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Über den Roman

Gisa Stein, genannt Peasy, wächst in Oranienburg nahe Berlin auf. Ihr Traum ist es, Tänzerin zu werden, und sie schafft es bis an die Staatsoper. Doch hier gerät sie in die Fänge der Stasi. In ihrer Verzweiflung versucht sie mit ihrem Ehemann Edgar, einem rebellischen Architekten, in den Westen zu fliehen. In einer kalten Januarnacht 1974 wird das Paar an der Grenze festgenommen und wegen Republikflucht zu fast vier Jahren Haft verurteilt. Was Gisa dann im Frauenzuchthaus Hoheneck durchmacht, ist die Hölle. Von unzähligen Briefen, die Edgar ihr schreibt, erreicht sie nur ein einziger: Er liebt sie und glaubt die Lügen nicht, die im Gefängnis über sie verbreitet werden. Aber Gisa hat ein Geheimnis. Wie hoch ist der Preis dafür?

Von Hera Lind sind im Diana Verlag bisher erschienen:

Die Champagner-Diät

Schleuderprogramm

Herzgesteuert

Die Erfolgsmasche

Der Mann, der wirklich liebte

Himmel und Hölle

Der Überraschungsmann

Wenn nur dein Lächeln bleibt

Männer sind wie Schuhe

Gefangen in Afrika

Verwechseljahre

Drachenkinder

Verwandt in alle Ewigkeit

Tausendundein Tag

Eine Handvoll Heldinnen

Die Frau, die zu sehr liebte

Kuckucksnest

Die Sehnsuchtsfalle

Drei Männer und kein Halleluja

Mein Mann, seine Frauen und ich

Der Prinz aus dem Paradies

Hinter den Türen

Die Frau, die frei sein wollte

Über alle Grenzen

Vergib uns unsere Schuld

Die Hölle war der Preis

Die Frau zwischen den Welten

Grenzgängerin aus Liebe

HERA

LIND

Die Hölle

war der

Preis

Roman nach einer wahren Geschichte

Vorbemerkung

Dieses Buch erhebt keinen Faktizitätsanspruch. Es basiert zwar zum Teil auf wahren Begebenheiten und behandelt typisierte Personen, die es so oder so ähnlich gegeben haben könnte. Diese Urbilder wurden jedoch durch künstlerische Gestaltung des Stoffs und dessen Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus dieses Kunstwerks gegenüber den im Text beschriebenen Abbildern so stark verselbstständigt, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der Figuren objektiviert ist.

Für alle Leser erkennbar erschöpft sich der Text nicht in einer reportagehaften Schilderung von realen Personen und Ereignissen, sondern besitzt eine zweite Ebene hinter der realistischen Ebene. Es findet ein Spiel der Autorin mit der Verschränkung von Wahrheit und Fiktion statt. Sie lässt bewusst Grenzen verschwimmen.

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Zitatnachweis:

[[>>]] Textauszug aus: Bertolt Brecht, »Einheitsfrontlied«, in: ders., Werke. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Band 12: Gedichte 2.

© Bertolt-Brecht-Erben/Suhrkamp Verlag 1988.

[[>>]] »Stufen«, aus: Hermann Hesse, Sämtliche Werke in 20 Bänden, hrsg. v. Volker Michels. Band 10: Die Gedichte.

© Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002.

Copyright © 2020 by Diana Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotive: © Miguel Sobreira/Trevillion Images;

Shutterstock.com (Olga Pink; boonchob chuaynum; TaraPatta)

Herstellung: Helga Schörnig

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-24543-6
V003

www.diana-verlag.de

Für meine Eltern, die mir unter den unwürdigen

Bedingungen der DDR-Diktatur eine Kindheit

und Jugend ermöglicht haben, in der der Geist

von Freiheit und Individualität Raum bekam,

sodass ich zu dem Menschen werden konnte,

der ich heute bin.

Peasy

Nein, ich war keine Träumerin. Ich bin durch die Hölle

gegangen, um den Traum von Freiheit irgendwann

einmal leben zu können.

Peasy

1

Ostberlin, in der Nacht zum 1. April 1973

Nebenan schnarchte mein künftiger Schwiegervater.

»Was ist denn nun mit Eileen?«, flüsterte ich neugierig.

Auch Schwiegermutters gleichmäßige, tiefe Atemzüge drangen durch die dünnen Wände bis zu meinem Verlobten und mir herüber. Bevor mein liebster Ed einschlafen konnte, kuschelte ich mich ganz dicht an ihn. Eds Schnauzbart kitzelte, als ich ihm einen Gutenachtkuss gab. Sofort durchströmte mich sein mir so vertrauter Duft.

»Dein Vater hat beim Abendessen gefragt, wann eure Diplomarbeit endlich fertig ist, und das möchte ich ehrlich gesagt auch mal wissen!«

Neugierig stützte ich mich auf den Ellbogen und blies meinem Liebsten eine widerspenstige Strähne aus der Stirn. Er trug lange Haare, was damals in der DDR nicht allzu gern gesehen wurde, aber Ed war alles andere als staatskonform. Aus Protest lief mein zukünftig Angetrauter in einer amerikanischen Originalkutte aus dem Ami-Shop in Hamburg herum, die ihm seine Tante Irene geschickt hatte. Ed verweigerte das Tragen von FDJ-Hemden, das Schwenken von Fahnen und Transparenten bei verordneten Aufmärschen und Kundgebungen. Er fand alles in der DDR scheiße, verlogen und lächerlich. Ich dachte zwar genauso, aber im Gegensatz zu mir sagte mein mutiger Mann das auch laut.

»Eileen?« Er klang, als hätte er schon geschlafen. »Was soll mit ihr sein?«

»Ach komm, Ed! Mir kannst du es doch sagen! Oder denkst du immer noch, ich bin eifersüchtig?« Ich gab ihm einen zärtlichen Stups. »Bin ich echt schon lange nicht mehr!«

Ed und Eileen waren »nur« gute Freunde, sie studierten beide im letzten Semester Architektur an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee und schrieben ihre Diplomarbeit zusammen, aber in jüngster Zeit schienen sie nichts zu tun, was sie in der Hinsicht weiterbrachte. Mein geliebter Freigeist Ed zeichnete sich nicht gerade durch übertriebenes Strebertum aus, was ich umso mehr an ihm liebte. Die wiederholte Frage seines Vaters, was denn nun mit der Diplomarbeit sei, war durchaus berechtigt. Wenn er keine Lust auf das Studium hatte, trampte er durch die DDR mit allem, was fuhr: mit Pferdefuhrwerken, aber auch mit Lastern voller Äpfel oder Kohlköpfe. Dann konnte er stundenlang Landschaften skizzieren, alte Gebäude fotografieren oder Schopenhauer und Kleist lesen und in seiner Traumwelt versinken. Aber WENN er arbeitete, war er brillant. Seine Entwürfe konnten sich durchaus sehen lassen und wiesen ein hohes Maß an Kreativität auf. In der DDR Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre wurde diese Art Begabung, gepaart mit einer gehörigen Portion Eigensinn zwar gerade noch geduldet, aber dafür umso genauer beäugt. Mein Ed war eben etwas Besonderes.

