Cover

Zum Buch

Mark Renton hat es fast geschafft. Sein Job als DJ-Manager ist einträglich und halbwegs glamourös. Doch Vielfliegerei, seelenlose Hotelzimmer und flüchtige Beziehungen fordern ihren Tribut. Und Mark ist müde. Auf einem Flug in die USA läuft er ausgerechnet Franco Begbie in die Arme, dem berüchtigten Psychopathen, den Mark vor Jahren übers Ohr gehauen hatte. Erstaunlicherweise reüssiert Begbie inzwischen als bildender Künstler, hat eine bildhübsche Frau und zeigt keinerlei Interesse daran, sich an Mark zu rächen.

Auf der anderen Seite des Atlantiks in Edinburgh sieht das Leben für zwei weitere alte Freunde weniger rosig aus. Während sich Sick Boy mit einem Escort-Service noch einigermaßen über Wasser hält, lebt Spud sprichwörtlich auf der Straße und schlittert in die finstere Welt des illegalen Organhandels ab.

Verwirrt, wütend, getrieben von ihren alten Süchten und inneren Dämonen steuern die vier alten Freunde in Edinburgh wieder aufeinander zu. Das erste Wiedersehen ist herzlich, doch dabei wird es nicht bleiben.

Zum Autor

Irvine Welsh, geboren 1957 in Leith bei Edinburgh, schreibt Romane und Kurzgeschichten und gilt als einer der wichtigsten Autoren der Underground-Literatur. Sein Debütroman Trainspotting und die gleichnamige Verfilmung mit Ewan McGregor machten ihn international berühmt. Bis heute sind viele weitere Romane von ihm erschienen.

Lieferbare Titel

978-3-453-26967-5 - Das Sexleben siamesicher Zwillinge

978-3-453-27067-1 - Ein ordentlicher Ritt

978-3-453-27118-0 - Kurzer Abstecher

IRVINE WELSH

Die Hosen

der Toten

Roman

Aus dem schottischen Englisch von Stephan Glietsch

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Dead Men’s Trousers bei Jonathan Cape, London

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Copyright © 2018 by Irvine Welsh

Copyright © 2020 by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Lektorat: Kirsten Naegele

Redaktion: Thomas Brill

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel, punchdesign, München nach eine Entwurf von Marian Drukman für mhpbooks.com

