Buch
»Das Gefährlichste, was man machen konnte, war zu schreiben …« Und genau das wird der 10-jährigen Ileana und ihrer Familie im Rumänien des Jahres 1989 zum Verhängnis. Als der Onkel des Mädchens verschwindet – ein bekannter Schriftsteller und Regimekritiker –, bricht die mühsam behütete Welt von Ileana und ihren Eltern zusammen. Plötzlich stehen sie im Visier der Securitate. Ileana, eine begeisterte Sammlerin von Märchen, Erzählungen und wahren Begebenheiten, wird zu ihren Großeltern aufs Land geschickt. Dort, so die Hoffnung, kann ihr nichts geschehen. In der Dorfgemeinschaft muss sie sich als fremdes Kind aus der Stadt ihren Platz mühsam erobern. Doch schließlich findet sie nicht nur eine Verbündete, sie erfährt auch von einer geheimen Geschichte, die die Bewohner schützen soll. Denn auch in diesem entlegenen Winkel des Landes ist niemand sicher. Als die Securitate im Dorf nach Gegnern des Regimes sucht, geraten die Einwohner in tödliche Gefahr. Allen voran Ileana und ihre Großeltern. Und die einzige Waffe, mit der sie um ihr Leben kämpfen können, ist das Wort …
»Geschichten können Leben verändern. Dieser Roman ist der Beweis: Packend erzählt er von historischen Ereignissen, die wir nie vergessen sollten.« Jennifer A. Nielsen
Aus dem Englischen
von Marcus Ingendaay
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
»The Story That Cannot Be Told«
bei Atheneum, an imprint of Simon & Schuster
Children’s Publishing Division, New York
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Wunderraum-Bücher erscheinen im
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
einem Unternehmen der Random House GmbH.
Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2020
Copyright © 2019 by Jessica Kasper Kramer
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung und Konzeption: buxdesign | München
Umschlagmotiv: Arcangel/ KerstinMarinow
Redaktion: Regina Carstensen
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-24991-5
V001
www.wunderraum-verlag.de
Für Mr Howell,
meinen Lehrer in der fünften Klasse.
Der Erstling war immer für Sie.
Vor langer, langer Zeit trug sich einmal etwas zu. Hätte es sich nicht zugetragen, würde auch niemand davon erzählen.
Am Westufer des Schwarzen Meeres lag einmal ein Land, ein Land mit uralten Wäldern, wilden Strömen und mittendrin einem Gebirgszug, der sich über tausend Kilometer erstreckte. Das Land hieß Rumänien, und dort spielt meine Geschichte. Es gab Zeiten, in denen regierten Könige und Prinzen über Rumänien. Und andere Zeiten, in denen die Römer das Land verwalteten. Und wieder andere Zeiten, noch gar nicht so lange her, da herrschte dort die Kommunistische Partei, die nach einer gefälschten Wahl die Macht übernommen hatte und einen Egomanen zu ihrem Führer wählte.
Anfangs glaubten die Leute in Rumänien, jetzt würde alles gut. Der Führer ihres Landes kam vom Land und war einst bei einem Schuhmacher in die Lehre gegangen. Er behauptete, er wolle nur das Beste für sein Land – und vielleicht glaubte er das ja selber. Aber seine Macht wuchs und wuchs und wuchs, und wie so oft hatte sie ihn eines Tages ganz und gar verschlungen.
Der Führer, der Conducător, wie er auf Rumänisch hieß, veranstaltete Aufmärsche und Paraden zu seinen Ehren. Er kontrollierte die Zeitungen und das Fernsehen und das Radio des Landes, damit nur das berichtet wurde, was ihm passte. Für seinen maßlosen Palast ließ er Kirchen und Krankenhäuser schleifen und vertrieb Zigtausende Bewohner der Hauptstadt Bukarest aus ihren Wohnungen. In dem Palast gab es riesige Showtreppen, Böden aus Marmor und ein Badezimmer aus purem Gold.
Unter der Herrschaft des Conducătors versank das Land, Rumänien, in Elend und Verzweiflung. Waisenhäuser konnten die zahlreichen verwahrlosten Kinder nicht mehr aufnehmen. Benzin, Wasser und Strom waren rationiert. Ganze Familien standen täglich um Lebensmittel an, aber ob es am Ende tatsächlich etwas zu kaufen gab, war völlig offen. Am schlimmsten jedoch war die Geheimpolizei, die Securitate, die ein Netz aus Spitzeln über das Volk geworfen hatte und bis in den Bekannten- und Familienkreis hinein fast jedes Gespräch mithörte. Wer als gefährlich galt, wurde verschleppt, gefoltert und/oder kurzerhand liquidiert.
Kein Rumäne sollte je erfahren, wer ihn alles beobachtete, daher lebten die Menschen in permanenter Furcht. Praktisch alles konnte einem zum Verhängnis werden. Wer mit dem falschen Buch, der falschen Musik, dem falschen Video erwischt wurde, schwebte in Lebensgefahr.
Am verdächtigsten aber waren alle diejenigen, die schrieben.
Denn wenn man die falschen Wörter zu Papier brachte (und mit den falschen Wörtern auch die falsche Art Geschichte), konnte es sein, dass man einfach verschwand.
Sobald mein Vater von der Uni nach Hause kam, ließ er die Aktentasche auf den Küchenboden fallen und stützte sich, fahl im Gesicht, mit beiden Händen an der Spüle auf, als sei ihm übel.