»Ed, ich will wissen, was mit Eileen ist! Ich hab sie ewig nicht mehr gesehen«, bohrte ich nach. Eileen rebellierte genauso gegen das System wie Ed.

»Psst, Peasy!« Ed legte den Arm unter meinen Kopf und zog mein Ohr ganz dicht an seine Lippen.

»Ich sag’s dir, aber flipp jetzt nicht aus, okay?«

In mir zog sich alles zusammen. Da war irgendwas im Busch.

»Ist sie schwanger?« Mein Herz klopfte. Ed zog missbilligend eine Braue hoch. »Das sollte ein Scherz sein!«, setzte ich hastig nach.

Warum war er auf einmal so ernst? Er nahm meine Hand in seine und hielt sie ganz fest. In seinen dunklen Augen lag etwas Geheimnisvolles. Er hatte mich doch nicht … Er würde doch nicht …?

»Peasy, was ich dir jetzt sage, muss absolut unter uns bleiben, versprichst du mir das?« Sein Blick war ernst. Sehr ernst.

Plötzlich durchzog es mich heiß. Etwas wirklich Dramatisches musste passiert sein. Aber doch hoffentlich nicht DAS EINE. Ich liebte meinen Ed vorbehaltlos. Wir hatten doch keine Geheimnisse voreinander?

»Versprochen«, raunte ich tonlos und versuchte tapfer zu sein.

Und dann ließ Ed die Bombe platzen. »Kreisch jetzt nicht los, okay? Sie ist in den Westen abgehauen.«

Mein Herz machte einen dumpfen Schlag. Vor Erleichterung, vor Entsetzen, vor Respekt, vor Überraschung. Ruckartig setzte ich mich auf.

»Sie ist weg? Für immer?«

Die gelbbraun gestrichenen Wände unseres Zimmers kamen auf mich zu. Draußen ratterte eine Straßenbahn vorbei, und der orientalisch anmutende Vorhang, den Ed als »Meisterdekorateur« irgendwo aufgetrieben hatte, um das triste Grau unseres Lebens aufzulockern, wehte wie von Geisterhand vor dem Fenster hin und her.

Ich kreischte nicht. Ich schluckte trocken und würgte an einem Kloß.

Ed gab mir Gelegenheit, die Nachricht zu verdauen, und strich beruhigend über meinen Rücken. Schon immer war ich eifersüchtig auf alle Frauen gewesen, die in Eds Nähe sein durften. Und erst recht auf diese selbstbewusste coole ausgeflippte Eileen!

»Wusstest du davon?«

»Nein, Peasy, natürlich nicht!«

»Aber wie hat sie das hingekriegt?« Meine Stimme wurde schrill.

Ich spürte Eds Hand auf meinem Mund. »Bitte beruhige dich, Peasy. Du weißt, die Wände haben Ohren!« Tatsächlich hatte Schwiegervater Georg aufgehört zu schnarchen.

Kraftlos ließ ich mich nach hinten plumpsen und starrte wie betäubt an die Decke.

Eileen. In den Westen. Abgehauen. Mein Herz klopfte so heftig, dass der Kragen meines Nachthemds über der Halsschlagader hüpfte. Sollte ich mich jetzt für sie freuen? Oder doch eher für mich? Ich wollte auch in den Westen, verdammt! Wer von uns Studenten wollte das nicht?

Aber allein darüber nachzudenken war schon utopisch!

Ed legte sich auf mich, als wollte er mir mit seiner Körperwärme neues Leben einhauchen. Er nahm meine Handgelenke und presste sie ins Laken. »Sie hat mich angerufen«, raunte er mir ins Ohr. »Sie ist in Westberlin. Wenn du zum Fenster rausschaust, kannst du sie fast sehen.«

Lange konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Ich lag einfach da, spürte den Herzschlag meines Liebsten und roch den Duft seiner Haare, die mir ins Gesicht gefallen waren und mich kitzelten.

Endlich hatte ich die Nachricht verdaut. »Wie zum Teufel hat sie das geschafft? Gibt es Hintermänner …?«

»Das konnte sie mir am Telefon natürlich nicht sagen.« Ed stützte sich auf und sah mir ernst in die Augen. »Nur so verschlüsselt: Klaas hat damit zu tun.«

Wieder zuckte ich zusammen. »Klaas? DER Klaas? Der dicke Cousin mit den roten Haaren und dem Methusalem-Bart?«

»Ja, verdammt!« Ed musste sich ein Lachen verkneifen. »Häng doch gleich ein Fahndungsplakat an die Litfaßsäule, Schätzchen!«

»Ich kann’s nicht fassen!« Ächzend drehte ich mich auf den Bauch und vergrub das Gesicht im mit Frottee bezogenen Kopfkissen. Der »Vetter aus Dingsda«, wie wir ihn spaßeshalber nannten, schickte Eileen immer Westpakete und kam ab und zu vorbei, um uns vom Schlaraffenland vorzuschwärmen. Er tat immer so cool, und ich wusste gar nicht, ob ich ihn mochte. Aber ihm war das Unfassbare gelungen, was wir beide kaum zu denken, geschweige denn auszusprechen wagten, nämlich Eileen auf welche Weise auch immer in den Westen zu schmuggeln!

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass sie sie nicht an der Mauer abgeknallt haben!« Ed strich mir beruhigend über den Rücken. »Oder dass sie nicht im Knast gelandet ist.«

»Die ist ja wahnsinnig«, flüsterte ich halb begeistert, halb neidisch, und hieb auf das Kopfkissen ein. »Dass die sich das getraut hat!«

Wir warteten, bis Georg wieder tief und gleichmäßig schnarchte. Dann wisperte Ed geheimnisvoll: »Sie sagt, sie war am Wochenende zum Skifahren in der Schweiz und hat dabei schon einen tollen Typen kennengelernt.«

Wie von der Tarantel gestochen, schnellte ich hoch. »Du verarschst mich doch.« Plötzlich musste ich lachen. »Stimmt’s, Ed, du bindest mir schon die ganze Zeit einen Bären auf.« Mit einem Blick auf den Radiowecker gluckste ich: »Seit einer Minute ist der erste April!« Ich nahm das Kopfkissen und zog es ihm über den Kopf. »Du Mistkerl, das sieht dir ähnlich, und ich bin drauf reingefallen!«

Ed hielt das Kopfkissen wie einen Schutzschild zwischen uns. Georg hatte wieder aufgehört zu schnarchen, und mir wurde mehr und mehr bewusst, was Ed da gerade kundgetan hatte. Ich geriet ins Zweifeln.

