Kim Turrisi

Der Roman zur Kultserie

Aus dem Englischen
von Ivana Marinović

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Erstmals als cbt Taschenbuch Oktober 2020

Text © 2019 Shaftesbury Sales Company

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Carmilla«

Veröffentlicht mit Genehmigung von Kids Can Press Ltd., Toronto, Ontario, Canada

Alle Rechte vorbehalten.

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© 2020 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Ivana Marinović

Umschlaggestaltung: Carolin Liepins, München

Umschlagmotiv: © Ashlea Wessel / Courtesy of Shaftesbury

KH · Herstellung: AS

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24591-7
V001

www.cbj-verlag.de

· EINS ·

Der Tag, dem ich entgegengefiebert habe, ist endlich da. Ich ziehe ins Studentenwohnheim. Glaubt mir, ein Einzelkind zu sein hat seine Vorteile, aber der unsichtbare Schutzwall, den mein überfürsorglicher Vater um mich herum errichtet hat, wird langsam lästig. Wenn ich erst in meinem Wohnheimzimmer gelandet bin, werde ich meine Ketten los sein. Silas Universität – ich gehöre ganz dir!

Die Herfahrt war dank des endlosen Gequassels meines Vaters die reinste Qual. Vor Erschöpfung bemerke ich kaum die dichten Nebelschwaden, die sich bei unserer Ankunft über das Campusgelände legen. Silas ist eine Hochschule in der Steiermark, in Österreich. Da sie Anfang des 19. Jahrhunderts errichtet wurde, hat die Architektur etwas von einer Burg, irgendwie gruselig, aber auch majestätisch. Kunstvoll verschnörkelte Torbögen zieren sämtliche Eingänge des Gebäudes. Magisch. Verwitterte steinerne Gebäude, die die Studenten und Unterrichtsräume beherbergen, umschließen einen begrünten, mit kopfsteingepflasterten Wegen durchzogenen Innenhof. Es ist perfekt.

Ursprünglich waren es das renommierte Journalismusprogramm und die übersichtlichen Kursgrößen, die mich an Silas reizten, doch gerade bin ich nur noch fasziniert vom Campus und seinen Legenden. Ich meine, allein das Hallenbad verströmt angeblich nach Einbruch der Dunkelheit ein abgefahrenes grünes Licht. Ich hatte schon immer eine Schwäche für unerklärliche Phänomene. Ich kann es kaum erwarten, das alles zu erkunden.

»Laura, ich weiß, dass es hier eine Menge zu erleben gibt, aber deine Hauptpriorität liegt auf dem Studium und darauf, deinen Notenschnitt zu halten«, ermahnt mich mein Dad. Jetzt geht das schon wieder los. Ich gebe mir echt Mühe, nicht die Augen zu verdrehen, versage jedoch jämmerlich. »Falls deine Noten nicht stimmen sollten, holen wir dich hier wieder raus.« Mit extrastrenger Stimme fügt er hinzu: »Ich möchte, dass du irgendwann in der Lage bist, für dich selbst zu sorgen, damit du nicht auf andere angewiesen bist. Doch dafür brauchst du einen Studienabschluss mit vernünftigen Noten, die dir bei deinem Aufstieg an die Spitze behilflich sind.«

Tief Luft holen, Laura Hollis, rede ich mir selbst gut zu, um das mulmige Gefühl aus meinem Magen zu vertreiben. Er macht mich ganz verrückt. Als wäre es nicht schon genug, ein Erstsemester an einer Uni zu sein, wo ich keine Menschenseele kenne. »Dad, Botschaft angekommen. Das kannst du mir glauben, immerhin habe ich nichts anderes gehört, seit ich hier angenommen wurde«, erwidere ich genervt. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn so anfahre, aber es ist nun wirklich nicht der Zeitpunkt, um mir seine Lebenslektionen einzutrichtern.

»Laura, Väter müssen das tun«, erklärt er.

»Was? Ihre Töchter in den Wahnsinn treiben?«, entgegne ich halb im Scherz. Immerhin lacht er.

Ein leichter Nieselregen setzt ein, während wir am Parkplatz mein Gepäck schultern. Die Gehwege sind mit feuchtem Moos gesäumt. Ich hebe den Blick und sehe dunkle, unheilvolle Wolken über dem Universitätsgelände hängen. Als ich die schwere hölzerne Eingangstür zum Wohnheim öffne, überläuft mich ein Schaudern. Ich klappe meinen Jackenkragen hoch, um meinen Hals zu wärmen, und folge dem Flur, den Blick auf die Zimmernummern gerichtet. Das gedämpfte Licht verleiht den Wänden einen bernsteinfarbenen Schimmer, und hinter den geschlossenen Türen kann ich die leisen Stimmen und Geräusche der anderen Studenten hören, die sich in ihren Zimmern einrichten.

»Die könnten hier drin ruhig ein wenig heizen«, bemerkt Dad.

Ich fröstle, aber ich bin mir nicht sicher, ob wegen der Kälte.

Wir laufen immer weiter den Flur entlang, vorbei an den Zimmern 305 … 306 … Die Türen sind mit den verschiedensten Bildern, Postern und Luftschlangen dekoriert.

