Buch
Der Hochsommer hat Frankfurt fest im Griff, und Coco (37, Redakteurin, Chanel-Verehrerin) sehnt ihren Urlaub in Paris herbei. Dass sie sich ausgerechnet in Nik, den Bruder ihres Exmannes, verliebt hat, hält sie selbst vor ihrer allerbesten Freundin Sophie geheim. Erst will sie Nik in der französischen Hauptstadt besuchen und herausfinden, ob die Sache mit ihm wirklich ernst ist. Sophie (alleinerziehend, Literaturagentin, Quiche-Liebhaberin) wollte sich eigentlich eine Auszeit nehmen und allein in die Rhön. Doch im letzten Moment macht der Vater ihrer 14-jährigen Tochter Freddy, die die Ferien bei ihm verbringen sollte, einen Rückzieher. Spontan schließt Sophie sich mit Freddy also Cocos Parisreise an. In Sophies laubfroschgrüner Rostlaube brechen die drei auf – Coco mit ihrem Geheimnis im Gepäck. Die turbulente Fahrt führt sie über das malerische Elsass direkt in den Sommer ihres Lebens …
Weitere Informationen zu Stephanie Jana und Ursula Kollritsch finden Sie am Ende des Buches.
Stephanie Jana & und Ursula Kollritsch
Coco, Sophie
und die Sache mit Paris
Roman
Der Abdruck von Auszügen des Liedtexts »Taxi nach Paris« von Felix De Luxe geschieht mit freundlicher Genehmigung von Rintintin Musik.
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Originalausgabe April 2020
Copyright © 2020 by Stephanie Jana und Ursula Kollritsch
Copyright © dieser Ausgabe 2020
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
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Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-24730-0
V002
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Für Bella, Bine und das Reh
Mit einem Taxi nach Paris,
nur für einen Tag.
Mit einem Taxi nach Paris,
weil ich Paris nun mal so mag.
Mit einem Taxi nach Paris
und vielleicht ein kleines Rendezvous.
Felix De Luxe, »Taxi nach Paris«
Paris, Paris. Endlich!
Aufgeregt nehme ich einen großen Schluck von dem samtigen tiefroten Wein, den der schnauzbärtige Kellner mir augenzwinkernd mit den Worten »Amour fluide!« empfohlen hat. Was müssen das für Trauben gewesen sein, ein solches Rot habe ich vorher noch nie gesehen. Der Wein schmeckt himmlisch und schießt mir sofort in den Kopf. Genauso wie sich der Mann in mein Herz geschossen hat, auf den ich warte.
Nik.
Bin ich gestern wirklich – nach einer gefühlten Ewigkeit – in der Stadt der Liebe angekommen? Ich schaue mich um. Ja, es ist wahr, ich sitze hier leibhaftig in diesem kleinen Restaurant mit dem klangvollen Namen Le Relais de la Butte, was so viel bedeutet wie »der Elektromagnet am Hügel«. Doch ich fühle mich einsam zwischen den zahlreichen Gästen um mich herum, die sich lebhaft unterhalten und von meiner Anspannung nichts ahnen. Ich drehe den Stiel meines Weinglases und schwenke die Flüssigkeit darin hin und her. Wieder und wieder.
Ach, Sophie, wenn du wüsstest. Mein lang ersehntes Rendezvous. Jetzt ist es so weit. »Mensch, Coco, lass dir bloß vorm ersten Kuss die Lippen nicht blau werden vom Rotwein«, würdest du zu mir sagen, mich in die Seite knuffen und dabei dein ehrlichstes Beste-Freundinnen-Lachen erstrahlen lassen. Wenn es nicht gerade Nik wäre!
Ich schiebe mein schlechtes Gewissen beiseite und sehe auf die Uhr meines Handys. Gleich acht. Er müsste jeden Moment eintreffen. Betont gleichgültig lasse ich meinen Blick umherschweifen, während das flaue Gefühl in meinem Magen mit jeder Minute stärker wird.
Die zauberhafte Restaurantterrasse am Fuße der Sacré-Cœur, umrahmt und beschützt von riesigen Kastanien, füllt sich mehr und mehr. Das ganze Ambiente hier erinnert mich an eine Filmszene. Alles ist in Rot, Weiß und Gold gehalten und passt perfekt zusammen: die kleinen, liebevoll eingedeckten Tische, die schnörkeligen Stühle mit dicken Kissen darauf und auch die Jugendstilvasen an jedem Platz mit frischen Rosen darin. Leicht tanzen und rauschen die Blätter der stolzen Bäume geheimnisvoll im Abendwind, als wollten sie mir etwas sagen, was ich jedoch partout nicht verstehen kann.
Auf der Mauer am Ende der Terrasse hockt ein Liebespaar im Teenageralter eng umschlungen, Kopf an Kopf, und hält sich zärtlich an den Händen. So eine junge Liebe. Das rührt mich. Werde ich gleich auch so dasitzen? Mit Nik? Reiß dich am Riemen, Coco. Er ist bestimmt gleich hier.
Die Stimmen um mich herum werden lauter. Menschen strömen jetzt stärker von allen Seiten des Montmartre aus ihren Häusern, Hotels, Hinterhöfen – der Hunger treibt sie in die Cafés und Bars oder die Lust auf eine lange laue Sommernacht. Die Abendstimmung senkt sich wie eine schützende Glocke über die alte Stadt.
Ich zünde mir eine Zigarette an und blase Rauchkringel in die Luft, als könnte ich Signale versenden. Wann kommst du? Ich warte hier auf dich.
Wieder sehe ich auf mein Handy. Es zeigt die gleiche Zeit wie meine Armbanduhr. Schon Viertel nach acht. Er müsste längst da sein. Ich stelle mir seine Stimme vor, warm und tief. Sein Gesicht – so schön, dass man es nicht glauben kann – mit den rehbraunen Augen und den pechschwarzen geschwungenen Wimpern. Seine schlanken Hände, auf denen sich die blauen Adern abzeichnen, wie ich es bei Männern mag. Seine dunkelbraunen Haare, leicht gewellt und immer ein bisschen wild, obwohl kurz geschnitten. Und sein verschmitztes Lächeln, wenn er mich entdeckt, auf mich zukommt …
Der Kellner reißt mich aus meinen Gedanken und fragt, jetzt leicht besorgt, ob ich schon etwas zu essen bestellen möchte.
»Oui, oui, plus tard. J’attends encore quelqu’un …« Später, später. Ich warte noch auf jemanden. Auf ihn: Nik. Sein Name klingt wie mein Herzschlag, Nik-Nik-Nik-Nik-Nik. Das Bild würde Sophie gefallen.