»Sie ist wirklich … Du hast mich nicht …«

»Behalt’s um Himmels willen für dich, Peasy.«

Ja, wem sollte ich das wohl erzählen? Selbst an meiner Berufsfachschule für Bekleidung in der Warschauer Straße traute ich niemandem über den Weg. Es wimmelte überall von Spitzeln, die einen aushorchten, und ich war auf der Karriereleiter sowieso schon auf die unterste Stufe verbannt worden. Tiefer fallen konnte ich gar nicht mehr! (Das glaubte ich zumindest. Wie naiv von mir!) Meine Träume hatte ich in diesem Land alle längst begraben müssen.

»Dann schreibst du deine Diplomarbeit jetzt allein zu Ende?« Neugierig musterte ich Ed, der sich inzwischen eine Zigarette angesteckt hatte und unser Zimmer vollpaffte. »Oder gibst du dein Studium etwa auf?«

Ed war alles zuzutrauen. Er liebte wilde Kellerpartys mit West-Whisky aus Tante Irenes Hamburger Paketen ebenso wie das tagelange Abtauchen irgendwo im Nirgendwo.

»Nee, den Gefallen tue ich denen nicht. Die werden mich jetzt erst recht auf dem Kieker haben.« Im schwachen Schein der Straßenlaterne sah er aus wie eine griechische Statue – so schön, aber auch so zerbrechlich. Trotzdem musste ich ihn das fragen.

»Ed, hast du mit Eileens Flucht irgendwas zu tun? Wusstest du davon?!«

»Nein, ich hatte echt keine Ahnung, das musst du mir glauben. Aber sie wissen, dass Eileen und ich Studienfreunde waren.« Er biss sich auf die Unterlippe. »Sie werden mich von nun an also besonders beobachten. Und dich auch.« Ed legte den Finger auf meine Lippen, weil ich noch etwas erwidern wollte und zwar lauter, als es für uns beide gut war.

»Wir müssen jetzt umso vorsichtiger sein!« Eine Zigarettenlänge lang sagte keiner von uns ein Wort. Durch die Wände drangen immer noch Georgs Atemzüge. Ed stieß eine letzte Rauchwolke aus. »Auch meine Eltern dürfen von Eileens Flucht nichts erfahren. Besonders für Vaters Karriere wäre das Wissen darum nicht ungefährlich. Er müsste es bei seinen obersten Bonzen pflichtgemäß melden!«

Georg war ebenfalls Architekt. Er hatte in unserer Straße am Märkischen Ufer durchgesetzt, dass die schönen Altberliner Bauten an der Spree nicht abgerissen wurden, so wie es die Bonzen gern gehabt hätten. Nach deren sozialistischer Stadtplanung sollten dort seelenlose Plattenbauten entstehen. Stattdessen hatte sich Georg unter großen Anstrengungen für die Sanierung der heruntergekommenen Gebäude eingesetzt. Auch das Haus, in dem wir wohnten, hatte vor dessen Instandsetzung unter dem Zahn der Zeit geächzt. Es fehlte ja an allen Ecken und Enden Geld und Material. Aber mein Schwiegervater hatte es in seiner Funktion als Denkmalpfleger geschafft, diese Wohnungen innen modern zu gestalten, die Fassaden aus dem 18. und 19. Jahrhundert aber stilgetreu zu erhalten.

»Ich sehe mir morgen mal Eileens Bude an«, flüsterte Ed in die mitternächtliche Stille hinein. »Schließlich liegen unsere Unterlagen noch bei ihr auf dem Schreibtisch.«

»Bitte? Bist du wahnsinnig?« Ich schnellte hoch. »Hast du nicht gerade gesagt, wir müssen vorsichtig sein? Du kannst dich jetzt doch nicht mal in die Nähe ihres Hauses wagen!«

»Pssst!« Ed legte seine warme Hand an meine Wange. »Peasy, du musst mir vertrauen! Wenn mich jemand beobachtet oder sogar anspricht, werde ich sagen, dass ich mit Eileen zum Arbeiten verabredet war und mich wundere, warum ich sie nicht antreffe.«

Eigentlich war das der einzig logische Schachzug, um unverdächtig zu bleiben. Ed war eben immer cool. Dennoch machte ich mir Sorgen.

Ich kannte das alte heruntergekommene Mietshaus, in dem Eileen gewohnt hatte. Sie war, genau wie wir, keine, die sich um eine Plattenbauwohnung gerissen hätte. Abgesehen davon, dass sie auch niemals eine bekommen hätte. Ed hatte immer wieder davon geschwärmt, was er aus diesem einst prächtigen Altbau machen könnte, wenn er zur Sanierung freigegeben wäre. Mit seinen großen, hohen Räumen wäre es ein wahrer Palast geworden.

»Bleib da weg, Ed!« Ich spürte, wie mir heiß wurde. Nicht dass sie meinen wagemutigen Ed wegen dieser Aktion zur Nationalen Volksarmee einziehen würden. »Das ist zu gefährlich! Warte lieber noch ein paar Wochen!«

»Nein, Peasy. Das Gegenteil ist zu gefährlich: Wenn ich mich jetzt nicht mehr bei ihr blicken lasse. Dann denken die, ich weiß Bescheid. Das macht mich erst recht verdächtig.« Wir benutzten beide nie das Wort »Stasi«. Er küsste mich innig und grinste mich verschmitzt an. »Und jetzt lass uns das Thema wechseln, ja? Ich will dich nur noch genießen!«

Seine Hände wanderten über meinen Körper, und ich merkte, wie ich mich endlich entspannte. An Schlafen war sowieso nicht mehr zu denken.

Eileen war weg. Gut für sie und gut für mich.

Ed!, dachte ich, während ich seine zärtlichen und doch zielführenden Berührungen genoss. Du gehörst mir. Nur mir. Du hast gesagt, ich kann dir vertrauen. Und das tue ich.

Anschließend ließ ich mich fallen.

2

Ostberlin, April 1973

»Hilfst du mir in der Küche, Liebes?«

Thea, meine Schwiegermutter, sah mich bittend an, als Georg am nächsten Abend schon wieder mit strenger Stimme das Thema Diplomarbeit ansprach.

»Junge, wann willst du endlich mal zu Potte kommen? Nicht dass ich euch nicht gern bei uns hätte, aber du solltest irgendwann mal auf eigenen Beinen stehen! Ihr wollt doch sicher auch mal Kinder, oder nicht?«

Ed verdrehte die Augen und sandte mir auf meinen fragenden Blick hin nur ein stummes »Es gibt Neuigkeiten, aber später!«

»Peasy steht ja auch bald auf eigenen Beinen, nicht wahr, Liebes?«, sprang meine Schwiegermutter uns bei. »Wann ist noch mal deine Abschlussprüfung an der Modeschule?«

»Nächstes Jahr im Januar.«

Thea stapelte die Teller aufeinander, und ich legte die Servietten zusammen.