»Zimmer 307, das bin ich!«, verkünde ich. Auf einem Schild an der Tür steht: WILLKOMMEN, LAURA! XO, BETTY. Das ist meine neue Mitbewohnerin. Ich mag sie schon jetzt!

Die Tür ist angelehnt, also stupse ich sie mit meinem Fuß auf. Es handelt sich um ein ziemlich typisches Wohnheimzimmer mit zwei Einzelbetten, zwei Schreibtischen und einer winzigen Küche. Dafür haben wir aber ein großes Fenster! Ein echtes Plus. Ich spähe neugierig hinaus und stelle fest, dass wir einen Blick auf den Innenhof haben. Nett. Die gothmäßige Architektur in Kombination mit den durchsichtigen goldenen Vorhängen, die von schwarzen Eisenstangen herabhängen, schafft eine extrem coole Atmosphäre.

Es ist so ziemlich das genaue Gegenteil meines Zimmers zu Hause. Meine Mitbewohnerin hat definitiv ein Gespür für Deko. Überall ist ein Hauch von Zen zu spüren. Lavendelkerzen, ja sogar eine Buddhastatue. Daheim ist Dad der Verfechter von »weniger ist mehr«. Er mag es nicht, wenn das makellose Weiß der Wände verunstaltet wird, weswegen mein Zimmer so steril ist wie ein Krankenhaus und ungefähr genauso einladend. Ich atme tief ein. Ich bin so was von bereit für all das hier. Das Abenteuer, die Freiheit, all die neuen Erfahrungen. Das hier geschieht wirklich!

Betty ist nicht da, aber ihre Seite des Zimmers ist mit Kleiderstapeln übersät, die an der Wand lehnen, und ihr Bett ist nur halbherzig gemacht – eigentlich nur ein Deckenberg auf einem zerknüllten Laken über der dünnen Matratze. Ich werfe den Koffer auf mein Bett und schaue mich nach dem Schrank um.

»Möchtest du vor dem Auspacken noch etwas zu Abend essen gehen?«, fragt Dad.

»Ich habe eigentlich keinen Hunger. Ich möchte einfach nur ankommen«, antworte ich. Wenn ich ehrlich bin, will ich endlich allein sein, um zu genießen, wie genial das alles ist. Ich habe mir den Arsch abgearbeitet, um es hierher zu schaffen, und jetzt bin ich bereit, durchzustarten.

»Okay, Kleines, ich fahre dann mal nach Hause und lasse dich allein.« Dad ist anstrengend, aber ich weiß, dass er es gut meint. Ich drücke ihn fest und seine Umarmung gibt mir ein Gefühl von Geborgenheit. Von Wärme. Ein winziger Hauch von Furcht stiehlt sich dazwischen. Von nun an bin ich wirklich auf mich allein gestellt. Zögernd trete ich einen Schritt zurück und wappne mich für den Moment, in dem er dann tatsächlich geht.

»Das Studium an erster Stelle. Behalte das Ziel im Auge. Das Praktikum beim Fernsehen.« Das heiß begehrte Praktikum, das ich schon seit zwei Jahren im Visier habe. In der Rechercheabteilung hinter den Kulissen einer Morningshow. Im Grunde so etwas wie mein Traumjob. Halte dich an den Plan!, bekräftige ich in meinem Kopf. Ich muss nur zwei Jahre an der Silas runterreißen und dann habe ich meine Chance. Mein Dad glaubt fest daran, genauso wie ich, und genau das halte ich mir vor Augen, während er davongeht. Ich mache Musik an, die mir beim öden Auspacken helfen soll. Gwen Stefani ist immer gut für einen kleinen Motivationsschub. Ich habe alle T-Shirts fein säuberlich zusammengelegt und nach Farben vorsortiert, sodass ich sie einfach nur noch in die Schubladen meiner Kommode werfen muss. In einem der Koffer stoße ich auf eine große Box; ich öffne sie und muss laut lachen. Dad hat mich mit meinen Lieblingsleckereien eingedeckt: ohne Ende Cookies und Kekse, POPTARTS, Limo und Chips. Er hat an alles gedacht.

Ich reiße die OREO-Packung auf und mampfe fröhlich vor mich hin, während ich meine Jeans und meine Jacken verstaue. Ich werde von Geräuschen im Hof unterbrochen, aber als ich zum Fenster hinausschaue, kann ich nichts als Dunkelheit sehen. Ist überhaupt jemand da? Drinnen wie draußen herrscht eine gespenstische Stille.

Doch als ich mich wieder herumdrehe, steht da ein Mädchen in pinkem Minirock, neonfarbenen Chucks und einem superbreiten Dauerlächeln vor mir. In einer Hand hat sie einen Pizzakarton, in der anderen ein Sixpack Bier. Wo kommt sie denn her? »Ich hab die Tür gar nicht gehört«, bringe ich etwas verdutzt hervor. »Ähm … hey.«

»Du musst Laura sein. Ich bin Betty. Wow, Gwen Stefani, ich liebe Gwen Stefani!« Sie stellt ihren Proviant ab und kommt dann herübergeeilt, um mich zu umarmen. Sie strahlt eine irre Energie aus. »Kekse! Ein Mädchen ganz nach meinem Geschmack. Ich dachte, wir sollten feiern. Ich hoffe, du magst Pizza. Und Bier.«

»Pizza ist so ungefähr mein Lieblingsessen überhaupt. Dicht gefolgt von Keksen«, gestehe ich. Aus Bier mache ich mir nichts. Geübt öffnet sie zwei Flaschen und reicht mir eine davon. Wir stoßen an.