Mittlerweile ist es halb neun. Jetzt ist er wirklich viel zu spät. Keine Nachricht, kein Anruf, nicht erreichbar. Funkstille, ausgerechnet. Verdammt, gleich ist mein Akku leer. Soll ich ihn noch mal anrufen?
Aber …
Was, wenn er es sich anders überlegt hat? Was, wenn er gar nicht kommt? Was, wenn er das alles am Ende gar nicht wert war?
Ich kippe den Rest des roten Liebesfluids hinunter. Auf ex.
»Rien ne va plus«, geht es mir immer wieder durch den Kopf. Hastig winke ich den Kellner herbei, bevor mir die Tränen in die Augen schießen können, um Nachschub zu bestellen – und pfeife auf die blauen Lippen …
SHINE YOUR LIGHT – heiße Tage und wache Nächte
Liebe Sophie Bayer,
mein Name ist Hans Hinterfeld, und ich bin der Direktor des wunderschönen Hotels »Zuflucht«. In wenigen Tagen beginnt Ihre Auszeit hier bei uns im Herzen der Rhön. Diese sagenumwobene Naturlandschaft und mein Team werden Sie mit offenen Armen umfangen!
O Gott, wie schööön! Wenn das nicht wunderbar klingt. Zu gut, um wahr zu sein … Muss es eigentlich »empfangen« oder »umfangen« heißen? Was ist, wenn übergewichtige Gäste kommen? Hm, egal. Das ist ja zum Glück ausnahmsweise mal nicht mein Problem. Die Rhön wartet auf mich und ich auf sie.
Für einen Moment lasse ich die hoffnungsvolle Post des Reiseveranstalters sinken, um mit der rechten Hand meinen Bleistiftrock gerade zu ziehen und mich für eine kurze Fantasiereise am Schreibtisch zurückzulehnen. Da werde ich jäh gestoppt vom Bezug meines neuen Möchtegerndesignersesselchens. Nur mit einem schmerzhaften »Plopp« schaffe ich es, die Unterseite meiner Oberschenkel vom klebenden Kunstleder zu lösen. »Mascha!«, rufe ich innerlich aus. Denn meine mal wieder durch Abwesenheit glänzende Assistentin hat mir dieses unpraktische Trendmobiliar fürs Büro aufgeschwatzt. »Sophie, sind das echte Schnapper«, hat sie mit russischem Akzent dafür geworben. »Glaube mir, diese Schwingstühle sind ergonomitscheskije. Hat man die jetzt von Mailand bis Moskwa. Und Sohn von Onkel hat eine Superquelle …«
Den Rest ihrer Erläuterungen habe ich verdrängt, bei dem Gedanken an das Stichwort Quelle jedoch atme ich dreimal, genau wie ich es kürzlich gelesen habe, in die Tiefen meines Bauches hinein. Die Luftröhre hinunter, an Leber und Magen vorbei, durch den Dünn-, Dick- und wer weiß welchen Darm noch. Dann kippe ich langsam und sanft zurück. Nein, ich will mich nicht aufregen. Werde ich auch nicht. Nicht bei vierzig Grad am Montagmorgen unter dem Dach meiner Frankfurter Literaturagentur. Ich muss mich bloß zwei Minuten in die Rhön beamen, nur zwei klitzekleine Minütchen, bitte! Dort werde ich lachend über Streuobstwiesen laufen, mich ins saftige Gras fallen lassen und nur noch dem Wind in den Baumwipfeln zuhören. In der Rhön muss ich nichts mehr müssen und darf nur noch sein. Seit Tagen studiere ich die Reiseunterlagen wieder und wieder und klammere mich an die in meinem Kopf auftauchenden Bilder – wie eine Ertrinkende an den rot-weißen Rettungsring. Dem Himmel sei Dank! Endlich Urlaub in Sicht!
Wir gratulieren Ihnen zu Ihrer Wahl »14-Tage-Reise zum Ich« und wünschen Ihnen einen rundum erfüllenden Aufenthalt in unserem Haus. Unser Credo »Kehre bei dir ein« hat sich über die Jahre sehr bewährt. Es bildet das Dach, das es Ihnen ermöglicht, auch mal von oben auf die Dinge zu schauen. Vieles in unserem hektischen Alltag nehmen wir verzerrt wahr, manchmal ist die Sicht versperrt oder Einiges letztlich anders, als es scheint. Nehmen Sie sich Zeit für den freien Blick, und kehren Sie wieder bei sich selbst ein – und bei uns.
Einkehren – juchhu, das werde ich machen. Da kannst du Gift drauf nehmen oder sonst irgendein Zeug, mein lieber Herr Hinterfeld. Und ganz gewiss nur mit mir allein! Immer bin ich die, die »das Kind schon schaukelt«. Alle Kinder, für alle und jeden um mich herum. Als alleinerziehende Mutter genauso wie als stets zur Rettung bereite Literaturagentin. Ich darf gar nicht daran denken, was in den vergangenen Monaten alles zu tun, zu lösen, zu wuppen war. Aber das will ich auch gar nicht. Dieses Schreiben klingt so vielversprechend und herzerwärmend, dass der Vorfreudepegel auf meine freien Tage von Minute zu Minute ansteigt. Von mir aus mache ich auch den ganzen Eso-Kram, der im Prospekt in allen Details angeboten wird, mit: von Cranio bis Tao, Eichenumarmen, Waldbaden und Vollmondschwimmen. Ich bin bereit. Hauptsache, ich komme endlich bald raus aus diesem Wahnsinn hier. Mein geplanter Urlaub verspricht genau das, was ich so sehnsüchtig brauche: Ruhe, Ruhe und noch mehr Ruhe – und in diesem beschaulichen Nest in der Rhön werde ich sie finden. Dort mähen höchstens die Schafe oder rattern die Trecker. Wenn das nicht die perfekten Aussichten für diesen Sommer sind!
Die nächsten Sätze kenne ich auch schon und überfliege sie schnell:
Bitte beachten Sie, dass wir ein veganes und drogenfreies Haus sind. Wir bitten Sie daher, keine Erzeugnisse von Tieren wie Fleisch, Leder, Honig aus nichtfairem Handel, keinen Alkohol, keine Zigaretten oder andere Rauschmittel (auch nicht in Bioqualität oder aus eigenem Anbau) mitzubringen. Wir bitten um Ihr Verständnis.