»Gehen wir rüber.« Ihr Blick besagte: »Männergespräch!«

Die sanierte Altbauwohnung, in der wir zu viert lebten, war zwar ganz schön eng für uns, aber an eine eigene Wohnung für uns, die noch nicht geheiratet hatten, war erst mal nicht zu denken, so ein Wohnraummangel herrschte in der DDR. Zu meiner Mutter Gerti in die Provinz nach Oranienburg zu ziehen war keine Option für uns. Wir liebten Berlin und ihre kulturellen Möglichkeiten.

Die Schwiegereltern hatten sich gefreut, »so eine liebreizende Tochter« dazuzubekommen. Womöglich hofften sie, ich könnte ihren rebellischen Ed ein bisschen bändigen. Dabei war ich genauso rebellisch wie er. Nur dass mich meine gutbürgerliche Erziehung gelehrt hatte, vieles für mich zu behalten und höflich und bescheiden zu sein, wie es sich für Töchter, die Ende der 40er-Jahre geboren worden waren, auch in der DDR noch gehörte.

Am liebsten hätte ich mit Thea jetzt über banale Dinge geredet – aber welches Thema war eigentlich noch unverfänglich genug, außer vielleicht das Wetter?

»Wie geht es deinem Patenkind?« Thea ließ heißes Wasser in das Spülbecken laufen und krempelte sich die Blusenärmel hoch. Sie hatte sich eine Küchenschürze umgebunden und zog die medizinischen Gummihandschuhe an, die sie heimlich in der Charité hatte mitgehen lassen, wo sie als OP-Schwester arbeitete. Das war eigentlich Diebstahl von Staatseigentum, aber damit nahm es Thea nicht so genau.

Ein süßes Ziehen überkam mich. »Lilli?« Ich schluckte trocken. »Gut, glaube ich.« Ich nahm das alte Tafelsilber vom Tablett und ließ es etwas ungeschickt auf die Spüle klirren.

»Glaubst du?« Thea musterte mich von der Seite. »Ich denke, ihr habt die Kleine vor Kurzem noch bei deiner Schwester besucht?«

Ich wusste nicht, wohin mit meinen Händen. Dieses Thema war alles andere als banal.

»Ihr möchtet bestimmt auch bald Kinder, Ed und du?« Thea warf mir einen aufmunternden Blick zu. »Schließlich seid ihr jetzt beide vierundzwanzig. In eurem Alter haben andere schon mehrere Kinder!« Sie lachte.

»Wir lassen uns noch etwas Zeit«, sagte ich ausweichend.

»Und deine Schwester hat immer noch keinen Mann? Wisst ihr denn, von wem das Kind ist?«

»Nein.« Beklommen begann ich die heißen, noch tropfenden Teller abzutrocknen. »Lilli ist schon mit vier Wochen in die Krippe gekommen. Als ganz kleines Würmchen.« Mir tat das immer noch weh.

Thea verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Wenigstens in der Kinderbetreuung ist unser Staat ›vorbildlich‹. Keine junge Mutter wird von der Werktätigkeit abgehalten. Als was arbeitet deine Schwester noch mal?«

»Kristina?« Ich räusperte mich. »Sie ist Grundschullehrerin.«

Thea stellte mit Schwung neue Teller auf die Spüle. »Ich durfte auch gleich wieder in meinem Beruf als Krankenschwester arbeiten, als Ed vier Wochen alt war. Um die Kinderbetreuung hat man sich ja damals schon mit ideologischer Gründlichkeit gekümmert.« Mit ironischem Unterton fuhr sie fort. »Ich habe ihn jeden Morgen um sechs in der Kinderkrippe abgegeben und genau zwölf Stunden später, um Punkt achtzehn Uhr, an der Tür zurückbekommen. Wie ein Paket. Einfach perfekt organisiert – der ganze Staat, das ganze Leben.«

Sie wies mit dem Kinn in Richtung Esszimmer, in dem immer noch Georgs sonore Stimme zu hören war, der meinem armen Ed bezüglich seines Diploms Druck machte.

»Junge, deine Exzesse müssen doch auch irgendwann mal ein Ende haben«, hörte ich meinen Schwiegervater dröhnen. »Du reizt deine Professoren bis aufs Letzte, wenn du die Diplomarbeit immer noch nicht abgibst! Sei doch froh, dass du überhaupt an der Kunsthochschule Weißensee studieren durftest!«

»Vater, jetzt mach mal halblang«, verteidigte sich Ed. »Dass Eileen nicht mehr im Boot ist, dafür kann ich doch nichts!« Ich spitzte die Ohren, doch Thea plauderte ahnungslos weiter.

»Georg will doch auch endlich Großvater werden, deshalb macht er seinem Sohn jetzt Beine! Ihr wärt bestimmt wunderbare junge Eltern.«

Ich rang mir ein schiefes Lächeln ab. »Wo kommen die Radieschen hin?«

»Ach, die sind nix mehr. Wirf sie weg.« Thea nahm sie mir beherzt aus der Hand und entsorgte sie in dem weißen Treteimer. »Dafür habe ich nach meiner Arbeit eine Stunde Schlange gestanden. Von wegen ›Heute frisches Gemüse‹!«

»Ja, unser toller sozialistischer Staat. Im Prinzip gibt es alles zu kaufen, hat Honecker doch neulich gesagt. Und ich frage mich: Wo ist das Kaufhaus Prinzip?«

Wir lachten. »Das darfst du aber nicht laut sagen«, kicherte Thea und wechselte schnell wieder das Thema. »Wie alt ist deine kleine Lilli gleich wieder? Vier?«

Hatte sie »deine kleine Lilli« gesagt? Nervös legte ich die restlichen Wurst- und Käsescheiben zurück in das Fettpapier und räumte sie in den Kühlschrank. Es tat gut, Thea einen Moment lang den Rücken zuzukehren.

»Du meinst mein Patenkind. Ja, stimmt. Sie plaudert, singt und tanzt …« Ich unterbrach mich. »Sie ist … ziemlich süß.« Ich wischte mir mit dem rechten Ärmel meines Pullovers über die Augen. Ihre Zärtlichkeiten waren so ungestüm, dass ich sie Tage später noch spürte.

»Du magst die Kleine sehr, nicht wahr?« Theas weibliches Gespür ließ mir die Knie weich werden. »Dann solltest du wirklich selbst bald Mutter werden, kleine Peasy. Jetzt, wo es mit dem Tanzen nichts mehr wird.«

Ich schluckte. »Soll ich die Quarkspeise draußen stehen lassen?«

»Nein, die isst heute keiner mehr.« Thea spülte die Reste weg. Ich sah sie in dicken Klecksen im Ausguss versickern. Genauso fühlte sich gerade mein Hals an. Der Kloß wollte einfach nicht weichen. Ich wollte in diesem Land einfach nicht Mutter werden! Die würden mir das Kind ja doch nach vier Wochen wegnehmen und in so eine Krippe stecken wie Lilli! Nachdem sie mir bereits alle meine Träume genommen hatten.