»Auf ein Knallerjahr!«, jauchzt Betty. Sie klappt den Pizzakarton auf ihrem Bett auf, wo wir es uns im Schneidersitz gemütlich machen. Ich bin ganz verzückt, als ich Gemüse und Salami erblicke. Keine Veganer hier. Betty redet kauend drauflos. »Diese Woche ist Erstsemesterwoche. Das bedeutet, eine Party jagt die andere. Genial.«

»Woher weißt du das?« Wie lange ist sie wohl schon hier?, frage ich mich.

»Eine Bekannte von mir ist im Hauptstudium und Mitglied im Studentenrat. Sie ist schon seit fast zwei Wochen auf dem Campus. Ich bin gemeinsam mit ihr angereist, deswegen weiß ich, was hier abgeht.«

Beeindruckend. Trotzdem … nonstop Partys? Bei dem Gedanken schüttelt es mich. Mein Stundenplan ist ziemlich heftig. Eine Woche voller Partys kann ich mir gar nicht leisten. Ich bin wegen des Knaller-Journalismusprogramms hergekommen, nicht wegen eines Katers. Aber ich will es mir nicht gleich am ersten Tag mit meiner Mitbewohnerin vermiesen.

»Warte nur, bis du die Jungs aus der Zeta-Bruderschaft kennenlernst. So viele süße Typen auf einem Haufen zur Auswahl«, berichtet Betty aufgeregt.

Ich frage mich, ob jetzt der richtige Zeitpunkt ist, ihr mitzuteilen, dass diese Zetas, ungeachtet ihres Hotness-Faktors oder etwaiger anderer Vorzüge, mich nicht interessieren. Das ist so was von nicht mein Ding. Ich bin immer noch nicht gut in dem hier, auch wenn es darum geht, wer ich bin. Ich will einfach nur keine Zurückweisung oder sonst irgendeinen Mist deswegen. Vor allem nicht am ersten Tag. Andererseits … was soll’s? Ich kann genauso gut auch gleich damit rausrücken. »Ehrlich gesagt, bin ich lesbisch, also kannst du die Zetas ganz für dich haben«, verkünde ich.

Betty zuckt nicht mit der Wimper. »Genial. Warte nur, bis du Danny triffst. Sie ist eine von den Tutorinnen und selbst im fünften Semester. Sie ist der Hammer und total nett. Da gerate sogar ich ins Wanken. Ich werde dir Schützenhilfe geben.«

»Abgemacht«, erwidere ich lächelnd. Ich bin jetzt schon froh, dass ich das Zimmer mit diesem Mädchen teile. Ich nehme mir mein zweites Stück Pizza und sie öffnet ein weiteres Bier.

»Auch eins?«

Ich tue kurz so, als würde ich darüber nachdenken. »Meins ist noch halb voll. Ich bin versorgt.«

»Du solltest besser schnell in Übung kommen«, witzelt Betty.

Ich spiele erst mal mit und nicke vage. Kein Grund, Wellen zu schlagen oder aus der Rolle zu fallen, aber Bier steht definitiv nicht auf meiner Top-Ten-Liste. Beim letzten Schluck, der noch am Boden der Flasche verweilt, muss ich beinahe würgen. Ich sollte mir für die Zukunft dringend ein anderes Getränk überlegen.

Die offen stehende Tür zu unserem Zimmer schlägt mit einem lauten Knall zu. Ich springe auf, um das Fenster zu schließen, aber es ist gar nicht geöffnet. Wo kam dann der Windstoß her? Oder zieht es hier immer? Ich mache den Reißverschluss meines Pullis zu, bevor ich mich wieder zu Betty aufs Bett setze.

Wir quasseln bis weit nach Mitternacht, wobei wir unsere Wissenslücken als Mitbewohnerinnen von Grund auf füllen. Betty ist ein Einzelkind, genau wie ich. Sie würde sich für eine Katze entscheiden, während ich eher der Hundetyp bin. Ich bin allergisch auf Katzen – oder zumindest hat mir das mein Dad gesagt, als ich mir mit sechs Jahren ein Kätzchen zu Weihnachten wünschte. Betty schwört, dass sie für einen Brownie über glühende Kohlen gehen würde. Was ich total verstehe. Es ist, als wären wir schon ewig befreundet! Wir haben zwar vor unserer Ankunft hier ein paar E-Mails gewechselt, aber ich hatte keine Ahnung, dass wir so perfekt zusammenpassen würden. Als ich schließlich in mein Bett krabble, schlafe ich praktisch schon, bevor mein Kopf auf dem Kissen liegt. Das leise Klopfgeräusch, das sich anhört, als käme es direkt aus den Wänden, ist supergruselig, aber die Müdigkeit gewinnt dann doch die Oberhand. Es ist meine erste Nacht an der Uni, und ich will nicht darüber nachdenken, was alles schiefgehen könnte.

