Buch
1939: Die New Yorkerin Caroline Ferriday liebt ihr Leben. Ihre Stelle im Konsulat erfüllt sie, und ihr Herz schlägt seit Kurzem für den französischen Schauspieler Paul. Doch ihr Glück nimmt ein jähes Ende, als sie die Nachricht erreicht, dass Hitlers Armee über Europa hinwegfegt und Paul aus Angst um seine Familie nach Europa reist – mitten in die Gefahr. Auch das Leben der jungen Polin Kasia ändert sich mit einem Schlag, als deutsche Truppen in ihr Dorf einmarschieren und sie in den Widerstandskampf hineingerät. Doch in der angespannten politischen Lage kann ein falscher Schritt für sie und ihre Familie schreckliche Folgen haben. Währenddessen würde die Düsseldorferin Herta alles tun für ihren sehnlichsten Wunsch, als Ärztin zu praktizieren. Als sie ein mysteriöses Angebot für eine Anstellung erhält, zögert sie deshalb keinen Augenblick. Noch ahnen die drei Frauen nicht, dass sich ihre Wege an einem der dunkelsten Orte der Welt kreuzen werden und sie bald für alles kämpfen müssen, was ihnen lieb und teuer ist …
Autorin
Nach ihrem Journalismus-Studium war Martha Hall Kelly lange Jahre als Werbetexterin tätig. Ihren Spürsinn für faszinierende Geschichten hat sie in dieser Zeit aber nie verloren, und so stieß sie schließlich auf die Spuren Caroline Ferridays, einer Amerikanerin, die sich während des Zweiten Weltkriegs für eine Gruppe polnischer Frauen einsetzte. Aus den daraus folgenden Recherchearbeiten entstand schließlich Martha Hall Kellys Debüt »Und am Ende werden wir frei sein«. Der bewegende Roman eroberte die internationalen Bestsellerlisten und wurde allein in den USA über eine Million Mal verkauft. Die Autorin lebt in Connecticut und auf Martha’s Vineyard.
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MARTHA HALL KELLY
Und am Ende
werden wir
frei sein
ROMAN
Deutsch von Karin Dufner
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Lilac Girls« bei Ballantine Books, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC, New York.
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Copyright der Originalausgabe © 2016 by Martha Hall Kelly
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Limes
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Matthias Teiting
Covergestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign
nach einer Originalvorlage von Penguin Random House US
Coverdesign: Laura Klynstra
Covermotive: ullstein bild - Roger-Viollet; Jodi Baglien Sparkes/Shutterstock.com)
Karten: © Holly Hollon Designs
Fotos: © Martha Hall Kelly
dn · Herstellung: sam
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-24703-4
V003
www.limes-verlag.de
Für meinen Mann Michael,
der bei mir noch immer
die Puderdose klacken lässt
Erster Teil
Kapitel 1
CAROLINE
September 1939
Wenn ich gewusst hätte, dass ich gleich den Mann kennenlernen sollte, unter dessen Einfluss ich zerbrechen würde wie Knochenporzellan auf Terrakotta, wäre ich zu Hause geblieben. Stattdessen holte ich unseren Floristen Mr. Sitwell aus dem Bett, damit er mir ein Sträußchen fürs Knopfloch anfertigte. Meine erste Konsulatsgala war nicht der richtige Zeitpunkt, um das Protokoll mit Füßen zu treten.
Ich reihte mich in die Flut der vielen Ungewaschenen ein, die die Fifth Avenue entlangströmten. Männer in grauen Filzhüten drängten sich an mir vorbei. Die Zeitungsschlagzeilen verkündeten die letzten erfreulichen Nachrichten des Jahrzehnts. An diesem Tag braute sich im Osten kein Sturm zusammen, nichts wies auf die kommenden Ereignisse hin. Das einzige unheilvolle Vorzeichen aus Richtung Europa war der Geruch nach brackigem Wasser, der vom East River heranwehte.
Als ich mich unserem Gebäude an der Ecke Fifth Avenue und Forty-ninth Street näherte, spürte ich, dass Roger mich von oben aus dem Fenster beobachtete. Er hatte schon Leute aus geringeren Gründen als einer zwanzigminütigen Verspätung gefeuert. Trotzdem war der einzige Tag im Jahr, an dem die oberen Zehntausend von New York ihre Brieftaschen öffneten und ein wenig Interesse an Frankreich heuchelten, nicht der richtige Zeitpunkt, um an Knopflochsträußchen zu sparen.
Ich bog um die Ecke. Die helle Morgensonne fing sich in den eingemeißelten, vergoldeten Buchstaben im Eckstein: LA MAISON FRANCAISE. Das französische Haus, Heimat des französischen Konsulats, stand Seite an Seite mit dem British Empire Building, einem Teil des Rockefeller Center, Rockefeller Juniors neuem Bauwerk aus Granit und Kalkstein. Damals hatten viele ausländische Konsulate hier ihre Büros, was einen großartigen Mischmasch internationaler Diplomatie zur Folge hatte.
»Ganz nach hinten durchgehen, immer nach vorn schauen«, sagte Cuddy, unser Liftboy.
Mr. Rockefeller suchte die Liftboys persönlich aus und überprüfte sie auf Manieren und gutes Aussehen. Cuddy war mit Letzterem über Gebühr ausgestattet, auch wenn sein Haar bereits grau meliert war und sein Körper es mit dem Altern eilig hatte.
Cuddy starrte auf die beleuchteten Ziffern über den Türen. »Ziemlich viele Leute da oben, Miss Ferriday. Pia meinte, es sind zwei neue Schiffe angekommen.«
»Entzückend«, erwiderte ich.