Thea hielt die tropfenden Hände hoch und sah mich prüfend an. »Hier, die kannst du auch schon abtrocknen.« Sie warf mir ein Küchenhandtuch zu. Anscheinend spürte sie, dass ich emotional aufgewühlt war.

Dankbar, meine Hände beschäftigen zu können, griff ich nach dem nassen Teller.

»Kristina macht das toll als alleinerziehende Mutter.« Ich versuchte ein Lächeln. »Als solche wurde ihr eine kleine Plattenbauwohnung zugeteilt. Zwei Zimmer mit Bad, gleich in der Nähe vom Kinderhort. Die Kleine kriegt dort auch zu essen und …« Ich verstummte. »Hast du Ed wirklich jeden Morgen um Punkt sechs an der Tür abgegeben wie ein Paket?«

Thea zuckte nur mit den Schultern. »Sie haben ihn mir förmlich entrissen. Jedes Kind bekam die gleiche Kleidung angezogen, keines sollte besser oder schlechter angezogen sein. Sie haben das Kind dann auch gleich gewogen und gewickelt, das ging zack, zack, da haben wir Mütter überhaupt kein Mitspracherecht gehabt.« Fast entschuldigend verzog sie das Gesicht. »Aber was sollte ich machen? Um Punkt sieben musste ich bei der Arbeit antreten.«

»Ja, in diesem Staat wird nicht lange rumgezärtelt«, murmelte ich. »Bevor ich meine lang ersehnte Ballettausbildung anfangen durfte, musste ich schon als Vierzehnjährige neben dem Schulbesuch jeden Morgen um sechs Uhr in einer Maschinenfabrik arbeiten, um meinen Anteil zum Aufbau des Sozialismus beizutragen. Dafür musste ich um fünf Uhr früh, im Winter bei eisiger Kälte, mit einem Zug, der noch von einer Dampflok gezogen wurde, eine Stunde dorthin fahren und abends wieder nach Hause zurück.«

»Aber du hast es durchgehalten.« Thea schenkte mir einen anerkennenden Blick. »Was uns nicht umhaut, macht uns stark.«

»Vier Jahre lang. Immer in der Hoffnung, endlich tanzen zu dürfen.«

Unwillkürlich schossen mir die Tränen in die Augen. Verärgert wischte ich sie weg.

»Aber deinem kleinen Patenkind wird es bestimmt einmal besser gehen. Die Zeiten ändern sich.« Thea wollte mir etwas Nettes sagen, sie war so lieb!

»Ja.« Ich wollte so gern das Thema wechseln.

Sie schien das zu spüren.

»Woher kommt eigentlich dein Spitzname? Wie wurde aus Gisa Peasy?«

»Im Balletttraining an der Oper haben sie mich ›Easy Peasy‹ genannt«, gab ich bereitwillig Auskunft. »Weil ich für die Tänzer so leicht zu heben war. Wie eine Feder. Ich war schon immer ein Fliegengewicht. Ja, mir war, als könnte ich fliegen.« Meine Stimme wackelte bedenklich.

Thea ließ die Spülbürste sinken.

»Und, fehlt es dir sehr, Liebes, das Leben an der Staatsoper, das Ballett?«

»Das Tanzen war mein Lebenstraum. Und wird es immer bleiben.« Um nicht auf der Stelle loszuheulen, ging ich in die klassische Haltung. Meine Füße nahmen automatisch die fünfte Position ein, und am liebsten hätte ich ein paar leichtfüßige Sprünge gemacht. Aber ich war ja keine Tänzerin mehr. Ich machte jetzt eine Lehre zur Theaterschneiderin, musste nach dem Abitur wieder ganz von vorn anfangen. Wenn ich Glück hatte, würde ich im nächsten Januar meine Gesellenprüfung bestehen. Im Ballettschuhe-Nähen. Zum Tanzen würde ich nie wieder eine Chance bekommen. Nicht in diesem Staat.

Wie gern hätte ich den Teller jetzt gegen die Wand geworfen! Doch meine Erziehung verbot es mir.

Thea schrubbte etwas heftiger als nötig an einem Topf herum. »Die haben sich doch ins eigene Fleisch geschnitten, als sie dich erst in die zweite Reihe verbannt und schließlich ganz aussortiert haben.« Sie knallte den Suppentopf auf die Herdplatte. Der beißende Geruch von Scheuerpulver stieg mir in die Nase. »Mein Chefarzt hat mir erzählt, dass die russische Primaballerina, die jetzt das Schwanensee-Solo tanzt, niemals so grazil sein wird, wie du es warst.« Sie zischte verächtlich. »Und in der Gruppe der Schwäne, so sagt er, hättest du ohnehin alle in die Tasche gesteckt. Gott, muss das schwer sein, so synchron dahinzuschweben.« Sie fing an, das berühmte Tschaikowsky-Motiv zu pfeifen, und innerlich war ich gleich bereit zum Sprung.

»Am schwersten ist es, minutenlang reglos in einer Position zu verharren, während vorne die Solistin tanzt.« Ich wurde kurzzeitig zum eingefrorenen Schwan, den Blick nach oben gerichtet, die Arme über dem Kopf. »Da werden alle Muskeln starr, der Körper kühlt aus, und du hast schreckliche Angst vor der nächsten Spitzentanz-Bewegung.«

»Gott, wie anmutig du bist«, staunte meine künftige Schwiegermutter. »Und so was lassen die gehen …«

Schnell wandte ich mich wieder den Tellern zu, um nicht laut schreien zu müssen. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich nie wieder Schwanensee tanzen würde. Nie wieder.

Der Kloß in meinem Hals wurde immer dicker.

»Lass uns über was anderes reden, sonst fang ich noch an zu heulen.«

Also Patenkind nicht, Tanzkarriere nicht, Eileen nicht …

Plötzlich fiel mir auf, wie viele heikle Themen es gab, über die man besser nicht sprach. Mein junges Leben war von Enttäuschungen, Herabsetzungen und Katastrophen dermaßen gespickt wie die Käse-Igel auf Eds berüchtigten Partys. Der einzige Lichtblick war er – und seine Eltern, die es immer nur gut mit mir meinten. Sie konnten ja nicht ahnen, welch schwere Last auf meiner Seele ruhte und mich manchmal beinahe zu erdrücken drohte. Sie glaubten, es wäre nur das Tanzen. Aber es war noch viel mehr.

