen drin.
»Autsch …« Logan zog die Luft durch die Zähne ein. »Stichwunde?«
»Wahrscheinlich. Also, die Kollegen melden den Fall, und wir eilen alle herbei wie brave kleine Soldaten. Leiche wurde schon durchsucht: keine Papiere.«
»Ruft bei der Autovermietung an. Die hätten ihm den Wagen nicht gegeben, ohne dass er sich ausweist.«
Sie wandte sich um und starrte ihn an. »Ja, vielen Dank auch, Mr Superhirn – da sind wir schon von selbst draufgekommen. Der Wagen wurde von einem gewissen Carlos Guerrero y Prieto gemietet.«
»Na bitte: Geheimnis gelüftet.« Logan stemmte die Hände in die Hüften. »Also, jetzt lass endlich die Katze aus dem Sack, Doreen: Warum – bin – ich – hier?«
Kleine Fältchen erschienen in ihren Augenwinkeln. Sie grinste ihn hinter ihrer Maske an. Zögerte es absichtlich hinaus.
»Im Ernst, ich dreh mich um und geh, wenn …«
»Während wir darauf gewartet haben, dass die bei der Trans-Buchan-Autovermietung endlich in die Gänge kommen und aufhören, sich wegen Datenschutz querzustellen, hatte irgendwer die geniale Idee, die Fingerabdrücke des Verstorbenen mit einem dieser kleinen tragbaren Scanner abzunehmen. Und siehe da, die Datenbank spuckt einen Treffer aus. Dramatische Pause …«
Die einzigen Geräusche waren das Klacken und Sirren des Tatort-Fotoapparats, während sie ihn ansah und mit den Augenbrauen wackelte.
»Warst du immer schon so nervig? Ich kann mich nämlich nicht erinnern, dass du früher so nervig warst.«
Sie rollte mit den Augen. »Wundert mich, dass du ihn nicht erkennst. Gut, er hat ein bisschen abgenommen und sich den Schädel rasiert, und der Grizzly-Adams-Bart und die Sonnenbräune sind neu, aber er ist es trotzdem.«
»Doreen …«
»Carlos Guerrero y Prieto heißt in Wirklichkeit Duncan Bell, alias Ding-Dong, ehemals Detective Inspector in diesem Sprengel.«
Logan riss die Augen auf.
Die behaarten Hände am Ende dieser bärengleichen Arme. Die runden Schultern. Die buschigen Augenbrauen. Wenn man sich den Bart wegdachte, ein bisschen Haupthaar hinzufügte und das Ganze in einen schlecht sitzenden Anzug steckte …
»Aber … er ist tot. Und ich meine nicht ›frisch verstorben‹ – wir haben ihn vor zwei Jahren beerdigt.«
Doreen nickte. Sie troff geradezu vor Selbstgefälligkeit. »Und deswegen haben wir dich angerufen.«
Die Bestatter hoben den glänzenden grauen Sarg an und stapften rutschend und schlitternd durch das feuchte Gras. Zwei der Spurensicherer unterbrachen ihre Arbeit und eilten herbei, packten jeder einen Griff und halfen, den Sarg von dem verunglückten Ford wegzutragen.
Logan zog den Reißverschluss seines Schutzanzugs ein Stück herunter und ließ die angestaute Hitze entweichen. Dann hob er das Handy wieder ans Ohr. »Wir brauchen einen DNS-Abgleich, um auf der sicheren Seite zu sein, aber die Kollegen haben seine Fingerabdrücke inzwischen fünfmal gescannt, und jedes Mal kommt DI Bell raus.«
»Verstehe.« Superintendent Doig machte eine Weile lutschende Geräusche. Als er weitersprach, war seine Stimme sanft, beinahe nachsichtig. »Aber sehen Sie, Logan, er kann es nicht sein. Wir haben ihn begraben. Ich war bei seiner Beerdigung. Ich habe eine Rede gehalten. Die Leute waren sehr gerührt.«
»Sie sind über das Podium gestolpert und haben ein Blumengesteck umgeschmissen.«
»Ja, nun … Ich finde, wir müssen uns jetzt nicht mit jedem kleinen Detail der Trauerfeier aufhalten.«
»Wenn es DI Bell ist, dann war er in irgendeiner sonnigen Gegend untergetaucht. Nach der Bräune und dem neuen Namen zu urteilen, würde ich auf Spanien tippen.«
»Warum sollte Ding-Dong seinen eigenen Tod vortäuschen?«
»Und warum sollte er zwei Jahre, nachdem er seinen eigenen Tod vorgetäuscht hat, zurückkommen? Warum jetzt?«
Eine der Kriminaltechnikerinnen kam herbeigeschlendert und zog ihre Schutzmaske ab, unter der ein Mund voll schiefer Zähne zum Vorschein kam, eingerahmt von pinkfarbenem Lippenstift. »Inspector McRae? Das sollten Sie sich vielleicht mal ansehen.«
»Augenblick mal, Chef, es gibt offenbar was Neues.« Logan hielt sich das Handy an die Brust und folgte der in knittriges Weiß gekleideten Gestalt zum Kofferraum des verunglückten Ford.
Eine Schaufel und eine Spitzhacke lagen da drin, noch halb in ihre Verpackung aus schwarzen Müllsäcken gehüllt. Die Metallteile waren blitzsauber und schimmerten im schwachen Licht.