Covermotiv: edhar yuralaits/Alamy Stock Photo

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-24573-3
V001

www.heyne-hardcore.de

Für Sarah

Inhalt

Prolog: Sommer 2015, Überflieger

Teil eins: Dezember 2015, Noch ein neoliberales Weihnachtsfest

1 Renton – Ein Mann auf Reisen

2 Polizeischikane

3 Morgen, Tinder, wirds was geben

4 Spud – Auf Ihr Wohl, Mr. Forrester

5 Renton – Schweigeklausel

6 Sick Boy – Auf der Suche nach Euan McCorkindale

7 Renton – Sick Boy kriegt, was er verdient

8 Leith-Jungs

9 Sick Boy – Expandieren/Akquirieren

10 Renton – Blumenkohl am Pillemann

Teil zwei: April 2016, Ein medizinischer Notfall

11 Spud – Die Schlächter von Berlin

12 Renton – Der DJ-Stecher

13 Begbie – Harry kriegt eine Abreibung

14 Sick Boy – Rugby gegen Fußball

15 Huren zu bumsen, bringt dir keinen Seelenfrieden

16 Aus dem Schatten

17 Spud – Unbeaufsichtigtes Fleisch

18 Sick Boy – Wir fahren mit der Pimmelbahn

19 Renton – Technik statt Technics

20 Sick Boy – Business Class

21 Renton – Das Ladegerät

22 Post-Operations-Blues

23 Begbie – Chuck Ponce

Teil drei: Mai 2016, Sport und Kunst

24 Renton – Feiern, wie vor 114 Jahren

25 Sick Boy – Wieder zu Hause

26 Spud – Krankenhausaugen

27 Die Auktion

28 Begbie – Eine Kunstgeschichte

29 Wichser in einer Ausstellung

30 Sick Boy – Ehehygiene

31 Renton – Die Abrechnung

32 Das Ziel im Visier

Teil vier: Juni 2016, Brexit

33 Renton – Victoria’s Secret

34 Fort gegen Banana Flats

35 Begbie – Brexit

36 Renton – Das Richtige tun

37 Sick Boy – Ja, ich will

38 Renton – Alles oder Nichts

39 Begbie – Geisel

40 Sick Boy – Coitus Interruptus

41 Renton – Tränen lügen nicht

42 Verhör

Epilog: Sommer 2016, Und es war Sommer

Danksagung

Prolog

Sommer 2015

Überflieger

Weil ich auf die Schnelle keinen Platz mehr in der Business Class gekriegt hab, sitz ich mit schweißüberströmtem Nacken, flatternden Nerven und klappernden Zähnen auf nem beschissenen Mittelsitz in der Economy Class, eingezwängt zwischen nem Fettsack und ner hypernervösen Spritnase, und mir is so eng in der Brust, dass mir das Atmen schwerfällt. Ich werf noch ne Zolpidem ein und weich dabei dem Blick von diesem Säufer neben mir aus. Meine Hose spannt. Ich kann einfach keine finden, die mir passt. Nie. Trag ich Bundweite 32, wie jetzt, dann kneifts, während Größe 34 schlabbert und scheiße aussieht. Kaum ein Laden verkauft Hosen in 33, der optimalen Größe für mich.

Um auf andere Gedanken zu kommen, schlag ich das DJ Mag auf. Beim Umblättern der Seiten zittern meine Hände: Letzte Nacht, beim Gig in Dublin, hab ich die Nase wohl zu tief ins Glas und die Puderdose gesteckt. Wieder mal. Gleich nach der Landung in Heathrow hatte ich ne hitzige Auseinandersetzung mit Emily, der einzigen Frau unter den drei DJs, die ich manage: Wenns nach mir geht, dann kehrt sie schnellstmöglich ins Studio zurück, um das Demo zu mastern, das ich so stark finde – sie is davon allerdings null überzeugt. Deshalb hab ich Druck gemacht, und Emily is ausgerastet, hat ne ziemliche Szene gemacht, passiert bei ihr schon mal. Am Flughafen hab ich sie dann stehen lassen und meinen Anschlussflug nach L.A. genommen.

Ich bin völlig im Arsch, habs tierisch im Rücken. Ich steh kurz vor einer ausgewachsenen Panikattacke, und Don Promillo neben mir hört nich auf zu labern, überträgt seine Panik aufs ganze Flugzeug. Ich glotz konzentriert in meine Zeitschrift, ring nach Luft und bete, dass die Pillen bald wirken.

Als mein Sitznachbar plötzlich verstummt, registrier ich, dass jemand auf mich runterstarrt. Ich lass das Magazin sinken und heb den Blick.

Mein erster Gedanke is: O nein.

Mein zweiter is: Fuck.

Er steht im Gang, sein Arm hängt betont locker von der Lehne über dem Kopf des eingeschüchterten Schluckspechts. Diese Augen. Sie brennen sich bis ins Mark. Lassen die Worte, die ich sprechen möchte, in meiner verdorrten Kehle verpuffen.

Franco. Francis James Begbie. Wie zum Geier …?

Der Strom meiner Gedanken wird zum tosenden Sturzbach: Er is da. Der Moment der Beichte. Kein Gedanke an Flucht  es is ausweglos. Aber was kann er hier oben schon tun? Mich plattmachen? In einem selbstmörderischen Akt der Zerstörung das Flugzeug in den Abgrund reißen und damit auch alle Passagiere? Für mich isses gelaufen, das steht mal fest, aber wie wird er seine Rache nehmen?

Er lächelt mich bloß seelenruhig an und sagt: — Hallo, alter Freund, lange nicht gesehen.