Cuddy wischte etwas vom Ärmel seiner marineblauen Uniformjacke. »Wird es bei Ihnen wieder spät heute?«
Obwohl wir angeblich die schnellsten Aufzüge der Welt hatten, brauchte unserer eine Ewigkeit. »Ich muss um fünf weg. Eine Gala heute Abend.«
Ich liebte meinen Beruf. Großmutter Woolsey hatte die Tradition arbeitender Frauen in unserer Familie begründet, indem sie auf dem Schlachtfeld in Gettysburg verwundete Soldaten gepflegt hatte. Allerdings war meine ehrenamtliche Stelle als Leiterin der Familienhilfe im französischen Konsulat eigentlich kein richtiger Beruf. Dass ich alles Französische liebte, war mir einfach in die Wiege gelegt worden. Auch wenn mein Vater ein halber Ire war, gehörte sein Herz Frankreich. Außerdem hatte Mutter eine Wohnung in Paris geerbt, wo wir jeden August verbrachten, sodass ich mich dort zu Hause fühlte.
Der Aufzug stoppte. Selbst durch die geschlossenen Türen hörten wir überwältigendes, lautes Stimmengewirr. Ein Schauder durchlief mich.
»Vierter Stock«, verkündete Cuddy. »Französisches Konsulat. Vorsicht beim …«
Sobald die Türen auseinanderglitten, übertönte der Lärm die Höflichkeitsfloskel des Liftboys. In dem Flur vor unserem Empfangsbereich drängten sich so viele Menschen, dass kaum ein Durchkommen war. An diesem Morgen waren die Normandie und die Ile de France, zwei der bedeutendsten Ozeanriesen Frankreichs, im Hafen von New York eingelaufen, vollgestopft mit Passagieren, die den unsicheren Verhältnissen in ihrem Heimatland hatten entfliehen wollen. Als das Signal ertönte und alle aussteigen durften, hatten die Wohlhabenden an Bord das Konsulat gestürmt, um Visaprobleme und andere heikle Themen zu klären.
Ich zwängte mich durch den verqualmten Empfangsbereich, vorbei an einer Gruppe von Damen in den neuesten Pariser Tageskleidern, eingehüllt in eine duftende Wolke Arpège und die Gischt noch im Haar, die dastanden und miteinander plauderten. Diese Menschen waren es gewohnt, dass ein Butler ihnen mit einem Kristallaschenbecher und einer Champagnerflöte auf Schritt und Tritt folgte. Pagen in den scharlachroten Jacken der Normandie warteten neben ihren schwarz berockten Kollegen von der Ile de France. Ich rempelte mich mit der Schulter durch die Menge und steuerte auf den Schreibtisch unserer Sekretärin hinten im Raum zu, wobei mein Chiffonschal an der Schließe einer Perlenkette hängen blieb, die eine bezaubernde Dame neben mir um den Hals trug. Während ich mich zu befreien versuchte, summte die Gegensprechanlage, ohne dass jemand ranging.
Roger.
Ich kämpfte mich weiter durch die Menge und spürte, dass mir jemand auf den Po klopfte. Als ich mich umdrehte, hatte ich einen Schiffsoffizier mit einem strahlenden Lächeln vor mir.
»Gardons nos mains pour nous-mêmes«, sagte ich. »Wir wollen unsere Hände bei uns behalten.«
Der Junge hob den Arm über die Köpfe der anderen und schwenkte seinen Salonschlüssel von der Normandie. Wenigstens war er nicht über sechzig, der Männertyp, den ich normalerweise anzog.
Ich schaffte es zum Schreibtisch der Sekretärin, wo diese mit gesenktem Kopf dasaß und tippte.
»Bonjour, Pia.«
Rogers Cousin, ein dunkeläugiger Junge von achtzehn Jahren, hatte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen auf Pias Schreibtisch niedergelassen. Er hielt seine Zigarette hoch, während er in einer Pralinenschachtel kramte, Pias Lieblingsfrühstück. In meinem Posteingang auf dem Schreibtisch stapelten sich bereits die Fallakten.
»Vraiment? Was soll an diesem Morgen gut sein?«, entgegnete sie, ohne den Kopf zu heben.
Pia war viel mehr als eine Sekretärin. Wir alle erfüllten die verschiedensten Aufgaben, und zu ihren gehörte, neue Antragsteller zu registrieren, für jeden von ihnen eine Akte anzulegen, Rogers umfangreiche Korrespondenz zu tippen und die gewaltige Flut von Morsenachrichten zu entziffern, die das Lebensblut unseres Büros waren.
»Warum ist es hier drin so heiß?«, fragte ich. »Pia, das Telefon läutet.«
Sie angelte sich eine Praline aus der Schachtel. »Das tut es schon die ganze Zeit.«
Pia sammelte Verehrer, als würde sie eine Frequenz aussenden, die nur Männer empfangen konnten. Sie war auf eine raubtierhafte Art attraktiv, wobei ich den Verdacht hegte, dass ihre Beliebtheit zum Teil an ihren engen Pullovern lag.
»Kannst du heute einen Teil meiner Fälle übernehmen, Pia?«
»Roger hat mir verboten, diesen Stuhl zu verlassen.« Sie knackte die Kruste an der Unterseite einer Praline mit ihrem manikürten Daumennagel und machte sich über die Erdbeercreme her. »Außerdem will er dich sofort sehen. Aber ich glaube, die Frau auf dem Sofa dort hat letzte Nacht auf dem Flur geschlafen.« Pia wedelte mir mit einem halben Hundertdollarschein vor der Nase herum. »Und das Dickerchen mit den Hunden sagt, er gibt dir die andere Hälfte, wenn du ihn zuerst drannimmst.« Sie wies mit dem Kopf auf ein wohlgenährtes Paar neben meiner Bürotür. Beide hielten je einen Dackel mit grauer Schnauze an der Leine.
Wie bei Pia umfasste auch mein Zuständigkeitsbereich zahlreiche Pflichten. Dazu gehörten die Betreuung französischer Staatsbürger hier in der Stadt, von denen viele in Schwierigkeiten geraten waren, und die Verwaltung des French Families Fund, einer wohltätigen Organisation, mit deren Hilfe ich Hilfspakete an französische Waisen in Übersee schickte. Ich hatte mich gerade aus einer fast zwei Jahrzehnte andauernden Karriere am Broadway zurückgezogen, weshalb mir die Beschäftigung im Konsulat vergleichsweise geruhsam erschien. Jedenfalls fiel das ständige Kofferpacken weg.