· ZWEI ·

Wie Betty versprochen hat, war es eine turbulente Woche für Erstsemester. Meine Mitbewohnerin ist echt cool, aber sie ist auch genau das, wovor Dad solche Angst hatte – eine totale Partymaschine. Während ich bis spät in die Nacht über meinen Büchern brüte, mischt sie jede Party auf dem Campus auf. Sie hat diese Woche keine einzige ausgelassen, manchmal war sie sogar auf zweien in ein und derselben Nacht. Okay, ich geb’s zu – sie hat um einiges mehr Spaß als ich. Wir haben den Küchendienst aufgeteilt und essen gemeinsam zu Abend, bevor jede von uns ihrer Wege geht. Sie macht unfassbar leckere Käsemakkaroni, während ich mehr so die Wirf-alles-in-einen-Topf-Köchin bin.

Betty hat ihre Lehrveranstaltungen auf den späten Vormittag gelegt, damit sie ausschlafen kann. Meine Kurse gehen um acht Uhr los, noch bevor irgendein vernunftbegabter Mensch aus dem Bett ist. Mein Tag ist praktisch schon vorbei, wenn ihrer gerade mal losgeht.

Bekleidet mit meinen altbewährten Wohlfühlklamotten – karierte Pyjamahose und Schlaf-T-Shirt – mache ich mich daran, meinen Computer für mein erstes Journalismusprojekt einzurichten: einen Video-Blog über diese geschichtsträchtige Institution. Jepp, ich bin dabei, in die Geheimnisse der Silas Universität einzutauchen, denn die Sagen, die sich um diesen Ort ranken, sind wirklich legendär. Diese Uni ist durch und durch geheimnisumwittert – es kursiert sogar das Gerücht, dass die Mensa in die Augapfelsuppe echte Augäpfel reintut. Okay, ich gebe zu, die Unilegende, dass Studenten, die zu lange in der Bibliothek herumlungern, das Pech haben können, digitalisiert zu werden und für immer im Onlinekatalog gefangen zu bleiben, hat mich in äußerste Alarmbereitschaft versetzt. Niemand weiß, wie es passiert, nur dass es passiert. Aber ich werde diesen Mysterien mithilfe meines journalistischen Spürsinns auf den Grund gehen.

Mein groß angelegtes Projekt wird mir die glatte Eins bescheren, die mein Vater von mir erwartet. Ich meine, einen Video-Blog zu betreiben, ist an sich natürlich noch kein knallharter investigativer Journalismus, aber ich will ihn dazu nutzen, sämtliche Fakten zusammenzutragen, die ich für den Aufsatz brauche, den ich schreiben will. Es ist der sicherste Weg, um die beste Note vom ganzen Kurs einzuheimsen.

»Also gut, dann wollen wir mal!«, feuere ich meinen Laptopbildschirm an, um mich selbst für den Wochenendauftakt aufzuputschen. Ein Aufruhr vor unserer Zimmertür lässt mich verstummen, als auch schon Betty wie ein Hurrikan hereingewirbelt kommt. Hatte sie bei ihrem Einstufungstest ernsthaft einen Paillettenminirock und ein zerrissenes Tanktop an? Ich hätte nichts dagegen, mir eine Scheibe von ihrem Selbstbewusstsein abzuschneiden, aber vielleicht ist Silas ja genau die Gelegenheit dazu.

»Wie lief es bei dem Test?«, erkundige ich mich.

Sie zuckt die Achseln. »Zweiundsechzig Prozent. Gar nicht so übel, oder?«

»Wenn ich bei irgendetwas zweiundsechzig hätte, würden meinem Vater die Sicherungen durchschmoren und er würde mich auf der Stelle nach Hause zurückbeordern.« Ja, okay, mir würde es auch nicht gefallen. Das eine Mal, als ich in der Highschool eine Drei in Geometrie bekam, weinte ich eine ganze Woche lang.

»Du kannst viel besser sein«, sage ich zu Betty, doch sie ist schon anderweitig beschäftigt. Noch während sie ihren Rucksack neben das Bett schleudert, durchstöbert sie den Minikühlschrank und holt ein Bier aus ihrem Fach. Sie prostet mir zu und fängt an, sich umzuziehen, wobei sie immer wieder einen kräftigen Schluck aus der Flasche nimmt.

»Musst du nicht lernen?«, frage ich zaghaft. Ihr Lachen belehrt mich eines Besseren.

»Es ist Freitagabend. Unten im Innenhof steigt eine irre Party. Alle werden da sein. Du musst auch kommen«, erklärt sie, während sie den Schrank auf der Suche nach dem perfekten Outfit durchwühlt. Kleidungsstücke fliegen durch die Luft und landen kreuz und quer auf dem Boden.

»Ich weiß nicht …«

Betty packt meine Hände und wirbelt mich herum. »Aber ich. Du bist achtzehn Jahre alt. Es bleibt noch jede Menge Zeit, um zu lernen. Du hast die ganze Woche nichts anderes getan. Komm schon, wir müssen dich aus deinem Pyjama und aus diesem Kabuff rauskriegen. Du verkümmerst hier drin noch. Außerdem wird Danny auch da sein«, fügt sie trällernd hinzu.

Ich will nicht lügen. Dieser Teil erregt durchaus mein Interesse. Ich meine, ja, sie ist natürlich meine Tutorin im Seminar für Frauenforschung und so, aber sie ist nicht meine Professorin. Was einen großen Unterschied macht. Wie es scheint, ist das genau der Arschtritt, den ich brauche, um mich heute Abend unter die Studentenschaft von Silas zu mischen.