Das is zu viel! Dieser irre Psychopath is definitiv zu kaltblütig, um was anderes im Sinn zu haben, als jeden Moment auf mich loszugehen! Ich spring auf, kletter über den Fettwanst hinweg, der kurz aufquiekt, als meine Hacke sein Bein entlangschrammt, stürze in den Gang und schlag mir das Knie an, rappel mich aber sofort wieder auf.

— Sir!, kreischt ne hinzueilende Stewardess, die blonde Mähne mit Haarlack betoniert, und der fette Arsch hinter mir stößt nen wütenden Fluch aus. Ich schieb mich an der Betonfrisur vorbei, flüchte aufs Klo, knall die Tür hinter mir zu, schließ ab und stemm meinen Körper gegen die dünne Barriere zwischen mir und Franco Begbie. Während ich mir die schmerzende Kniescheibe reibe, hämmert mein Herz wie ein beschissener D-Zug.

Von draußen ertönt ein energisches Klopfen. — Sir, ist bei Ihnen da drin alles in Ordnung?, fragt die Stewardess im Tonfall einer Ambulanzschwester.

Dann hör ich sie erneut, diese enervierend abgeklärte Stimme, eine entschärfte, transatlantische Version der Stimme, die mir allzu vertraut is. — Mark, ich bins … Er zögert. — Ich bins, Frank. Gehts dir gut, Kumpel?

Mit einem Mal is Frank Begbie kein abstraktes Etwas mehr. Ein aus grauenhaften Erinnerungen in irgendeiner Kammer meines Hirns geborenes Phantom, dessen drohende Gegenwart zwar stetig in der Luft liegt, jedoch nie Gestalt annimmt. Unter den denkbar profansten Umständen is der Kerl zu Fleisch und Blut geworden. Er befindet sich auf der anderen Seite dieser arschdünnen Tür! Und ich Idiot hab nix Besseres zu tun, als mir über seinen Tonfall den Kopf zu zerbrechen. Obwohl ich nur nen kurzen Blick auf ihn werfen konnte, is mir an Franco dennoch ne deutliche Veränderung aufgefallen. Und die hat nix damit zu tun, dass er älter geworden is. Er scheint sich ganz gut gehalten zu haben. Andererseits lag der Wichser, als ich ihn das letzte Mal gesehen hab, ja auch blutend auf dem Bürgersteig des Leith Walk, von nem Auto überfahren, das ihn in voller Fahrt erwischt hat. Und das nur, weil er mich um jeden Preis schnappen wollte. So was kehrt bei niemandem die Schokoladenseite hervor. Jetzt hat er mich in der Falle. Zehntausend Meter über dem Meer sitz ich in diesem winzigen Loch fest.

— Sir!, drängt die Stewardess erneut. — Geht es Ihnen nicht gut?

Ich spür die beruhigende Wirkung des Zolpidem. Meine Panik lässt ein klein wenig nach. Er kann mir hier gar nix anhaben. Wenn der Wichser auf mich losgeht, werden sie ihn wie nen Terroristen tasern und fesseln.

Mit zitternder Hand öffne ich die Tür. Er steht direkt vor mir. — Frank …

— Sie kennen den Herrn?, will die Stewardess von Franco wissen.

— Ja, ich wollte nach ihm sehen, antwortet der Wichser mit einer Bestimmtheit, die keinerlei Widerspruch zulässt, und fragt mich dann scheinbar besorgt: — Alles in Ordnung, Kumpel?

— Aye, nur ne kleine Panikattacke … ich dachte, ich müsste mich übergeben. Ich hab ein wenig Flugangst, sag ich der Stewardess. Und dann zu Francis James Begbie: — He, gut, dich zu sehen.

Als sich die Stewardess zögerlich zurückzieht, fleh ich im Stillen: Lass mich nich allein. Aber Franco in seinem weißen T-Shirt, mit dem ulkigen Rotweinfleck, is die Ruhe selbst. Schlank und sonnengebräunt steht er vor mir und lächelt mich an. Nich wie ein lauernder Irrer, der sich nur mühsam zurückhalten kann, sondern ganz so, als könnte er kein Wässerchen trüben.