Mein Chef, Roger Fortier, erschien in der Tür seines Büros.
»Caroline, ich muss Sie sofort sprechen. Bonnet hat abgesagt.«
»Das darf doch nicht wahr sein, Roger.« Die Nachricht traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Schon vor Monaten hatte ich den französischen Außenminister als Hauptredner für unsere Gala angeworben.
»Momentan ist es nicht leicht, französischer Außenminister zu sein«, rief er mir über die Schulter zu und kehrte in sein Büro zurück.
Ich trat in meines und blätterte das Adressregister auf meinem Schreibtisch durch. Hatte Mutters Freund, der buddhistische Mönch Ajahn Chah, heute Abend Zeit?
»Caroline«, ertönte Rogers Stimme. Ich schnappte mir mein Adressregister und hastete in sein Büro, wobei ich dem Paar mit den Dackeln auswich, das sein Bestes tat, um möglichst tragische Mienen aufzusetzen.
»Warum sind Sie heute Morgen zu spät gekommen?«, fragte Roger. »Pia ist schon seit zwei Stunden hier.«
Als Generalkonsul regierte Roger Fortier sein Reich von einer Ecksuite aus, die einen beeindruckenden Blick auf die Rockefeller Plaza und das Promenade Café bot. Normalerweise beherbergte die abgesenkte Stelle dort die berühmte Eislaufbahn, die jetzt im Sommer allerdings geschlossen war. Kaffeehaustische nahmen den Platz ein, zwischen denen Kellner im Frack und mit knöchellanger Schürze herumwimmelten. Dahinter stürzte der gewaltige goldene Prometheus von Paul Manship zur Erde und hielt dabei das gestohlene Feuer hoch. Die siebzig Stockwerke des RCA Building ragten weit in den saphirblauen Himmel. Roger hatte viel mit der gewaltigen, über dem Eingang eingemeißelten Männerstatue gemeinsam, die die Weisheit darstellte. Die gerunzelte Stirn. Den Bart. Den zornigen Blick.
»Ich habe noch das Knopflochsträußchen für Bonnet besorgt …«
»Ach, und deshalb lässt man halb Frankreich warten.« Als Roger in einen Donut biss, rieselte Puderzucker in seinen Bart. Obwohl man ihn, wenn man wohlwollend war, als stattlich bezeichnen konnte, litt er nie Mangel an weiblicher Begleitung.
Auf seinem Schreibtisch türmten sich Akten, vertrauliche Unterlagen und Dossiers über vermisste französische Bürger. Laut dem Französischen Konsulatshandbuch hatte er die Pflicht, »französische Staatsbürger in New York im Fall von Diebstahl, schwerer Krankheit oder Festnahme sowie bei Schwierigkeiten im Zusammenhang mit Geburtsurkunden, Adoptionen, verlorenen oder gestohlenen Dokumenten zu unterstützen. Außerdem muss er Besuche französischer Würdenträger und anderer Diplomaten planen und Menschen bei politischen Krisen und Naturkatastrophen beistehen.« Die Lage in Europa versorgte uns in all diesen Bereichen mit genügend Arbeit. Wenn man Hitler als Naturkatastrophe einstufte.
»Ich muss mich wieder um meine Fälle kümmern, Roger …«
Schwungvoll schob er einen braunen Ordner über den polierten Konferenztisch. »Jetzt haben wir heute Abend nicht nur keinen Redner, sondern ich habe auch vollkommen überflüssigerweise die halbe Nacht damit zugebracht, Bonnets Rede umzuschreiben. Ich musste geschickt übergehen, dass Roosevelt amerikanische Flugzeuge an Frankreich verkaufen will.«
»Frankreich sollte so viele Flugzeuge kaufen dürfen, wie es will.«
»Wir sammeln hier Spenden, Caroline. Der Zeitpunkt ist ungünstig, um die Isolationisten zu verärgern. Insbesondere die reichen.«
»Die unterstützen Frankreich sowieso nicht.«
»Wir können keine schlechte Presse gebrauchen. Stehen die USA und Frankreich sich zu nahe? Wird die Folge sein, dass Deutschland und Russland enger zusammenrücken? Ich schaffe es kaum bis zum Nachtisch, ohne dass ein Reporter mich beim Essen stört. Außerdem können wir Rockefeller nicht erwähnen. Ich habe keine Lust auf noch einen Anruf vom Junior. Aber wahrscheinlich werde ich dem sowieso nicht entkommen, jetzt da Bonnet abgesagt hat.«
»Das ist eine Katastrophe, Roger.«
»Vielleicht streichen wir das Ganze am besten.« Als Roger sich mit den Fingern durchs Haar fuhr, entstanden neue Furchen in seine Pomade.
»Vierzigtausend Dollar zurückzahlen? Was ist mit dem French Families Fund? Ich pfeife ohnehin schon auf dem letzten Loch. Außerdem haben wir fünf Kilo Waldorfsalat gekauft …«
»So was nennen die Salat?« Roger blätterte durch seine Kontaktkarten, die Hälfte davon unleserlich und von durchgestrichenen Stellen übersät. »Der Matsch ist pathétique … nur gehackte Äpfel und Sellerie. Und dazu diese durchweichten Walnüsse …«
Ich durchforstete mein Adressregister nach prominenten Kandidaten. Mutter und ich kannten Julia Marlowe, die berühmte Schauspielerin, aber die war gerade auf Europatournee. »Was ist mit Peter Patout? Den haben Mutters Leute schon einmal engagiert.«
»Der Architekt?«
»Der gesamten Weltausstellung. Die haben dort immerhin einen über zwei Meter großen Roboter.«
»Langweilig«, entgegnete er und schlug sich mit dem silbernen Brieföffner auf die Handfläche.