»Er ist nicht mehr da«, sagte er. »Sie haben ihn umgebracht.«
Meine Mutter, die am Küchentisch saß, legte ihre Femeia beiseite. Sie sah kurz zu mir herüber, ehe sie aufstand, Tata den Hut vom Kopf nahm, ihn selbst ins Schlafzimmer schob und leise die Tür hinter sich zuzog.
Das war im Juni 1989. Inzwischen war der Strom in Bukarest öfter ab- als angeschaltet. Die Hitze staute sich in unserem Plattenbau, und wir kamen uns vor wie Kohlrouladen in einem Schmortopf, die jeden Tag aufs Neue durchgegart werden. Damit wenigstens ein bisschen Luft hereinkam, standen permanent die Balkontüren offen. Ich lag auf dem Fußboden, hatte meine Gesammelten Werke aufgeschlagen und ließ die Brise vom Balkon in meinen Geschichten blättern. Aber dann legte ich meinen Buntstift weg und starrte mit klopfendem Herzen und wachsender Anspannung auf die Wand, durch die immer wieder einzelne Laute drangen.
Unsere Wohnung war so klein, dass man sie mit einem Blick erfassen konnte. Ganz hinten war der Balkon, dann kamen Wohnzimmer und Küche (ein Raum), in dem Flur davor war auf der einen Seite das winzige Bad und mein Zimmer und auf der anderen das Schlafzimmer meiner Eltern. Meine Mutter sagte immer (aber nur, wenn mein Vater nicht da war), dass sie uns bei der nächsten Umsiedlungsaktion in eine Abstellkammer sperren würden. Sie vermisste die schöne große Wohnung, die wir davor gehabt hatten, mit einem eigenen Esszimmer, einer Speisekammer und dem Eckzimmer, wo ihr Klavier stand. Aber daran erinnere ich mich nicht mehr, denn als wir umziehen mussten, war ich noch ein Baby. Ich weiß aber, dass meine Eltern nur das behalten durften, was sie tragen konnten – und wir die alte Wohnung innerhalb eines Tages räumen mussten.
Ich richtete mich auf, denn die Anspannung wurde einfach zu groß. Auch ich hielt es inzwischen nicht mehr für ausgeschlossen, dass uns dasselbe noch einmal blühen konnte, dass nämlich das, was meinen Vater vorhin so beunruhigt hatte, uns abermals zwingen könnte, ohne Vorwarnung unsere Siebensachen zu packen und wegzuziehen. In was für ein Loch würde es uns diesmal verschlagen, wenn es tatsächlich dazu kam? Als der Conducător unsere erste Wohnung abreißen ließ, um Platz zu schaffen für den Palast, das sogenannte Haus des Volkes samt Prachtstraße, steckte er uns und alle anderen in diese furchtbaren grauen Betonklötze, die blockweise errichtet wurden und immer gleich aussahen. Manchmal malte ich mir aus, wie wir früher gelebt hatten, mit einer Speisekammer, die mit Brot und Marmelade gut gefüllt war, mit den Bücherregalen meines Vaters, die vom Boden bis an die Decke reichten, solche Sachen. In meiner Erinnerung an eine Wohnung, an die ich mich gar nicht erinnere, hatten wir immer genug zu essen, und es gab immer warmes Wasser, nicht nur samstagabends. Angeblich konnte man früher nach Belieben ein Bad nehmen, sogar im Winter, wenn die Heizung im Haus oft ausfiel.
Ich sammelte solche Geschichten, sowohl erfundene wie wahre.
Und ich war gut darin, zwischen wahr und erfunden zu unterscheiden. Es waren einfach andere Geschichten.
Dabei hatte man in diesem Land nie genug zu essen. Es gab auch nie genug warmes Wasser oder ausreichend Platz und Licht. Selbst mit meinen zehn Jahren fiel mir auf, wie sich der Ton der Leute veränderte, wenn von früher die Rede war, ja, dass sie nicht einmal dieselben Wörter benutzten wie sonst. Aber wenn wir schon annahmen, dass früher alles besser war, dann konnten wir uns auch vorstellen, wie es in Zukunft wieder besser werden konnte. Es war unser Überlebensrezept.
Nebenan gab es einen schweren Rumms, irgendetwas krachte gegen die Kommode. Dann noch einmal, und ich sprang hoch. Gedämpfter Streit schwoll mehrmals an und wieder ab. Ich hörte meinen Vater schimpfen – und meine Mutter, wie sie versuchte, ihn zu bremsen. Aber mir war auch klar, dass sie das nicht meinetwegen tat, nicht in erster Linie jedenfalls.
Sie tat es, damit die Nachbarn nichts mitkriegten, die vielleicht schon an der Wand lauschten und in der Hosentasche nach einem Bleistift kramten. Man konnte nie sicher sein, dass nicht jemand zuhörte.
Als schließlich die Tür wieder aufging, verbarg ich meine Angst, indem ich so tat, als sei ich intensiv mit einer Geschichte in meinen Gesammelten Werken beschäftigt. Ich war gerade bei einer Nacherzählung von »Der Bäckerjunge«, eine Parabel, die wir in der Schule durchgenommen hatten. Aber ich ließ meine Eltern nicht aus den Augen, die wortlos begonnen hatten, den Abendbrottisch zu decken. Ich wollte gar nicht daran denken, wen »sie« heute umgebracht hatten und malte zur Ablenkung einen Schmuckrand aus braunen Brotlaiben auf die Titelseite meiner Geschichte. Aber draußen ging gerade die Sonne unter, und im verdämmernden Licht wurden die leuchtend bunten Farben in meinen Gesammelten Werken mehr und mehr zu hässlichen Grautönen, deshalb klappte ich das Buch zu und trug es zum Sofa.
