Cover

Zum Buch

Über sechzig Jahre nachdem Virginia Woolf in der Ouse ertrunken ist, macht Olivia Laing sich an einem hellen Mittsommermorgen auf den Weg durch Südengland, um dem Lauf des magischen Flusses von der Quelle bis zur Mündung zu folgen. In von Kreidefelsen milchig grün gefärbten Windungen, an Ufern auf dem Weg Richtung Meer sucht sie nach den Geheimnissen, die Flüsse tragen, verbergen, preisgeben. Heraus kommt eine große, kluge und poetische Erzählung davon, wie Geschichte sich in eine Landschaft einschreibt – und davon, wie Geister nie von den Orten verschwinden, die sie lieben.

Zur Autorin

OLIVIA LAING, geboren 1977, ist eine der renommiertesten Kulturkritikerinnen Großbritanniens und Autorin. Sie studierte Englische Literatur an der Universität von Sussex, brach ihr Studium ab, um Umweltaktivistin zu werden, auf einem Baum in der Wildnis zu leben und ein Diplom in Pflanzenheilkunde zu erwerben, bevor sie sich dem Journalismus zuwandte. Ihre Bücher sind in fünfzehn Sprachen übersetzt. Sie schreibt unter anderem für den Guardian und New Statesman und ist Kolumnistin für Frieze. Für Zum Fluss war sie für den Ondaatje-Preis und den Dolman Best Travel Book Award nominiert, 2018 erhielt sie für ihre Sachbücher den Windham Campbell-Preis.

Olivia Laing

Zum Fluss

Eine Reise unter die Oberfläche

Aus dem Englischen von
Thomas Mohr

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »To The River. A Journey Beneath the Surface« bei Canongate Books Ltd, Edinburgh.


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Copyright © 2011 Olivia Laing

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © plainpicture/Jan Håkan Dahlström;
© Shutterstock/VA_Art; Elena Dijour; ronnybas frimages;
Ismiza binti Ishak; tesoro-photo; Toma Stepunina

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24967-0
V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Meinen Eltern
und meiner Schwester
und dem Andenken an meinen
Großvater Arthur Laing

Illustration Flusslauf: Helen MacDonald

Alle Wasser laufen ins Meer, doch wird das Meer nicht voller; an den Ort, da sie her fließen, fließen sie wieder hin. Es sind alle Dinge so voll Mühe, dass es niemand ausreden kann. Das Auge siehet sich nimmer satt, und das Ohr höret sich nimmer satt. Was ist’s, das geschehen ist? Eben das hernach geschehen wird. Was ist’s, das man getan hat? Eben das man hernach wieder tun wird; und geschieht nichts Neues unter der Sonne.

Prediger 1, 7 – 9

INHALT

I NICHTS WIE WEG

II AN DER QUELLE

III AUF DEN GRUND

IV FAHRWASSER

V IN DEN FLUTEN

VI EINE DAME VERSCHWINDET

VII BEDAS SPERLING

VIII BERGUNG

Zitierte Literatur

Bibliografie

Danksagung

Foto: Olivia Laing

I
NICHTS WIE WEG

Gewässer haben mich schon immer fasziniert. Vielleicht liegt es daran, dass ich in mir so trocken bin, so englisch, oder schlicht an meinem ausgeprägten Sinn für Schönheit, aber ohne einen Fluss in meiner Nähe fühle ich mich auf dieser Welt nicht wirklich wohl. »Wenn es schmerzt«, schrieb der polnische Dichter Czesław Miłosz, »kehren wir zu den Flüssen zurück«, und ich schöpfe Trost aus seinen Worten, denn es gibt einen Fluss, an den ich immer wieder zurückkehre, in Krankheit und Gesundheit, in Trauer, in Betrübnis und in Freude.

Erste Bekanntschaft mit der Ouse machte ich an einem Juniabend vor zehn Jahren. Ich war mit einem längst abgelegten Lover aus Brighton gekommen, und wir hatten den Wagen auf einer Wiese in Barcombe Mills abgestellt und marschierten nun nach Norden, der Strömung entgegen, während die letzten Angler in der Hoffnung auf Hechte oder Barsche ihre Köder auswarfen. Es wurde langsam dunkel, der Duft von Mädesüß lag in der Luft, und auf den zweiten Blick erkannte ich einen dünnen Film von Blütenblättern, die träge am Ufer entlangtrieben. Der prallvolle Fluss verlief am Rande eines offenen Feldes, und je tiefer die Sonne sank, desto stärker stieg er einem in die Nase: jener kalte, grüne Ruch, mit dem wildes Wasser sich ankündigt. Als ich mich bückte, um die Hand hineinzutauchen, fiel mir ein, dass Virginia Woolf sich in der Ouse ertränkt hatte, auch wenn ich nicht wusste, wann oder warum.