Sie deutete mit einem Nicken auf das Werkzeug. »Bisschen verdächtig, oder? Warum kutschiert er eine Hacke und eine Schaufel durch die Gegend?«
Logan trat vorsichtig näher und schnupperte. Da war so ein merkwürdiger Toilettengeruch – wie grüne WC-Steine, unterlegt mit einer dunkleren Note. »Riechen Sie das?«
»Was?«
»Lufterfrischer.«
Sie beugte sich vor und schnupperte ebenfalls. »Oh … Stimmt, jetzt riech ich’s auch. So was in der Richtung Tannenduft und Lavendel? Ich liebe ja diese kleinen Dinger, die man in die Steckdose …«
»Lassen Sie die Hacke und die Schaufel untersuchen. Er hat irgendetwas ausgegraben oder vergraben – ich will wissen, was und wo.«
Ihr Kollege kam herangeschlurft, die Hände in den Taschen, und blickte zur Straße hinauf. »Sieh mal an, wir haben Publikum.«
Ein schlammbespritzter Fiat 500 hielt am Straßenrand, nicht weit von der Stelle, wo die Reifen des verunglückten Wagens ihre Spur durch Matsch und Gras gepflügt hatten. Eine Gestalt stand neben dem Auto und spähte durch ein Fernglas. Die rotbraunen Locken, die sie hinter die Ohren gesteckt hatte, fassten ihren Kopf ein wie ein Halo. Sie trug einen Leinenanzug, der aussah, als ob sie darin geschlafen hätte. Aber ihr Blick war nicht auf Logan und die Kriminaltechnikerin gerichtet, sondern folgte den Bestattern mit dem Sarg.
»Verdammte Presse.« Die Kriminaltechnikerin mit dem pinkfarbenen Lippenstift räusperte sich geräuschvoll und spuckte aus. »Gleich packt sie noch das Teleobjektiv aus.«
Logan hob das Handy wieder ans Ohr. »Chef? DCI Hardie leitet das Sonderermittlungsteam, könnten Sie mal mit ihm reden? Ich glaube, in diesen Fall sollten wir eingebunden sein.«
»Puh … Noch mehr Papierkram, das hat uns gerade noch gefehlt. Na gut, ich sehe mal, was sich machen lässt.«
Logan legte auf, ehe Doig zu seinem Verabschiedungs-Sermon ansetzen konnte, und beobachtete die Gestalt oben an der Straße. Er runzelte die Stirn. Dann wandte er sich ab, tippte auf das Display seines Handys, scrollte sich durch die Kontakte und rief an.
Die Frau mit den lockigen Haaren zog ihr Handy heraus, jonglierte ein wenig mit Telefon und Fernglas, und dann tönte eine misstrauische Stimme mit Inverness-Akzent in Logans Ohr. »Hallo?«
»Detective Sergeant Chalmers? Inspector McRae hier. Hi. Wollte mich nur vergewissern, dass Sie noch an unseren Termin denken: heute Mittag Punkt zwölf.«
»Was? Ja. Den vergesse ich bestimmt nicht. Bin schon ganz aufgeregt.«
Ja, das glaube ich gern.
»Ich meine nur, weil Sie die letzten drei Termine versäumt haben und ich allmählich das Gefühl habe, dass Sie mir aus dem Weg gehen.«
»Naaain! Ganz bestimmt nicht. So, dann sollte ich mich mal wieder an die Arbeit machen, muss noch eine Menge Anwohner befragen. Also …«
»Sie sind doch im Ellie-Morton-Ermittlungsteam, nicht wahr?«
Die Frau beobachtete immer noch die Bestatter durch ihr Fernglas. Sie arbeiteten sich mühsam mit dem Sarg den Hang hinauf, kämpften gegen die Steigung und das nasse Gras an. Der kleinste Fehltritt könnte der Startschuss zu einer höchst peinlichen und unprofessionellen Schlittenfahrt werden.
»Genau. Wie gesagt, wir …«
»Irgendwelche Hinweise? Ein dreijähriges Mädchen wird vermisst – die Eltern müssen doch außer sich vor Sorge sein.«
»Wir klappern gerade Tillydrone ab. Bislang ohne Erfolg.«
»Tillydrone?«
»Genau. Werden wahrscheinlich den ganzen Vormittag brauchen … Ah, verdammt … Wenn ich’s mir recht überlege, werde ich wohl auch noch den ganzen Nachmittag hier beschäftigt sein. Tut mir leid. Können wir unsern Termin noch mal auf Ende der Woche verschieben?«
»Sie sind in Tillydrone?«
»Klar.«
»Das ist aber merkwürdig. Ich stehe nämlich gerade auf einer Wiese ein paar Meilen westlich von Inverurie, und ich könnte schwören, dass ich Sie in diesem Moment direkt anschaue.« Er winkte zu ihr hinauf. »Können Sie mich winken sehen?«
»Mist …« Chalmers duckte sich hinter ihr Auto. »Nein, ich bin ganz bestimmt in Tillydrone. Das muss jemand anders sein. Äh … Muss jetzt Schluss machen. Der DI braucht mich. Wiederhören.«
Die Verbindung brach ab. Sie hatte einfach aufgelegt.
Die rotbraunen Locken tauchten noch einmal kurz auf, als sie in ihr Auto stieg, dann röhrte der Motor auf, und der Fiat brauste davon und verschwand hinter der nächsten Kurve.
Ausgesprochen geschickt eingefädelt, wirklich.
Logan schüttelte den Kopf. »Unglaublich.«
Eine rockige Nummer wummerte aus den Lautsprechern des Audi auf dem Weg zurück nach Aberdeen. Es ging vorbei an Feldern mit braungrauer Erde, Feldern mit mattem Gras, Feldern mit depressiven Schafen und Feldern, auf denen das Wasser in zinngrauen Lachen stand. An einem schönen Tag wäre die Aussicht wundervoll gewesen, aber nicht bei diesem aschfarbenen Himmel und dem Dauerregen.
Das war ein Grund, warum die Leute auswanderten.
Die Musik verstummte, ersetzt vom Klingelton des Autotelefons.
Logan drückte den Knopf. »Hallo?«
»Chef? Ich bin’s.« Mit anderen Worten: Detective Sergeant Simon-»Gelegentlich-ganz-nützlich-wenn-er-gerade-nicht-tierisch-nervt«-Rennie. Er hörte sich an, als ob er auf einem Toffee herumkaute. »Ich war unten im Archiv und hab sämtliche alten Fallakten von DI Bell rausgesucht. Wo soll ich anfangen?«
»Wie wär’s mit der Untersuchung seines Selbstmords?«
»Nee, geht leider nicht. Einer von DCI Hardies Knechten hat die Akte schon ausgeliehen.«
Mist.