Da es immer noch keinen Strom gab, zeigte der Bildschirm des Fernsehers lediglich mein eigenes dunkles Spiegelbild: ich und meine Geschichten. Ich setzte mich trotzdem hin, als gäbe es im Fernsehen etwas zu sehen. Allein an meine Lieblingsfilme zu denken, die früher dort gelaufen waren, war tröstlich. Früher gab es auch einmal zwei Programme, in denen von morgens bis abends etwas gebracht wurde. Meine Mutter zum Beispiel sprach immer noch von dieser amerikanischen Serie, die mit dem Mann mit dem Cowboyhut, wo am Schluss immer jemand erschossen wurde oder ein Auto explodierte. Inzwischen aber existierte nur noch ein einziges Programm, das an Wochentagen auch nur zwei Stunden lang auf Sendung war, aber nicht mit Filmen und Serien wie früher, sondern ausschließlich mit langweiligen Sachen wie Ansprachen aus dem Palast oder Parteiversammlungen, wo die kleinen Männer im Saal wie auf Kommando Beifall klatschten oder buhten oder scheinbar entschlossen die kleinen Fäustchen reckten. Daneben gab es Informationssendungen über die sogenannte wissenschaftliche Ernährung und freundliche Hinweise auf die Zeiten der Ausgangssperre, die von Ort zu Ort verschieden sein konnten.
Sonntags aber kam Gala Zeichentrick – mit vollen fünf Minuten Cartoon. Niemand, den ich kannte, verpasste diese Sendung. Im letzten Sommer schaffte ich es tatsächlich, über mehrere Wochen hinweg, die kompletten 101 Dalmatiner vom Bulgaren zu kriegen und gab nach den Schulferien entsprechend damit an. Und diesen Sommer brachten sie Aristocats. Die letzte Fünfminuten-Folge endete damit, dass die verängstigten Kätzchen aufs Land entführt wurden. Bis zum Wochenende würde ich nicht erfahren, was weiter mit ihnen geschah. Aber sobald heute Abend der Strom wiederkam, gab es dank unserer Eigenbau-Antenne vielleicht etwas auf dem Bulgaren, das wir uns angucken konnten. Dann fiel, wie so oft, das Schreckliche, das an diesem Tag passiert war, einfach von uns ab.
Anscheinend war das Glück auf meiner Seite. Jedenfalls ging das Licht an, ehe der Tisch gedeckt war. Ich fragte meinen Vater: »Darf ich auch den Ventilator anmachen?«
Manchmal sagte er Nein. Die Strafsteuer bei Überschreitung der zugeteilten Haushaltsmenge an Strom war heftig. Doch an diesem Abend sah er mich nicht einmal an, sondern machte nur eine unklare Handbewegung, die ich als Erlaubnis deutete, und setzte sich wortlos an seinen Platz am Tisch. Die Furchen hinter seiner großen Brille waren tiefer als sonst, und ich machte mir allmählich ernsthaft Sorgen um seine Gesundheit. Die Brise vom Balkon blies durch meine braunen Strubbelhaare, und gesenkten Blicks stocherte ich in meinem Essen, Auberginenauflauf mit Kartoffeln, fleischlos. Die Schlange vor der Metzgerei war einfach zu lang gewesen. Als uns der Ordner darauf hinwies, dass es mindestens fünf, wahrscheinlich sogar sechs Stunden dauern könnte, bis wir an der Reihe waren, dachte ich erst, wir würden uns in der Schlange abwechseln, so machte man das nämlich. Stattdessen gingen wir einfach nach Hause.
Und so kaute ich unentschlossen an meinem altbackenen Brot und rührte den Auberginenmatsch kaum an. Aber ich beklagte mich nicht, sondern sah immer nur wieder meine Eltern an. Mein Vater schwieg eisern, und auch die kranke Blässe auf seinem Gesicht wollte nicht weichen. Mir war klar, sie würden mir jetzt ohnehin nicht sagen, wen »sie« umgebracht hatten oder warum, denn das hatten sie noch nie getan. Doch je länger ihr Schweigen dauerte, desto größer wurde meine Angst, dass es diesmal jemand getroffen hatte, der wichtig war
Als ich es nicht länger aushielt, tat ich etwas, das ich in solchen Situationen immer tue: Ich füllte die Leere mit einer Geschichte.
»Wollte ihr eine neue Geschichte hören?«
»Vielleicht ein andermal«, erwiderte meine Mutter.
Mein Magen zog sich zusammen, und ich wurde knallrot. So etwas hatte sie bis jetzt noch nie gesagt.
Mein Vater legte die Gabel nieder. »Ist das alles, was du heute gemacht hast: an deinen Geschichten geschrieben?«
Ich dachte, er wäre sauer auf mich, weil ich an diesem Tag keine Ferienaufgaben gemacht hatte, deshalb sagte ich schnell: »Ja, aber es ist eine Geschichte aus dem Unterricht. Frau Dumitru hat sie uns am letzten Schultag erzählt.«
»Ein andermal«, sagte meine Mutter erneut, und da begriff ich, dass sich hinter der knappen Antwort eine letzte Verwarnung verbarg.
»Ach, lass sie doch«, sagte mein Vater daraufhin. »Ich würde gerne hören, was sie meiner Tochter in der Schule so beibringen – und was sie schreibt natürlich auch.«
Ich blickte zwischen den beiden hin und her und wurde immer kleiner auf meinem Stuhl. Ich war daher froh, dass der Glockenschlag der Wanduhr dazwischenkam. »Darf ich jetzt aufstehen?«, fragte ich.
