Zum Buch
Boratin, ein junger Musiker, öffnet nach einem Selbstmordversuch in einem Istanbuler Krankenhaus die Augen. Er kann sich an nichts erinnern, nicht einmal an seine eigenen Lieder. Für ihn besteht kein Zweifel daran, dass die einzige Wahrheit sein geschundener Körper ist. Nicht wissend, ob das Vergessen nun Fluch oder Segen ist, begibt er sich nach draußen, auf die Suche nach sich und seiner Geschichte, mitten hinein in die flirrende Metropole am Bosporus, die ihm in ihrer Gebrochenheit und ihrer Geschichtsvergessenheit zum Erschrecken ähnlich ist. Wir folgen Boratin auf seiner Suche, und wissen dabei nie mehr als er selbst. Seine unbeantworteten Fragen werden zu Fragen, nach deren Beantwortung wir selbst suchen.
Zum Autor
BURHAN SÖNMEZ wurde 1965 in Zentralanatolien geboren und wuchs sowohl mit der kurdischen als auch der türkischen Sprache auf. Er studierte Jura in Istanbul. Sönmez war Mitglied des türkischen Menschenrechtsvereins IHD und Gründungsmitglied der demokratischen Stiftung TAKSAV. Er unterrichtet an der Middle East Technical University in Ankara, schreibt für verschiedene unabhängige Medien und ist aktives Mitglied des türkischen und englischen PEN. Burhan Sönmez lebt mit seiner Familie in Istanbul und Cambridge.
BURHAN SÖNMEZ
Labyrinth
Aus dem Türkischen
von Sabine Adatepe
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Labirent« bei İletişim Yayınları, Istanbul.
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Deutsche Erstausgabe Februar 2020
Copyright © Burhan Sönmez, 2018
Copyright © Kalem Agency
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by btb Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: semper smile, München,
nach einem Entwurf von Suat Aysu
Umschlagmotiv: Natalia Y/unsplash.com
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-24230-5
V001
www.btb-verlag.de
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»Zwei opponierte Spiegel reichen aus,
ein Labyrinth zu erschaffen.«
J. L. Borges, Sieben Nächte
»Es ist nicht der Mensch, der das Wort entdeckte,
sondern das Wort, das zu uns kam.«
– Pastor Edouard de Montmollin, Grabrede für J. L. Borges
Die Bosporusbrücke hinunter
Wie eine Spinne im eigenen Netz
Man geht nicht immer denselben Weg nach Haus
Die Mauer aus Steinen gesetzt, das Dach aus Träumen geflochten
Vagabund bist du allein auf nächtlicher Straße
Bevor sie das Wort fanden
Versuche ich, an einem Rädchen zu drehen
Der Wecker läutet. Er klingt wie eine Kajütglocke auf einem Frachter, die abgekämpfte Matrosen zum Essen ruft. Wer erinnert sich heute noch an Frachtschiffe? Das Klingeln kommt aus der Wohnung nebenan, vielleicht auch aus einem Traum. Aus dem Traum von jemandem, der nebenan schläft. Durch die offene Balkontür weht Wind herein. Die Gardine bewegt sich. Welche Jahreszeit es auch sein mag, die morgendliche Kühle erfrischt. Als der Saum der Gardine zum Bett hinüberflattert, wird das Weckerklingeln lauter. Mit geschlossenen Augen streckt Boratin die Hand aus, um den Wecker auszuschalten. Die Hand tastet auf dem Nachttisch herum. Hält inne. Zögert, tastet weiter. Als er den Wecker nicht findet, schlägt er die Augen auf. Draußen dämmert der Morgen. Die Gegenstände im Zimmer sind Schemen. Wo ist er? Nach einem Krankenhauszimmer sieht es nicht aus. Die Wolldecke, der Balkon und das Fenster passen nicht dorthin. Nein, das ist kein Krankenhaus. Ich glaube ich bin zu Hause. Durch das Fenster ist der Himmel zu sehen. Auf dem Nachttisch stehen Medizindosen am gegenüberliegenden Rand. Die Medikamente halfen beim Einschlafen, den Kopfschmerz unterbanden sie nicht. Erneut schließt er die Augen. Seine Hand fällt aufs Kissen. An einem Baum nah am Balkon rascheln die Blätter, Kühle streicht über seine bloßen Arme.