»Okay. Wenn das so ist, dann fang mit der neuesten Akte an und geh von da aus rückwärts.«
»Da lebt unser DI Bell zwei Jahre in Saus und Braus an der sonnigen Costa del Weißnichtwo, und dann kehrt er zurück ins trübe, kalte Aberdeenshire? Also, ich an seiner Stelle hätte das schön bleiben lassen.«
»Er hatte eine Spitzhacke und eine Schaufel im Kofferraum.«
»Vielleicht wollte er einen Schatz vergraben?«
Ein Traktor kam auf der Gegenfahrbahn herangedonnert und spritzte mit seinen gewaltigen Hinterreifen einen Schwall Schmodder auf.
Logan schaltete die Scheibenwischer ein. »Ich tippe eher auf ausgraben. Man kehrt nicht von den Toten zurück, um etwas irgendwo in der Pampa zu verbuddeln. Sondern um es auszubuddeln.«
»Ah, verstehe. Er vergräbt den Schatz oder was auch immer, täuscht seinen eigenen Tod vor und düst ab in den sonnigen Süden. Und nach zwei Jahren findet er, dass er es wagen kann, einen Abstecher in die alte Heimat zu machen, um das Ding wieder auszubuddeln.«
»Oder aber das, was er vergraben hat, ist nicht mehr sicher, und er muss es in Sicherheit bringen, bevor jemand anders ihm zuvorkommt.«
»Hmm …« Rennies Stimme klang plötzlich ganz gedämpft, dann war er wieder da. »Okay, ich such mal in den Akten nach Überfällen auf Banken oder Juweliergeschäfte. Irgendwelche ungelösten Fälle mit hoher Beute. Etwas, wofür es sich lohnt, seine eigene Beerdigung zu inszenieren.«
»Und finde raus, mit wem er zusammengearbeitet hat. Mal sehen, ob wir den einen oder anderen ein bisschen nervös machen können.«
Ein paar Fernsehleute hatten sich vor dem Polizeipräsidium zusammengerottet. Alle Kameras waren auf eine kleine Gruppe von Demonstranten gerichtet, die im Dauerregen unermüdlich ihre Runden drehten. Sie waren nur ungefähr ein Dutzend, machten aber das zahlenmäßige Defizit durch umso größeren Eifer wett. Auf den Plakaten, die sie schwenkten, stand »GERECHTIGKEIT FÜR ELLIE!«, »SCHANDE ÜBER DIE POLIZEI!«, »FINDET ELLIE, ABER SCHNELL!« Fast auf jedem Schild prangte ein Foto von Ellie Morton: ihr grinsendes Mondgesicht, umringt von blonden Löckchen, die großen grünen Augen von Lachfältchen gesäumt – offenbar, weil irgendjemand außerhalb des Bildausschnitts sie kitzelte.
Logan nahm den Fuß vom Gas, als er vorbeifuhr. Eine Frau in einer Tweedjacke sprach mit ernster Miene in eine Kamera. Wahrscheinlich erklärte sie den Zuschauern gerade, was für ein unfähiger Haufen von Trotteln Police Scotland war. Wie konnte es sein, dass sie Ellie Morton immer noch nicht gefunden hatten? Was war mit der armen Familie? Warum dachte niemand an sie?
Von wegen.
Der Audi rumpelte über den unebenen Asphalt auf den Parkplatz hinter dem Präsidium. Logan steuerte den Stellplatz mit dem Schild »RESERVIERT FÜR INTERNE ERMITTLUNG« an. Jemand hatte auf die Mauer unter dem Schild einen Sensenmann gesprayt. Und der unbekannte Täter hatte Superintendent Doig gar nicht mal schlecht getroffen, das musste man zugeben. Immer wieder schön zu wissen, dass man die Anerkennung der Kollegen genoss …
Logan stülpte sich die Mütze auf den Kopf, stieg aus und trabte im Slalom um die Pfützen herum und auf die Doppeltür zu. Durch einen kahlen Korridor weiter ins Treppenhaus und die Stufen hinauf, immer zwei auf einmal.
Zwei uniformierte Constables waren auf dem Weg nach unten und unterhielten sich angeregt.
Sie drückten sich flach an die Wand, als Logan auf sie zukam, und das Lächeln auf beiden Gesichtern erstarrte zur Grimasse.
Der mit den Pickeln überwand sich zu einem zaghaften Winken. »Inspector.«
Logan war gerade im dritten Stock angelangt, als sein Handy den Eingang einer Textnachricht vermeldete. Er zog es heraus und warf einen genervten Blick aufs Display.
»STEEL-ALARM!« las er, und seine Schultern sackten ein paar Zentimeter ab. »Was willst du denn schon wieder, du runzliges Monster?«
Er rief die Nachricht auf.
Komm schon, du weißt, dass du es willst.
Nix da. Logan daumte eine Antwort, während er an den Aufzügen vorbeimarschierte:
Hab dir doch gesagt, ich hab keine Zeit. Frag jemand anders.
Er stieß die Zwischentür auf und trat in einen gesichtslosen Flur, der leicht nach frischer Farbe und Instantnudeln duftete.
Ein kleines Grüppchen Büromitarbeiter lachte sich gerade scheckig über einen Witz.
Dann erspähte einer von ihnen Logan und stupste die anderen an, die jäh in ängstliches Schweigen verfielen.
Logan nickte ihnen im Vorbeigehen zu und klopfte an die Tür mit dem weißen Plastikschild, auf dem stand: »DETECTIVE CHIEF INSPECTOR STEPHEN HARDIE.«
Von drinnen kam eine müde Stimme: »Herein.«
Logan öffnete die Tür.