Eine Zeitlang ging ich mit Freunden in Southease schwimmen, unweit der Stelle, wo ihre Leiche gefunden wurde. Erfüllt von leiser Beklommenheit, in die sich schon bald ein Gefühl der Ekstase mischte, watete ich ins schnell fließende Wasser und spürte, wie die Strömung an mir zerrte, eine Strömung, die mich tief unter die Oberfläche zu ziehen und geradewegs ins Meer hinaus zu spülen drohte. Der Fluss durchquerte in dieser Gegend ein von den Hügeln der Downs gesäumtes Kalksteintal, und der Kalk sickerte ins Wasser und färbte es milchig grün, wie Meerglas, das viele kleine Feuer in sich gefangen hält. Man konnte nicht bis auf den Grund sehen; man konnte kaum die eigenen Gliedmaßen ausmachen, und vielleicht war es diese Opakheit, diese Trübung, die dem Fluss den Anschein gab, Geheimnisse in sich zu tragen: dass unter seiner Oberfläche etwas verborgen lag.

Doch nicht Morbidität führte mich zu dieser gefährlichen Stelle, sondern vielmehr die Lust, mich an etwas auszuliefern, über das ich keinerlei Kontrolle hatte. Die Ouse zog mich an, wie Metall einen Magneten anzieht, und mit den wechselnden Jahreszeiten, in Sommernächten wie an den kurzen Wintertagen, kehrte ich immer wieder dorthin zurück, um zu schwimmen und zu wandern, bis diese Bäder und Spaziergänge Ritualcharakter angenommen hatten. Ich war ohne bestimmtes Ziel in diese Ecke von Sussex gekommen und ohne die Absicht, länger als nötig dort zu bleiben, aber heute scheint es mir, als hätte der Fluss damals die Angel ausgeworfen, als hätte er mich in vollem Flug erwischt und an sein nasses Herz gedrückt. Und als mein Leben ins Wanken geriet, war es die Ouse, bei der ich Zuflucht suchte.

Im Frühjahr 2009 befiel mich eine dieser kleinen Krisen, die unser Leben in regelmäßigen Abständen heimsuchen, wenn das Gerüst, das uns aufrecht hält, zum Einsturz verurteilt scheint. Ich verlor durch Zufall erst meine Arbeit und dann, aus purer Gedankenlosigkeit, auch noch den Mann, den ich liebte. Er kam aus Yorkshire, und eines der Scharmützel in unserer langen Schlacht drehte sich um Territorium, genauer gesagt um die Frage, wo in England wir uns niederlassen sollten. Weder mochte ich Sussex ade sagen, noch konnte er sich von den Hügeln und der Heide trennen, zumal er gerade erst dorthin zurückgekehrt war.

Nachdem Matthew mich verlassen hatte, verlernte ich das Schlafen. Brighton schien unruhig und war bei Nacht sehr hell. Das Krankenhaus gleich gegenüber hatte man vor kurzem stillgelegt, und wenn ich von meiner Arbeit aufblickte, sah ich nicht selten eine Gruppe Jugendlicher, die Fensterscheiben einschmissen oder Feuer machten auf dem Hof, wo früher Rettungswagen gestanden hatten. Mehrmals täglich hatte ich das Gefühl zu ertrinken und war kurz davor, mich auf den Boden zu werfen und zu heulen wie ein kleines Kind. In lichteren Momenten wusste ich, dass diese Panikattacken nicht von Dauer sein und bald vorübergehen würden, doch die Schönheit des Aprils machte sie nur noch schlimmer. Die Bäume entflammten zu neuem Leben: erst die Kastanie mit ihren aufragenden Kerzen, dann Ulme und Buche. Inmitten dieser grünen Flut begann die Kirsche zu blühen, und binnen Tagen hatten sich die Straßen in ein Meer von Blüten verwandelt, welche die Gullys verstopften und die Windschutzscheiben geparkter Autos tapezierten.