Ich blätterte weiter vor bis zum L. »Wie finden Sie Captain Lehude?«
»Von der Normandie? Der wird dafür bezahlt, die Leute zu langweilen.«
»Sie können nicht jeden Vorschlag so mir nichts, dir nichts abtun, Roger. Wie wäre es mit Paul Rodierre? Laut Betty reden alle über ihn.«
Roger schürzte die Lippen, immer ein gutes Zeichen. »Der Schauspieler? Ich war in seiner Vorstellung. Er ist begabt. Groß und attraktiv, wenn man diese Art Aussehen mag. Er muss einen traumhaften Stoffwechsel haben.«
»Zumindest wissen wir, dass er sich einen Text merken kann.«
»Er ist ein wenig unzuverlässig. Und außerdem verheiratet. Machen Sie sich also keine falschen Hoffnungen.«
»Ich bin fertig mit den Männern, Roger«, antwortete ich. »Mit siebenunddreißig habe ich mich damit abgefunden, allein zu bleiben.«
»Ich bin nicht sicher, ob Rodierre mitmacht. Schauen Sie, wen Sie kriegen können, aber keinen Roosevelt …«
»Und keine Rockefellers«, beendete ich den Satz.
Zwischen den einzelnen Klienten telefonierte ich sämtliche Alternativen ab und hatte zu guter Letzt nur noch eine Option. Paul Rodierre. Er war in New York und trat am Broadhurst Theatre in einer amerikanischen Musical-Revue auf. In den Straßen von Paris, Carmen Mirandas großem Durchbruch am Broadway.
Ich rief die William Morris Agency an, wo man mir mitteilte, man werde sich erkundigen und sich wieder bei mir melden. Zehn Minuten später erklärte mir Monsieur Rodierres Agent, das Theater sei heute geschlossen. Sein Klient besitze zwar keine Abendgarderobe, fühle sich aber tief geehrt von unserer Anfrage, am Abend durch die Gala zu führen. Er werde sich im Waldorf mit mir treffen, um die Einzelheiten zu erörtern. Da unsere Wohnung in der East Fiftieth Street nur einen Katzensprung vom Waldorf entfernt war, eilte ich nach Hause, um Mutters schwarzes Kleid von Chanel anzuziehen.
Monsieur Rodierre saß an einem Kaffeehaustisch in der Peacock-Alley-Bar des Waldorf neben der Hotelhalle. Die zwei Tonnen schwere Bronzeuhr läutete gerade mit ihrem reizenden Westminster-Klang die halbe Stunde ein. Herausgeputzte Galagäste strömten herein und steuerten auf den großen Ballsaal im Obergeschoss zu.
»Monsieur Rodierre?«, fragte ich.
Was die Attraktivität anging, hatte Roger recht gehabt. Wenn man sich von seiner hinreißenden Schönheit erholt hatte, fiel einem bei Paul Rodierre als Zweites sein strahlendes Lächeln auf.
»Wie kann ich Ihnen dafür danken, dass Sie in letzter Minute eingesprungen sind, Monsieur?«
Als er sich erhob, kam ein Körperbau in Sicht, der sich besser für eine Rudermannschaft auf dem Charles als für die Bühne geeignet hätte. Er wollte mich auf die Wange küssen, aber ich hielt ihm die Hand hin, die er schüttelte. Es war nett, einem Mann zu begegnen, der so groß war wie ich.
»Es ist mir ein Vergnügen«, erwiderte er.
Allerdings war seine Kleidung ein Problem: grüne Hose, ein Sakko aus auberginefarbenem Samt, braune Wildlederschuhe und, was am schlimmsten war, ein schwarzes Hemd. Nur Priester oder Faschisten trugen schwarze Hemden. Und Gangster natürlich.
»Möchten Sie sich umziehen?« Ich widerstand der Versuchung, sein Haar zu glätten, das lang genug war, um es mit einem Gummiband zusammenzubinden. »Und sich vielleicht rasieren?« Laut seinem Agenten wohnte Monsieur Rodierre im Hotel, was hieß, dass sich sein Rasierer nur einige Etagen über uns befand.
»So ziehe ich mich eben an«, meinte er achselzuckend. »So sehe ich aus.« Typisch Schauspieler. Ich hätte es wissen sollen. Die Prozession der Gäste in Richtung Ballsaal wurde dichter. Die Frauen in ihren atemberaubenden Abendkleidern, die Männer im Frack und mit Oxfords aus Lackleder oder kalbsledernen Opernschuhen.
»Das ist meine erste Gala«, sagte ich. »Der einzige Abend, an dem das Konsulat Spenden sammeln kann. Abendgarderobe ist Pflicht.« Würde er in Vaters alten Frack passen? Die Länge wäre wohl richtig, aber an den Schultern wäre er zu eng.
»Sind Sie immer so angespannt, Miss Ferriday?«
»Nun, hier in New York trifft Individualität nicht immer auf Zustimmung.« Ich reichte ihm die zusammengehefteten Seiten. »Sicher sind Sie schon gespannt auf das Manuskript.«
Er gab es mir zurück. »Non, merci.«
Ich drückte es ihm abermals in die Hand. »Aber der Generalkonsul hat es selbst geschrieben.«
»Erklären Sie mir noch einmal, weshalb ich das hier mache.«
»Wir sammeln Gelder, von denen Exilfranzosen das ganze Jahr über profitieren sollen. Und mit dem French Families Fund helfen wir Waisen in Frankreich, deren Eltern aus den verschiedensten Gründen verschwunden sind. Angesichts der problematischen Lage im Ausland stellen wir die Versorgung mit Kleidung und Nahrung sicher. Außerdem werden die Rockefellers da sein.«
Er blätterte nun doch in der Rede. »Die könnten doch einen Scheck ausschreiben, dann wäre die ganze Veranstaltung überflüssig.«
»Die Rockefellers gehören zu unseren großzügigsten Spendern, aber bitte erwähnen Sie sie nicht. Auch nicht Präsident Roosevelt. Oder die Flugzeuge, die die USA an Frankreich verkauft hat. Natürlich fühlen sich nicht wenige unserer Gäste heute Abend Frankreich verbunden, möchten sich jedoch bislang aus einem Krieg heraushalten. Roger will umstrittene Themen vermeiden.«
»Wenn man um den heißen Brei herumredet, fühlt es sich nie authentisch an. Das Publikum merkt das.«
»Könnten Sie sich nicht einfach an das Manuskript halten, Monsieur?«
»Wenn man sich zu viele Sorgen macht, bekommt man früher oder später einen Herzinfarkt, Miss Ferriday.«
Ich öffnete den Nadelverschluss an den Maiglöckchen. »Hier, ein Knopflochsträußchen für unseren Ehrengast.«
»Muguet?«, meinte Monsieur Rodierre. »Wo haben Sie die um diese Jahreszeit her?«
»In New York bekommt man alles. Unser Florist züchtet sie aus den Samen.«
Ich stützte die Hand auf sein Revers und bohrte die Nadel tief in den französischen Samt. Kam der wundervolle Duft von ihm oder von den Blumen? Warum rochen amerikanische Männer nicht so? Nach Tuberosen, Holz, Moschus und …
»Sie wissen schon, dass Maiglöckchen giftig sind?«, fragte Monsieur Rodierre.