Sei es drum. Papier ist geduldig, wer weiß das besser als ich Bücherfrau? Bestimmt gibt es dort im Dorf ein nettes Gasthaus mit Schweinebraten, Käsespätzle und selbst gebranntem Streuobstschnaps auf der gutbürgerlichen Karte für Wanderer. Dem statte ich dann zwischendurch gerne einen Besuch ab. Und ein bisschen Heilfasten oder eine Obstkur kann ja auch nicht schaden. Alles wird gut! Nur noch ein, zwei, drei, vier, fünf Tage bis Samstag. Dann bin ich endlich raus aus diesen heißen heiligen Hallen, düse ins nahe Mittelgebirge und tiefenentspanne vor mich hin. Höre nur noch auf mich und meine innere Stimme – sanfte Hügel, Reise zum Ich, einkehren – wie und wo auch immer. Die passenden Filmsequenzen fliegen und summen in meinem Kopf herum, während ich meditativ mit dem Stuhl hin- und herwippe. Ich sehe mich schon in einer bunten Hängematte zwischen zwei Schatten spendenden Bäumen schaukeln …
»O nein, das darf doch nicht wahr sein!«, schreie ich, als ich plötzlich zu weit nach links kippe und vor lauter träumerischem Schaukeln den Stapel mit den neuen Manuskripten vom Tisch fege. Schlagartig bin ich im Hier und Jetzt. Und die Seiten der mittelmäßig talentierten, aber erfolgreich von mir vertretenen Schriftstellerin Karolina Kura liegen nun über den ganzen Boden verstreut.
Na bravo! Unter fünfhundert Blatt fängt die Kurrra, wie meine Assistentin Mascha und ich sie mit übertrieben gerolltem »rrr« nennen, gar nicht erst an. Zum Glück habe ich vor dem Ausdrucken noch die Seitenzahlen eingefügt, denn dazu fühlt sich unsere Diva Nummer eins außerstande. »Frau Bayer, Sie müssen das doch verstehen. Diese kantigen Zahlen sind nichts für eine sensible Schriftstellerin, sie engen nur ein. Das kann nicht in Ihrem Sinne sein als meine Agentin«, höre ich sie flöten. Ihre Stimme habe ich noch genau im Ohr, nachdem sie mir heute Morgen bereits unfassbare dreiundsechzig Minuten lang am Telefon die Vielschichtigkeit ihres neuesten Werks Eine Liebe auf Helgoland erläutert hat. Was gibt es daran nicht zu verstehen? Liebe, Wind, Meer. Voilà! Es könnte so einfach sein, aber die Kura verarbeitet so viele Irrungen und Wirrungen in ihren Geschichten, wie sie das wahre Leben gar nicht vertragen würde. Im Übrigen auch kein Mann. Daher ist sie Dauersingle.
Während ich die kreuz und quer verteilten Blätter zusammenklaube und resigniert sortiere, blinkt die Nummer meiner besten Freundin Coco auf dem Handydisplay. Sie ruft schon wieder an? Während ich vorhin telefoniert habe, hat Coco bereits dreimal versucht, mich zu erreichen. Wahrscheinlich will sie in der Kaffeepause mit mir quatschen oder die Details vom Wochenende erzählen. Oder ob doch etwas los ist? Hektisch checke ich meinen großen, für heute und die nächsten Tage vollgeschriebenen Papierkalender, beschließe zeitgleich, das Kura-Chaos Mascha auf den Tisch zu schieben und Cocos Anruf leider, leider nicht anzunehmen. Wenn ich jetzt rangehe, ist meine Tagesplanung gelaufen. Sorry, bitte entschuldige, liebste Coco! Ich hauche dem Telefon ein schnelles, von Herzen kommendes Handküsschen zu und verspreche telepathisch, mich, sobald es irgendwie geht, bei ihr zu melden.
Das Handy hört auf zu blinken, und ich seufze wehmütig. Leider haben Coco und ich gerade beide so viel um die Ohren – sie in der Zeitungsredaktion des Frankfurter Tagblatts, ich in der Agentur –, dass wir nicht mal unsere täglichen Freundinnen-Updates schaffen: Lebst du noch? Was gibt’s Neues? Was, Harry, dieser Zausel von Autor?! Und Sibylle erst, unfassbar. Du fehlst mir, du mir erst und so weiter. Der Alltagswahnsinn und seit Tagen auch diese unerträgliche Hitze haben uns und, wie es scheint, das ganze Land fest im Griff. »Jahrhundertsommer« schwärmen die Wetterfrösche in allen Medien, während ich hier in den Mansardenräumen meiner Bücheragentur und genauso zu Hause in meiner ansonsten geliebten Altbauwohnung nach frischer, kühler Luft hechele.
Es ist typisch: Kurz bevor es in die Sommerpause geht, kommen alle Autoren noch mit jeder Menge Ideen, Fragen, Leseproben, Exposés und Empfindlich- und Befindlichkeiten von A wie »Alles umsonst, Sophie! Ich soll einfach kein Buch schreiben« bis Z wie »Zum Teufel, diese Schnepfe hat mir die Idee geklaut!« Nachts schlafe ich so schlecht, dass ich nicht mal zum Träumen komme, weil die Handlungsstränge neuester Romanprojekte durch meine Gedanken schwirren, gefolgt von nicht enden wollenden To-do-Listen, die sich im Nebel weiter und weiter ausrollen. Dabei ist Coco die Listenschreiberin von uns beiden. Am Morgen sitze ich dann wie jetzt müde und völlig erschöpft mit einem Pott Kaffee vor meinem Laptop und klebe, statt in der Hängematte oder sonst wo die Seele baumeln zu lassen, am Schwingstuhl fest.
Entnervt streiche ich mir meine feuchten hellbraunen Haare aus dem Gesicht und wende mich stöhnend dem mannshohen Stapel mit Exposés zu. Was ist nur los? So kenne ich mich gar nicht. Eigentlich liebe ich meine Arbeit: Die Regale voller Bücher, den Geruch der Manuskriptseiten, die Geschichten, die aus dem Nichts eine Welt entstehen lassen, meine einzige Angestellte und Hilfe Mascha, auch wenn sie ständig irgendwelche Spezialitäten und Schnäppchen von ihrer russischen Großfamilie anschleppt, und letztlich liebe ich sogar meine verrückten, kapriziösen Schriftsteller. Doch zurzeit ist mir alles einfach zu viel. Ist das schon die Midlife-Crisis? Instinktiv mache ich ein Schnell-Lifting und ziehe meine Lachfältchen um die Augen mit den Fingerspitzen nach hinten. Macht Coco immer, soll straffen. Dabei nicke ich einem der gerahmten Schnappschüsse von meiner gegenwärtig pubertierenden Tochter Freddy, eigentlich Frederike, zu, die Coco darauf als Baby im Arm hält.