Thea reagierte sehr sensibel. »Liebes. Ich höre, die Gardinenpredigt nebenan ist zu Ende. Ich schnappe mir jetzt meinen Georg.« Sie trocknete sich die Hände an der Küchenschürze ab. »Wir haben nämlich für heute Abend etwas Kostbares ergattert. Theaterkarten!«

»Oh, prima! Für was denn?«

»Für Brechts ›Mutter Courage‹.« Sie grinste keck. »Da kann er noch was lernen. – Und du schnappst dir deinen Ed.« Sie drehte mich zur Tür und gab mir einen aufmunternden Klaps. »Warum geht ihr nicht noch ein bisschen spazieren? Es ist Frühling, die Amseln singen! Da kommt ihr beiden Turteltauben bestimmt auf andere Gedanken.«

»Aber der restliche Abwasch?«

»Der läuft uns nicht weg. – Im Gegensatz zu vielen Bürgern dieses Landes.«

Sie zwinkerte mir zu, drückte mir einen Kuss auf die Stirn und schob mich aus der Küche.

3

Ostberlin, Frühling 1973

»Ich war da!« Ed schlenderte, eine Zigarette im Mundwinkel, mit schlaksigen Schritten neben mir am Spreeufer entlang. Wie immer hatte er seine amerikanische Kutte und eine original Levi’s-Jeans an, dazu trug er lässige Cowboyboots, die gerade mega-angesagt, aber in der ganzen DDR nicht zu kaufen waren. Sein gesamtes Outfit war für DDR-Verhältnisse die reinste Provokation. Ich konnte ihn mir einfach nicht in den damals üblichen kurzärmeligen Hemden und Blousons über schlabberigen Stoffhosen mit Bügelfalten vorstellen. Er war eben kein Spießer, und dafür liebte ich ihn. Meinen selbst genähten roten Sommermantel trug ich offen und genoss die milde Abendluft, die so verheißungsvoll roch, dass ich mich für einen Moment frei fühlte. Neugierig hängte ich mich bei meinem Ed ein.

»Du warst in Eileens Haus?« Ich tänzelte neben ihm her und blinzelte in die untergehende Sonne, die das Flussufer in malerische Farben tauchte. Das frische Grün spross aus Bäumen und Büschen. Die Amseln zwitscherten, als gäbe es keine Grenze, keine Mauer und keine Ängste. Ob die Vögel wussten, dass nur sie ungehindert rüberfliegen konnten? Nein, natürlich nicht. Die schwarz gefiederten Dummerchen saßen auf ostdeutschen Mauern und Dachrinnen und flöteten wie verrückt. Vielleicht flöteten sie sozialistische Parolen? Seid bereit! Immer bereit! Hahaha.

»Erzähl doch endlich, Ed!« Gespannt wie eine Feder schüttelte ich seinen Arm.

»Die Haustür war offen, aber ihre Wohnung war versiegelt.« Ed schob sich die amerikanische Sonnenbrille hoch, sodass seine dunkle Mähne wie von einem Stirnband gebändigt wurde.

»Die wollten dich da schön reinlocken.« Wieder kam mir das Wort »Stasi« nicht über die Lippen. Sich vorzustellen, dass diese seelenlosen, seitengescheitelten, arschglatten Gestalten mit ihren speckigen Ledermänteln bereits in Eileens Wohnung alles auf den Kopf gestellt, ihre schmutzigen Hände in sämtliche Schubladen gesteckt und alles durchwühlt hatten: ihre Wäsche, ihren Schmuck, ihre persönlichen Tagebücher, ihre Kosmetika, ihre Menstruationsbinden. Mir wurde richtig schlecht bei dem Gedanken. Sicher hatten sie auch die fast fertiggestellte Diplomarbeit »konfisziert«. Die sie direkt zu Ed führen würde. Ich spürte einen zentnerschweren Druck. Spätestens jetzt waren sie uns auf den Fersen. Wie grauenvoll. Verunsichert sah ich mich um.

»Die Firma Horch und Guck macht gründliche Arbeit. Wenn die etwas können, dann schnüffeln.« Ed nahm noch einen letzten Zug von seiner Zigarette und warf den Stummel verächtlich in den Rinnstein. Die Art, wie er ihn austrat, drückte seinen Zorn auf diesen Staat aus. »Komm, lass die mal überholen.«

Er zog mich auf eine Ziegelmauer am Ufer und ließ zwei Männer vorbei, die dicht hinter uns gegangen waren. Wir setzten uns. Ich spürte die angenehme Wärme der Steine und wollte mich so gern entspannen! Aber das war völlig ausgeschlossen. Die Männer blieben nun auch stehen und setzten sich wie zufällig ebenfalls auf die Mauer. Für wie blöd hielten die uns eigentlich?

»Wie sah das Siegel aus?« Ich senkte die Stimme, schlang die Arme um meine angewinkelten Beine und legte das Kinn auf die Knie, wobei ich die zwei Spitzel nicht aus den Augen ließ.

»Einfach nur ein rotes Siegel.«

Endlich gingen die zwei Beobachter weiter, weil sie sich offensichtlich ertappt fühlten.

»Du standst also im Treppenhaus und konntest nicht rein.«

»Ausgeschlossen.« Ed nahm sein Zigarettenpäckchen aus der Hemdtasche und zündete sich eine neue an. »Aber außer meinem Namen auf der Diplomarbeit werden sie nichts gefunden haben, was mich belastet.«

»Meinst du, sie kommen auf den dicken Vetter aus Dingsda?«

»Klaas?« Ed legte den Kopf schief. »Die zwei haben sich soweit ich weiß immer nur an öffentlichen Plätzen getroffen.«

»Einmal waren wir dabei, am Märchenbrunnen. Da hat sie uns vorgestellt, weißt du noch?«

»Natürlich. Wie könnte ich das vergessen.« Ed grinste.

Ich seufzte. »Wie er damals rumgeschwärmt hat, wie das im Westen so ist: überall Lichter, tolle Kinofilme, Pressefreiheit, jeder darf sagen, was er will, jeder darf studieren, was er möchte …«

Ich verstummte und starrte Ed an. »Was, wenn wir dabei beobachtet worden sind?« Mich fröstelte, obwohl es doch so warm war. »Bei unserem … Westkontakt?«

Ed zog die Schultern hoch. »Wenn die sich so angestellt hätten wie die zwei vorhin, wäre mir das gleich aufgefallen.«

»Eileen hat sie jedenfalls alle ausgetrickst!« Ich legte den Kopf in seinen Schoß und starrte in den leuchtend roten Abendhimmel. »Ach Ed … Es hört sich so leicht an!«

»Ist es aber nicht, Peasy. Und das weißt du auch.« Er spielte mit meinen Haaren.

»Denkst du auch manchmal …«

»Nein.« Ed inhalierte tief. Dann sagte er plötzlich: »Natürlich. Dauernd.«

»Und glaubst du, wir könnten auch …?« Ich fuhr hoch. »Klaas könnte doch auch für uns was klarmachen? Hast du seine Telefonnummer?«

Seine Hand lag plötzlich auf meinem Mund. »Denk nicht mal daran. Die Typen sind noch nicht weit.«

»Aber wenn Eileen es doch geschafft hat«, murmelte ich unter seinen Fingern.