Meine Mutter sah vorwurfsvoll auf meinen halb vollen Teller – und nickte stumm.
»Aber trag deinen Teller zur Spüle. Und schalt den Ventilator aus, du verkühlst dich noch.«
»Was ist jetzt mit deiner Geschichte?«, fragte mein Vater.
»Na ja, sie ist eigentlich noch nicht fertig«, log ich.
Ich ließ Wasser und Seifenlauge in die Spüle, schaltete anschließend den Fernseher an und ließ mich auf das verschlissene Sofa sinken. Meine Eltern machten unterdessen den Abwasch. Als auf dem dunklen Bildschirm das weiße Rauschen erwachte, blickte ich misstrauisch hinaus auf unseren Balkon. Es wäre ja möglich gewesen, dass jemand an der Fassade hochgeklettert war und unsere Eigenbau-Antenne geklaut hatte, aber es schien alles in Ordnung zu sein. Dann sah ich zu Mama hinüber, brachte aber kein Wort hervor. Sie hatte die Arme im Spülwasser und schrubbte die Teller, die mein Vater anschließend abtrocknete. Beide erledigten diese Arbeit in absolutem Schweigen, was nichts Gutes bedeutete.
Normalerweise musste ich nach dem Abendessen den Fernseher extra laut aufdrehen, weil meine Mutter dann anfing zu singen – und mein Vater leider auch, obwohl er gar nicht singen konnte. Und wenn sie einmal nicht sangen, unterhielten sie sich über ihren Arbeitstag.
Früher einmal, in unserer alten Wohnung, hatte meine Mutter Klavierstunden gegeben. Aber nachdem sie dann ihr Klavier nicht mehr hatte, musste sie als Sekretärin arbeiten. Jetzt machte sie die Ablage und tippte endlos irgendwelchen Kram ab, weil Kopierer in Rumänien verboten waren. Manchmal war es derart viel, dass sie ihre Büroschreibmaschine mit nach Hause nehmen musste, was wiederum nur mit einer Sondergenehmigung ging.
»Das ist der mit Abstand beschissenste Job der Welt«, sagte sie immer.
»Dafür ist es was Sicheres«, entgegnete mein Vater ebenso regelmäßig.
Tata war Professor für Literatur und Textkomposition an der Universität Bukarest. Er selbst war zwar kein guter Schriftsteller, aber wie ich liebte er gute Geschichten und forschte schon sein ganzes Leben an ihren Geheimnissen. Er merkte zum Beispiel sofort, worum es bei einer Geschichte wirklich ging, was sie vorantrieb oder eingehen ließ, und dieses Wissen teilte er mit mir. Oft nach dem Abendessen (sofern nicht gesungen oder geredet wurde), ging er mit mir geduldig meine neuen Ideen durch. Und wenn wir wegen der Stromabschaltung nicht fernsehen konnten, zündete er eine Kerze an, und ich holte seine Lesebrille, und wir kuschelten uns mit unseren Büchern auf dem Sofa zusammen.
Normalerweise, selbst in den schlechten Zeiten, konnten wir es uns nach dem Abendessen nämlich trotzdem irgendwie schön machen. Doch an diesem Abend blieb mein Vater still und in sich gekehrt und stand so gebeugt, als hätten sie ihm einen Sack Steine auf den Rücken gebunden, fast so wie ein alter Mann. Und obwohl die Küche nicht weit weg war und ich beinahe die Hand nach ihm ausstrecken konnte, war er auf einmal hundert Kilometer entfernt.
Was immer ihn quälte, quälte mich nun auch.
Ich kroch hinüber zum Fernseher und drehte wie verrückt am Senderknopf, denn irgendwo musste doch der Bulgare sein. Keiner von uns sprach Bulgarisch, aber in Bulgarien hatten sie durchweg das bessere Programm. Bei Columbo auf Bulgarisch zum Beispiel tat mein Vater immer so, als verstünde er, was gerade gesagt würde, und erzählte dann irgendwelche komischen Sachen, bei denen wir uns wegschmissen vor Lachen. Was hätte ich darum gegeben, wenn es an diesem Abend auch so hätte sein können! Dann wäre alles wieder gut, und es wäre völlig unwichtig, wen sie umgebracht hätten – genau wie früher.
»Mama, hier ist nur Schnee«, rief ich mit wachsender Verzweiflung.
Meine Mutter blickte zur Uhr. »Dann guck die Nachrichten.«
»Menno.«
Seufzend trocknete sie sich die Hände ab und trat hinaus auf den Balkon, um irgendwas an der Antenne zu verstellen. Doch das Schneegestöber auf dem Bildschirm blieb, weswegen sie am Ende die staatlichen Nachrichten einschaltete.
»Aber ich will was auf dem Bulgaren«, beharrte ich. Überhaupt taten die rumänischen Nachrichten nie gut, denn dabei regten sich meine Eltern nur unnötig auf.
Und so quengelte ich weiter, bis mir meine Mutter einen Klaps auf den Hinterkopf gab. Vor einem Schwarz-Weiß-Bild des Conducătors mit Gattin verlas der Nachrichtensprecher eine Meldung. Der Conducător hatte grau melierte Haare, die, obwohl kurz, immer wie onduliert wirkten, dazu hatte er diese feiste, viel zu volle Unterlippe. Seine Frau, die graue Maus im Kostüm, durfte man übrigens nur von vorn fotografieren, damit niemand ihren großen Zinken sah. Das Paar stand vor einer Wand aus Propagandaplakaten mit dem Konterfei des Conducătors und nahm die Huldigung der Menge entgegen. Hier und da wurden Fahnen geschwenkt, unsere Trikolore mit Weizenkranz. Ich ließ mich gequält zu Boden sinken und krümmte mich, als müsse ich kotzen – bis mir meine Mutter mit dem Fuß an den Hintern tippte, damit ich endlich mit dem Theater aufhörte.