Als ich Danny letzte Woche kennenlernte, brachte ich keinen Ton heraus, weswegen sie mich wahrscheinlich für eine komplette Idiotin hält. Wenn ich Glück habe, ist ihr klar geworden, dass meine Masche darin besteht, keine zu haben. Gott sei Dank war Betty da, um einzuschreiten und mir den Rücken zu stärken. (Und damit meine ich, vollständige Sätze zu bilden, ohne vor Verzücken in Ohnmacht zu fallen.) Dannys flammend rotes Haar ergoss sich über ihre Schultern und ihr Lächeln strahlte wie die Sonne selbst. Allein bei der Erinnerung daran krieg ich eine Gänsehaut.

Ich befolge Bettys modischen Ratschlag und tausche meine Pyjamaklamotten gegen einen Rock und ein weißes Tanktop. Ich fahre mir rasch mit den Fingern durchs Haar und trage einen Hauch rosa Lipgloss auf.

Betty macht mir sogar ein Kompliment. »Du bist heiß.«

Ich checke mein Spiegelbild und bin zufrieden. Jetzt muss das nur auch noch Danny bemerken. Ich bin so was von eingerostet. Ich hatte seit der elften Klasse keine Freundin mehr, als Aisha Carson mir das Herz brach und mich für den Rest meiner Schulzeit mit Liebeskummer zurückließ. Ziemlich beschissenes Timing. Am Ende musste ich als Notlösung mit einem Zufallsdate zum Abschlussball gehen. Meine Flirtfähigkeiten benötigen etwas Übung. Ja, okay, viel Übung.

Betty und ich brechen Arm in Arm zur Party auf. Die Laternen, die den Gehweg säumen, flackern, als wir über den Campus spazieren. Oder sind das bloß meine Augen, die mir einen Streich spielen? Betty jedenfalls scheint nichts zu bemerken. Als der leise heulende Wind das Herbstlaub aufwirbelt, huscht mein Blick hin und her. Ich höre knirschende Schritte hinter uns, doch als ich über meine Schulter schaue, ist da niemand.

Sobald wir die Party betreten, werde ich von bunten, zuckenden Stroboskoplichtern geblendet. Die Sohlen meiner Sandalen kleben am Boden, der mit Alkohol bekleckert ist, und ich komme kaum vom Fleck, weil ich von Hunderten von Studenten umgeben bin, die herumwirbeln und dabei mit ihren Drinks jonglieren.

Ein Typ reicht Betty eine Flasche Wodka. »Zehn-Sekunden-Zug, los geht’s!« Ich schau zu, als sie die Flasche nimmt und, ohne abzusetzen, volle zehn Sekunden daraus trinkt. Sie muss noch nicht einmal würgen.

»Ich liebe dieses Spiel!«, kreischt sie über die Musik hinweg. »Du bist dran. Wir fangen klein an. Fünf Sekunden.« Sie drückt mir die Flasche an die Brust.

Ein paar Leute versammeln sich um uns. »Trink! Trink! Trink!«, skandieren sie.

Widerwillig nehme ich den Wodka. Am liebsten würde ich mir die Nase zuhalten, bevor ich daran nippe, aber andererseits will ich auch eine von ihnen sein und dazugehören.

Betty startet die Stoppuhr auf ihrem Handy. »Und … los!«

Ich bezwinge meine Furcht und hebe die Flasche an meine Lippen. Ich bin mir zwar ziemlich sicher, dass mir die Hälfte von dem Zeug übers Kinn läuft, aber ich schaffe es trotzdem durchzuhalten, bis Betty verkündet, dass die Zeit rum ist. Ich drücke die Flasche wieder Betty in die Hand und huste mir beinahe die Lunge aus dem Leib. Mann, das Zeug brennt vielleicht.

»Macht total Spaß, stimmt’s?«, sagt Betty vergnügt.

»Klar.« Ich hoffe nur, dass ich nicht kotzen muss.

Betty zeigt auf eine Gruppe von Studenten in der hintersten Ecke, die grüne Leuchtstäbe um den Hals tragen und neonfarbene Getränke in den Händen halten. »Halt dich von denen fern. Das ist der Alchemieklub. Die machen seltsame Experimente, da willst du nicht mit drin stecken. Glaub mir.«

Oh ja, das tue ich, denke ich bei mir. Ich war noch nie an einem Ort mit einer vergleichbaren Mischung aus Grusel und Schrägheit. Ich bin gefangen in einem Meer betrunkener Menschen, und ich muss eine stille Ecke finden, um wieder zu Atem zu kommen. Ich drehe mich um, um Betty etwas zu fragen, doch sie ist verschwunden. Panik macht sich schon in mir breit, als mir jemand auf die Schulter tippt. Ich drehe mich um und sehe Danny vor mir, und prompt geht ein regelrechter Feueralarm in meinem Inneren los. Bleib cool, flehe ich mich selbst an. Brabble jetzt bloß keinen Blödsinn. Bitte!

»Betty ist an der Bar … sie mixt Turbojäger. Sie hat’s echt drauf.« Danny zeigt in ihre Richtung. »Sie ist wirklich ein Unikat.«

»Ja«, bringe ich hervor.