Boratin wacht auf, als es hell ist und der Wind sich gelegt hat. Die Gardine regt sich nicht. Draußen ein Dröhnen, das in fernen Stadtteilen Fahrt aufnimmt und anschwillt, bis es hier ist. Er schaut sich um, versucht herauszubekommen, ob er hier schon früher war. Das Zimmer ist geräumig. Schlicht ist das Elfenbein der Wände, das Ahornfurnier am Kleiderschrank gegenüber aber ist zu hell. Ein dunklerer Farbton hätte besser dorthin gepasst. Wer hat den Schrank ausgesucht, ich? Boratin zweifelt an seinem Geschmack. Er hatte gehofft, die Wohnung, die er gestern Abend, als man ihn herbrachte, nicht erkannt hatte, würde ihm helfen, sich zu erinnern, wenn er am Morgen erwacht. Balkontür, Schrank und Nachttisch lassen ihn an ein Hotelzimmer denken, in dem er sich zum ersten Mal aufhält. Nur die Medikamentendosen sind ihm bekannt. Er richtet sich auf, setzt sich auf die Bettkante. Schmerz in der Brust lässt ihn verkrampfen. Er schiebt das Unterhemd hoch, beäugt seine Rippen. Um besser sehen zu können, stellt er sich vor den Spiegel. Rechts ist eine Rippe gebrochen. Er berührt die Stelle. Ein Brennen unter der Haut. Glück gehabt, sagten sie. Nur ein Bruch. Ansonsten keine physischen Schäden, Gedächtnisverlust zählt nicht zur Physis. Er hebt den Blick, mustert sein Gesicht. Das Gesicht, mit dem er vor einer Woche Bekanntschaft machte. So frisch. Hallo, Fremder, sagt er. Das Gesicht im Spiegel, das verraten die Bewegungen der Lippen, antwortet mit denselben Worten. Genau wie gestern Abend. Es war still, als er gestern Abend die Wohnung betrat. Vorsichtig war er durch die Zimmer gestreift, als besichtigte er ein Museum, passierte bedächtig die Gitarren und den Nippes. Aus der Kliniktüte kramte er die Medikamente hervor. Trank zwei Gläser Wasser. Betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Legte Hemd, Hose und Strümpfe ab. Streckte sich auf dem Bett aus, schloss die Augen und wartete reglos ab. Zählte seine Atemzüge. Er hatte nicht vergessen, wie man zählt. Einundvierzig, zweiundvierzig, dreiundvierzig. Dann war er eingeschlafen.
In der Klinik hatte man ihm gesagt, er solle sich keine Sorgen machen. Sie haben Ihr Gedächtnis verloren, keine Angst, das kommt mit der Zeit zurück, sagten sie. Erst versorgten sie seine Rippe, dann fragten sie sich, was diesem Mann, der versuchte, aus seiner gebrochenen Rippe und dem leeren Gedächtnis einen ganzen Menschen zu basteln, durch den Kopf gehen mochte. Seltsam, sagte er zur Ärztin, Sie interessieren sich viel mehr für mich als ich selbst. Das ist mein Job, entgegnete die Ärztin. Das Gedächtnis zu verlieren mag erschreckend wirken, Boratin Bey, aber Ihre Situation ist relativ gut. Immerhin wissen wir von den Karten in Ihrem Portemonnaie, wer Sie sind und wo Sie wohnen. Das ist ein Teil von Ihnen, auch wenn Sie sich nicht daran erinnern, genau wie das Tattoo auf Ihrem Rücken, von dem Sie nicht wissen, wo und warum Sie es stechen ließen. Sie besitzen Dinge, die Sie zwar jetzt nicht einordnen können, doch mit der Zeit wird sich alles zusammenfügen. Was auch immer Ihre Vergangenheit sein mag, vielleicht wollten Sie sich von einem Aspekt dieser Welt befreien, der Sie belastet hat. Sie hatten die Chuzpe dazu, es ist Ihnen ja auch gelungen. Sie haben Ihr Ziel auf unverhofftem Weg erreicht. Die Bosporusbrücke hinunter ... Von nun an werden Sie Ihren Weg besser zeichnen.
Geben Sie all Ihren Patienten neben Medikamenten solche Hoffnungen mit auf den Weg, Frau Doktor? Dann erklären Sie mir doch bitte Folgendes: Mein Verstand ist angefüllt mit Wissen, über mich selbst aber findet sich kein einziges Wort. Die Namen von antiken Philosophen, die Farben der Fußballvereine, die Worte des ersten Astronauten auf dem Mond, all das weiß ich. Doch über mich selbst entdecke ich keine Spur in meinem Kopf, nicht einmal an meinen Namen erinnere ich mich. Sie nannten mir einen Namen, ich nahm ihn an.