Unterdessen lief der Hauptbeitrag des Abends, denn plötzlich hörte ich den Conducător direkt. Er sprach von Patriotismus und Poesie und wie beides Hand in Hand ging.
»Nun mag sicher jeder ein schönes Liebesgedicht«, sagte er. »Und doch bleibt die sozialistische Lyrik die höchste Kunstform überhaupt.«
Meine Mutter rief nach meinem Vater. »Lucian!«
Er trat näher, und ich war endgültig still. Von unserem dünnen Teppich aus sah ich ihn an.
Der Conducător trug nun einige Zeilen eines Gedichts vor. Ich kannte den Dichter, von dem die Verse stammten, denn wir hatten ihn schon im Unterricht durchgenommen. Das Gedicht pries den Staat und die Kommunistische Partei.
Aber ich kannte auch andere Gedichte desselben Dichters – solche, die nicht im Unterricht vorkamen. Ich kannte sie, weil der Dichter einst ein Studienfreund meines Onkels Andrei gewesen war und so manches geschrieben hatte, das er eigentlich nie hätte schreiben dürfen. Es waren auch nicht unbedingt Lobeshymnen auf den Staat, sondern Gedichte, die meinen Onkel Andrei bewogen, selbst Gedichte zu schreiben. Wodurch er eines Abends unter die Räder einer Trambahn kam. Wodurch ihm wiederum das Rückgrat gebrochen wurde.
Nervös blickte ich meinen Vater an.
»Wunderschöne Zeilen!«, erklärte der Nachrichtensprecher stolz. »Mit weniger sollten sich unsere Dichter nicht zufriedengeben.«
Jedoch aus Tatas Gesicht war jegliche Farbe gewichen. Als er dann in Schluchzen ausbrach, fühlte sich mein ganzer Körper plötzlich wie taub an, und ich hätte am liebsten auch losgeheult. Doch ehe das passierte, zog mich meine Mutter vom Sofa und bugsierte mich in mein Zimmer.
»Keine Angst, ihm ist nur nicht gut.« Doch als jemand, der Geschichten sammelte, wusste ich, dass das gelogen war.
Ich wusste ja auch, dass mein Onkel, der Dichter, seit einer Woche nicht mehr nach Hause kam. Und dass mein Vater ihn seit heute für tot hielt.
Aber eine Lüge erkennen und die Wahrheit wissen, sind zwei grundverschiedene Dinge.
Mein Vater weinte nicht nur, weil er um seinen Bruder fürchtete, jenen Bruder, der gefährliche Gedichte schrieb.
Er hatte auch Angst um mich.
Solange ich denken kann, bin ich abends mit der Stimme meines Vaters im Ohr eingeschlafen. Meine Mutter sagte, er hätte mir schon Geschichten erzählt, als ich noch zusammengerollt in ihrem Bauch lag. Diese Geschichten, so meine Mutter, seien irgendwie in den weichen Organismus in ihrem Bauch eingesickert – und hätten mich am Ende zu dem gemacht, was ich bin.
Meine Lieblingsgeschichte hatte keinen Schluss. Es war die Geschichte, aus der ich meinen Namen habe, »Die listige Ileana«, ein typisches rumänisches Volksmärchen, steinalt. In diesem Märchen muss eine gewitzte Prinzessin nacheinander drei böse Prinzen besiegen, von denen jeder immer noch schlimmer ist als der vorherige. Aber da mein Vater jeden Abend von vorn anfing, kamen wir nie bis zum Ende. Manchmal dämmerte er sogar vor mir weg. Dann wurden seine Worte träge und verwaschen, während ihm der Kopf auf die Brust sank und die Brille von seiner langen Nase rutschte. Meistens jedoch war ich es, die mittendrin einschlief.
»Ich bleibe die ganze Nacht wach«, sagte ich immer. »Also musst du auch wach bleiben.«
Worauf mir Tata feierlich schwor, nie und nimmer einzuschlafen. Natürlich alles nur Quatsch und Teil jenes abendlichen Rituals, das auch die Geschichte von der listigen Ileana zu etwas Besonderem machte.
An dem Abend, als Tata bei den Nachrichten weinte, lag ich lange wach. Die Decke bis ans Kinn hochgezogen, wartete ich auf ihn und meine Geschichte. Dabei sagte ich mir, dass eigentlich doch gar nichts Schlimmes passiert sei. Tata konnte doch gar nicht wissen, ob mein Onkel wirklich tot war. Wenn ihn die Securitate geschnappt hatte, konnte sie ihn auch wieder freilassen. Alles konnte wieder ganz normal werden. Angestrengt horchte ich ins Wohnzimmer, ob mein Vater nicht doch noch kam. Ich kniff die Augen zusammen und schwor mir, diesmal ganz bestimmt wach zu bleiben. Bis ich wusste, wie meine Geschichte ausging.
An diesem Abend aber kam mein Vater nicht.
Und am nächsten Abend auch nicht.
Auch nicht am übernächsten.