Zu meinem großen Erstaunen wird mir klar, dass ich auf diesen Tag nich nur gewartet hab, sondern dass ein Teil von mir ihn jetzt, wo er gekommen is, sogar begrüßt. Eine gewaltige Last fällt mir von den ächzenden Schultern, und das Gefühl der Erleichterung is beängstigend. Und schwindelerregend – was auch am Zolpidem liegen könnte. — Ich glaub, ich schulde dir noch Geld, Frank, is alles, was ich rausbringe, während sich ein Junge an uns vorbei und in die Toilette schiebt. Was soll ich sonst auch sagen?

Unverwandt lächelnd, kräuselt Franco die Stirn.

Ich mach mir keine Illusionen: Irgendnem Arsch Geld zu schulden, is eine Sache – etwas völlig anderes isses allerdings, nen durchgeknallten Brutalo abzuzocken, der die meiste Zeit seines Lebens im Knast verbracht hat. Und der, wie mir zu Ohren gekommen is, seit Ewigkeiten nach mir sucht. Der mich vor einigen Jahren beinahe geschnappt hätte und dabei fast draufgegangen wäre. Zu sagen, ich schulde ihm Geld, trifft die Sache nich annähernd. Und das Gedränge vor dem Scheißhaus lässt mir keine andere Wahl, als bei ihm stehen zu bleiben. Eingezwängt in der Enge und dem Turbinenlärm dieser Blechröhre über den Wolken. — Hör mal … ich weiß, dass ich dir das zurückzahlen muss, stammel ich mit klappernden Zähnen. Und noch während ich das sage, wird mir nich nur plötzlich klar, dass ich jetzt tatsächlich meine Schulden bei ihm begleichen könnte, sondern mit einem Mal scheint mir sogar ne realistische Chance zu bestehen, dass er mich doch nich umbringt.

Frank Begbies Grinsen bleibt so entspannt wie sein gesamter Auftritt. Selbst seine Augen wirken gelassen, ganz und gar nich irre oder bedrohlich. Er hat ein paar mehr Falten im Gesicht – was mich vor allem deshalb überrascht, weil sie wie Lachfalten aussehen. Begbie war nur selten gut drauf. Die einzige Freude, die er kannte, war die Schadenfreude über das Unglück anderer. Ein Unglück, das er in der Regel selbst verschuldet hatte. Seine Arme sind immer noch kräftig. Wie straffe Kabelstränge spannen sie die Ärmel des T-Shirts mit dem komischen Fleck. — Die Zinsen könnten ziemlich hoch ausfallen, sagt er, und wieder runzelt er die Stirn.

Scheiße, sie dürften astronomisch sein! Und es geht um sehr viel mehr als nur die Geldschulden. Sogar um mehr als die Verletzungen, die er sich zugezogen hat, als er blindlings vor das heranrasende Auto gerannt is. Da is diese zutiefst verkorkste Freundschaft. Die ich nie so ganz zu ergründen vermochte, wobei ich allerdings irgendwann zu der Überzeugung gelangte, dass sie für mich durchaus prägend war. Bande, die eine Ewigkeit zurückgingen.

Bis weit vor unseren verhängnisvollen Drogendeal. Dieses krumme Ding, bei dem ich ihn wegen der Kohle abgezockt hab.

Damals war ich jung, und ich war ein Junkie. Ich musste dringend raus aus Leith, raus aus diesem Sumpf, in dem ich zu versinken drohte. Und dieses Geld war mein Ticket.