Der berauschende Wechsel der Jahreszeit brachte mich auf die Idee, den Fluss abzugehen. Ich wollte in jedem Sinne des Wortes verschwinden, nichts wie weg, und mein Herz riet mir, an den Fluss zurückzukehren. Ich begann, wie besessen Landkarten zu kaufen, dabei hatte ich Karten eigentlich nie viel abgewinnen können. Ein paar pinnte ich mir an die Wand; eine geologische Karte war so schön, dass sie den Ehrenplatz über meinem Bett bekam. Was mir vorschwebte, war eine Erkundung oder auch Sondierung, eine möglichst genaue Vermessung und Beschreibung eines kleinen Fleckchens England in einer Mittsommerwoche zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Das jedenfalls war meine Antwort, wenn mich jemand danach fragte. Die Wahrheit ließ sich nicht ganz so leicht erklären. Ich wollte irgendwie unter die Oberfläche der Alltagswelt dringen, so wie ein Schlafender die schnöde Wirklichkeit abschüttelt und zu den Träumen emporklettert.

Auf seinem Weg durch eine Landschaft fängt ein Fluss die Welt ein und gibt sie gedoppelt zurück: eine glitzernde, veränderliche Welt, rätselhafter als die, in der wir gemeinhin leben. Flüsse ziehen sich durch unsere Kulturen wie eine Schnur durch Perlen, und mir fällt kaum eine Epoche ein, die nicht von einem großen Wasserlauf geprägt gewesen wäre. Heute ist es im Nahen Osten knochentrocken, doch einst war der Boden fruchtbar, gespeist vom reichen Nass des Euphrat und des Tigris, an deren Ufern Sumer und Babylonien florierten. Das alte Ägypten verdankte seine Reichtümer dem Nil, der, so glaubte man, die Grenze zwischen Leben und Tod markierte und sein himmlisches Pendant in jenem Sternenrinnsal fand, das wir die Milchstraße nennen. Das Industal, der Gelbe Fluss: Das sind die Orte, wo Zivilisationen ihren Anfang nahmen, genährt von süßen Wassern, die das Land überschwemmten und es urbar machten. Die Schriftkunst entstand unabhängig voneinander in jeder dieser vier Regionen, und es kann eigentlich kein Zufall sein, dass das geschriebene Wort aus Flusswasser geboren wurde.

Flüsse sind von einem Geheimnis umgeben, das uns anzieht, denn sie entspringen dem Verborgenen und nehmen morgen vielleicht schon einen ganz anderen Lauf als heute. Im Unterschied zu einem See oder dem Meer hat ein Fluss ein Ziel, und die Bestimmtheit, mit der er sich darauf zubewegt, gibt ihm etwas ungemein Beruhigendes, insbesondere in den Augen derer, die den Glauben an ihr eigenes Fortkommen verloren haben.

So gesehen schien mir die Ouse aus zwei Elementen zu bestehen. Einerseits war sie das Ding an sich: ein zweiundvierzig Meilen langer Fluss, der in einem Eichen- und Haselwald bei Haywards Heath entsprang, durch die Strudel und Schluchten der uralten Gehölze des Weald zu Tale stürzte, bei Lewes die Downs durchquerte und bei Newhaven in den ölschlierigen Ärmelkanal mündete, wo die Fähren nach Frankreich übersetzen. Solche Wasserläufe findet man in dieser Gegend zuhauf. Ich wette, auch in Ihrer Nähe gibt es einen malerischen, mittelgroßen Fluss, der sich durch Ortschaften und Felder schlängelt, weder von ursprünglicher Wildheit noch von verlässlicher Ruhe. Die Zeit der Salzwerke und Wassermühlen mag vorbei sein, doch die Ouse bleibt ein »arbeitender Fluss«, ganz nach der Mode unserer Zeit, der eine Handvoll Stauseen speist und die Abwässer von einem guten Dutzend Klärwerken aufnimmt. Wenn man in Isfield baden geht, stößt man mal auf große Klumpen verklebter Blasen, mal auf Wasserpestfelder, die dank des ausgewaschenen Weizendüngers blühen wie ein prächtiger Obstgarten.