Als ich am Donnerstagmorgen aufwachte, fühlte ich mich leer. Die Geschichten, die mich zu dem machten, was ich war, verflüchtigten sich, ohne dass neue nachkamen. Vor drei Tagen hatte mein Vater geweint, seit drei Tagen hatte ich beim Essen kein Wort mehr gesagt und nur zugesehen, wie meine Eltern ebenso schweigend den Abwasch erledigten. Seit drei Tagen auch musste ich früh ins Bett, früher als sonst, und kein einziges Mal gab es eine Geschichte, nicht einmal eine vorgelesene. Noch schlimmer war, dass die Besorgnis meines Vaters offenbar nicht nur meinem Onkel galt. Denn jedes Mal, wenn ich meine Gesammelten Werke hervorholte, sah ich die Angst in seinen Augen.
Es fühlte sich an, als wäre der Boden unserer Wohnung plötzlich aus Glas. Man musste auf Zehenspitzen gehen, weil schon beim kleinsten Fehltritt unsere ganze Welt in den Abgrund stürzen konnte. Etwa wenn ich beim Abendessen wieder über die ewigen Auberginen oder die eklige Leber meckerte. Oder auch nur, wenn ich, wie einmal geschehen, mir vor dem Schlafengehen nicht die Zähne putzen wollte. Nichts davon war wirklich harmlos.
Und dass wir seit einer Woche Sommerferien hatten und ich den ganzen Tag allein zu Haus war, verbesserte die Situation auch nicht gerade. Es ging aber nicht anders. Die Eltern meiner Mutter lebten irgendwo in den Karpaten, am anderen Ende der Welt. Aber sogar wenn sie gleich um die Ecke gewohnt hätten, wäre Mama nicht mehr auf sie zugegangen. Mama war nämlich schon früh von zu Hause abgehauen und redete nicht mehr mit ihnen. Seit dem Tag meiner Geburt hatte sie nicht einmal telefoniert. In den vergangenen Jahren passte Onkel Andrei auf mich auf (der zu der Zeit noch nüchterne Phasen hatte) oder eben meine Bunică, meine Großmutter väterlicherseits, damals schon verwitwet. Mittlerweile waren nicht nur Bunic und Bunică tot, sondern womöglich auch Onkel Andrei. Das heißt, falls er nicht doch untergetaucht war. So oder so, es sah nicht gut aus.
Nachbarn, denen meine Eltern vertrauten, gab es nicht. Auch keine Freunde, die über jeden Zweifel erhaben waren. Irgendeinen Zweifel gab es immer.
»Du willst die Alte im Ernst in unsere Wohnung lassen?«, fragte meine Mutter fassungslos und meinte die nette Rentnerin, die sie beide seit Jahren kannten. »Sie fasst garantiert alles an und schnüffelt in meinen Rezepten.«
»Aber wovor hast du Angst?«, lachte mein Vater. »Was soll sie hier schon finden?«
»Alles. Alles und jedes – und nichts«, sagte meine Mutter.
Aus meiner Sicht war es natürlich ein großer Sieg, endlich unbeaufsichtigt zu Hause bleiben zu dürfen. Monatelang hatte ich meine Eltern mit dieser Sache genervt, denn ich fand, zehn war wirklich alt genug. Meine Mutter dachte das übrigens auch, sie war schon immer ein Verfechter weiblicher Unabhängigkeit gegenüber männlichen Bedenkenträgern. Nur mein Vater hielt mich noch für zu unreif. Er rechnete tatsächlich mit dem Schlimmsten, sobald ich auf mich allein gestellt war.
Zu unser aller Unglück sollte er recht behalten.
Mein erster Fehltritt betraf den Ventilator, von dem ich grundsätzlich die Finger lassen sollte.
Aber es war eigentlich nicht meine Schuld. Überall herrschte diese schreckliche Leere, niemand sagte mehr etwas oder sang beim Abwasch. War es da ein Wunder, dass die Versuchung übermächtig wurde, dieses Vakuum irgendwie zu füllen? An Tag drei hatte ich begriffen, dass mein Vater zugleich zornig war und Angst hatte, dass Onkel Andrei etwas zugestoßen war und vielleicht nie zurückkehren würde. Doch niemand hatte es für nötig gehalten, mir reinen Wein einzuschenken, weswegen die Leere in mir wuchs und wuchs. Und später, allein in der leeren Wohnung, war ich dem Wahnsinn nahe.
Als dann der Strom wieder anging, wollte ich wenigstens den Ventilator zum Reden bringen.
Was für ein Triumph, als ich dann am Tisch saß, und der Ventilator blies mir seine kühle Botschaft unter die Bluse. Na gut, wenn meine Eltern Geheimnisse vor mir hatten und mir nichts mehr sagen wollten, dann konnte ich das auch. Und die erste Übertretung zog schnell weitere nach sich. So sollte ich ja meine Hausaufgaben machen, doch das konnten sie vergessen. Ich schob mein Buchreferat beiseite und auch die Bio-Arbeitsblätter, um Platz zu schaffen für meine Gesammelten Werke.