»Dann dürfen Sie sie eben nicht essen. Zumindest nicht, bis Sie mit Ihrer Rede fertig sind. Oder nur, wenn sich das Publikum vor Empörung auf Sie stürzt.«
Als er auflachte, wich ich einen Schritt zurück. Es war ein herzhaftes Lachen, wie man es in der besseren Gesellschaft nur selten hörte, insbesondere wenn es um meine Witze ging.
Ich begleitete Monsieur Rodierre hinter die Bühne und stellte ehrfürchtig fest, wie groß sie war. Zweimal so groß wie die am Broadway, auf denen ich gestanden hatte. Wir betrachteten das Meer aus Tischen im Ballsaal, die von den Kerzen erleuchtet wurden wie blumengeschmückte Schiffe in der Dunkelheit. Obwohl das Licht gedämpft war, schimmerte der Kronleuchter aus Waterford-Kristall.
»Die Bühne ist riesig«, stellte ich fest. »Kriegen Sie das hin?«
Monsieur Rodierre wandte sich zu mir um. »Damit verdiene ich meine Brötchen, Miss Ferriday.«
Aus Angst, Monsieur Rodierre weiter zu verärgern, ließ ich ihn mit seinem Manuskript hinter der Bühne zurück und versuchte, meine Fixierung auf braune Wildlederschuhe abzuschütteln. Ich hastete in den Ballsaal, um mich zu vergewissern, dass Pia meine Tischordnung umgesetzt hatte, eine Operation, die mehr Fingerspitzengefühl erfordert hatte als der Flugplan der Luftwaffe. Ich stellte fest, dass sie einfach ein paar Karten auf die sechs Tische der Rockefellers geworfen hatte. Ich sortierte sie und nahm dann meinen Platz zwischen der Küche und dem Ehrentisch ein. In dem gewaltigen Raum standen rot verkleidete Podeste, jedes mit einem eigenen Esstisch. Sämtliche eintausendsiebenhundert Plätze waren reserviert. Wenn nicht alles klappte wie am Schnürchen, würden viele Leute sehr unzufrieden sein.
Die Gäste versammelten sich und nahmen ihre Plätze ein, Massen an weißen Fliegen, antiken Edelsteinen und derartige Unmengen an Roben aus der Rue du Faubourg Saint-Honoré, dass das Sortiment der luxuriösesten Läden in Paris vermutlich ausverkauft war. Allein die Hüftgürtel hatten sicher dafür gesorgt, dass Bergdorf und Goodman ihr Umsatzziel im dritten Quartal erreicht hatten.
Einige Journalisten scharten sich um mich und griffen nach den Bleistiften hinter ihren Ohren. Der Oberkellner stand einsatzbereit neben mir und wartete auf ein Zeichen, um mit dem Servieren zu beginnen. Elsa Maxwell trat ein, Klatschbase, professionelle Gastgeberin und Selbstdarstellerin ne plus ultra. Würde sie die Handschuhe ausziehen, um eine Gruselgeschichte über diesen Abend für ihre Kolumne zu verfassen, oder sich das Grauen einfach nur einprägen?
Fast alle Tische waren besetzt, als Mrs. Cornelius Vanderbilt, von Roger »Euer Gnaden« genannt, eintraf. Auf ihrer Brust funkelte ein viersträngiges Diamantcollier von Cartier. Sobald Mrs. Vanderbilds Hintern die Sitzfläche des Stuhls berührte und sie ihre weiße Fuchsstola, komplett mit Kopf und Pfoten, über die Stuhllehne drapiert hatte, gab ich das Signal zu servieren. Die Lichter wurden gedämpft, und Roger trottete, begleitet von herzlichem Applaus, auf die in Scheinwerferlicht getauchte Bühne. Ich war noch nie so nervös gewesen, nicht einmal bei meinen eigenen Auftritten vor Publikum.
»Mesdames et Messieurs, Außenminister Bonnet entschuldigt sich vielmals, aber er kann heute Abend nicht bei uns sein.« Die Gäste raunten, unsicher, wie sie auf diese Enttäuschung reagieren sollten. Sollten sie verlangen, dass sie ihr Geld per Post zurückerstattet bekämen? Sollten sie in Washington anrufen?
Roger hob die Hand. »Wir konnten jedoch einen anderen Franzosen dafür gewinnen, heute Abend zu uns zu sprechen. Er bekleidet zwar keinen Regierungsposten, wirkt jedoch in der Hauptrolle an einer viel gelobten Inszenierung am Broadway mit.«
Die Gäste tuschelten. Es ging nichts über eine Überraschung, vorausgesetzt, dass sie gut war.