Die Einrichtung von Hardies Büro war ganz auf Zweckmäßigkeit, Ordnung und Effizienz abgestellt: Sechs Whiteboards, voll mit Notizen zu verschiedenen laufenden Ermittlungen, ebenso viele Aktenschränke, ein Computer, der so aussah, als ob er nicht mit Kohle oder Hamsterkraft betrieben würde. An der Wand hing ein Porträt der Queen, nebst einer Sammlung von gerahmten Belobigungen und ein paar Fotos von Hardie höchstpersönlich beim Handshake mit diversen lokalen Größen. Alles, was man für eine erfolgreiche Ermittlerkarriere brauchte.
Schade nur, dass es nicht zu funktionieren schien.
Hardie hockte auf der Kante seines Schreibtischs, wobei seine Füße nicht ganz bis auf den Boden reichten. Ein kleiner Mann mittleren Alters mit kleinen runden Brillengläsern. Dunkle Haare, aus der hohen Stirn zurückgekämmt. Die Stirn in Falten gezogen, während er einen Stapel Papiere durchsah.
Er war allerdings nicht allein im Raum. Ein spindeldürrer Mann mit schütterem Haar stand in gebeugter Haltung vor einem der Whiteboards und schrieb darauf mit einem schmierenden grünen Marker.
Und Nummer drei kaute auf ihrem Kuli herum, während sie den Inhalt ihres Klemmbretts studierte. Ihre Hängebacken schwabbelten, als sie den Kopf schüttelte. »Pfff … Wir kriegen schon Anfragen von Radio Scotland und Channel 4 News. Wie zum Teufel haben die so schnell davon erfahren?«
Hardie blickte von seinen Papieren auf und verzog das Gesicht, als er Logan sah. »Ah, Inspector McRae. Ich würde ja sagen ›Was verschafft uns das Vergnügen?‹, aber ein Vergnügen ist es ja eher selten.«
Nummer drei schniefte. »Das einzig Gute ist, dass sie nicht wissen, wer unser Opfer war.«
Nummer zwei hielt seinen Stift hoch. »Noch nicht, George. Sie wissen es noch nicht.«
George seufzte. »Stimmt.«
Logan lehnte sich an den Türrahmen. »Ich nehme an, Superintendent Doig hat mit Ihnen gesprochen?«
»O Mann.« Hardie warf seinen Papierstapel auf den Schreibtisch. »Da wird uns die Scheiße so richtig um die Ohren fliegen, das ist Ihnen wohl klar? Sobald die rauskriegen, dass wir einen ermordeten Cop haben, der seinen eigenen Tod vorgetäuscht hatte, werden da draußen nicht bloß ein oder zwei Fernsehteams kampieren. Sondern alle.«
»Sind Ihnen je irgendwelche Gerüchte über DI Bell zu Ohren gekommen? Bestechung, verschwundene Beweisstücke, Korruption?«
»Ding-Dong? Seien Sie nicht albern.« Hardie verschränkte die Arme. »Also, wir müssen unsere Ermittlungen koordinieren. Interne Ermittlung und Sonderermittlungsteam.«
»Ein ehrlicher Polizist setzt sich nicht nach Spanien ab und taucht unter, während zu Hause alle glauben, er sei tot.«
»Sie können zwei Officers haben, die Ihnen bei Ihren Ermittlungen helfen.« Hardie deutete auf seine hängebackige Helferin. »George wird sich darum kümmern.«
Sie lächelte Logan an. »Keine Sorge, ich drücke Ihnen schon nicht die größten Flaschen aufs Auge.«
»Das will ich doch hoffen. Und ich könnte auch eine Kopie der Ermittlungsakte zu DI Bells vermeintlichem Selbstmord gebrauchen.«
»Die hat Charlie, glaube ich.«
Nummer zwei nickte. »Ich bring sie Ihnen vorbei.«
Logan schlenderte zu den Whiteboards hinüber und blieb davor stehen, den Kopf zur Seite geneigt, während er die ganzen ungelösten Fälle überflog.
Hardie versuchte, Autorität in seine Stimme zu legen. »Mein SET wird sich auf die Ergreifung des Täters konzentrieren, der Ding-Dong erstochen hat. Sie können sich mit seinem … Verschwinden befassen.«
Logan blieb, wo er war. »Sie leiten die Suche nach Ellie Morton?«
»Ich erwarte, dass Sie jegliche Erkenntnisse mit meinem Team teilen. Sie berichten mir zuerst.«
Ja, klar doch. »Und Superintendent Doig war damit einverstanden? Das sieht ihm gar nicht ähnlich. Wissen Sie, da frage ich besser noch mal nach. Um eventuelle Missverständnisse zu vermeiden.«
Von Hardie kam nur ein lautes Räuspern. Erwischt.
Logan schenkte ihm ein Lächeln. »Wie lange wird Ellie schon vermisst – vier Tage?«
DS Scott tippte mit seinem Marker auf das Whiteboard. »DI Fraser arbeitet daran. Wenn Sie mich fragen: Es war der Stiefvater. Vorstrafe wegen Exhibitionismus als junger Mann. Einmal ein Perverser …«
Logan nickte. »Dann ruf ich Fraser mal an.«
Hardie räusperte sich abermals. »Wenn ich Ihre Aufmerksamkeit für einen kurzen Moment aufs Thema lenken dürfte, Inspector. DI Bells Akten – wo sind die?«
»DS Rennie arbeitet sie gerade durch.« Logan drehte sich um und setzte ein Lächeln auf. »Sie wollen doch, dass wir uns dem historischen Aspekt des Falls widmen, schon vergessen? Bells Verschwinden?«
Ein verwirrter Blick. »Aber das habe ich Ihnen doch gerade eben erst gesagt?«
Logans Grinsen wurde breiter. »Sehen Sie: Wir funktionieren jetzt schon wie eine gut geölte Maschine.«
In der Kantine herrschte gähnende Leere. Nur Baked-Tattie-Ted fuhrwerkte in seinem grün-braunen Wams an der Fritteuse herum, während Logan sich eine Dose Irn-Bru aus der Kühlvitrine holte.