»Peasy. Versprich mir, dass du nie wieder davon anfängst, ja?« Er schüttelte mich wie eine Puppe. »Ich könnte meine Eltern niemals im Stich lassen. Und du deine Mutter Gerti doch auch nicht.«

Ich senkte den Blick und starrte auf die Mauer, über die nun langsam der Schatten kroch. »Meine Mutter würde sich freuen«, murmelte ich trotzig. »Sie ist eine starke Frau und würde nie was anderes für mich wollen. Erst recht nicht nach dem, was an der Staatsoper passiert ist. Ich könnte im Westen vortanzen …«

Der Druck seiner Hand verstärkte sich. Er schob zwei Finger unter mein Kinn und zwang mich, ihm ins Gesicht zu sehen. »Und dein kleines Patenkind? Deine kleine Lilli, hm? Könntest du sie einfach so im Stich lassen?« Er sah mir tief in die Augen.

Ich schluckte trocken und musste das Gesicht abwenden. »Nein«, flüsterte ich und senkte den Blick. »Natürlich nicht.« Mein Herz polterte dumpf. Die Typen standen jetzt am anderen Spreeufer und schauten zu uns herüber.

»Dann lass uns einfach nicht mehr davon reden, ja?« Ed reichte mir beide Hände, und wir sprangen von der Mauer. »Ich muss jetzt sowieso sehen, wie ich meinen Vater besänftigen kann. Die Scheiß-Diplomarbeit kann ich jetzt noch mal von vorne schreiben.«

»Ich helfe dir«, hörte ich mich schuldbewusst sagen. »Du weißt, ich kann gut tippen.«

»Na also. Schauen wir der Realität ins Gesicht. Bald bin ich ein diplomierter Architekt, und dann sehen wir weiter.«

Und während wir eng umschlungen weitergingen, wurde eine Melodie laut. Ich weiß nicht, wer damit anfing, sie zu summen, aber wir taten es beide.

»Die Gedanken sind frei …«

4

Ostberlin, Sommer 1973

Der Sommer ging ins Land, und an Ferien war nicht zu denken. Ed hatte mit seiner Diplomarbeit noch mal von vorne beginnen müssen und stand enorm unter Druck, sie allein fertigzustellen und abzuliefern.

Denn sein letztes Semester endete in diesem September und damit auch sein Studium.

Das einzige Exemplar war in Eileens Wohnung gewesen und natürlich von der Stasi beschlagnahmt worden. Hoffentlich hatte Eileen drüben im Westen ein rabenschlechtes Gewissen! Auch wenn ich sie glühend beneidete: Im Grunde meines Herzens war ich froh, dass sie weg war. Mein Ed gehörte mir, und ich wollte ihm helfen! Bis auf die von ihm ausgetüftelten Zeichnungen versuchte ich ihm so viel Arbeit wie möglich abzunehmen, indem ich seine Texte sorgfältig ins Reine tippte. Sein Vater war im Besitz einer alten »Erika«, einer wuchtigen schwarzen Schreibmaschine, die aussah wie ein ausgebauter Viertaktmotor aus einem russischen Panzer. Buchstabe für Buchstabe hackte ich auf das dünne graue Papier, und wenn eine Zeile voll war, brauchte ich alle Kraft, um den schweren Wagen wieder auf Anfang zu schieben. Wenn ich mich vertippte, musste ich das ganze Blatt rausreißen – oder aber, wie man sich in der DDR in einem solchen Falle behalf, mit einer Rasierklinge den Tippfehler wegkratzen und noch mal drübertippen. Hatte man Pech und ein Loch ins Papier gekratzt, konnte man die ganze Arbeit noch mal machen.

So verging der heiße Sommer. Stundenlang hockten wir mit krummem Rücken und rauchenden Köpfen in unserem kleinen Zimmer. Vielen Dank, liebe Eileen!

Aber auch mit meinem eigenen beruflichen Fortkommen war ich vollauf beschäftigt.

Ein Studium hatten sie mir verweigert. Nach all meinen Niederlagen und der herben Degradierung zum Schneiderlehrling versuchte ich, mich wenigstens auf diese Abschlussprüfung vorzubereiten.

Nach vier Jahren emotionaler Achterbahnfahrt war ich auf der Berufsfachschule für Bekleidung gelandet. Immer wieder hatten sie mich nach jeweils einer Woche Aufnahmeprüfung und vergeblichem Vortanzen abgelehnt. Jetzt galt es, in einer sozialistischen Produktionsgenossenschaft des Handwerks eine Schneiderlehre zu absolvieren und parallel dazu an dieser Schule theoretische Kenntnisse zu erwerben. An der Nähmaschine lernte ich Kostüme für das Fernsehballett zu nähen und Ballettschuhe in Handarbeit herzustellen. Dass das für mich, als ehemalige »Erste Tänzerin« an der Staatsoper, eine unfassbare Demütigung war, lag auf der Hand. Ich war weder der SED beigetreten, noch hätte ich mich jemals zu irgendwelchen Spitzeldiensten verpflichten lassen.

Ich wollte einfach nur tanzen, schweben, fliegen! Dafür hatte ich, neben dem Weg zum Abitur und der Arbeit in der Maschinenfabrik, eine harte, jahrelange Ausbildung bei meiner russischen Ballettmeisterin durchgehalten. »Hintern zusammenkneifen und durch!«, hatte sie immer mit gutturalem Akzent gerufen, wenn ich vor Lampenfieber sterben wollte. »Gleich ist Vorstellung! Zähne auseinander und lächeln!« Und dann war ich hocherhobenen Hauptes, anmutig und leicht wie eine Feder auf die Bühne geschwebt, um drei Stunden lang mein wahres Leben zu vergessen. Die Bonzen im Saal hatten sich die Hände wund geklatscht. Das war mein einziger Trost in diesem großen Gefängnis DDR!

So wie für Ed seine Malerei, seine Fotografie und seine Literatur. Wenn ich tanzte, war ich in einer anderen Welt. Und diesen Traum hatten sie mir genommen.

Sollte ich mein ganzes Leben so weitermachen, in einem Staat, der mich demütigte und strafte, in dem ich mich selbst und meine Liebsten belügen musste? Den ich abgrundtief hasste? Was würde noch alles kommen? Würden sie mich irgendwo in der Provinz in die Fabrik schicken, wenn ich die Prüfung an der Berufsfachschule nicht bestand?

An dem festen Seidenstoff der Ballettschuhe, die andere Mädchen tragen würden, nähte ich mir die Finger blutig. Oft mischten sich Tränen unter das Blut.