Auf meinem Schreibtisch steht eine ganze Fotoserie von meinen beiden Lieblingsmenschen. Sie schneiden lustige Grimassen und lachen um die Wette. Wenn ich sie betrachte, fühle ich mich sofort besser. Und Licht am Ende des Tunnels ist ja in Sicht: Wenn ich diese Woche überstanden habe, wartet ein exquisites Viersternehotel auf mich mit allem Zipp und Zapp. Mit Menschen, die ebenfalls nur ihr inneres Seelenheil und Entspannung suchen. Mein erster Urlaub ganz für mich alleine, seit ewigen Zeiten. Ganze vierzehn Tage lang. Freddy wird die ersten beiden Wochen der Sommerferien bei ihrem Vater Frank und dessen Familie Nummer zwei verbringen. Diese Vorstellung lässt mich beruhigt weiterarbeiten – für alles ist gesorgt.
Pling. Schon zwölf Uhr mittags. Die Zeit der täglichen Lichtbotschaft von SHINE YOUR LIGHT, die zeitgleich auf meinem Smartphone und Laptop aufleuchtet. Heute: Ein Fisch, so groß, dass er ein Schiff verschlingen kann, ist auf dem Trockenen nicht einmal den Ameisen gewachsen. (Lü Bu We)
Wie bitte? Was für ein merkwürdiger Spruch, doch irgendwie passt er auf meine Lebenssituation. Ich fühle mich auch oft ameisenklein und sitze in mancherlei Hinsicht auf dem Trockenen.
Vor ein paar Wochen habe ich mich in einer schlaflosen Nacht bei diesem Lebe-frei-und-froh-Achtsamkeitsportal angemeldet. Zum Glück. Denn das hatte auch den Supertipp mit der Reise-Auszeit samt zehn Prozent Rabatt für alle »Shinys«, wie sich die Chatmitglieder nennen. Schnell notiere ich Checken: Lü Bu We? auf ein Post-it und pappe es auf das Glas des Paris-Bilds hinter mir, wo schon diverse andere Erinnerungshilfen die Treppen von Sacré-Cœur verdecken.
Als es an der Tür klingelt, blicke ich irritiert zurück auf meinen Wochenplaner. Den nächsten Termin habe ich doch erst um fünfzehn Uhr beim Fleischer-Verlag …
»Mascha, kannst du bitte …?«, rufe ich. Mist, Mascha ist ja immer noch nicht da. Sie ist beim Yoga, ihr x-ter Versuch abzunehmen, dieses Mal, indem sie die Mittagspause mit Bewegung anstatt mit Essen füllt. Wer Mascha kennt, die Essen über alles schätzt, weiß, das kann nicht funktionieren.
Ich gehe zur Tür und prüfe den Monitor der Klingelanlage. Auf der Straße ist niemand zu sehen. Bestimmt Schulkinder, die Klingelstreiche machen. Oder ist es der Postbote, den ein Nachbar hereingelassen hat und der bei dieser Hitze Bücherpakete in Zeitlupe nach oben schleppt? Zur Sicherheit öffne ich die schwere Eichentür, gehe nach vorne und schaue das steinerne Treppenhaus hinunter. Alles leer. Als ich mich umdrehe und zurück in die Mansarde an die Arbeit will, sehe ich Arno auf der Treppe neben der Agenturtür sitzen. Einer meiner Autoren und definitiv betreuungsintensivsten Klienten aller Zeiten. Was will der jetzt von mir?!
»Arno, wie bist du denn hier hereingekommen?«
Seinem Murmeln entnehme ich, dass die Tür unten nur angelehnt war. Heute ist ganz klar das Schicksal gegen mich. Von wegen Shine your light. Wie auf Kommando schießt ein weißer Sonnenstrahl durch das Flurfenster hinter Arno in mein Gesicht. Ich blinzele und wische mir über die Augen. Prompt fangen sie an zu brennen, dank der Mischung aus Schweiß und Sonnencreme. Letztere habe ich schon am Morgen vorsorglich für alle Außer-Haus-Termine aufgetragen.
Arno sitzt derweil teilnahmslos und in sich versunken auf den Stufen, seinen Kopf an die kühle Wand gelehnt. Für einen Moment wird mir schwindelig, und ich lasse mich in feiner weißer Bluse und meinem knappen Kostümrock neben ihn fallen. Ein Agenturtag mit Kurrra und Arno in den Hauptrollen steht unter keinem guten Stern. Mein Tag rauscht im Zeitraffer an mir vorbei. Für das Verlagsmeeting nachher kann ich mich nicht noch mal umziehen. Arno neben mir ist das egal. Er zeigt keinerlei Regung auf meinen Angriff der Schweißperlen – Memo: guter Titel, unbedingt merken.
Der junge Autor, gerade mal neunundzwanzig Jahre, sieht auf den ersten Blick älter aus, als er ist. Bei genauer Betrachtung sind seine Gesichtszüge zart und knabenhaft. Entfernt zu einer Adelsfamilie gehörend, pflegt er einen extrem formellen und antiquierten Kleiderstil. In seiner Knickerbockerhose mit Weste und Einstecktuch, die er ständig trägt, wirkt er wie aus der Zeit gefallen. Auch heute. Wie hält er es bei dieser Hitze nur in diesen Tweedklamotten aus? Ich zupfe mein feuchtes Oberteil vom Dekolleté. Hoffentlich färbt mein neuer BH nicht durch – in der Unfarbe Maude, hat was von Made. Mist, ich hätte ihn doch vorher waschen sollen.
»Sophie! Gut, dass du da bist«, stöhnt Arno auf. »Ich habe eine Schreibblockade.«
»Mal was ganz Neues von meinen Autoren«, denke ich, spreche es aber nicht aus und rolle stattdessen mit den Augen.
Arno setzt mit Nachdruck hinzu: »Eine große, riesige, undurchdringbare BLO-CKA-DE.« Das »E« am Ende zieht er in die Länge, als sei ich schwerhörig oder Teilnehmerin eines Anfängerkurses Deutsch als Fremdsprache. »Es ist, als würde ich stundenlang an einem schwarzen See sitzen, und kein Fisch beißt an. Nicht ein einziger.« Er lässt den Kopf auf die Knie fallen.
Arno ist leidenschaftlicher Angler und schreibt seit Jahren an einem entsprechend eintönigen Roman, der im Anglermilieu spielt. Wie es aussieht, wird er ihn auch diesen Sommer nicht beenden.
»Oder als ob eine Riesenmoräne ihr Maul aufreißt, um mich auf der Stelle zu verschlingen.« In Zeitlupe hebt er sein Haupt, als sei dieses zentnerschwer, und jammert dabei weiter.
Ich fühle mich bewegungslos. Wir starren geradeaus auf den dauerdefekten Fahrstuhl. Ob er doch gleich ruckelt, seinen Dienst aufnimmt und Leute vor uns ausspuckt? Nichts rührt sich.
»Oder als ob sich ein starker Fisch an Land wie eine Ameise fühlt und nach Luft japst«, ergänze ich monoton, mich meinem Schicksal ergebend.