Ich komm gar nich dazu, mich zu fragen, was zum Teufel der Wichser eigentlich auf nem Flug nach L.A. macht, weil ich nämlich derjenige bin, der Antworten liefern muss. Ich schätze, er verdient zumindest den Versuch einer Erklärung, also spuck ichs aus. Ich erzähl ihm, warum ich Sick Boy, Second Prize, Spud und ihn übers Ohr gehauen hab. Na gut, das mit Spud war was anderes. Spud hab ich seine Kohle zurückgegeben, und viel später auch Sick Boy. Bevor ich diesen Arsch dann bei nem weiteren Schwindel um noch mehr Kohle geprellt hab. — Dir wollte ich das Geld auch zurückzahlen, behaupte ich und versuch, dabei nich mit den Zähnen zu klappern, — aber weil ich wusste, dass du hinter mir her warst, schien es mir das Klügste, dir vorerst aus dem Weg zu gehn. Und dann hatten wir diesen Unfall. Bei der Erinnerung daran, wie er von nem Honda Civic in die Luft geschleudert wurde und mit verdrehten Gliedern auf dem Asphalt gelandet is, zuck ich zusammen. Wie ich ihn gehalten hab, bis der Rettungswagen kam, und wie er das Bewusstsein verlor. Damals dachte ich wirklich, er wär tot.

Während ich rede, verkrampft sich mein Körper in steter Erwartung eines baldigen Fausthiebs unfreiwillig immer weiter, aber Franco hört geduldig zu. Während sich Stewardessen und Passagiere an uns vorbeidrängeln, spür ich ein paarmal, wie er dagegen ankämpft, was zu sagen. Doch als ich mit meinem atemlosen Geschwafel endlich fertig bin, nickt er nur. — Verstehe.

Ich bin fassungslos. Wenn wir nich in diesem engen Gang festsäßen, würde ich ungläubig zurückweichen. — Verstehe? Was meinst du mit verstehe?

— Ich meine, dass ichs verstehe, sagt er schulterzuckend. — Ich verstehe, dass du von da wegmusstest. Die Scheißdrogen hatten dich im Griff. Bei mir warens Gewalt und Alkohol. Du hast kapiert, dass du aus diesem Kreislauf ausbrechen musstest, lange bevor ich das erkannt hab.

Was zum Teufel?

Aye, stimmt, is alles, was ich dazu sagen kann. Eigentlich sollte ich ne Scheißangst haben, aber irgendwie hab ich nich den Eindruck, dass er mich verarscht. Ich kann kaum glauben, dass der Kerl neben mir wirklich Franco is. Diese Art zu denken wäre dem Begbie, den ich kannte, genauso abgegangen wie die Wortwahl. — Allerdings hab ich mich wohl für den falschen Fluchtweg entschieden, räum ich kleinlaut und verlegen ein. — Ich hab meine Kumpels verraten. Du, Sick Boy, Spud und Second … Simon, Danny und Rab, ihr wart meine Freunde, im Guten wie im Schlechten.

— Spud hast du gefickt, indem du ihm das Geld gegeben hast. Er hing sofort wieder an der Nadel, sagt Franco, und sein Gesicht nimmt wieder diesen kalten, blutleeren Ausdruck an, bei dem mir schon früher immer der Arsch auf Grundeis ging. Denn auf diesen Gesichtsausdruck folgte gewöhnlich Gewalt. Das scheint sich geändert zu haben. Und was Spud betrifft: Was soll ich sagen? Er hat ja recht. Diese 3.200 Pfund hatten Spud nich im Geringsten geholfen. — Hättest du dasselbe für mich getan, hättest du mich vielleicht endgültig an die Flasche gebracht. Er senkt die Stimme, als sich wieder ne Stewardess vorbeischiebt. — Was wir tun, hat nur selten die beabsichtigten Folgen.

— Das ist wahr, stammel ich, — aber mir ist wichtig, dass du weißt …

— Lass uns da nicht mehr drüber reden. Er hebt die Handfläche, schüttelt den Kopf und schlägt die Augen nieder.

— Erzähl mir, wo du gesteckt hast, was du so getrieben hast.