Die Gesammelten Werke waren eigentlich nur eine einfache Heftmappe, deren dünne Pappdeckel über und über mit Glitzerstickern beklebt waren. Doch im Innern gab es alles, von herausgerissenen Spiralblockseiten über gelbe Notizblätter bis hin zu wunderschönem Tonpapier. Die Gesammelten Werke waren, nun ja, mein Lebenswerk. Sie enthielten unschätzbare Handschriften meiner Geschichten, die es, zusammengenommen, mit den dicksten Wälzern im Bücherschrank meines Vaters aufnehmen konnten. Es gab Geschichten, die ich aus anderen Büchern abgeschrieben hatte – mit Änderungen überall dort, wo mir etwas nicht gefiel. Und es gab Geschichten, die mir von anderen Leuten erzählt worden waren, ohne Garantie, was den Wahrheitsgehalt anging. Die besten Geschichten hingegen waren die, die ich selber erfunden hatte. Doch allen Geschichten gemeinsam war, dass ich nie versuchte, sie auf irgendeine Art zu binden. Meine Gesammelten Werke waren eine Loseblattsammlung und sollten es bleiben, wodurch alte Versionen ständig durch neue ersetzt wurden und die Mappe mit der Zeit immer weiter anschwoll und Tata mir irgendwann einen alten Gürtel geben musste, um alles zusammenzuhalten.
An dem fraglichen Morgen wusste ich zunächst nicht, was ich schreiben sollte und musste daher erst einmal scharf nachdenken. Ich holte alle meine Buntstifte aus der zerbeulten blauen Blechschachtel, legte sie der Größe nach vor mich hin und knackte, ganz wie Onkel Andrei, mit den Fingern. Jetzt, da mir mein Vater keine Gutenachtgeschichten mehr erzählte, war die Arbeit an den Gesammelten Werken umso wichtiger. Nichts durfte verloren gehen.
Aber mir fiel nichts ein.
Eine ganze Weile starrte ich wie blöd auf die leere Seite, und meine Hoffnung auf den rettenden Einfall schwand mit jeder Sekunde. Gerade als ich aufgeben und schon aus purer Verzweiflung das Mathebuch hervorholen wollte, klopfte es an der Tür.
Ich erstarrte. Bisher war noch nie jemand gekommen, wenn meine Eltern nicht da waren. Aber mein Vater hatte mir für diesen Fall genaue Anweisungen gegeben, und ich bemühte mich daher, ruhig zu bleiben.
»Geh einfach nicht an die Tür«, hatte er gesagt. »Und sei mucksmäuschenstill.«
»Du meinst, ich soll mich tot stellen?«, fragte ich und fand das Ganze damals noch komisch.
Er verdrehte genervt die Augen. »Von mir aus auch das. Stell dich tot. Solange du nicht die Tür aufmachst.«
Also blieb ich, wo ich war, und tat nichts. Nur der Ventilator lief weiter. Dann klopfte es abermals.
»Hallo? Jemand zu Hause?«
Ich rührte mich nicht. Der Mensch an der Tür würde irgendwann auch wieder gehen. Ganz bestimmt würde er das tun, er musste ja. Mein Vater hatte mit keinem Wort erwähnt, was zu tun war, wenn er nicht ging.
Doch dann, das hörte ich genau, fummelte der Unbekannte an unserem Schloss.
Mit einem Aufschrei rannte ich durch die Küche zur Tür und hielt die Klinke fest.
»Nicht reinkommen!«, rief ich.
Ich hörte, wie der Mann im Flur zurückwich. »Gott, hast du mich erschreckt. Ich habe zweimal geklopft.«
»Ich rufe die Polizei … Sie Einbrecher!«
»Ich bin kein Einbrecher, ich bin nur der Elektriker. Die Hausverwaltung hat mir den Schlüssel gegeben, ich muss bei euch ein paar Leitungen neu verlegen.«
Ich stutzte, denn es hörte sich durchaus vernünftig an.
»Hör mal, Kleine, ich muss auch noch in andere Wohnungen. Lässt du mich jetzt rein oder muss ich erst den Dispatcher verständigen?«
»Welche Leitungen denn?«, fragte ich. »Ich merke, wenn Sie mich reinlegen wollen. Ich habe ein ganzes Buch über elektrotechnische Normen gelesen.«
Das stimmte nur zur Hälfte, ich hatte größtenteils nur die Bilder angeschaut. Mein Vater hatte das Technikbuch aus dem Müllcontainer der Bibliothek gerettet. In der Bibliothek wurden dauernd Bücher weggeschmissen, manchmal aus den absonderlichsten Gründen. Tata machte so etwas eigentlich nicht, aber er bekam sonst überhaupt keine Bücher mehr für mich, denn ich las immer schneller, als er Nachschub besorgen konnte.
Dem Einbrecher vor der Tür hatte es offenbar die Sprache verschlagen. Das passierte mir öfter, irgendwie hatte ich diese Wirkung auf die Leute. Aber dann sagte er doch etwas. Er sagte: »Eure Wohneinheit verbraucht zu viel Energie. Dein Vater hat die Verwaltung gebeten nachzusehen, warum das so ist. Das verstehst du doch, oder? Ich bin hier, weil mich dein Vater herbestellt hat.«
Mit einer bösen Ahnung blickte ich auf den Ventilator.
Wenn ich wegen dieses Elektrikers meinen Vater anrief, konnte das dazu führen, dass ich das mit dem Ventilator beichten musste. Rief ich aber meine Mutter an (die für gewöhnlich nachsichtiger war), konnte es sein, dass sie bei ihrem Chef wegen des Privatgesprächs Ärger bekam.
So oder so, ich war erledigt, meine Tat offenkundig und meine Freiheit so gut wie verloren. Zähneknirschend drehte ich den Schlüssel um und machte die Tür auf, aber nur einen Spaltbreit. Draußen stand ein Mann mit einem grauen Overall, Kappe und Werkzeugkoffer. Er sah tatsächlich wie ein Elektriker aus, obwohl ich natürlich wusste, dass sich Einbrecher zuweilen verkleideten. Ich nahm mir vor, ihm genau auf die Finger zu sehen. Und wenn er etwas machte, das nicht typisch für Elektriker war, wollte ich mir meine Gesammelten Werke schnappen und zu den Nachbarn laufen, um von dort die Polizei zu verständigen.