Aber ein Fluss bewegt sich nicht nur durch den Raum, sondern auch durch die Zeit. Flüsse haben unsere Welt geformt; sie tragen, wie es bei Joseph Conrad heißt, »die Träume der Menschen, die Saat neuer Staaten, den Keim großer Reiche« in sich. Sie haben schon immer Menschen angelockt, und so sind sie angefüllt mit den ausrangierten Überresten der Vergangenheit. Die Ouse ist nicht sonderlich bedeutend. Sie hat die breiteren Ströme der Geschichte nur ein- oder zweimal gekreuzt; als Virginia Woolf 1941 dort ertrank und als an ihren Ufern, Jahrhunderte zuvor, die Schlacht von Lewes ausgefochten wurde. Dennoch lässt sich ihre enge Beziehung zum Menschen mehrere tausend Jahre weit zurückverfolgen, bis in die Zeit vor Christi Geburt, als neolithische Siedler die Wälder rodeten und am Flussufer Feldfrüchte anzubauen begannen. Spätere Epochen haben sehr viel bleibendere Spuren hinterlassen: angelsächsische Dörfer, eine normannische Festung, Kanalsysteme aus der Tudorzeit, georgianische Deich- und Schleusenbauten zur Entlastung des mitunter stark anschwellenden Flusses, doch selbst diese aufwändigen Maßnahmen vermochten die Ouse nicht zu bezähmen, weshalb das Städtchen Lewes zu Beginn dieses Jahrtausends Opfer einer katastrophalen Überschwemmung wurde.

Bisweilen scheint die Vergangenheit recht nahe. An manchen Abenden, wenn die Sonne untergegangen ist und die Luft sich blau verfärbt, wenn Schleiereulen über den Rispengräsern schweben und ein abgespeckter Mond durch die Baumwipfel bricht, steigen vom Fluss hier und da Dunst- und Nebelschwaden auf. Dann zeigt sich das Besondere des Wassers. Die Erde hortet ihre Schätze, und was darin verborgen liegt, verbleibt an seinem Platz, bis es per Schaufel oder Pflug wieder zutage gefördert wird; ein Fluss hingegen ist ständig in Bewegung und gibt seinen kostbaren Besitz wahllos und aufs Geratewohl preis, ohne Rücksicht auf die Binnenchronologie, an die Historiker sich so sehr klammern. Eine anhand von Wasser kompilierte Geschichte ist ihrer Natur nach flink und flüssig, voll von submersem Leben und, wie ich am eigenen Leib erfahren sollte, durchaus in der Lage, sich unversehens in die Jetztzeit zu ergießen.

In jenem Frühjahr las ich wie besessen Woolf, weil sie meine Vorliebe für Wasser und seine Metaphorik teilte. Im Lauf der Jahre hat Virginia Woolf sich den Ruf einer tristen, trübseligen Autorin, einer blutleeren Neurasthenikerin erworben, wo nicht gleich den einer boshaften, exaltierten Schnepfe, einer Grande Dame biederen Bloomsbury-Geplauders. Wer diese Ansicht teilt, hat vermutlich ihre Tagebücher nicht gelesen, denn die sind voller Humor und zeugen von einer ansteckenden Liebe zur Natur.

Virginia kam erstmals 1912 an die Ouse und pachtete ein hoch über den Sümpfen gelegenes Haus. Hier verbrachte sie die erste Nacht ihrer Hochzeit mit Leonard Woolf und erholte sich, Jahre später, von ihrem dritten in einer ganzen Reihe schwerer Nervenzusammenbrüche. 1919, nach ihrer Genesung, wechselte sie ans andere Ufer des Flusses und kaufte ein zugiges, bläulich getünchtes Cottage im Schatten des Rodmell’schen Kirchturms. Bei ihrem Einzug war alles noch sehr primitiv; es gab kein heißes Wasser, und in der feuchten Außentoilette stand ein Rohrstuhl mit einem Eimer darunter. Doch Leonard und Virginia liebten Monk’s House, und die Ruhe und die Abgeschiedenheit erwiesen sich als der Arbeit förderlich. Große Teile von Mrs. Dalloway, Zum Leuchtturm, Die Wellen und Zwischen den Akten entstanden dort, neben hunderten von Rezensionen, Kurzgeschichten und Essays.