Ich suche nach einem beruhigenden Hinweis, einem richtungweisenden Ausdruck in dem Gesicht im Spiegel. Ich halte mein Ohr an das Gesicht im Spiegel, an die Stelle, wo der Mund sitzt. Glatt. Kühl. Ich vernehme das Rauschen einer Welle, die hier vor Äonen eingeklemmt wurde. Dunkles Verlangen. Den feuchten Geruch eines Verlieses. Ich nähere mich einer Zeit, in der ich einst lebte, aus der ich jetzt aber herausgefallen bin. Als ich versuche, diesmal über andere Stufen in mein Gedächtnis hinunterzusteigen und die blaue Lampe im Bunker der Vergangenheit einzuschalten, lässt mich ein Schrillen zusammenfahren. Kommt es von innen oder von außen? Es hört sich wie der Wecker an, der die ganze Nacht über klingelte. Ich folge dem Geräusch in den Korridor. Passiere eine bedrückende Szenerie. Am anderen Ende des Wohnzimmers entdecke ich ein rot-schwarzes Telefon. Ich bleibe stehen, überlege, was zu tun ist. Bevor ich mich entscheiden kann, schweigt das Telefon. Es hat einen altmodischen Hörer und keine Tasten, sondern eine Wählscheibe. Und goldene Verzierungen, wie alte Leute sie mögen. Da läutet es erneut. Beharrlicher jetzt. Wenn ich rangehe, wird mich eine fremde Stimme fragen, wie es mir geht. Ohne es für nötig zu halten, sich vorzustellen. In der Annahme, ich würde sie schon erkennen. Schweige ich, wird sie ihre Frage wiederholen. Nach einem Augenblick des Zögerns wird sie an meiner Stelle reden. Wird von Dingen sprechen, die wir tun müssen. Wird an eine Sitzung oder ein Essen erinnern. Wird von den Unglücksfällen des Lebens bramarbasieren. Wird nach ein wenig Mitgefühl in bedauerndem Tonfall Vorwürfe machen. Wird sämtliche Miseren der Welt herunterleiern, bei jedem Ungemach ein Opfer benennen und mir, bevor ich die Chance habe, das Gespräch abzubrechen, den Fluch der Opfer an den Hals hängen. Wird, je länger ich schweige, von Thema zu Thema springen. Bei den Gefallen, die ich ihr getan habe, wird sie langsamer werden, wird sagen, mir sei zu verdanken, dass ihr die Wohltaten der Welt zuteilwurden, sie verstehe bloß nicht, warum ich in diese Lage geraten bin. Das werde ich nutzen, um das Wort zu ergreifen. Ich verstehe ja selbst nicht, warum ich in diese Lage geraten bin, werde ich sagen. Werde sie bitten, mir einen Gefallen zu tun und unverzüglich alle Geheimnisse über mich, von denen sie weiß, preiszugeben. Da ich mein Gedächtnis verloren habe, habe ich auch all die Jahre meines Lebens verloren, ich stehe am Nullpunkt. Ich werde sie um Erbarmen bitten, als wäre sie die Hüterin, die meine Vergangenheit in Händen hält. Dafür werde ich die allerbesten Wörter wählen. Werde der Stimme am anderen Ende der Leitung von einer Geschichte erzählen, die noch in einem Winkel meines Verstandes steckt. So fern die Vergangenheit ist, so fern ist auch die Zukunft. Ich kenne die Wege der Sterne nicht. Ich fühle eine Lawine heranrauschen, eine Lawine, die sich hinter Türmen und Wolkenkratzern gewaltig aufbaut, in den Verkehrslärm mischt und heranwälzt. Mein Herz drängt mich zur Eile. Ich trete ans Fenster, ziehe den Vorhang vor. Schließe ihn fest, damit von nirgendwoher Licht eindringt. Das Telefon verstummt.