»Ja, Sophie!« Arno schaut erstaunt hoch und mir in die Augen. Ein Funke Hoffnung huscht über sein Gesicht und entspannt seine Züge. »Genau! Woher weißt du das?«
Ich resigniere. An diesem Saharamontag und in Anbetracht meiner Termine habe ich keine Kraft, ihn zu überreden, zurück an seinen Schreibtisch zu gehen. So ein Akt kann sich Stunden hinziehen. Ich klopfe ihm auf die Schulter. »Komm mit rein, Arno. Setz dich in mein Büro. Ich koche uns erst mal einen Kaffee.«
Arno schlurft vor mir in die Agentur, und ich streiche gedanklich den Rückruf an Coco von der Top-Prio-Liste, die ohnehin so lang ist wie eine abgewickelte Klopapierrolle. Hoffentlich treffe ich später im Verlag nicht noch die Ostermeier. Die Chefsekretärin und branchenbekannter Wachhund von Verlegergott Horst Fleischer würde mir nach diesem Vormittag den Rest geben. Arno und die Ostermeier könnte dann nur noch ein Ich-kann-ohne-Coco-nicht-leben-du-musst-mir-helfen-Sophie-Anruf von Carl-Torben toppen, Cocos Exmann. Carl-Torben ist ein Wahnsinniger. Obwohl die beiden seit drei Jahren getrennt sind, ruft er sie mehrmals täglich an und reagiert hysterisch, wenn er sie mal nicht erreicht. So wie ich das sehe, gehört der Gute in Behandlung. Und seine Sippe gleich mit dazu. Wer gibt seinem Kind denn im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte so einen Namen? Carl-Torben! Meine Tochter verpasste ihm vor Jahren das entsprechende Kürzel, und seitdem nennen wir ihn nur noch CT, wie die Abkürzung von Computertomografie.
»Hast du keinen Ingwertee?« Arno bleibt vor meinem Büro stehen und sieht mich an wie ein Lamm, das seine Herde verloren hat, oder in diesem Fall wie ein Fisch ohne Schwarm. »Mascha kocht mir immer so einen selbst gemachten Ingwertee, der pustet alles bei mir frei. Wirklich AL-LES!« Wieder betont er jede einzelne Silbe und zieht dabei die Buchstaben in die Länge.
Was alles er meint, mag ich mir nicht im Detail vorstellen bei dieser Mörderhitze um 12:50 Uhr. Die Russinnen sind wirklich schmerzfrei, meine Assistentin ist da keine Ausnahme. Ich nicke Arno professionell aufmunternd zu und bedeute ihm, in meinem Büro Platz zu nehmen.
Dann verschwinde ich in unsere kleine Küche und tippe eine verzweifelte Nachricht an Mascha, sie solle gefälligst ihren zauberhaften Yoga-Popo hierherbewegen … und zwar zackig … und unterwegs frischen Ingwer mitbringen – für Arno! Und zwanzig Beutel Crushed Ice – für die Chefin! Mit links fächere ich mir mit dem frisch gedruckten Krimi Mord im Wellnesshotel von Nina Neuberg Luft zu und ergänze: Mascha! Ich flehe dich an. Es ist driiiiingend!!!
Eine Frage, tausend Gedanken
Verflixt noch mal, warum geht Sophie nicht ran? Jetzt habe ich mich extra auf die Toilette geschlichen, um mich bei ihr über diese Redaktionssitzung auszukotzen. Wahrscheinlich muss sie wieder die Mutter Teresa für ihre Autoren spielen und das bei vierzig Grad im Schatten. Vielleicht sollte ich einfach hierbleiben, in der Kabine ist es wenigstens kühl und ruhig. Ich gebe auf, drücke die Spülung und schlendere im Zeitlupentempo wieder zurück zum gläsernen Meeting-Raum des Frankfurter Tagblatts, wo mein Chefredakteur Dr. Rüdiger Caspari noch immer wild gestikulierend auf das ganze Team einredet.
Seit zehn Jahren ist er nun schon mein Boss und eigentlich ganz in Ordnung. Aber in letzter Zeit hat er komische Anwandlungen und ist ziemlich launisch. Vielleicht weil er gerade fünfzig geworden ist und sein letzter Lover, Paolo, vierundzwanzig und ein spanischer Masseur mit divenhaften Allüren, ihn kurz nach seinem Geburtstag für einen schwedischen Teppichhändler hat sitzen lassen. In welchem Fach Rüdiger seinen Doktortitel erhalten hat, ist bis dato allen ein Rätsel, man munkelt so etwas wie Archäologie oder Philosophie, doch genau weiß es niemand. Dennoch besteht er penetrant in allen Schriftsachen auf dem albernen Kürzel Dr., auch wenn er sonst am liebsten geduzt wird (der Jugendlichkeit wegen).
Noch zweimal um die Ecke biegen bis zum Flur unserer Redaktion. Jeder Schritt fällt mir extrem schwer, schon den ganzen Morgen fühle ich mich wie ein schwitzendes Walross. Wie macht Rüdiger das nur? Trotz dieser Temperaturen sieht er wie aus dem Ei gepellt aus: Die schwarzen Haare sind elegant zurückgegelt, die Augenbrauen akkurater gezupft als meine – bestimmt benutzt er auch einen Nasenhaarschneider –, die rote Designerbrille sitzt wie gemalt auf seiner griechischen Nase, und die herzförmigen vollen Lippen werden vom millimetergenau gestutzten Hipster-Bart umrahmt. Das Streifenhemd über einem Vans-Shirt mit enger Röhrenjeans zu knallgelben New-Balance-Schuhen vollenden seine Erscheinung. Stil Öko-Schick.
Ich erreiche den Meetingraum, atme tief durch und öffne die Tür. Mit meinem jahrelang trainierten Blick, der volle Konzentration und Interesse signalisieren soll, setze ich mich ganz cool zurück an meinen Platz am großen Tisch. Die Kollegen ignorieren mein Wiederkommen und würdigen mich keines Blickes. Mein Chef ist in seinem Element und erzählt irgendwas über Digitalisierung.
Mein Handy vibriert. O Gott! Nik schreibt. Instinktiv halte ich die Luft an, aus Angst, die anderen könnten mich schnappatmen oder mein Herz schlagen hören. Das bedankt sich prompt für die Aufmerksamkeit des Angebeteten und rast in doppelter Geschwindigkeit los. Man könnte fast meinen, ich sei erst dreizehn, dabei sind es bereits stolze siebenunddreißig Jahre und die Vier vor der Zahl nähert sich schonungslos, wehren zwecklos.