Natürlich waren meine Gesammelten Werke beim Laufen eher hinderlich, so schwer und sperrig das Konvolut mittlerweile war. Aber zurücklassen wollte ich es auch nicht, lieber starb ich im Kampf.
»Lässt du mich jetzt rein oder nicht?«, sagte der Einbrecher.
Ich machte die Augen schmal und öffnete die Tür, aber nur gerade so weit, dass er durchkam. Durch die Küche folgte ich ihm ins Wohnzimmer und ließ ihn dabei keine Sekunde aus den Augen. Er guckte hinter die Möbel und klopfte die Wände ab. Ich schwang meinen Hintern auf die Arbeitsplatte neben dem Herd und ließ demonstrativ meine schmutzigen Füße baumeln. Neben dem Herd befanden sich auch die großen Kochmesser, das Schneidbrett und der Brotkasten. Aber es waren die Messer, zu denen ich immer wieder hinübersah. Wenn der Einbrecher einer von der üblen Sorte war, könnte er versuchen, mich umzubringen. Spätestens dann bräuchte ich eines dieser Messer. Um ihn nämlich zu erstechen, ehe ich mit meinen Gesammelten Werken das Weite suchte. Alles in allem also eine packende Situation – und jede Menge zu schreiben, wenn endlich wieder Ruhe eingekehrt war.
Der Einbrecher setzte seinen Werkzeugkasten ab und sagte halb nach hinten: »Sag mal, hat deine Mutter nichts dagegen, wenn du dich so auf die Arbeitsplatte setzt?«
»Nein, sie findet das gut.«
»Hast du nichts Vernünftiges zu tun?«
»Ich tue etwas Vernünftiges. Ich halte Sie davon ab, uns zu beklauen. Wir haben einen schönen Fernseher.«
»Ich sagte doch, ich bin Elektriker. Und euer Fernseher ist ein ziemlich billiges Modell.«
Er demontierte eine Metallabdeckung an der Wand und fummelte an den elektronischen Bauteilen dahinter. Er schraubte auch die Telefondose auf, zog ein paar Drähte heraus, knipste sie durch und drehte sie wieder zusammen, was aber total langweilig war. Ich sah zu meinen Gesammelten Werken hinüber und überlegte, welchen Buntstift ich später für den Werkzeugkasten brauchte. Völlig offen war zu diesem Zeitpunkt, was die Pointe der ganzen Geschichte war.
Würde der Einbrecher das Mädchen umbringen und alle Wertsachen stehlen – ehe er merkte, dass er in die falsche Wohnung eingebrochen war?
Oder würde das Mädchen in letzter Sekunde fliehen – um später durchblicken zu lassen, dass sie genauso kriminell war wie der Einbrecher?
Als der Elektriker irgendwann auch in mein Zimmer ging, hatte ich jegliches Interesse an ihm verloren. Es war offensichtlich, dass er nichts weiter war als ein Elektriker, und das war langweilig. Die Geschichte in meinem Kopf war viel besser. Noch ehe der Elektriker weg war, saß ich am Tisch und kritzelte fiebrig in meinen Gesammelten Werken. Er sagte mir noch, ich bräuchte meinem Vater nichts von seinem Besuch zu sagen, der Verwalter würde sich melden. Für mich hatte das den Vorteil, dass ich die Sache mit dem Ventilator erst mal nicht zu beichten brauchte, worüber ich sehr erleichtert war.
Beim Abendessen fragte mein Vater zwar: »Und was war heute bei dir los?«
Mir wäre fast eine Zwiebel im Hals stecken geblieben, aber ich brachte immerhin die gequälte Antwort heraus: »Nichts, gar nichts. Nur todlangweilig alles.«
Mein Vater nickte, ohne richtig hinzuhören. Nur meine Mutter guckte plötzlich so misstrauisch, dass ich anfing, wie wild die eklige Suppe in mich reinzuschöpfen.
Den ganzen Abend schrieb ich weiter an meiner neuen Geschichte. Am nächsten Morgen war mein Kopf so voller verkleideter Einbrecher, dass ich den realen Elektriker glatt vergessen hatte.
Bis zum Wochenende merkte auch niemand, dass etwas mit dem Telefon nicht stimmte. Meine Mutter war die Erste, die sich über die schlechte Leitung beklagte. Und meinem Vater fiel auf, dass man den Ton vom Fernseher nicht lauter stellen konnte. Später, als meine Eltern wieder auf der Arbeit waren, bekam ich alle möglichen komischen Anrufe. Wenn ich dann dranging, war lediglich ein gespenstisches Rauschen und Knacken zu hören. Wie von Geistern, die sich einen Telefonscherz erlaubten. Aber da meine Eltern nicht an Geister glaubten, sagte ich ihnen auch nichts von den Geisteranrufen. Nur mir wurde immer mulmiger davon.
Hätten wir damals die Ohren gespitzt, hätten wir sie hören können.
Hätten sie gehört, die kleinen Wanzen mit ihren Saugrüsseln, die auf ihren dürren Beinchen durch die Kabelkanäle flitzten und unsere Geheimnisse stahlen. Aber irgendwie dachten wir immer noch, wir wären wenigstens in unseren eigenen vier Wänden sicher. Als wir merkten, was los war, war es zu spät.