»Es ist schön, dich mal hier draußen zu sehen«, sagt sie grinsend.

Ich rücke näher an sie heran. »Es ist schön gesehen zu werden«, rutscht es mir einfach so aus meinem dummen Mund heraus. »Ich meine, Betty hat mich überredet, mich von meinem Pyjama zu trennen. Du weißt schon, um herzukommen. Ich schätze, Pyjamas ernten auf Partys schräge Blicke.« Ich brabble. Und brabble.

Danny scheint es nicht zu bemerken. »Du bist süß.«

Ich spüre, wie mir die Röte in die Wangen steigt.

»Lust zu tanzen?«, fragt sie.

Dankbar für den Mut, den mir der Wodka eingeflößt hat – auch wenn ich ihn vor ein paar Sekunden noch verflucht habe –, antworte ich mit einem Lächeln. Die Berührung ihrer Hand auf meiner, als sie mich durch das Labyrinth von Leuten zur Tanzfläche führt, steigert meine Schwärmerei für sie exponentiell. Sie ist einfach großartig.

Und wir haben noch das ganze Jahr vor uns.

Heute Morgen fühlt sich meine Zunge an, als würde sie einen Wollpulli tragen. Das ist genau der Grund, warum ich normalerweise nicht auf Partys gehe. Betty hat mich zu all diesen Wodkas und Turbojägern überredet und jetzt bezahle ich den Preis dafür. Ich blicke rüber zu dem großen Haufen unter ihrer Bettdecke. Betty. Sie hat gestern die Party gerockt. Sie ist offiziell die Wodka-Queen von Silas – oder zumindest behaupteten das all die grölenden Studenten, die sie anfeuerten. Mit jedem Shot, den sie an der Bar kippte, wurde das ohrenbetäubende Jubeln der Menge lauter.

Das Lämpchen oben an meinem Laptop blinkt. Mist, ich habe die Kamera angelassen. Ich wälze mich aus dem Bett und leere eine ganze Flasche Wasser, während ich mich nach etwas gegen meine wummernden Kopfschmerzen umsehe. Ich entdecke das ersehnte Fläschchen in einem Meer an Kosmetikartikeln auf meiner Kommode. Ich mühe mich mit dem kindersicheren Verschluss ab, öffne den Deckel und werfe mir zwei Tabletten ein. Dann drehe ich mich zu Betty um. »Na, wie geht es unserer Turbojägerin heute früh?«, rufe ich.

Keine Antwort. Noch nicht einmal ein müdes Zucken. Ich weiß, dass sie schläft, aber niemand wird diese Tabletten hier dringender benötigen als sie. Also reiße ich die Decke weg.

Nichts als Kissen.

Und dann, bevor ich mich wieder abwende, segelt ein gefaltetes Stück Papier zu Boden, das mit einer unidentifizierbaren Flüssigkeit zusammengeklebt ist. Ich hebe es auf und ziehe es auseinander. Sehr geehrter/geehrte Student/-in, Ihr/-e Mitbewohner/-in besucht nicht länger die Silas Universität …

Ich wusste es. Ich wusste, dass die Party ein Fehler war. Ich hätte darauf bestehen sollen, dass wir daheimbleiben, aber nein, ich musste mich ja dem Druck beugen, dazuzugehören, eine ganz normale Erstsemesterin zu sein, die freitagabends Bier auf Ex trinkt und sich die Kurzen nur so reinhämmert, anstatt zu lernen. Und jetzt ist Betty von der Uni geflogen? Ich tippe auf meinem Klapphandy eine SMS an sie. Ja, richtig gelesen, mein Vater hatte Angst, ich würde auf einem iPhone unanständige Selfies an wildfremde Typen verschicken, daher war das meine einzige Option. Mein Dad verleiht dem Spruch »Vorsicht ist besser als Nachsicht« ein ganz neues Level.

Meine erste SMS bleibt unbeantwortet. Die nächste verpufft ebenfalls unbeachtet.

Meine Gedanken überschlagen sich. Ich meine, mein Hirn schaltet von null auf hundertachtzig. Wie auch immer Bettys Zukunft an der Silas aussehen mag, aber wo steckt sie gerade? Was, wenn sie irgendwo am Straßenrand liegt?

Was bin ich nur für eine Mitbewohnerin? Habe ich sie verloren oder sie mich? Beruhige dich, Laura, ermahne ich mich. Wir sind an der Uni – vielleicht hat sie ja nur mit jemandem angebandelt. Ja, das muss es sein. Mein innerer Dialog scheint Wirkung zu zeigen. Mein Herzschlag beruhigt sich.

Ich wende mich meinem Computer zu und checke ihre Social-Media-Kanäle. Nichts Neues seit dem Schnappschuss von uns, auf dem wir mit Danny und ein paar Zeta-Holzköpfen auf der Party Flip Cup spielen. Betty ist eine zwanghafte Posterin. Ich meine, sie postet wirklich jeden ihrer Schritte. Ihr Frühstück. Ihre Outfits. Alles. Warum also diese Stille?

Mein Herzschlag beschleunigt sich erneut.

Was kann ich sonst tun, außer SMS zu schreiben? Hey, ich will ja nicht rumspinnen, aber lebst du noch? Heiße Nacht gehabt?