Nik. Immer wieder Nik. Nik Hufschmied. Jedes Mal erschrecke ich leicht, wenn ich den Nachnamen höre oder lese. Er ist mir so vertraut, auch wenn ich meinen eigenen damals behalten habe – weil, mal ehrlich, Hufschmied nun auch keine wirkliche Verbesserung zu Schmidt darstellt. So blieb ich also nach meiner Heirat einfach Coco Schmidt, und doch wurde ich oft Frau Hufschmied genannt. Ja, verdammt, die Wahrheit ist: Komplizierter geht es nicht. Musste ich mich ausgerechnet in den Bruder meines bekloppten Exmannes Carl-Torben verlieben? Gibt es sonst keine Kerle auf der Welt?
Seit Wochen – nein, Monaten – denke ich an nichts anderes mehr als an Nik. Sein Gesicht schiebt sich überall dazwischen wie diese Werbebanner im Internet. Auf nichts kann ich mich mehr konzentrieren, im Kino, im Supermarkt, beim Laufen, in der Redaktion, vorm Einschlafen und beim Aufwachen, zack, sehe ich Nik vor mir und habe sofort schmachtende Liebeslieder im Ohr, die ich zuletzt vor zwanzig Jahren zu meinen Kuschelrock-CDs mitgesungen habe. Die letzten Nächte waren besonders schlimm. Meine Gedanken drehten sich im Kreis, dazwischen lauter Fragezeichen. Und das auch noch bei Eisprung und Vollmond – dann bin ich für Liebesdinge aller Art besonders empfänglich.
So auch vor einem halben Jahr, als ich Nik nach ewigen Zeiten hier in Frankfurt wiedergetroffen habe. Diese Nacht mit ihm im »Clubkeller«, dem derzeit angesagtesten Underground-Tanzschuppen der Stadt – gemischtes Publikum, coole Atmosphäre, alle DJs wollen dort auflegen –, war einzigartig. Die Bilder tauchen sofort wieder in meinem Kopf auf und machen auch vor schrecklichen Meetings wie diesem nicht halt: Nik und ich – wir beide, wie wir lachen, quatschen, tanzen, uns immer häufiger zufällig berühren, erst unabsichtlich, dann absichtlich. Wir kannten uns bis dahin nur von ein paar Familientreffen der Hufschmieds. Zuletzt sahen wir uns auf Carl-Torbens vierzigstem Geburtstag. Der ist inzwischen schon vier Jahre älter, und wir sind kein Paar mehr. Nik war einfach immer nur der sieben Jahre jüngere Bruder von Carl-Torben gewesen, mit dem er wenig zu tun hatte, und ich seine Schwägerin. Die beiden Brüder hatten sich noch nie wirklich etwas zu sagen, weil sie das genaue Gegenteil voneinander sind oder der Altersunterschied zu groß ist und sie sofort zu streiten beginnen, wenn sie aufeinandertreffen. Zum Leidwesen ihrer Mutter, die sich das Verhältnis gerne anders gewünscht hätte.
Als Nik und ich uns dann an jenem Abend ganz zufällig über den Weg liefen – ich längst geschieden –, schien es, als würden wir uns zum ersten Mal richtig wahrnehmen. Wie konnte ich früher nur übersehen, wie attraktiv er ist? Groß und durchtrainiert, eine so extrem männlich-selbstbewusste Ausstrahlung, dunkelhaarig, lässiger Fünftagebart, charismatisch, bübisches Lächeln. Der Traum von einem Mann. Beschwipst vom Pastis, den ich seit ewigen Zeiten nicht mehr getrunken hatte, und von Niks Geruch – eine verführerische Note aus Zimt und Vanille vermischt mit irgendetwas Kernigem, Abenteuerlichem – ließ ich mich in dieser Nacht treiben. Heißt es nicht, Frauen verlieben sich im allerersten Moment, wenn sie einen Mann gut riechen können?
Ich atme tief ein, als könnte ich Niks Geruch herbeizaubern. Damals konnte ich auf jeden Fall nicht mehr klar denken – und wollte es auch nicht. Schon gar nicht, als er mir ins Ohr flüsterte: »Ich will dich, Coco, hier und jetzt.« Er zog mich mit sich, an Theke und Toiletten vorbei, und wir landeten im Hinterhof des Clubs. Dort standen neben einer schützenden Hecke und den Mülltonnen ein paar bunte Holzstühle und löchrige Sessel um einen runden Tisch herum, dahinter eine sperrige alte Couch, aus der eine rostige Sprungfeder herausbrach. Was soll ich sagen? In dieser Nacht wurde das unser Himmelbett, und wir schwebten berauscht auf rosa Wolken – und nicht nur wegen des Alkoholpegels.
Am frühen Morgen wollten wir uns gar nicht mehr loslassen. Nik spielte mit einer meiner blonden Locken (viele sagen, ich sähe aus wie die jüngere Schwester von Katja Riemann), zählte meine Sommersprossen auf der Nase und sagte: »Coco, Coco, wir zwei, das ist echt ein Ding … Komm mich doch mal in Hamburg besuchen. Ich würde dich sehr gerne wiedersehen. Die Nacht mit dir war … wunderschön.« Dabei lächelte er unwiderstehlich und wirkte gleichzeitig so cool, dass meine Knie zu Wackelpudding wurden. Dann schrieb er mit meinem Kajal seine Handynummer auf die Innenfläche meiner Hand und drückte meine Finger fest zusammen, als sollte ich sie geheim halten, ebenso wie unsere erste Nacht. Das beschlossen wir nämlich noch beim Abschied, um Carl-Torben nicht aufzuregen und um meiner Ruhe willen. So bekam er kein neues Futter und konnte mich nicht damit nerven.
»Coco? Du bist doch sicher auch meiner Meinung?«
Ruckartig schrecke ich aus meinem Tagtraum auf und sehe in Rüdigers ungeduldiges Gesicht. Unser Chefredakteur seufzt und atmet langsam aus, dann schaut er an mir vorbei in die Runde. Heute Vormittag hat er das Team zu einer außerordentlichen Redaktionssitzung zusammengetrommelt und hält schon seit zwei Stunden einen Monolog. Jetzt kommt er nach seinen ausschweifenden Erklärungen langsam zum Punkt.
»Leute, ihr wisst doch alle, wie der Hase läuft. Die Zeiten haben sich geändert. Wir haben immer weniger Abonnenten, überall gehen die Zahlen zurück, die meisten lesen die Nachrichten nur noch im Internet. In ein paar Jahren schon wird es keine Tageszeitungen mehr geben. Print stirbt!« Seine Stimme wird schriller, und er ruckelt immer wieder hektisch an seiner Brille, die kleinen Knopfaugen noch angriffslustiger als sonst.
Ich kann ihm nicht mehr folgen und will es auch gar nicht. Zahlen, Print, das ist mir gerade echt piepegal. Es geht um mich, um mein Glück, um mein Leben. Sehnsüchtig schiele ich auf mein Handy und tippe auf Niks Nachricht.