Ich setze mich auf das Sofa und warte darauf, dass das Telefon wieder klingelt. Auf dem Kaminsims fällt mir zwischen Kerzen in verschiedenen Farben eine marmorne Skulptur auf. Sie stellt Mutter und Sohn dar. Ich kenne die beiden. Maria hält ihren Sohn Jesus auf dem Schoß und schaut in sein lebloses Gesicht. Wie Wasser fließen die Marmoradern Maria von der Stirn über die Nase, weiter zu ihren Lippen. Jesu Körper ist bloß, ich kann die Rippen auf der rechten Brustseite zählen. Mit einem Arm hält Maria ihren Sohn, den anderen streckt sie wie Hilfe suchend aus. Ich erinnere mich an die beiden, kann aber die Zeit nicht einordnen. Wie viele Jahre ist das her? Geschah ihr Jammer vor wenigen Jahren oder vor ein paar Tausend?
Straßenhändler, lärmende Kinder, Taxis mit laut aufgedrehter Arabesk-Musik bevölkern die Gasse, ich fühle mich sicher in dieser Wohnung, von der ich nicht weiß, warum sie meine sein soll, trotz allem. Bevor man sich an Menschen gewöhnt, sollte man sich an die Dinge gewöhnen, sich einen Platz unter ihnen sichern. Der Rest ist fragen, Stimmen lauschen, durch Zimmer wandern und auf die Antworten warten. Ich weiß nicht, wie lange ich warten soll. Was, wenn nie Antwort kommt? Neben dem Kamin ist Holz aufgestapelt. Im hölzernen Schrank drängen sich Flaschen mit alkoholischen Getränken. Im Wohnzimmer Gitarren, Schallplatten, Beistelltische, Kronleuchter, Teppiche, Tisch und Stühle, sie wirken, als hätten sie sich noch nie von ihren Plätzen fortbewegt. Das Kristall des Lüsters, über meinem Kopf verfranst, erstreckt sich über die ganze Decke. Von einer Seite des Leuchters ist die andere nicht zu sehen. In den Kristallschichten könnten Scharen von Schlangen nisten und ihr Leben dort verbringen. Nachts, wenn die Stadt schläft (schläft die Stadt?), kriechen die Schlangen aus dem Lüster über die Decke, schlängeln mit ihren unsterblichen Sekreten über die Wände, winden sich durch die Vorhänge, zischeln, träufeln einander ihr Gift ein, paaren sich umschlungen, im ersten Sonnenlicht kehren sie dann, das Blut beruhigt, die Haut zerfetzt, in ihre Nester zurück. Wenn jedes Haus geheime Bewohner hat, dann sind es hier Schlangen, von ihnen stammt Fluch ebenso wie Glück.
Ich frage mich, ob mich diese sonderbare Vision schon früher heimgesucht hat. Jedes einzelne Möbel betrachte ich auf der Suche nach einem Kompass, der mir in dieser Wohnung eine Richtung weisen könnte, mir fällt auf, wie alt hier alles ist. Tisch und Stühle sind so alt wie ausgestorbene Baumarten, die Teppiche auf dem Boden wie Nomadenzelte. Ein Jahr und tausend Jahre geraten mir zwar durcheinander, doch dass das Leben des Todes ist, weiß ich wohl. Und begreife, dass ich nicht das anzweifeln sollte, was ich weiß, sondern das, was ich nicht weiß. Ich frage mich, warum mir diese Wohnung keinerlei Sinn offeriert, wo doch sogar die Geräusche auf der Straße jeweils eigene Bedeutung haben. Wer von uns fiel zwischen den stummen Wänden der Vergesslichkeit anheim, überlege ich, ist mir mein Zuhause entfallen oder hat mein Zuhause mich vergessen? Wer von uns beiden ist es, der seit gestern Abend kein Geheimnis preisgibt, wie ein blinder Bettler im Nichts steht und sich verschließt? Mich interessiert, was ich mit den drei Gitarren auf den Metallständern zu tun habe. Daneben ein Plattenspieler und eine Plattensammlung. An der Wand dahinter hängen alte Plattenhüllen. Am Anfang der oberen Reihe Delta Blues. Daneben Bessie Smith, Howlin’ Wolf, Chicago Blues. Auf dem Cover in der Reihe darunter steht Denizaltı: U-Boot. Keine Ahnung, warum es in dieser Reihe allein hängt, die Wandfarbe ringsherum glänzt. Als mir klar wird, dass der Glanz vom Sonnenlicht herrührt, drehe ich mich um. Am anderen Ende des Vorhangs steht ein schmaler Streifen offen, dort strahlt die Sonne herein. Ich stehe auf, ziehe den Vorhang ganz beiseite. Das Licht flutet herein und blendet mich. Ich weiche ein paar Schritte in die Raummitte zurück.