Logan klemmte sich das Handy zwischen Ohr und Schulter und kramte in der Hosentasche nach Kleingeld. »Was gefunden?«
Vom anderen Ende kam das Rascheln von Papier und das Quietschen von Karton, gefolgt von Rennies Stimme. Er hörte sich ein wenig abwesend an. »Nichts, null, nada, Fehlanzeige. Jedenfalls nichts, wo es um riesige Geldsummen ginge, die verschwunden sind.«
Zwei Fünfziger, ein Zehner und ein paar Pennys. Sie klimperten in Logans hohler Hand, als er auf die Theke zuging. »Es ist natürlich nicht gesagt, dass es um einen alten Fall geht. Vielleicht war ja sein Privatleben der Grund dafür, dass er seine Zelte abgebrochen hat und untergetaucht ist.«
Ein Stöhnen. »Bitte erzähl mir nicht, dass ich mich völlig umsonst durch diesen Krempel hier quäle!«
Die Tür zur Kantine wurde aufgestoßen, und eine Frau stolzierte herein, die direkt aus der Kosmetikabteilung von Debenhams entlaufen schien. Jane McGrath: eleganter Hosenanzug, perfekt gestylte Frisur, eine Aktenmappe unter dem Arm, Handy am Ohr und ein Lächeln auf den Lippen. »Das stimmt, ja … Absolut.«
Sie winkte Logan zu, ehe sie sich ein Cheese-and-Pickle-Sandwich und eine Cola holte, und dazu noch eine Tüte Salt-and-Vinegar-Chips, die sie sich unter den Arm klemmte. »Genau … M-hm … Ja, ich weiß, es ist furchtbar. Wirklich furchtbar.« Sie hielt sich das Handy an die Brust, und ihr Lächeln wurde zu einem fiesen Grinsen, als sie Logan ansah und lautlos mit den Lippen formte: »Ist das nicht super?« Dann wieder ins Telefon: »Es ist ein Wunder, dass sie keine schwereren Verletzungen davongetragen haben. Ich muss Ihnen ja nicht erzählen, wie viele Polizisten jedes Jahr in Ausübung ihrer Pflicht verletzt werden … Ja … Ja, das stimmt.«
Rennie jammerte ihm ins Ohr: »Chef? Bist du noch dran? Ich sagte: Erzähl mir bitte nicht …«
»Red keinen Unsinn, Simon – es ist nicht umsonst, wenn du tatsächlich etwas findest. Und schick mir doch mal eine Liste von DI Bells Sidekicks aufs Handy.«
»Sekunde …« Wieder Papierrascheln. »Okay, mal sehen … Da haben wir’s. Die Letzte war eine Detective Sergeant Rose Savage. Na, wenn das kein geiler Name für eine Polizistin ist, wie? Klingt wie ’ne Figur aus ’nem Thriller. Detective Sergeant Rose Savage!«
Jane legte Sandwich, Cola und Chips auf den Tresen. »Ich rede mal mit dem Krankenhaus, aber ich bin ziemlich sicher, dass ein zehnminütiges Interview drin ist: ›Tapfere Bobbys erleiden Knochenbrüche bei Jagd nach feigem Verbrecher!‹ … Ja, das habe ich mir auch gedacht … Okay … Okay. Danke. Wiederhören.« Sie legte auf, ließ den Kopf in den Nacken fallen und blickte strahlend zur Decke auf. »Ha!«
»Finde raus, wo Sergeant Savage jetzt arbeitet, und schick mir die Info.«
»Alles klar.«
Logan steckte sein Handy ein, während Jane einen kleinen Freudentanz aufs Parkett legte.
»Rate mal, wer gerade dafür gesorgt hat, dass dieser Mist über unsere angebliche Inkompetenz nicht auf der Titelseite erscheint! Na los, da kommst du nie drauf, wetten?«
Logan runzelte die Stirn. »Das Krankenhaus?«
»Zwei Uniformierte haben gestern einen Einbrecher gejagt. Er düst durch ein paar Gärten und klettert dann über einen Schuppen. Die zwei hinterher, und RUMMS! – brechen beide glatt durchs Dach.«
»Puh … Das hat bestimmt wehgetan.«
»Ein gebrochener Arm, ein gebrochenes Bein. Glück gehabt.«
»Allerdings. Besonders wenn man an die ganzen spitzen und scharfen Gegenstände denkt, die die Leute so in Schuppen aufbewahren. Gartenscheren, Äxte, Forken, Rechen, Hippen …«
»Was?« Sie zog das Kinn ein und schürzte die Oberlippe. »Nein, ich meine: Es ist ein Glück, dass sie sich die Verletzungen im Einsatz zugezogen haben. Die Zeitungen lieben Geschichten über verletzte Polizisten.« Und dann gab es noch mal eine kleine Tanzeinlage.
Logan bezahlte sein Irn-Bru. »Du hast dich ganz schön verändert, seit du in der Pressestelle arbeitest, weißt du das?«
»Und mit etwas Glück haben sie auch ein paar fette Blutergüsse. Das macht sich immer super in Großaufnahme auf der Titelseite.«
Sie drehte sich um und tänzelte hinaus.
Logan schüttelte den Kopf. »Werden hier eigentlich nur noch Verrückte eingestellt? Was ist so verkehrt an einem ganz normalen …«
Sein Handy unterbrach ihn mit einem Ping.
Eine SMS von »IDIOT RENNIE«:
Sgt ROSE SAVAGE!!! (heldin der verbrechnsbekmpfg) = revir mastrick. Zz im Dnst. Soll ich s. kommen lsn??
So viel zum Thema Verrückte … Logan tippte eine Antwort.
Nein, ich fahr selbst hin. Wenn sie nicht vorgewarnt wird, müssen wir nicht befürchten, dass sie uns abhaut. Und hör auf, SMS zu schreiben wie ein Schulmädchen aus den 90ern – du hast ein Smartphone, du Idiot!