»Coco, hast du einen Blackout? An der Hitze kann es ja kaum liegen. Bei dieser schweineteuren Klimaanlage hier«, pampt mich Rüdiger an, und ich sehe auf. »Dich scheint das alles gar nicht zu tangieren? Hättest du freundlicherweise die Güte, für ein paar Minuten das verdammte Telefon wegzulegen? Es geht hier schließlich auch um deine Zukunft!« Er wird lauter und zeigt drohend mit dem Finger auf mich. »Wenn wir jetzt nicht mitziehen und auf den fahrenden Zug der digitalen Entwicklungen aufspringen, gibt es uns bald schon nicht mehr!« Energisch haut er mit der Faust auf den Tisch und schwenkt wieder rüber zu den Kollegen auf der gegenüberliegenden Seite. »Versteht ihr, was ich meine?«
Micha, unser Sportredakteur, nickt. Mit ihm teile ich das Büro. Typ zynischer Singlemann aus dem Vogelsberg. Immerhin hat er’s bis hierhin geschafft. Dem ist alles egal, Hauptsache, die Eintracht steigt nicht ab, und er kriegt abends seinen täglichen Äppler in der Kneipe.
Was genau will Rüdiger uns eigentlich sagen? Zeiten? Sterben? Zug? Egal. Nur ein Blick auf mein Handy. Eine Sekunde. Ganz kurz. Ich muss wissen, was Nik schreibt. Mein Herz klopft mir bis zum Hals, als ich heimlich unter dem Tisch lese:
Hallo, schöne Frau! Sehnsüchtige Grüße aus Paris. Bin inzwischen Pastis-süchtig. Und ohne Baguette kann ich nicht mehr leben … Ich teste jeden Abend eine andere Bar, um dich perfekt ausführen zu können! Am Montmartre begrüßen mich die Kellner schon mit Namen. Hast du dich entschieden, ob du kommst? JA? Paris sagt, du fehlst ihm. Sehr. Beaucoup! Und mir auch!
Da steht sie, die Frage, die ich noch nicht beantwortet habe. Paris. Nik ist beruflich für zwei Monate dort, und ich soll ihn besuchen. Er will sich dann für mich Urlaub nehmen und mir die Stadt zeigen. Heute in zwei Wochen wäre es so weit. Ausgerechnet Paris. Meine und Sophies Lieblingsstadt, unser absoluter Sehnsuchtsort, wo wir während des Studiums sogar einen ganzen, sehr aufregenden Sommer verbracht haben. Paris bedeutet uns so viel, und wir träumen davon, dort gemeinsam alt zu werden.
Ich zucke zusammen, als Rüdiger plötzlich brüllt: »Willst du das etwa, Coco?«
Hmmm. Was weiß denn ich? Doch. Ich weiß, was ich will, aber darf ich das auch? Soll ich? Kann ich? Ist es das Richtige?
»Digitales Marketing! Das ist jetzt der absolute Hype! Willst du, dass wir die Trends verpassen, dass wir völlig naiv alles verpennen?«
Verpassen? Welche Trends?
»Wir müssen uns einfach viel mehr um das Onlinegeschäft kümmern. Anders geht es nicht. Also, Leute, es ist beschlossene Sache. Von ganz oben!« Rüdiger zeigt Richtung Decke, als habe Gott persönlich hier seine Finger im Spiel.
»Ich will keine Beschwerden mehr hören. Coco, du wirst ab sofort in die Onlineredaktion versetzt, Schwerpunkt Social Media, Kultur und Lokales. Micha: Sport, Sibylle: Wirtschaft, Laura-Lee: Promis, Klatsch und Tratsch, Herr Bode: Tagesgeschehen und Politik international. Und ich kümmere mich um Aktien, Finanzmarkt. Keiner jammert! Ihr bekommt alle einen Administratorstatus, Zugänge aller Art und startet direkt mit einer regelmäßigen Internetrecherche. Was und wie wird gepostet? Was ist in, was wird gelikt, worüber wird diskutiert? Was und wie schreibt die Konkurrenz? Im September buche ich eine mehrtägige Fortbildung für euch über Onlinejournalismus, an der ihr alle teilnehmen werdet. Alle! Jede aktuelle Meldung wird sofort auf Facebook, Instagram, Twitter, Snapchat oder wo auch immer eingestellt. Und zwar mit unserer Kennung dick obendrüber. Wir vom Tagblatt müssen die Ersten sein! Besser als die anderen! Schneller, moderner, jünger und immer eine Nachricht voraus! Up to date! Capito?«
Schweigen in der Runde. Laura-Lee und Herr Bode schauen betreten drein. Micha kaut schmatzend Kaugummi und nickt. Meine Kollegin Sibylle Wilhelm, militante Veganerin und promovierte Soziologin, optisch Typ weibliches Sams in sauteuren Öko-Klamotten (sicherlich alles essbar), zudem dreifache Mutter von den klügsten Kindern im Rhein-Main-Gebiet, denen sie jetzt schon Harvard-Karrieren voraussagt (was sie auch zu meinem großen Leidwesen ständig und überall betont oder postet), flötet: »Aber ja, Rüdiger, ich verstehe das vollkommen. Du musst reagieren, natürlich! Wer liest denn schon noch Tageszeitungen?«
Sibylle schüttelt fast angewidert den Kopf, und mir kriecht es eiskalt den Rücken hoch. Der kotzende Emoji kommt mir in den Sinn. Ich kann sie nicht ausstehen. Und sie zeigt mir bei jeder passenden Gelegenheit, dass sie mich in meinem ganzen Sein ebenso maßlos verachtet. Dafür lasse ich keine Gelegenheit aus, vor ihren Augen in eine dicke, fetttriefende Bratwurst zu beißen.
Bevor ich sie mit meinem Blick töte, sehe ich lieber auf meinen Block, den ich inzwischen vollgekritzelt habe. In Großbuchstaben steht da:
PARIS?
JAAAAA!
AUSGERECHNET PARIS!
NICHTS LIEBER ALS DAS!
AUF KEINEN FALL!
ODER VIELLEICHT DOCH?
WARUM EIGENTLICH NICHT?
Alle dazugehörigen Kästchen habe ich angekreuzt. Ich glaube, ich werde verrückt. So wird das nichts. Energisch drehe ich den Block um, bevor Sibylle, die mich schon wieder fixiert, diese arrogante Kuh, einen Blick auf mein Gekritzel erhaschen kann.