»Bitte gestatten Sie mir, Monsieur Paul Rodierre zu begrüßen.«
Monsieur Rodierre ließ das Rednerpult links liegen und steuerte die Mitte der Bühne an. Was führte er im Schilde? Der Scheinwerfer huschte auf der Suche nach ihm eine Weile hin und her. Roger setzte sich unterdessen neben Mrs. Vanderbilt an den Ehrentisch. Ich verharrte in der Nähe, in einigem Sicherheitsabstand, um später nicht erwürgt zu werden.
»Es ist mir ein großes Vergnügen, heute hier zu sein«, begann Monsieur Rodierre, nachdem der Scheinwerfer ihn auf der Bühne entdeckt hatte. »Ich bedauere sehr, dass Monsieur Bonnet verhindert ist.«
Selbst ohne Mikrofon füllte Monsieur Rodierres Stimme den Raum. Er strahlte förmlich im Scheinwerferlicht.
»Ich bin ein ärmlicher Ersatz für einen so illustren Gast. Hoffentlich hatte er keine Schwierigkeiten mit seinem Flugzeug. Sicher wird ihm Präsident Roosevelt in diesem Fall gern ein neues schicken.«
Nervöses Auflachen machte sich im Raum breit. Ich brauchte die Journalisten nicht anzuschauen, um zu wissen, dass sie mitschrieben wie die Wilden. Roger, dem Meister in der Kunst des Tête-à-Tête, gelang es, mit Mrs. Vanderbilt zu plaudern und mich gleichzeitig mit Blicken zu erdolchen.
»Gut, ich darf nicht mit Ihnen über Politik sprechen«, fuhr Monsieur Rodierre fort.
»Gott sei Dank!«, rief jemand an einem der hinteren Tische. Wieder lachten die Gäste, diesmal lauter.
»Aber ich kann Ihnen von Amerika erzählen, einem Land, das mich jeden Tag erstaunt. Ein Land, das nicht nur das französische Theater, die Bücher, den Film und die Mode willkommen heißt, sondern auch uns Franzosen, und zwar trotz unserer Fehler.«
»Scheiße«, fluchte ein Reporter neben mir, dessen Bleistift abgebrochen war. Ich gab ihm meinen.
»Jeden Tag beobachte ich Menschen, die anderen helfen. Amerikaner, inspiriert von Mrs. Roosevelt, die ihre Hand über den Atlantik ausstreckt, um französische Kinder zu unterstützen. Amerikaner wie Miss Caroline Ferriday, die sich jeden Tag für französische Familien hier in Amerika einsetzt und französische Waisen mit Kleidung versorgt.«
Roger und Mrs. Vanderbilt schauten zu mir herüber. Der Scheinwerfer entdeckte mich an der Wand; das vertraute Licht blendete mich. Euer Gnaden applaudierte, und die Menge folgte ihrem Beispiel. Ich wartete ab, bis der Lichtkegel zurück zur Bühne wanderte und mich in kühler Dunkelheit zurückließ. Obwohl ich den Broadway nicht wirklich vermisste, war es schön, einmal wieder das warme Scheinwerferlicht auf der Haut gespürt zu haben.
»Es ist ein Amerika, das sich nicht fürchtet, Flugzeuge an das Volk zu verkaufen, das ihm in den Schützengräben des Großen Krieges zur Seite gestanden hat. Ein Amerika, das keine Angst hat, Hitler aus den Straßen von Paris fernzuhalten. Ein Amerika, das den Schulterschluss mit uns nicht scheut, falls uns die schrecklichste Zeit bevorsteht …«
Ich beobachtete ihn und warf nur ab und zu einen kurzen Blick auf die Gäste. Sie lauschten gebannt und kümmerten sich eindeutig nicht um seine Schuhe. Die halbe Stunde verflog im Nu, und ich hielt den Atem an, als Monsieur Rodierre sich verbeugte. Der Applaus begann leise, steigerte sich jedoch in Wellen wie ein gewaltiger Platzregen, der auf ein Dach niederging. Elsa Maxwell hatte Tränen in den Augen, die sie mit einer Hotelserviette wegtupfte. Und als das Publikum sich erhob und aus voller Kehle »La Marseillaise« sang, war ich froh, dass Bonnet nicht im Anschluss an diese Darbietung auftreten musste. Selbst das Personal stimmte, die Hand aufs Herz gelegt, mit ein.
Als die Lichter angingen, wirkte Roger erleichtert und begrüßte die Gratulanten, die sich um den Ehrentisch drängten. Während der Abend sich seinem Ende näherte, zog er sich mit einem Grüppchen unserer großzügigsten Spender, auch einigen Mitgliedern der Showtanzgruppe The Rockettes, den einzigen Frauen in New York, die mich klein aussehen ließen, in den Rainbow Room zurück.
Beim Verlassen des Speisesaals berührte Monsieur Rodierre mich an der Schulter. »Ich kenne ein Lokal am Hudson, wo es ausgezeichneten Wein gibt.«
»Ich muss nach Hause«, erwiderte ich, obwohl ich noch keinen Bissen gegessen hatte. Gleichzeitig dachte ich an warmes Brot und Schnecken mit Butter. Allerdings war es keine gute Idee, allein mit einem verheirateten Mann auszugehen. »Nicht heute Abend, Monsieur. Trotzdem vielen Dank.« In wenigen Minuten würde ich zu Hause sein, in einer kalten Wohnung mit übrig gebliebenem Waldorfsalat.
»Soll ich nach unserem Triumph etwa allein essen?«, entgegnete Monsieur Rodierre.
Was sprach eigentlich dagegen? Meine Clique speiste stets in denselben Restaurants, die sich an einer Hand abzählen ließen und sich innerhalb eines Radius von vier Blocks rings um das Waldorf befanden. Was konnte ein Abendessen am Hudson schon schaden?