Der North Anderson Drive glitt an den Autofenstern vorbei. Zur Rechten ragten Hochhäuser auf, die Fassaden vom Regen dunkel verfärbt. Zwei erschöpft wirkende Gestalten schlurften durch die Pfützen und zerrten einen bedröppelten Spaniel an einer Rollleine hinter sich her.
»… verstärkte Polizeipräsenz an diesem Wochenende in Edinburgh, wo aus Anlass der WTO-Ministerkonferenz zahlreiche Demonstranten erwartet werden …«
An der nächsten Kreuzung bog er links ab, vorbei an winzigen orange-braunen Cottages und Reihenhäusern mit bei-
gefarbenem Rauputz.
»… die Gegend weiträumig zu umfahren, da bis Dienstag mit einem erheblichen Verkehrschaos zu rechnen ist. Nun zu den Nachrichten aus der Region. Der Aberdeen Examiner peilt nächste Woche einen Guinness-Weltrekord an, wenn die Zeitung das größte Stovies-Wettessen aller Zeiten veranstaltet …«
Drei junge Mädchen lungerten auf einer kleinen Rasenfläche herum. Im Schutz der Bäume ließen sie etwas kreisen, bei dem es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um einen Joint handelte. Sie zogen abwechselnd, hielten den Rauch in der Lunge und schnitten Grimassen.
Logan bremste ab und ließ das Beifahrerfenster herunter, um den Mädels zuzuwinken. »Na, na, na, was wird das denn?«
»Nix wie weg!«
Sie sprinteten in drei verschiedene Richtungen davon, während ihre selbst gedrehte »Zigarette« im hohen Bogen ins nasse Gras fiel.
Logan grinste und fuhr die Scheibe wieder hoch.
Sollte noch einer behaupten, dass bürgernahe Polizeiarbeit Zeitverschwendung sei.
»… und leider sieht es so aus, als ob uns der Regen die nächsten Tage erhalten bleibt. Das Tiefdruckgebiet, das vom Atlantik aufzieht …«
Er bog in die nächste Seitenstraße ein, vorbei an einem weiteren Block winziger Reihenhäuser, und rechts ab in die Arnage Drive – gerade rechtzeitig, um einen der flüchtigen Teenager hinter einer anderen grau-beigen Häuserreihe hervorschießen zu sehen. Sie bremste schlitternd mitten auf der Straße ab, stand einen Moment lang mit offenem Mund da und machte dann kehrt, um in die Richtung davonzurennen, aus der sie gekommen war, mit fliegenden Armen und Beinen wie eine Olympia-Sprinterin.
Ach ja, Teenager – wurde doch nie langweilig mit den kleinen Scheißern.
Er bog auf den Parkplatz hinter dem kleinen Einkaufszentrum ein, der eher für Lieferwagen und Lkw gedacht war als für Kunden. Die Vorderseite war ja ganz okay, aber die Rückseite war im unteren Teil eine triste Fläche aus Backstein und vergitterten Fenstern und im oberen Teil graues PVC mit klobigen Klimaanlagen-Elementen. Das Ganze hatte den Charme eines Hühneraugenpflasters.
Ein paar Kombis waren kreuz und quer zwischen den Müllcontainern abgestellt, aber Logan parkte neben dem einsamen Streifenwagen und stieg aus.
Der Regen prasselte auf den Schirm seiner Mütze, als er zur Hintertür des Reviers eilte. Er schloss auf und trat ein.
Die Wände des Flurs waren verschrammt, ein Haufen Öffnungswerkzeuge lag unter einem Whiteboard, auf dem man sich für die Streifenwagen eintragen musste, daneben ein Zettel mit dem Hinweis, dass ein gewisser Grimy Gordon nicht ins Revier gelassen werden sollte, weil er das letzte Mal in Sergeant Nortons Schuhe gekotzt hatte.
»Hallo?«
Keine Antwort, nur ein Telefon klingelte irgendwo in den Eingeweiden des Gebäudes.
Der Empfang war nicht besetzt, ein »GESCHLOSSEN«-Schild hing an der Tür. Niemand im Umkleideraum, niemand im Wachbüro.
Logan beschloss, es sich erst mal ein bisschen gemütlich zu machen.
Der Pausenraum des Reviers war nüchtern und anstaltsmäßig, und die Genesungskarten an der Pinnwand, unter denen die offiziellen Bekanntmachungen und Motivationsposter fast verschwanden, trugen auch nicht gerade dazu bei, die deprimierende Stimmung zu heben. Ein Fenster hätte die Düsternis ein wenig aufhellen können, aber stattdessen war die einzige Lichtquelle eine von diesen Energiesparlampen, die entfernt an eine radioaktive Brezel erinnerten. Die kleine Küchenecke war mit einem verbeulten Minikühlschrank, einer fettbespritzten Mikrowelle und einem ramponierten Wasserkocher bestückt.
Logan warf seinen Teebeutel in den Mülleimer und rührte einen Schuss halbfette Milch aus einem Karton hinein, auf dem ein Post-it mit der Aufschrift »FINGER WEG VON MEINER MILCH, IHR SCHNORRER!« klebte.
Er setzte sich wieder an den wackligen Tisch und tippte eine Textnachricht in sein Handy:
Wie wär’s zur Feier des Freitags mit Abendessen vom Chinesen, einer Flasche Wein und ein bisschen Matratzensport?
SENDEN.
Die Antwort kam postwendend:
TARA (HA):
Lieber Pizza. Ansonsten: Abgemacht!
Hervorragend. Jetzt musste er nur noch …
Ein erstickter Schrei hallte durch den Flur und zur offenen Tür des Pausenraums herein.
Logan stellte seinen Tee ab und ging nachsehen.