Sie war äußerst empfänglich für die Landschaft, und ihre Impressionen dieses kalk- und wasserreichen Tals durchziehen ihr gesamtes Werk. Ihre einsamen, oft täglichen Wanderungen und Exkursionen scheinen ein wesentlicher Bestandteil des Schreibprozesses gewesen zu sein. Während ihres Zusammenbruchs in Asham House, als ihr die »Überreizungen« des Schreibens und Spazierengehens verboten waren, notierte sie wehmütig in ihr Tagebuch:

Was gäbe ich darum, von Firle her durch den Wald zu radeln, erhitzt & voller Staub, die Nase heimwärts gerichtet, Müdigkeit in jedem Muskel & das Gehirn auf süßen Lavendel gebettet, gesund & kühl & reif für das kommende Tagwerk. Wie viel Beachtung ich allem schenken würde, der rechte Satz käme im nächsten Augenblick und würde wie angegossen passen; & auf der staubigen Straße würde meine Geschichte sich, noch während ich in die Pedale trete, von selbst erzählen; & dann ginge die Sonne unter & nach Hause & eine Runde Gedichte nach dem Abendessen, halb gelesen, halb gelebt, als ob das Fleisch zerflösse & Blumen es durchbrächen rot & weiß.

»Als ob das Fleisch zerflösse« ist eine typisch Woolf’sche Formulierung. Ihre Metaphern für den Vorgang des Schreibens, für das Betreten jener Traumwelt, in der sie buchstäblich aufblühte, sind Metaphern des Fließens und der Flüssigkeit: Sie schreibt vom hineinstürzen, versinken, hinabgesogen werden. Dieses Verlangen, die Tiefe zu ergründen, war es, was mich zu ihr hinzog, denn obgleich sie schließlich unterging, hatte es eine Zeitlang den Anschein, als besäße sie, wie manche Freediver, die Gabe, unter die Oberfläche der Welt hinabzutauchen. Als ich so in meinem überhitzten kleinen Zimmer saß, kam ich mir vor wie ein Möchtegern-Entfesselungskünstler, der Houdini studiert. Ich wollte den Kniff herausbekommen, und ich wollte wissen, wie diese eleganten Kopfsprünge sich in einen Verschwindetrick der sehr viel unheimlicheren Art hatten verwandeln können.

Der Frühling wich dem Sommer. Ich hatte beschlossen, die Stadt pünktlich zur Sonnenwende zu verlassen, am Scharnierpunkt des Jahres, wenn das Licht seinen Höchststand erreicht. Der mit diesem Tag verbundene Aberglaube gefiel mir: Es heißt, dass die Wand zwischen den Welten dann dünner wird, und es ist kein Zufall, dass Shakespeare seinen trunkenen Traum am Vorabend des Mittsommers spielen lässt, denn in der kürzesten Nacht des Jahres regieren seit je Magie und Narretei. Im Juni ist England am schönsten, und in den Tagen vor meiner Abreise wurde ich fast wahnsinnig vor Verlangen danach, in die blühenden Felder zu entfliehen und im kühlen, ruhigen Fluss zu baden.

In meiner Wohnung stapelten sich nervöse Listen. Ich kaufte mir einen Rucksack und eine leichte Hose mit hübsch geblümtem Bund. Meine Mutter schickte mir ein Paar Sandalen von beispielloser Hässlichkeit und schwor – fälschlicherweise, wie sich herausstellen sollte –, dieses Modell beuge der Blasenbildung vor. Ich verbrachte einen angenehmen Nachmittag damit, in Pubs entlang der Strecke Zimmer zu buchen, unter anderem im White Hart in Lewes, wo Virginia und Leonard Woolf Monk’s House ersteigert und sich dann, im Eifer der Erregung, einen ebenso kurzen wie handfesten Streit geliefert hatten. Außerdem kaufte ich Unmengen von Haferkeksen und einen großen Kanten Käse. Kein besonders abwechslungsreicher Speiseplan, aber verhungern würde ich jedenfalls nicht.

In all dieser Zeit hatte ich mit Matthew kaum ein Wort gesprochen, und am Abend vor meiner Abreise tat ich etwas Verbotenes. Ich rief ihn an, und irgendwann im Lauf unseres wirren, an Vorwürfen und Schuldzuweisungen nicht eben armen Gespräches fing ich an zu weinen und musste feststellen, dass ich nicht mehr aufhören konnte. Es war, auch wenn ich das damals noch nicht wusste, der Nadir, der Tiefpunkt jenes finsteren Frühjahrs. Bis zur Sonnenwende waren es noch vierundzwanzig Stunden; und auch wenn die Tage danach wieder kürzer wurden, begann sich das Dunkel in mir langsam zu lichten.

Porträt Gideon Algernon Mantell von William Turner Davey: Granger/Bridgeman Images