Ich füge ein lachendes Emoji hinzu, um die Nachricht aufzulockern, und zwinge mich dann, mich wieder hinzulegen. Das gelingt mir ungefähr fünfundvierzig Sekunden lang, bevor ich wieder aufspringe, um mein Handy zu checken. Nichts. Vielleicht brauche ich was Süßes.

Ich reiße eine Packung Waffeln mit Vanillefüllung auf. Betty ist definitiv verschollen. Ich halte kurze inne. Möchte ich wirklich eine dieser überbesorgten Freundinnen sein, die ständig Panik schieben? Vielleicht geht es ihr ja gut.

Aber was, wenn nicht?

Ich durchforste das Uni-Adressverzeichnis, um herauszufinden, wen ich anrufen kann. Ich wähle die Nummer der Wohnheimverwaltung, in der Hoffnung, dass jemand zu dieser unchristlichen Uhrzeit an einem Samstagmorgen rangeht, während ich gleichzeitig versuche, den Wodkadunst aus meinem Kopf zu schütteln.

»Ja! Ein Mensch!«, schreie ich, als sich eine Stimme am anderen Ende der Leitung meldet. »Ich möchte eine vermisste Person melden.« Ich warte nicht einmal eine Antwort ab. »Meine Mitbewohnerin ist letzte Nacht verschwunden, und alles, was ich gefunden habe, war eine klebrige Notiz, aber nie im Leben würde sie mitten in der Nacht abhauen und mir einen so kryptischen Papierfetzen hinterlassen.«

Außerdem war sie viel zu besoffen, um irgendetwas anderes zu tun, als besinnungslos ins Bett zu fallen. Das allerdings behalte ich für mich. Sie war einfach nur betrunken. Jetzt ist sie weg. So sieht es aus.

»Nein«, unterbreche ich den lahmen Schwachsinn, mit dem die Stimme mich abspeisen will. »Kein Mensch hinterlässt zum Abschied eine Notiz mit Multiple-Choice-Antworten«, beharre ich. Das ist überhaupt der seltsamste Teil an der ganzen Geschichte.

Ich höre zu, nicke vor mich hin, dann falle ich dem Kerl ins Wort. »Entschuldigen Sie, aber das hier ist die Notiz, die hinterlassen wurde. Ich werde sie Ihnen Wort für Wort vorlesen, damit Sie die Situation nachvollziehen können.

Sehr geehrter/geehrte Student/-in,

Ihr/-e Mitbewohner/-in besucht nicht länger die Silas Universität.

Er oder sie hat

(a) sein oder ihr Stipendium verloren und beschlossen nach Hause zu gehen;

(b) sich aufgrund Ihrer extremen Inkompatibilität als Mitbewohner/-in dazu entschlossen, eine andere Hochschule zu besuchen [also bitte, niemals!];

(c) einen psychologischen Vorfall erlitten, der sie oder ihn für das studentische Leben ungeeignet macht, oder

(d) persönliche Gründe angeführt – und überhaupt, das muss doch jeder selbst wissen!

Das Exmatrikulationsverfahren wurde eingeleitet. Es sind keinerlei Schritte Ihrerseits erforderlich.«

Natürlich ist das ausgemachter Schwachsinn. Es ergibt nicht den geringsten Sinn. Aber ich höre zu. Und höre zu. Bis ich kein weiteres Wort mehr ertrage. Ich hole tief Luft und versuche, vernünftig zu sein. »Mein Herr, ich glaube, Sie verstehen nicht ganz, worum es hier geht. Ich brauche keine neue Mitbewohnerin. Meine alte Mitbewohnerin ist perfekt. Es ist nur so, dass sie letzte Nacht verschwunden ist. Einfach so in Luft aufgelöst. Etwas an der Sache ist faul. Ich kann es spüren.«

Er erklärt, dass junge Menschen manchmal einfach durchdrehen und ich mir keine Sorgen machen müsse, sie würden mir in Kürze schon eine neue Mitbewohnerin besorgen. Er merkt außerdem an, dass ich überreagieren würde. Anscheinend kapiert er den Ernst der Lage nicht.

Mir reißt der Geduldsfaden. »Offenbar wollen Sie mir nicht helfen! Ich verlange, Ihren Vorgesetzten zu sprechen …« Ein Klicken am anderen Ende der Leitung, dann das Freizeichen. »Sie können nicht einfach auflegen!«, brülle ich ins Leere hinein. Ich bin kurz davor, mein Handy gegen die Wand zu schleudern, nur, woher würde ich jemals einen Ersatz für mein Klapptelefon erhalten? Mir ist klar, dass ich manchmal ein klein wenig überempfindlich sein kann, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir uns hier im absoluten Ausnahmezustand befinden.

Betty, wo bist du?

Ich warte ein paar Minuten, dann werden meine SMS ein bisschen verzweifelter.

Du musst mir schreiben, bevor ich noch die Polizei verständige. Ich muss wissen, dass es dir gut geht. JETZT.

Funkstille.

Ich bin also ganz auf mich allein gestellt bei meiner Suche nach meiner verschwundenen Mitbewohnerin. Das schreit förmlich nach Nervennahrung, wobei es für den Anfang noch ein paar mehr von diesen leckeren Vanillewaffeln tun, und dann vielleicht noch ein paar Chips. Ich finde die Nummer vom Campus-Sicherheitsdienst, aber noch bevor ich mich im Dschungel der automatisierten Ansagen verlieren kann, klingelt mein Handy.