»Gib endlich Ruhe, verdammt!« Die Sergeant hatte ihren Hut verloren, ihre gefletschten Zähne waren hellrot verfärbt – vermutlich von der aufgeplatzten Unterlippe. Die Haare in einem Knoten hochgebunden, die Arme um den Hals eines spindeldürren Kerls mit versifften Turnschuhen und dreckstarrendem Trainingsanzug geschlungen. Seine Hände steckten hinter dem Rücken in Handschellen, dennoch versuchte er, sich in dem engen Flur von ihr loszureißen.
Am anderen Ende, nahe dem Eingang, wankte ein männlicher Kollege hin und her und hielt sich mit einer Hand die Nase. Blut rann zwischen seinen Fingern hindurch und tropfte auf seine Warnjacke. »Unnnggghhh …«
Alle drei waren triefnass wie frisch geduschte Fischotter.
Mr Trainingsanzug warf den Kopf zur Seite, und seine braunen Zahnstümpfe klackten Zentimeter vor dem Gesicht der Sergeant aufeinander.
Sie zuckte zurück. »Jetzt gib mal Ruhe, Mann!«
Doch er hörte nicht auf sie. Ein gewaltiger Urschrei entrang sich seiner Kehle, begleitet von einem Schwall üblen, fischigen Mundgeruchs, der zu seinem zwiebligen Körpergeruch passte: »AAAAAAAAAH!«
Logan deutete auf den Kerl. »Brauchen Sie Hilfe?«
Die Sergeant beäugte ihn mit verkniffener Miene. »Danke, Sir, aber wir haben alles im Griff. Wenn Sie also nichts dagegenhaben …«
Mr McStinky schleuderte sie mit einem Schultercheck gegen die Wand, so fest, dass das Whiteboard wackelte und ein paar Stifte klappernd zu Boden fielen. »LAMMICHLOS, LAMMICHLOS, LAMMICHLOS!«
»Sind Sie sicher, dass Sie keine Hilfe brauchen?«
»Ganz sicher.«
McStinky riss sich mit einer Drehbewegung los, und sie bekam eine Handvoll seiner speckigen Trainingsjacke zu fassen. Der Stoff riss entlang des Reißverschlusses und gab den Blick auf einen Brustkorb mit Xylofon-Rippen und farbenfrohen Blutergüssen frei. Dann stürzte er sich auf sie, mit dem Kopf voran, wie ein menschlicher Rammbock.
Im letzten Moment konnte sie das Gesicht zur Seite drehen – sein Kopf krachte in ihre Wange statt in die Nase. Sie taumelte.
»Wär ehrlich kein Problem.«
McStinky kreiselte weiter, die Hände immer noch hinter dem Rücken gefesselt. »Ich hab ihn nicht angerührt! Das waren die! DAS WAREN DIE!« Er tänzelte ein paar Schritte rückwärts und nahm Anlauf, um ihr dann mit Schwung einen dieser verdreckten Turnschuhe in die Rippen zu treten. Und gleich noch einmal.
»Aaaaaah! Okay! Okay!«
Logan trat hinaus in den Flur, packte das Plastik-Verbindungsstück von McStinkys Handschellen und zog es mit einem Ruck nach oben, als ob er einen Kofferraum öffnete.
McStinky schrie auf, als seine Arme aus den Gelenkpfannen springen wollten. Er kippte vornüber auf den Boden, strampelte mit den Beinen und brüllte wie am Spieß, doch Logan ließ nicht locker und zog die Daumenschrauben noch ein Stückchen an. Aus der Nähe hatte der Geruch, den McStinky ausströmte, eine deutliche Note von Blauschimmelkäse, unterlegt mit Nuancen von vergammelten Würstchen.
Die Sergeant krabbelte rückwärts, bis sie mit dem Rücken an der Flurwand hockte. Sie spuckte einen blutroten Batzen aus.
»HILFE, DIE WOLLEN MICH FRESSEN!«, röhrte McStinky.
Der Constable mit der blutigen Nase kam herbeigewankt, warf sich über McStinkys Beine und machte sich daran, ihn mit Fixiergurten zu fesseln. »Stillgehalten!«
Logan hielt seiner Kollegin die Hand hin. »Darf ich raten: Sergeant Savage? Logan McRae. Ich muss mit Ihnen über DI Bell reden.«
Logan lehnte sich an die Flurwand, den warmen Teebecher an die Brust gedrückt. Durch die offene Hintertür des Reviers konnte er sehen, wie Constable Gebrochene Nase und Sergeant Savage ihren Gefangenen McStinky auf den Rücksitz des Streifenwagens verfrachteten, der neben Logans Audi parkte.
Regentropfen tanzten auf den Autodächern, sprangen wie Funken vom nassen Asphalt auf und fielen fauchend über die Welt her wie eine Milliarde tollwütige Katzen.
Ding.
Er holte das Handy hervor und stöhnte.
STEEL-ALARM!
Komm schon, es ist doch nur für eine Nacht. Ein einziges kleinwinziges Nächtlein.
Eine schnelle Antwort:
Ich hab zu tun.
Sergeant Savage knallte die Tür des Streifenwagens zu und schlurfte zurück ins Gebäude. Mit finsterer Miene wischte sie sich den Regen aus dem Gesicht. »Oh, wie ich diese Freitage liebe.«
Logan wies mit dem Kopf zum Wagen. »Netter Typ.«
McStinky warf sich gegen seinen Gurt und tobte, während Constable Gebrochene Nase den gereckten Mittelfinger vor die Scheibe hielt.