Mein Leben in dieser Wohnung besteht aus Wiederholung, das spüre ich. Ständig verliere ich das Gedächtnis, schlage jedes Mal wieder im Krankenhaus die Augen auf und kehre nach ein paar Tagen Aufenthalt dort nach Hause zurück. Erwache mit dem gleichen Kopfschmerz. Lerne, die Zeit in Minuten und Stunden einzuteilen. Gehe spätnachts schlafen und begreife, als ich eines Morgens erneut ohne Erinnerung im Krankenhaus erwache, dass ich dem ewigen Zyklus des Universums unterliege. Leer. Allein. Diese Gedanken, die mich nach dem Klinikaufenthalt nun auch zu Hause heimsuchen, treiben mich an die Grenze des Wahnsinns. Ich stelle Fragen und suche Sinn in der Wohnungseinrichtung. Der Samtüberzug des Sofas ist schön. Das Rot im Samt ist schön. Die Maria-Figur ist schön. Doch was bedeutet schön? Wüsste ich das, wenn ich mein Gedächtnis nicht verloren hätte?
Ich streiche über den Sofastoff. Wie eine Maschine bewege ich meine Hand und beobachte dabei die Gelenke. Eine Maschine mit menschlichen Sinnen. Sie hat ein Gehirn, doch ihr Programm schaltet hin und wieder auf Reset. Sie pendelt zwischen Null und Eins. Auch das Universum besteht aus der Bewegung zwischen diesen beiden Zahlen. Diese Bewegung, mitunter auch als Zeit bezeichnet, erwacht jetzt an meinen Fingerspitzen wie ein neugeborenes Tier zum Leben. Ein Tier und eine Maschine, im selben Leib vereint, suchen nach Spuren im Flaum des Stoffes und im Kristall des Leuchters. Mit Fragen ungewisser Antworten. Ich bin außerstande, die Fragen zu beantworten. Ich strebe zur Küche am anderen Ende des Flurs. Als ich jetzt die Küche, in der ich gestern Abend schon stand, erneut betreten will, halte ich inne und versuche zu visualisieren, wo die Spüle ist und wo der Kühlschrank steht. Als ich mir sicher bin, recke ich den Kopf vor. Erleichtert stelle ich fest, dass Spüle und Kühlschrank am richtigen Platz sind. Die Küche in meinem Kopf stimmt mit der echten Küche überein. So einfach kann das Leben sein. Hauptsache, mein Verstand spielt der Welt keine Streiche oder die Welt meinem Verstand. Selbstsicher betrete ich die Küche. Nehme die Karaffe vom Tisch und schenke mir ein Glas ein. Dabei lausche ich dem Geräusch des Wassers, wie es aus der Karaffe fließt. Als ich trinke, frage ich mich, ob Licht einen Geschmack hat. Mit den Fingern tupfe ich die Feuchtigkeit von den Lippen. Ich merke gar nicht, wie das auf dem Tischrand abgestellte Glas rutscht. Fahre zusammen, als es auf dem Boden zerschellt, trete zwei Schritte zurück. Lehne den Rücken an den Kühlschrank und verschränke die Hände. Ich mustere die Glasscherben vor den Schränken, bis zur Tür sind sie gesprungen. Ich fühle, wie die Welt, die ich in den letzten Tagen mühsam zusammengefügt habe, wie Glas zerbricht und erneut in tausend Stücke springt. Als ich mich am Küchentresen festhalten will, erschreckt mich ein schriller Ton. Alles stürmt auf mich ein. Dieses Schrillen klingt anders als das zittrige Läuten des Telefons. Es ist auch kein beharrlicher Wecker in der Nachbarwohnung. Es schrillt ganz in der Nähe, in meinem Kopf.