»Ja, genau, ich bin die mit der vermissten Mitbewohnerin. Vielen Dank für Ihren Anruf.« Endlich jemand, den es interessiert. Ich lausche dem Geplapper der Dame, muss sie aber sofort unterbrechen. Warum kapieren diese Menschen eigentlich nicht mein Problem? »Nein, ich brauche keine neue Mitbewohnerin! Ich muss meine alte finden. Sie wird vermisst!«, schreie ich. Wieder einmal werde ich durch ein Freizeichen zum Schweigen gebracht.

Mein Laptop ist das einzige Lebenszeichen in diesem Zimmer. »Na schön. Wenn mir niemand helfen will, dann werde ich sie eben selbst finden«, sage ich. »Ich habe nicht vor aufzugeben.« Ja, genau, jetzt unterhalte ich mich schon mit meinem Computer.

Ich weiß nicht, wie ich es anstellen soll, aber ich werde Betty finden. Ich schließe die Augen und versuche, das Pochen in meinem Kopf zu unterdrücken.

Das hier ist quasi der wahr gewordene Unialbtraum meines Vaters: Besäufnisse und Kater, Lotterleben und Entführungen. Aber vielleicht ist das alles ja wirklich nur ein schlechter Traum. Ich lege mich wieder ins Bett und hoffe, dass nach einer Runde Schlaf alles wieder anders aussieht.

Ich wälze mich hin und her, verheddere mich in den Laken wie ein Fisch im Netz. Ich versuche es mit Schäfchenzählen, mit Meditation. Doch nichts will funktionieren, also schleudere ich die Decke von mir und stehe wieder auf.

Ich mache eine Tasse Kaffee und fahre mir mit den Fingern durchs Haar. Wie zur Hölle soll ich das schaffen? Ich muss einen Weg finden. Menschen verschwinden nicht einfach so mitten in der Nacht. Oder?

Ich erschrecke durch ein Geräusch an meiner Zimmertür … und noch viel mehr, als sie sich öffnet. Im Türrahmen steht ein Mädchen mit rabenschwarzem Haar, schwarzer knallenger Lederhose und abgebrühtem Blick; sie sieht aus, als wäre sie direkt von einer Harley gestiegen. Ihr Anblick verunsichert mich. »Wer bist du?«

»Carmilla, deine neue Mitbewohnerin, Süße«, antwortet sie.

Warum wirkt sie so … so überlegen? Sie ist schließlich die Neue hier.

»Äh, nein«, erwidere ich zögernd, »das muss ein Missverständnis sein. So läuft das nicht, ich habe eine Mitbewohnerin.«

Sie ignoriert mich unverhohlen und angelt sich stattdessen eine meiner Limo-Dosen aus dem Kühlschrank. »Du begreifst aber schnell.«

Ich rudere zurück. »Nein. Ich meine, ich habe eine bereits existierende Mitbewohnerin. Ihr Name ist B… Betty«, stammle ich.

Carmilla sieht sich im Zimmer um. »Wirklich? Wo ist sie denn?«

»Sie wird vermisst«, blaffe ich. Diese Tussi geht mir echt auf die Nerven.

Sie stolziert im Zimmer umher, als würde es ihr gehören. Ohne die dunklen Augen von mir zu lösen, wedelt sie mit einem Stück Papier in meine Richtung. »Tja, laut dieses Schreibens von der Dekanin wohne ich jetzt hier. Und niemand würde es wagen, ihr zu widersprechen.« Sie ist sarkastisch, aber ernst. Sie hat Mumm, das muss ich ihr lassen.

Carmilla wirft ihren Rucksack aufs Bett und beginnt damit, Bettys Sachen zu durchwühlen. Sie schleudert ihre Jeans beiseite und geht einen Stapel sauberer Wäsche durch. Als sie ein T-Shirt von Betty herauszieht und es sich vor die Brust hält, flippe ich aus. »Hey, das gehört nicht dir.« Herrje, was ist eigentlich kaputt bei der?

Sie verzieht spöttisch die Mundwinkel und neigt ihren Kopf zur Seite. »Es liegt auf dem Bett, das jetzt mir gehört. Also bin ich ab sofort die rechtmäßige Besitzerin, Süße.«

Mir gefällt ihr Tonfall nicht, also reiße ich ihr das T-Shirt aus den Händen.

Carmilla zuckt die Achseln. »Ich sag dir was, solange du diese Betty nicht herzauberst, bin ich deine neue Mitbewohnerin, und das ist meine Seite des Zimmers.« Sie zeichnet mit ihrem Zeigefinger eine unsichtbare Linie zwischen unsere Betten. Dann schnappt sie sich die Cookie-Packung von meinem Schreibtisch, lässt sich auf Bettys Bett fallen und scrollt fröhlich kauend durch ihr Handy.

»Ich werde Betty wiederfinden, und du bist hier so schnell raus, dass du Brandspuren auf deinen Lederhosen haben wirst.«

Das Grinsen auf ihrem Gesicht bringt mich aus der Fassung.

Und es wird nicht besser, als sie mir eine Kusshand zuwirft.