Laura-Lee (wie kann man nur so heißen?), unser Küken, ein wandelndes, fast überall gepierctes Ganzkörpertattoo und offiziell unsere Volontärin, dreht an einer Strähne ihrer pink gefärbten Haare und guckt dämlich. Was Rüdiger vor einem halben Jahr geritten hat, als er die eingestellt hat, frage ich mich bis heute. »Also ich find’s cool, ich mach das mit den Promis. Meinst du, Boss, du könntest mir nächstes Jahr dann auch Karten für die Berlinale besorgen?«
Genervt verdrehe ich die Augen.
»Laura-Lee!«, brüllt Rüdiger. Geduld ist nicht seine Stärke.
Herr Bode atmet schwer. Er ist unser Freiberufler und ältester Kollege, ein echter Linker und erfahrener Journalist, hat früher mit Joschka Fischer und den ersten Grünen demonstriert und angeblich auch in einer einschlägigen WG neben ihm gewohnt. Seine stets ungewaschenen langen Haare, die alte graubraune Lederjacke aus den Siebzigern und seine John-Lennon-Brille sagen alles. Natürlich dreht er auch seine Zigaretten selbst und konsumiert ab und zu ein Tütchen selbst angebautes Cannabis. Sein Gebiss ist riesig, und seine Vorderzähne stehen stark hervor, weshalb er den Mund eigentlich permanent geöffnet hat. Ob er ihn überhaupt schließen kann? Wenn er spricht – was eher selten vorkommt, er ist sehr wortkarg –, zieht er zwischendurch immer Speichel durch seine Zähne, was ein unverwechselbares Schlürfgeräusch entstehen lässt. Jetzt gibt er sich einen Ruck und meldet sich zu Wort: »Du, Rüdiger, ich finde, wir sollten das noch mal in Ruhe ausdiskutieren. [Schlürf] Was sagt ihr dazu, Leute? Man kann so was ja nicht einfach über unsere Köpfe hinweg entscheiden, Rüdiger. [Schlürf] Du weißt doch, Basisdemokratie und so. Mitbestimmung. Freiheit. Ich finde das jetzt nicht so gut, wie das hier gelaufen ist. [Schlürf]. Nee. Weißte.« Als Herr Bode so redet, kommt mir der Gedanke, dass er Loriots Steinlaus stark ähnelt.
»Ihr macht das! Mit echtem Einsatz. Keine Widerrede.« Rüdiger wird mehr und mehr unwirsch. Können Männer eigentlich auch in die Wechseljahre kommen? Was bildet der sich eigentlich ein?
Es ist Zeit, dass ich hier mal was sage. Zwar habe ich kaum zugehört, aber das Wichtigste verstanden: Es geht um die Zukunft der Printredaktion und eine neue Aufgabe, auf die ich keine Lust habe. Ich reiße mich zusammen, knalle meinen Stift auf den Tisch, und nun rette sich, wer kann.
»Das ist nicht dein Ernst, Rüdiger!«, schnauze ich los. »Sie haben vollkommen recht, Herr Bode. Ich bin Kunsthistorikerin und Germanistin mit Magister – und mit Auszeichnung. Ich bin Kulturredakteurin. K-U-L-T-U-R, ja? Das ist Kunst, Literatur, Film, Theater, Design, Musik. Das hat was mit Sinn und Sinnlichkeit zu tun, mit Kreativität. Verstehe ich das richtig, dass du mich in den Onlineknast versetzen willst? Zu diesen soziophoben Nerds mit karierten Hemden und Brillen in Tablet-Form?!« Ich schiele zu unserem Alt-68er rüber, der heute ebenfalls in Großkaro erschienen ist. »Ich glaube, ich spinne, Digitalisierung hin oder her. Ich mache einen Spitzenjob, und das weißt du auch, da lasse ich mich nicht degradieren!«, schreie ich.
Mein Gesicht muss inzwischen knallrot sein, denn ich merke, wie meine Wangen glühen. Hoffentlich platzen mir nicht wieder Äderchen auf der Nase. Die anderen schweigen weiter. Bode nickt immerhin zustimmend und schlurft schwerfällig zur Kaffeemaschine.
Mein Chef stemmt beide Hände auf den Tisch und schaut mich zornig an. »Ach, auf einmal lässt sich die feine Dame doch noch zu einer Äußerung herab. Na, herzlichen Dank auch, gnädige Frau! Find dich damit ab, Coco, und lass das Theater, wir sind eine regionale Tageszeitung und nicht das FAZ-Feuilleton. Die Zahlen sind hier das Einzige, was interessiert. Unsere Zukunft liegt nicht in Berichten über irgendwelche mittelklassige Theaterinszenierungen, die keine Sau versteht und kennt. Und auch nicht in lächerlichen Ausstellungen von Künstlern mit ihren Hundeporträts plus Besitzer in kurzlebigen Galerien – das interessiert KEINEN! Selbst der amerikanische Präsident twittert den ganzen Tag! Da wirst du es auch maa-al können.« Er bläst laut Luft aus und atmet schwer.
Ich muss hier raus. »Brauche frische Luft!«, keuche ich und stürze an Rüdiger vorbei, bevor ich meine gute Erziehung vergesse.
»Frische Luft, pah, die raucht doch jetzt bestimmt draußen«, sagt Sibylle so laut zu Laura-Lee, dass ich es hören kann.
»Rauchen, das ist so oldschool!«, gibt die dann auch noch ihren Senf dazu, was ich konsequent übergehe.
»Ich bin nicht taub, Sibylle«, keife ich zurück und setze flötend hinzu: »Soll ich dir ein Mettbrötchen von Siggy’s mitbringen mit extradick Zwiebeln? Mach ich gerne, meine Liebe.«
Sibylle verzieht angewidert das Gesicht und wendet sich ab. Laura-Lee und Micha prusten gleichzeitig los. Bevor Rüdiger noch etwas dazu sagen kann, drehe ich mich um und flüchte.
Weg bin ich.
Ich schiebe meine Gedanken an Nik zur Seite, Paris und er müssen warten. Draußen auf der Straße tippe ich hektisch auf Sophies Nummer. Ich hoffe, sie ist jetzt in der Agentur und hat kurz Zeit. Wenn diese Neuigkeiten in der Redaktion hier kein Notfall sind für die beste Freundin, dann weiß ich auch nicht. Kurze Stille, als die Verbindung aufgebaut wird, dann ein Anklopfen in der Leitung. Ich werfe einen schnellen Blick auf das Display: Carl-Torben. Der hat mir gerade noch gefehlt. Das Neueste von seinen Horrordates, wo sich die hübsche Blondine aus dem Netz im echten Leben als 130-Kilo-Frau entpuppt, oder prägende Kindheitskonflikte mit seiner Mutter, seinem Bruder, der ganzen Welt, oder seine Verdauungsprobleme – das alles kann er mir später noch erzählen. Ich ignoriere seinen Anruf kurzerhand.
Mist. Bei Sophie ist besetzt.