Mach auf, Boratin, ich bin’s, Bek. Während ich die Stimme draußen mit dem Gesicht abgleiche, das in meinem Kopf auftaucht, bewegt meine Hand sich zum Türschloss. Langsam drehe ich den Schlüssel, um Zeit für mein Gedächtnis zu gewinnen. Ich öffne die Tür, als ginge sie ins Nichts hinaus. Und blicke den im Korridor stehenden Mann an. Sein Gesicht kenne ich, es ist mein Freund (ist er mein Freund?), der mich zweimal in der Klinik besucht hat. Beim ersten Besuch war er besorgt, beim zweiten gelassen. Sein Tonfall klang vertrauenerweckend. Geht es dir gut? Ja. Ich war heute Morgen in der Klinik, da sagten sie, du seist entlassen worden, wolltest du nicht bis Anfang der Woche bleiben? Ich weiß nicht, gestern habe ich gesagt, ich will raus, das fanden sie in Ordnung. Wie konnten sie zulassen, dass du ohne Begleitung entlassen wirst? Sie haben nicht gleich zugestimmt, sie riefen dich an, aber dein Telefon war aus. Ich wollte nicht länger in einem vollen Zimmer bleiben, wo die Kranken stöhnen. Wir wechseln ins Wohnzimmer, setzen uns, ich auf denselben Platz auf dem Sofa, er auf den Sessel am Kamin. Er sieht sich um. Nachdem er herumgeschnuppert hat, als wäre er zum ersten Mal in dieser Wohnung, fällt sein Blick auf den Fußboden. Die Blutspur vom Parkett auf den Teppich, vom Teppich zu meinem Fuß, entdeckt er noch vor mir. Was ist mit deinem Fuß, fragt er. Die Ruhe in seiner Stimme ist verflogen. In der Küche ist gerade ein Glas zu Bruch gegangen, sage ich, auf dem Weg zur Tür, um dir zu öffnen, bin ich wohl in die Scherben getreten. Er steht auf. Ist im Nu in der Küche und schon mit einem Lappen, Watte und einem Glas Wasser zurück. Er kniet sich vor mich hin, hebt meine Füße, einen nach dem anderen, reinigt sie mit dem feuchten Tuch, einer ist unversehrt, beim anderen pult er seitlich eine Glasscherbe heraus. Er säubert den Schnitt, presst Watte darauf. Aus dem Schlafzimmer holt er mir Socken und Pantoffeln. Da er um den Schmerz an meiner Rippe weiß, hilft er mir, die Socken anzuziehen. Hast du gefrühstückt, fragt er, mustert mich im Pyjama. Ich bin spät aufgestanden, gegessen habe ich noch nichts, gebe ich Auskunft. Dann gehen wir raus, da schnappst du auch gleich ein bisschen frische Luft, schlägt er vor. Raus? Er meint das Draußen, das ich gestern Abend sah, als ich aus dem Krankenwagen stieg, im Gärtchen vor dem Haus stand und zu den Balkonen und dem Himmel im Lichtdunst hinaufschaute. Ich kann mich nicht verorten in der Welt, die ich nur einmal sah, den Rest versuche ich anhand der mir im Gedächtnis haften gebliebenen Informationen zusammenzusetzen. Sagte man mir, ich träume, würde ich es glauben. In der Nacht träumte mir, alles woge auf und ab und hin und her, als schwämme es im Wasser. Schallplatten, Bilder, Stimmen, Gesichter, Namen. Nichts hat einen festen Platz, nichts berührt sich. Ungewiss auch, in welche Zeit alles gehört. Leben die Sänger noch, deren Fotos ich auf den Plattenhüllen sehe? Leben die Menschen, an deren Namen ich mich erinnere, jetzt, oder stammen sie aus früheren Jahrhunderten? Heute bleibe ich lieber zu Hause, sage ich, schiebe den Schnitt am Fuß vor. Gut, dann hole ich ein paar Dinge aus dem Laden. Er geht raus, nachdem er die Glasscherben in der Küche beseitigt und einen Blick in den Kühlschrank geworfen hat. Bek kann ohne Weiteres raus, weil er einen Platz in der Welt da draußen hat. Mir hingegen ist selbst mein Gesicht im Spiegel fremd. Ich gleiche einem leeren Blatt Papier. Ich habe kein Innen und kein Außen. Ungewiss, wo mein Osten ist und mein Westen, ungewiss mein Süden und mein Norden. Mir ist, als stürzte ich ins Nichts, wohin ich den Fuß auch setze. Die Tage verbringe ich damit, auf den Abend zu warten. Habe ich mit einem Glas Wasser meine Medikamente eingenommen, schließe ich die Augen, hoffe, im Schlaf kehre meine Vergangenheit zurück, und zähle. Einundvierzig, zweiundvierzig, dreiundvierzig … Sind wohl die Richtungen, die Namen und Bilder meiner früheren Tage noch am richtigen Platz? War ich denn früher überhaupt am richtigen Platz?