Mir bleibt nix anderes übrig, als mich zu fügen. Aber während ich meine Geschichte erzähle, frag ich mich, wie seine wohl aussieht. Nachdem Franco in Edinburgh versucht hatte, mich anzugreifen, hab ich umgesattelt. Obwohl ich wusste, dass er weggesperrt war, bin ich vom Club-Veranstalter, der fest an einen Ort gebunden is, zum viel reisenden DJ-Manager geworden. Ein Manager is immer auf Achse. Er folgt seinen Klienten rund um die Welt. Ihr wisst schon: Dance Music kennt keine Grenzen, bla, bla, bla. Aber es war ne Ausrede: ein Grund herumzureisen, in Bewegung zu bleiben. Dass ich ihn um die Knete beschissen hab, hat mein Leben genauso geprägt wie seins. Vielleicht sogar noch mehr.

Dann kommt diese wunderschöne Frau mit dem schulterlangen blonden Haar zu uns. Sie hat ne schlanke, sportliche Figur, nen langen Schwanenhals, und ihre Augen strahlen so eine Ruhe aus. — Da bist du ja, sagt sie, lächelt Franco an und drängt offenbar darauf, mir vorgestellt zu werden.

Was zum Geier?

— Das ist Mark. Ein alter Freund von mir aus Leith, sagt der Wichser und klingt dabei fast wie Sick Boy, der Sean Connerys Bond imitiert. — Mark, das ist meine Frau Melanie.

Von dem Schock is mir ganz schummrig. Meine schwitzende Hand umklammert die Zolpidem-Flasche in meiner Tasche. Das is nich mehr mein alter Kumpel und Erzfeind Francis James Begbie. Eine schreckliche Ahnung befällt mich: Vielleicht hab ich mein Leben lang in Angst vor einem Mann gelebt, der gar nich mehr existiert. Ich schüttel Melanies weiche, manikürte Hand. Sie starrt mich verwundert an. Anscheinend hat der Mistkerl nie von mir gesprochen! Die Vorstellung, er könnte die Vergangenheit so weit hinter sich gelassen haben, dass ihm sein ehemals bester Freund nich mal ne beiläufige Erwähnung gegenüber seiner besseren Hälfte wert is, will mir einfach nich in den Kopf! Echt jetzt? Kein Wort über den Kerl, der ihn hintergangen und den Unfall verschuldet hat, bei dem er so schlimm verletzt wurde?

Doch Melanie bestätigt genau das. — Er spricht nie über seine alten Freunde, nicht wahr, Schatz?, sagt sie mit nem amerikanischen Akzent.

— Weil die meisten von denen im Gefängnis sitzen, und diese Typen kennst du zur Genüge, erwidert er. Jetzt klingt er zumindest ein klein wenig wie der Begbie von früher. Zugleich Furcht einflößend und auf perfide Weise beruhigend. — Ich hab Mel im Knast kennengelernt, klärt er mich auf. — Sie war dort Kunsttherapeutin.

In meinem Kopf flackert so was wie ne vage Erinnerung auf. Ein verschwommenes Gesicht. Der Fetzen eines Gesprächs, das ich im MDMA- oder Kokain-Rausch mit einem Ohr mitgehört hatte – in einem lauten Club in Amsterdam, vielleicht war Carl involviert, mein DJ-Veteran, oder irgendein Touri aus Edinburgh. Irgendwie gings darum, dass Frank Begbie ein erfolgreicher Künstler geworden wär. Ich hab nich eine Sekunde dran geglaubt, nich einen bewussten Gedanken dran verschwendet. Bei der bloßen Erwähnung seines Namens hab ich dichtgemacht, und das war das haarsträubendste, das unglaubwürdigste von den zahlreichen Gerüchten, die über ihn die Runde machten.

— Du wirkst auf mich nicht wie ein Knacki, sagt Melanie.

— Ich bin eher halb Gefängnisaufseher, halb Sozialarbeiter-Typ.

— Was machst du denn beruflich?

— Ich manage DJs.

Melanie zieht die Brauen hoch. — Könnte ich einen davon kennen?

— DJ Technonerd ist ziemlich bekannt.