Ich wollte frei sein, im Westen sein, tanzen! Aber das war ein Ding der Unmöglichkeit.

Nur die Sonntage waren ein Lichtblick, denn dann setzten Ed und ich uns in die S-Bahn und fuhren raus nach Oranienburg, um mein kleines Patenkind Lilli zu besuchen.

Ich liebte dieses lebhafte, bildhübsche Mädchen mit einer Heftigkeit, die mir schier den Atem raubte. Sie erinnerte mich an mich selbst, als ich noch klein war: verträumt, mit viel Fantasie gesegnet, immer in Bewegung, also auch richtig anstrengend.

Mit meiner älteren Schwester Kristina hatte ich ein Abkommen: Der Sonntag gehörte ihr!

In dem hässlichen grauen Plattenbau, in dem der Kinderhort in Oranienburg untergebracht war, trichterten sie schon den Kleinsten sozialistische Parolen ein und ließen sie »Pionierlieder« singen, sie morgens beim Fahnenappell in Reih und Glied antreten. Die Kinder trugen das blaue Halstuch der Jungpioniere, und selbst die knapp vierjährige Lilli lief bereits damit herum. »Für Frieden und Sozialismus: Seid bereit!«, gab die Hortleiterin laut vor.

»Immer bereit«, quakte die Kleine wie eine aufgezogene Puppe im Chor mit den anderen. Der vorbildlich gelebte Sozialismus war der Preis für das gesicherte Leben der beiden. Sonst wäre es Kristina wahrscheinlich ähnlich ergangen wie mir: Dann hätte sie nicht studieren dürfen und würde jetzt womöglich irgendwo am Fließband stehen.

Ed und ich hatten ihr angeboten, Lilli jeden Sonntag zu nehmen, damit sie ihrer großen Leidenschaft nachgehen konnte: In der Berliner Marienkirche gestaltete sie gemeinsam mit einem engagierten Chor mit je einer Bachkantate den Gottesdienst. Mutter hatte mir mal anvertraut, dass sie hoffte, Kristina würde in diesem Chor vielleicht einen passenden Mann finden. Einen, der keine sozialistischen Parolen quatschte, sondern schöngeistige Choräle sang.

Auf der Wiese im Oranienburger Schlosspark oder am Lehnitzsee fühlten wir uns sonntags wie eine richtige kleine Familie, Ed, Lilli und ich, und in diesen Stunden war ich einfach nur wunschlos glücklich.

Oft besuchten wir mit der Kleinen auch meine Mutter Gerti, die ihre Enkelin schon sehnsüchtig erwartete.

Seit mein Vater vor einigen Jahren an seinem dritten Herzinfarkt gestorben war, war unsere Mutter innerlich zerbrochen. Früher war sie eine lebhafte, ständig musizierende Frau gewesen, die sich umso wohler fühlte, je mehr Menschen sich in unserem Wohnzimmer drängten. Sie stammte ursprünglich aus dem Rheinland, und die rheinische Frohnatur ließ sich einfach nicht verleugnen. Unsere Eltern hatten immer zusammengehalten und hatten unfassbar hart gearbeitet, um uns beiden Töchtern eine sorglose Kindheit zu ermöglichen. Da Vater selbstständiger Handwerksmeister gewesen war, der auch die Staatsoper mit seinen Zahnrädern und technischen Ersatzteilen beliefert hatte, hatten sich bei uns Regisseure, Schauspieler, Tänzer und Sänger die Klinke in die Hand gegeben. Bei uns war früher immer Leben im Haus, und es wurde heiß diskutiert, gelacht, gesungen und getanzt. Heute war das anders.

Nur die Sonntage, wenn wir mit Lilli bei Mutter auftauchten, waren Lichtblicke für sie.

Jetzt im Sommer durfte sie bei Mutter im Garten in einer alten Zinkbadewanne planschen, und wir lachten oft Tränen, wenn Ed mit ihr herumtobte und immer neue komische Einlagen erfand.

Mutters kleiner kurzbeiniger Köter kläffte dann auch noch um uns herum, und endlich war wieder Leben in der Bude. Der struppige Mischling hieß Ulrich – in wagemutiger Anspielung auf den früheren Staatsratsvorsitzenden Genosse Ulbricht.

Ulrich war ein schwerfälliger, in seiner Entwicklung womöglich leicht zurückgebliebener, schüchterner Zeitgenosse, der sich meist mit eingezogenem Schwanz im Hausflur herumdrückte, wo er fast immer mit dem Rücken zum Betrachter in seinem zerwühlten Körbchen unter der Treppe hockte und vor sich hin schmollte. Mutter musste den Kerl immer mit Gewalt vor die Türe zerren, damit er sein Geschäft draußen verrichtete. In solch strengen Momenten zischte sie genervt: »Ulrich! Raus mit dir! Wehe, du kackst mir ins Haus!« Wahrscheinlich hatte er eine schlimme Vergangenheit hinter Käfiggittern hinter sich. Sein eigentliches Drama war, dass er in dem kompakten Körper eines Boxer-Mischlings feststeckte, der einfach keine Bewegungsfreude verspürte. Ulrich sah gefährlich aus, war aber ein ausgesprochenes Weichei. Lilli liebte das hässliche Vieh abgöttisch, und wenn sie zu Besuch war, bequemte sich der faule Hund auch mal angestrengt schnaufend aus seiner Ecke hervor.

So auch jetzt: Der wasserscheue Zeitgenosse hockte neben der Zinkbadewanne und beobachtete das fröhliche Kind griesgrämig beim Planschen. »Komm, Ulrich, mach mit!«

Lilli bespritzte das übellaunige Tier, und Ulrich machte sofort kehrt, um sich wieder unter seinen Treppenabsatz zu verziehen, um eine weitere Runde zu schmollen. Aber da hatte Ed ihn schon mit beiden Händen am Hinterteil gepackt, und dem Hund schwante nichts Gutes.

Als Lilli anfing zu niesen, holte ich sie aus dem Wasser und hüllte sie in ein rosafarbenes Handtuch. Während ich sie abrubbelte, zog ich sie ganz fest an mich und sog ihren Duft ein.

»Ich hab dich so lieb, kleine Lilli!«

»Au, Tante Peasy! Du zerdrückst mich ja!«

»Ich hab dich ebenso lieb!«

»Drück mich nicht so doll, du bist doch nicht meine Mama!«

Lilli riss sich los und lief ins Wohnzimmer zu Mutter, die sich ans Klavier gesetzt hatte. Währenddessen tauchte Ed den armen Ulrich in die Zinkwanne und verabreichte ihm ein unfreiwilliges Bad. »Wasserscheu bist du natürlich auch noch, Ulrich, du Weichei! Komm her, du Stinker, und guck nicht so beleidigt.« Damit klatschte er ihm gespielte Schläge auf sein borstiges Hinterteil. »Na los, Ulrich! Wehr dich!«