Wir fuhren mit dem Taxi ins Le Grenier, ein gemütliches Bistro in der West Side. Da die französischen Ozeanriesen stets den Fluss hinauftuckerten und an der Fifty-first Street anlegten, waren dort einige von New Yorks besten kleinen Restaurants aus dem Boden geschossen wie Pfifferlinge nach einem kräftigen Schauer. Das Le Grenier lebte ihm Schatten der SS Normandie im Speicher der früheren Hafenmeisterei. Als wir aus dem Taxi stiegen, ragte das große Schiff hoch über uns auf. Das Deck war mit Scheinwerfern hell erleuchtet, vier Etagen mit Bullaugen schimmerten. Ein Schweißer am Bug schickte aprikosenfarbene Funken in die Nacht, während Matrosen eine Lampe zu dem Gerüst der Maler seitlich am Rumpf hinunterließen. Als ich so unter dem riesigen schwarzen Heck stand, fühlte ich mich ganz klein. Jeder der drei roten Kamine war höher als die Lagerhäuser, die das Pier säumten. Salzgeruch hing in der Spätsommerluft, da hier das Meerwasser aus dem Atlantik mit dem Süßwasser des Hudson zusammentraf.
An den Tischen drängten sich freundlich wirkende Gäste, die meisten aus der Mittelschicht. Außerdem ein Reporter, der auf der Gala gewesen war, und einige Passagiere des Ozeanriesen, die froh waren, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Wir entschieden uns für eine enge, lackierte Holznische, die aussah wie auf einem Schiff, wo jeder Zentimeter zählt. Der Restaurantchef des Le Grenier, Monsieur Bernard, scharwenzelte um Monsieur Rodierre herum, sagte, er habe In den Straßen von Paris dreimal besucht, und schilderte ausführlich seine eigene Karriere bei einer Laienspieltruppe in Hoboken.
Monsieur Bernard wandte sich an mich. »Und Sie, Mademoiselle? Habe ich Sie nicht auf der Bühne mit Miss Helen Hayes gesehen?«
»Eine Schauspielerin?«, meinte Monsieur Rodierre lächelnd.
Aus der Nähe betrachtet war sein Lächeln gefährlich. Ich musste bei klarem Verstand bleiben, denn Franzosen waren meine Achillesferse. Wenn Achilles Franzose gewesen wäre, hätte ich ihn vermutlich auf dem Rücken herumgeschleppt, bis seine Sehne geheilt gewesen wäre.
»Ich fand die Kritiken unfair …«, fuhr Monsieur Bernard fort.
»Wir möchten bestellen«, unterbrach ich ihn.
»Einer hat, wie ich glaube, sogar das Wort ›aufgesetzt‹ benutzt …«
»Wir nehmen die Schnecken, Monsieur. Bitte mit wenig Sahne …«
»Und was stand in der Times noch mal über Twelfth Night? ›Miss Ferriday hat sich als Olivia tapfer geschlagen‹? Ziemlich ungnädig, oder?«
»Und keinen Knoblauch. Garen Sie sie bitte nicht zu lange, damit sie nicht zäh werden.«
»Sollen die Schnecken zum Tisch kriechen, Mademoiselle?« Monsieur Bernard notierte sich unsere Bestellung und begab sich in die Küche.
Monsieur Rodierre studierte eingehend die Champagnerkarte. »Eine Schauspielerin, ja? Darauf wäre ich nie gekommen.« Sein zerzaustes Äußeres hatte etwas Anziehendes an sich, wie ein Küchengarten, der gejätet werden musste.
»Im Konsulat gefällt es mir besser. Mutter kennt Roger schon seit Jahren, und als er vorschlug, ich solle dort aushelfen, konnte ich nicht widerstehen.«
Monsieur Bernard stellte einen Brotkorb auf den Tisch und musterte Monsieur Rodierre eine Weile, als wollte er ihn sich einprägen.
»Ich hoffe, dass ich Ihnen mit unserem Auftritt nicht den Freund vergraule«, sagte Paul. Als er gleichzeitig mit mir in den Brotkorb griff, streifte seine warme, weiche Hand die meine. Ruckartig legte ich meine Hand in den Schoß.
»Dafür bin ich zu beschäftigt. Sie kennen ja New York. Die Partys und so. Eigentlich recht anstrengend.«
»Ich sehe Sie nie bei Sardi’s.« Als er den Brotlaib zerriss, stieg Dampf ins Lampenlicht auf.
»Oh, ich arbeite viel.«
»Ich habe den Eindruck, dass Sie nicht fürs Geld allein arbeiten.«
»Es ist ein ehrenamtlicher Posten, falls Sie das gemeint haben. Allerdings stellen höfliche Menschen nicht solche Fragen, Monsieur.«
»Können wir das mit dem ›Monsieur‹ nicht lassen? Ich komme mir uralt vor, wenn Sie mich so ansprechen.«
»Sie wollen meinen Vornamen wissen? Wir haben uns doch gerade erst kennengelernt.«
»Wir haben 1939.«
»Die bessere Gesellschaft von Manhattan ist ein Sonnensystem, das nach seinen eigenen Regeln funktioniert. Dass eine ledige Frau mit einem verheirateten Mann zu Abend isst, reicht schon, um die Planeten aus der Bahn zu werfen.«
»Hier sieht uns niemand«, erwiderte Paul und zeigte Monsieur Bernard einen Champagner auf der Liste.
»Erzählen Sie das Miss Evelyn Shimmerhorn an dem Tisch dort hinten.«
»Ist Ihr guter Ruf jetzt ruiniert?«, fragte er so gütig, wie man es bei hinreißend attraktiven Männern selten hörte. Vielleicht hatte er mit dem schwarzen Hemd doch die richtige Wahl getroffen.
»Evelyn wird nicht reden. Sie bekommt ein Kind zum falschen Zeitpunkt, die Arme.«
»Kinder. Sie verkomplizieren alles, richtig? Im Leben eines Schauspielers ist kein Platz für so etwas.«
Wieder ein selbstsüchtiger Schauspieler.
»Und wie hat Ihr Vater Ihnen einen Platz in diesem Sonnensystem ermöglicht?«
Für einen neuen Bekannten stellte Paul eine Menge Fragen.