Bei Franco hinterlässt diese Information keinerlei Eindruck, anders als bei Melanie. — Wow! Den kenne ich, sagt sie und dreht sich zu ihm um. — Ruth war in Vegas bei einem seiner Gigs.

— Ja, er legt dort einmal im Monat auf, im Surrender, dem Club im Wynn Hotel.

Steppin in, steppin out of my life, you’re tearin my heart out, baby … Melanie singt leise DJ Technonerds beziehungsweise Conrad Appeldoorns jüngsten Hit.

— Aye, das kenn ich auch!, verkündet ihr Ehemann, und seine Begeisterung schlägt sich in einem starken schottischen Akzent nieder. Leith, wie es leibt und lebt. Franco sieht mich an, als wär er ehrlich beeindruckt. — Das is ein Hammer-Song.

— Ein anderer Name könnte dir auch was sagen: Erinnerst du dich an Carl Ewart? N-Sign? War in den Neunzigern ne große Nummer? War mit Billy Birrel befreundet, dem Boxer?

— Aye … war der nich so ne Art Albino? Ein Kumpel von Juice Terry? Aus Stenhouse?

— Aye, genau der.

— Der legt immer noch auf? Man hört gar nix mehr von ihm.

— Aye, er hat ins Soundtrack-Fach gewechselt. Dann kam die Trennung von seiner Alten, er hatte ne ziemliche Pechsträhne und ließ Hollywood mit dem Score für nen großen Blockbuster hängen. Jetzt kriegt er keine Filmjobs mehr, deshalb kümmere ich mich um sein Comeback als DJ.

— Und wie läuft das so?, fragt Franco, während Melanies Blick zwischen uns beiden hin und her wandert, als würde sie ein Tennisspiel verfolgen.

— So lala, geb ich zu, dabei würde »scheiße« es besser treffen. Carl hat seine Leidenschaft für Musik verloren. Ich schaff es mit Müh und Not, den Kerl aus dem Bett und hinter die Plattenteller zu kriegen. Kaum is der Gig vorbei, sind Wodka und Koks angesagt, und ich lass mich nur allzu oft in diesen Strudel hineinziehen. So wie letzte Nacht in Dublin. Als Veranstalter hab ich mich noch fit gehalten. Karate. Jiu-Jitsu. Ich war ne Maschine. Das is vorbei.

Ein Typ kommt aus der Toilette, und Melanie geht hinein. Ich versuch nich mal, dran zu denken, wie hübsch sie is, denn ich bin mir sicher, dass Franco meine Gedanken lesen würde. — Hör zu, sag ich und senk die Stimme, — ich hab nich damit gerechnet, dass die Dinge sich so entwickeln würden, aber wir haben wohl ein bisschen was zu besprechen.

— Haben wir das?

— Allerdings, denn es gibt ne Sache, die ich dir zuliebe gerne erledigt hätte.

Franco wirkt erst seltsam befangen, dann zuckt er mit den Schultern und sagt: — Wir sollten Telefonnummern tauschen.

Noch während wir unsere Kontaktdaten austauschen, kommt Melanie wieder, und wir kehren zu unseren Plätzen zurück. Ich setz mich und entschuldige mich überschwänglich bei dem fetten Arsch, der mich ignoriert, aber ne verärgerte Dauerschnute zieht, während er sich passiv-aggressiv die fleischigen Schenkel reibt. Ein Gefühl von Angst und Aufregung, wie ich es seit Jahren nich gespürt hab, lässt mich erschauern. Der Alki mustert mich mitfühlend mit trüben, benebelten Triefaugen. Diese Begegnung mit Frank Begbie is der klare Beleg dafür, dass die Welt kopfsteht.