Savage schälte sich aus ihrer Warnjacke. »Sie wollten über DI Bell reden.«
»Wollen Sie Ihren Freund da nicht gleich in die Zelle stecken?«
»Jittery Dave? Nee, der ist zugedröhnt bis obenhin. Die nehmen ihn nicht in Gewahrsam, solange sie nicht sicher sind, dass er ihnen nicht an einer Überdosis stirbt oder an seinem Erbrochenen erstickt. Und das Krankenhaus nimmt ihn auch nicht auf, solange er so gewalttätig ist. Also kann er erst mal da sitzen und ein bisschen runterkommen. Smithy hat ein Auge auf ihn.« Sie betupfte ihre aufgesprungene Lippe und zuckte zusammen. Auf ihrer Fingerkuppe war Blut. »Woher das plötzliche Interesse an Ding-Dong?«
»Sie haben gehört, was heute Morgen passiert ist?«
»Wir sind nur hinter Jittery Dave hergerannt, seit ich meine Schicht angetreten habe. Ich bin heute schon einen verdammten Marathon gelaufen – vergessen Sie Mo Farah, bei der nächsten Olympiade sollten wir ein paar Junkies aufstellen.«
»Okay.« Logan ging voraus in den Pausenraum. »Also, Sie waren Bells Sidekick.«
Sie reagierte etwas indigniert. »Ich habe mit ihm zusammengearbeitet, ja.«
»Wie war er als Vorgesetzter?«
»Gut. Doch, ja. Fair. Hat sich nicht in den Mittelpunkt gestellt. Und er konnte zuhören.«
Logan setzte Wasser auf und nahm einen sauberen Becher aus dem Schrank. »Und seine seelische Verfassung?«
»Er hat sich in einem Wohnwagen das Hirn weggepustet. Was glauben Sie denn?«
Teebeutel rein. »Ich glaube, dass niemand so etwas ohne einen sehr guten Grund tut. Was war seiner?«
Sie sah weg. Zuckte mit den Schultern. »Der letzte Fall, den wir bearbeitet haben. Das war … schwer für ihn.«
»Schwer – inwiefern?«
»Ding-Dong … Wissen Sie, Aiden MacAuley war drei, als er entführt wurde. Er war mit seinem Vater unterwegs, in einem Wald in der Nähe ihres Hauses. Fred Marshall hat sie überfallen. Er tötete den Vater und entführte Aiden.«
»Fred Marshall?«
»Und wir konnten ihm nichts nachweisen. Wir wussten, dass er es war – er hatte im Pub gegenüber einem Freund mit der Tat geprahlt. Hat ihm die ganzen grausigen Details geschildert, wie er Kenneth MacAuley mit einem Stein den Schädel eingeschlagen hat. Aber er hat kein Wort darüber gesagt, was mit dem Kind passiert war. Also haben wir Marshall einkassiert und ihn in die Mangel genommen. Wieder und wieder und wieder. Aber am Ende hatten wir immer noch nicht den kleinsten Beweis gegen ihn in der Hand.«
Das Wasser im Kessel brodelte, und Logan ertränkte den Teebeutel.
Savage befühlte wieder ihre aufgeplatzte Lippe. »Natürlich konnten wir Aidens Mutter nichts von alldem sagen. Wir rennen bei der Staatsanwaltschaft gegen eine Betonwand, aber für sie sieht es so aus, als ob wir rein gar nichts tun, um ihren Sohn zu finden und den Kerl zu schnappen, der ihren Mann auf dem Gewissen hat.«
»Und was ist mit Fred Marshall passiert?«
»Es hat Ding-Dong schwer zugesetzt. Wir waren ein gutes Team, wissen Sie? Und jetzt kriegt er die Sache nicht mehr aus dem Kopf: Er kann nicht schlafen, steht unter Dauerstress …« Wieder zuckte sie mit den Schultern. »Und dann verändert sich seine ganze Persönlichkeit. Er ist plötzlich sprunghaft, nervös, reizbar. Schreit einen grundlos an.«
Sie starrte auf die Tischplatte und schüttelte den Kopf.
Irgendwo im Gebäude begann wieder dieses Telefon zu läuten.
»Er … Er kam zu mir nach Hause … gegen zwei Uhr morgens. Er sagte mir, ich solle mich um seine Frau kümmern. Ich müsse sie vor der Presse und dem ganzen Geschmeiß in Schutz nehmen. Und das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe.« Savage räusperte sich. »Bis ich seine Leiche in der Rechtsmedizin identifizieren musste.«
Sie schüttelte erneut den Kopf. Blinzelte, wischte sich die Augen und atmete tief durch. »Jedenfalls … Da können wir jetzt nichts mehr dran ändern, oder?«
»Sie haben die Leiche identifiziert?«
»Was davon übrig war. Die Spurensicherung sagte, er habe im Wohnwagen Feuer gelegt, bevor er sich eine Schrotflinte in den Mund steckte. Das Ding hat gebrannt wie Zunder.« Tiefer Atemzug. »Der Geruch war … Tja.«
Logan zog das Schweigen in die Länge.
Das Telefon verstummte für ein paar Sekunden und verfiel dann wieder in seinen monotonen Ruf nach Aufmerksamkeit.
Savage schüttelte den Kopf. »Von der Leiche war keine brauchbare DNS zu bekommen – Sie wissen ja, wie das ist, wenn alles verkocht.« Sie schüttelte sich. »Wir mussten ihn anhand seiner Habseligkeiten identifizieren: Ringe, Uhr, Brieftasche. Aber wir hatten seinen Wagen am Tatort, wir hatten die Abschiedsbriefe und die Überreste der Schrotflinte seines Vaters. Sie konnten sogar noch ein paar Fingerabdrücke von Ding-Dong vom Wohnwagen abnehmen …« Ihre Augen verengten sich. »Sie haben es mir immer noch nicht erklärt: Woher das plötzliche Interesse?«
Logan fischte den Teebeutel heraus und gab einen Schuss Milch in den Becher. Noch zwei Stück Zucker rein und umgerührt. »Hatten Sie je den Eindruck, dass er in etwas verwickelt sein könnte? Etwas, was ihm vielleicht über den Kopf gewachsen war?«
»Ding-Dong? Nein. Er war ein guter Polizist. Der ehrlichste Kerl, mit dem ich je zusammengearbeitet habe.«
»Hmmm …« Er schob ihr den Becher mit heißem, süßem Tee hin. »Es könnte sein, dass ich schlechte Nachrichten für Sie habe.«