»Durch harte Arbeit. Er war im Kolonialwarenhandel tätig.«
»Wo?«
Monsieur Bernard stellte einen silbernen Sektkübel vor uns hin, dessen Griffe an die Ohrringe einer spanischen Tänzerin erinnerten. Der smaragdgrüne Hals der Champagnerflasche ragte seitlich heraus.
»Er war Geschäftspartner von James Harper Poor.«
»Von den Gebrüdern Poor? Ich war schon mal in Mr. Poors Haus in East Hampton. Der Name Poor – arm – passt nicht so ganz. Sind Sie häufig in Frankreich?«
»Jedes Jahr in Paris. Meine Mutter hat eine Wohnung in der Rue Chauveau Lagarde geerbt.«
Monsieur Bernard entkorkte die Flasche mit einem satten, dumpfen Plopp. Dann goss er die goldene Flüssigkeit in mein Glas. Die Blasen stiegen hoch bis zum Rand, der Schaum floss beinahe über und zog sich auf das optimale Niveau zurück. Der Mann verstand etwas vom Einschenken.
»Meine Frau Rena hat dort in der Nähe einen kleinen Laden. Les Jolies Choses. Kennen Sie ihn?«
Ich nippte an meinem Champagner. Die Flüssigkeit prickelte auf meinen Lippen.
Paul holte ein Foto aus seiner Brieftasche. Rena war jünger, als ich gedacht hatte, und trug die Haare wie eine Porzellanpuppe. Sie lächelte mit weit geöffneten Augen, als teilte sie ein köstliches kleines Geheimnis mit jemandem. Rena war zierlich und vermutlich das genaue Gegenteil von mir. Ich tippte darauf, dass ihr Laden zu den schicken kleinen Boutiquen gehörte, die es den Frauen ermöglichten, sich auf die berühmte französische Art auszustatten: die Kleider nicht übertrieben aufeinander abgestimmt, genau das richtige Maß Stilbruch.
»Nein, den kenne ich nicht«, sagte ich und gab ihm das Foto zurück. »Sie ist sehr hübsch.«
Ich leerte mein Champagnerglas.
Paul zuckte die Achseln. »Natürlich zu jung für mich, aber …« Mit zur Seite geneigtem Kopf musterte er eine Weile das Foto, als bemerkte er den Altersunterschied zum ersten Mal, bevor er es wieder einsteckte. »Wir sehen uns nicht oft.«
Der Gedanke ließ mich erbeben, dann folgte sofort die Ernüchterung, zermalmt von der Erkenntnis, dass meine burschikose Art jeden Funken von Romantik sofort im Keim ersticken würde, selbst wenn Paul frei gewesen wäre.
Aus dem Küchenradio dröhnte eine verkratzte Aufnahme von Edith Piaf.
Paul nahm die Flasche aus dem Eiskübel und füllte mein Glas nach. Der Champagner schäumte über, widerspenstige Blasen perlten über den Rand des Glases. Ich blickte ihn an. Wir beide wussten, was das bedeutete. Eine Tradition, die jeder kennt, der ein wenig Zeit in Frankreich verbracht hat. Hatte er das Glas mit Absicht zu voll gegossen?
Ohne zu zögern, tunkte Paul den Finger in den übergeschwappten Champagner neben meinem Glas und tupfte mir die kühle Flüssigkeit hinter das linke Ohr. Seine Berührung sorgte dafür, dass ich beinahe einen Satz machte. Ich wartete, während er mein Haar beiseitestrich, mich auch hinter dem rechten Ohr berührte und seinen Finger kurz dort innehalten ließ. Danach salbte er sich selbst lächelnd hinter beiden Ohren.
Warum war mir plötzlich so warm?
»Besucht Rena dich je?«, fragte ich. Ich versuchte, einen Teefleck von meiner Hand zu reiben, nur um festzustellen, dass es sich um einen Altersfleck handelte. Na wunderbar.
»Noch nicht. Sie interessiert sich nicht fürs Theater. Sie war nicht einmal hier, um sich In den Straßen von Paris anzuschauen. Und ich weiß umgekehrt nicht, ob ich bleiben kann. Hitler macht die Leute zu Hause ganz verrückt.«
Irgendwo in der Küche stritten zwei Männer. Wo waren unsere Schnecken? Mussten sie die erst aus Perpignan kommen lassen?
»Wenigstens hat Frankreich die Maginot-Linie«, meinte ich.
»Die Maginot-Linie? Vergiss es. Eine Betonmauer und ein paar Wachposten? Für Hitler ist das eine Herausforderung zum Duell.«
»Die Linie ist immerhin zwanzig Kilometer lang.«
»Wenn Hitler etwas will, kann nichts ihn abschrecken«, entgegnete Paul.
Inzwischen war in der Küche eine lautstarke Auseinandersetzung im Gange. Kein Wunder, dass wir unser Essen noch nicht hatten. Der Koch, ein temperamentvoller Künstler, schien sich schrecklich über etwas aufzuregen.
Monsieur Bernard kam aus der Küche. Die Tür mit dem Bullauge hinter ihm fiel zu, schwang ein paarmal hin und her und schloss sich endlich. Er trat in die Mitte des Raums. Hatte er geweint?
»Excusez-moi, meine Damen und Herren.«
Als jemand mit einem Löffel an ein Glas klopfte, wurde es still im Raum.
»Gerade habe ich aus zuverlässiger Quelle erfahren …« Monsieur Bernard holte tief Luft, sodass sich seine Brust aufblähte wie ein Blasebalg. »Wir wissen aus gut informierten Kreisen, dass …« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Adolf Hitler ist in Polen einmarschiert.«
»Mein Gott«, seufzte Paul.
Wir starrten einander an, während im Lokal Stimmengewirr laut wurde, ein Tumult aus Mutmaßungen und Furcht. Der Reporter, der auf der Gala gewesen war, warf einige zerknitterte Dollarscheine auf den Tisch, griff nach seinem Filzhut und stürmte hinaus.
In dem Durcheinander, das auf seine Ankündigung folgte, gingen Monsieur Bernards letzte Worte beinahe unter.
»Möge Gott uns allen beistehen.«