Ich werf noch ne Zolpidem ein und fall in einen unruhigen Halbschlaf, in dem sich meine wirren Gedanken im Kreis und immer wieder darum drehen, wie einen das Leben abhärten und verblöden lässt …

… für die guten Dinge scheinst du immer weniger Zeit zu haben, denn ständig hast du irgendnen Scheiß am Hals, also gehst du dazu über, dich nen feuchten Kehricht um den Kack anderer Leute zu kümmern – der überrollt dich nämlich, wenn du ihm zu viel Platz einräumst – du lehnst dich zurück und glotzt Pop Idol – natürlich mit ironischer Distanz, nich geizend mit überheblicher Kritik und höhnischer Verachtung – aber gelegentlich, nur gelegentlich, reicht das nich, um diese komische überwältigende Stille zu übertönen, und plötzlich hörst du es, dieses leise Zischen im Hintergrund  das is das Geräusch deiner verpuffenden Lebensenergie 

kannst dus höööören? 

so klingts, wenn du stirbst  du bist der Gefangene deiner eigenen, sich selbst bestätigenden, sich selbst beschränkenden Algorithmen, erlaubst Google, Facebook, Twitter und Amazon, dich in psychische Ketten zu legen und dich mit ner beschissenen, eindimensionalen Version deiner selbst zu füttern, die du freudig in die Arme schließt, da es die einzig verfügbare Bestätigung is – das sind deine Freunde – das sind deine Partner – das sind deine Feinde – das is dein Leben – du brauchst das Chaos, ne externe Kraft, die dich wachrüttelt aus deiner Selbstzufriedenheit – du brauchst sie, weil du nich mehr länger den nötigen Willen oder die Vorstellungskraft besitzt, um es selbst zu tun – als ich jünger war, hat Begbie das für mich erledigt, Begbie, der sich auf so ungeheure Weise von seiner Leith- und Knast-Vergangenheit befreit hat – so bizarr das scheint, ein Teil von mir hat diesen Arsch immer vermisst – dir bleibt keine andere Wahl, als zu leben, bis du stirbst –

– und wie lebst du dann?

Später, im Flughafenterminal, quatschen wir noch ein bisschen, als wir am Gepäckband auf unsere Koffer warten. Ich streck meinen schmerzenden Rücken durch, während er mir auf seinem Handy ein Foto seiner Kinder zeigt. Zwei süße kleine Mädchen. Das alles is hochgradig verwirrend. Es fühlt sich fast wie ne ganz normale Freundschaft an. Die Freundschaft, die wir hätten haben können, wenn ich nich ständig genötigt gewesen wäre, nach Wegen zu suchen, um seine Gewaltausbrüche zu verhindern. Während mein schottisch-karierter Trolley auf mich zuruckelt, erzählt Franco mir von seiner bevorstehenden Kunstausstellung, lädt mich sogar dazu ein und ergötzt sich an der Fassungslosigkeit in meinem Gesicht, die ich einfach nich verbergen kann. — Ich weiß, muss auch er zugeben, — das Leben ist schon verdammt komisch, Rents.

— Das kannst du laut sagen.

Franco. Eine verfickte Kunstausstellung! Das hätte man sich nich besser ausdenken können!

Ich blick ihm nach, wie er mit seiner jungen Frau die Ankunftshalle des Flughafens von L.A. verlässt. Sie is smart, cool, und es is nich zu übersehen, dass sie sich lieben. Eine gewaltige Verbesserung, verglichen mit dieser Schnepfe von damals. Ich hol mir ne Flasche Wasser am Verkaufsautomaten, spül damit noch ne Zolpidem runter und geh mit dem beunruhigenden Gefühl zu meinem Mietwagen, dass die Welt aus den Fugen geraten is. Wenn mir jemand hier und jetzt erzählen würde, dass die Hibs in der nächsten Spielzeit den Pokal holen: Ich würd es ihm abnehmen. Die bittere, beschämende Wahrheit lautet: Ich bin neidisch auf diesen Wichser, nen kreativen, erfolgreichen Künstler mit ner hinreißenden Frau an seiner Seite. Der Gedanke, dass ich eigentlich an seiner Stelle sein müsste, will mir einfach nich aus dem Kopf.

Teil eins

Dezember 2015

Noch ein neoliberales Weihnachtsfest