Das Buch
Tausende von Jahren in der Zukunft: Die Menschen haben den Atomkrieg überlebt, indem sie unterirdische Städte bauten: die Amtrak-Föderation. Sie wollen die Oberfläche zurückerobern, die von Mutanten beherrscht wird. Steve Brickman, Pilot der Amtrak-Föderation, erhält seinen bisher gefährlichsten Auftrag: Er soll als Mutant verkleidet ins geheimnisvolle Ne-Issan, das Reich der Eisenmeister, vorstoßen. Die stolzen Krieger, deren Vorfahren aus Japan stammen, treiben Handel mit den Präriemutanten und befahren mit Raddampfern die großen Seen. Steve soll zwei mit paranormalen Kräften begabte Mutanten herausschmuggeln: seinen Freund Cadillac und die schöne Clearwater. Doch Ne-Issan wird von stolzen Samurai bewacht, die kurzen Prozess mit Eindringlingen machen …
Die Amtrak-Kriege:
Wolkenkrieger
Erste Familie
Eisenmeister
Der Autor
Patrick A. Tilley, 1928 in Essex geboren, studierte am King’s College der University of Durham Kunst und arbeitete nach seinem Abschluss 1955 als Grafikdesigner in London. 1968 gab er diese Laufbahn auf, um sich dem Schreiben zu widmen: Er begann mit dem Verfassen von Drehbüchern für Filme und TV-Serien und zog in die USA. 1975 erschien sein erster Roman Fade-Out, 1981 folgte Mission, der schnell Kultstatus erlangte. Die Amtrak-Kriege, deren erster Band Wolkenkrieger 1983 erschien, ist seine erfolgreichste Science-Fiction-Romanserie.
Mehr über Patrick Tilley und seine Romane erfahren Sie auf:
PATRICK TILLEY
DIE
AMTRAK
KRIEGE
EISENMEISTER
Dritter Roman
Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Ronald M. Hahn
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
THE AMTRAK WARS – BOOK 3: IRON MASTER
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Taschenbuchausgabe 04/2020
Copyright © 1987 by Patrick Tilley
Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe
und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,
unter Verwendung eines Motivs von
Shutterstock/Tithi Luadthong
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-25059-1
V001
www.diezukunft.de
Für Sophie,
Mike und Adrienne
Das Folgende ist ein Auszug
aus dem in
COLUMBUS,
der führenden Intelligenz der Föderation,
gespeicherten privaten Archiv
der Ersten Familie
ZUGRIFFSEBENE: NUR FF-1 bis 5
EISENMEISTER (bei den Mutanten übliche Gattungsbezeichnung)
Eine Rasse reinhäutiger haarloser Anthropoiden, die den östlichen Küstenstreifen Amerikas von Maine bis North Carolina bewohnen. Ihr oberirdischer Einflussbereich (unter dem Namen Ne-Issan bekannt) schließt den westlichen Teil der Appalachen ein und erstreckt sich über Ohio bis Cleveland, einem Schifffahrtsknotenpunkt der Großen Seen am Ufer des Eriesees.
Die Ursprünge der Eisenmeister lassen sich in den illegalen Einwanderergruppen verschiedener asiatischen Subspezies finden, denen es vor dem Holocaust gelungen ist, die größeren urbanen Zentren des Nordostens zu infiltrieren. Zwischen 2300 und 2400 hat es einen geringen, doch signifikanten Zustrom von Bootsleuten gegeben; Asiaten, die sich einer als Japanisch bekannten Sprache bedienten. Nach ihrer Verbündung mit den bereits ansässigen Gruppen ähnlicher Herkunft haben die Bootsleute rasch die Macht ergriffen und sind seither die dominante ethnische Gruppe.
Auf der Stufenleiter der Evolution stehen die Eisenmeister halbwegs zwischen den Wagnern und den Mutanten. Offiziell als subhumane Spezies eingeordnet, sind die Eisenmeister dennoch des Lesens und Rechnens kundige Individuen mit großem manuellem Geschick, das sich in Ackerbau, Fischen, Holz- und Metallbearbeitung (besonders Waffen), Weben und Mauern mit behauenen Steinen ausdrückt.
Im Verlauf eines Prozesses genetischer Mutation, der allen subhumanen Spezies und niedrigeren Tierarten gemeinsam ist, sind die Eisenmeister gegen atmosphärische Strahlung immun geworden, aber auch hier zeigt sich der nachteilige Einfluss des Erwerbs von Immunität auf andere Lebensfunktionen. Die offenkundigsten Nebeneffekte im Fall der Eisenmeister sind geringe Körpergröße, gelbliche Haut und völliges Fehlen der Körperbehaarung, aber der größte Schaden betrifft ihr Kreislaufsystem. Er zeigt sich in einem häufigen Auftreten der Hämophilie und dünnwandiger Blutgefäße, die unter Stresseinwirkungen platzen und zu tödlichen inneren Blutungen führen können.
Durch Bushidō (siehe weiter unten) sind diese angeborenen Defekte im positiven Sinn umgedeutet worden und haben zu einer gelassenen, disziplinierten Lebensauffassung und einer ergebenen Akzeptanz des Todes geführt.
Die Gesellschaft der Eisenmeister weist eine nach einem Modell des 17. Jahrhunderts gestaffelte Klassenstruktur auf, an deren Spitze die Krieger (Samurai) stehen. Unterhalb der Samurai stehen in absteigender Ordnung Verwaltungsbeamte und Schreiber, Handwerksmeister, Kaufleute und Bauern. Die Pyramide stützt sich in hohem Maße auf Sklavenarbeit, die durch im Tauschhandel erworbene Mutanten verrichtet wird. Auf allen Ebenen der Gesellschaft spielen die Frauen eine sekundäre, untergeordnete Rolle als Gattinnen, Hausfrauen und Gebärerinnen.
Die höchste Gewalt ist im Shōgun verkörpert, Haupt der führenden Samurai-Familie und nominelles Oberhaupt der Regierung (bakufu). Der Shōgun wird in der Theorie durch die Oberhäupter der übrigen Samurai-Familien unterstützt, die den Titel Landfürsten führen.
Wie dieser Titel andeutet, beziehen die Landfürsten ihre Macht und ihren Reichtum aus dem Landbesitz und der ihnen direkt unterstellten Bevölkerung. Außerdem führen und unterhalten sie Privatarmeen, die (wiederum in der Theorie) den Diensten des Shōgun und der Wahrung von Recht und Ordnung verpflichtet sind.
Wie zu erwarten, sind die Hauptmerkmale einer derartigen Gesellschaft (a) ihr kriegerischer Charakter und (b) ihre Hochachtung für Autorität und Tradition. Im Laufe der Jahre haben sich diese Einstellungen in einem Glaubenssystem (Bushidō) niedergeschlagen, das großen Wert auf die Pflicht dem jeweiligen Vorgesetzten (Giri) gegenüber legt, an der gemessen jedes menschliche Gefühl (ninjō) zweitrangig ist. Die Folgen sind unbedingter Gehorsam und unverbrüchliche Loyalität, die an erster Stelle dem jeweiligen Landfürsten und durch ihn dem Shōgun gelten.
Die Erbfolge vollzieht sich in der männlichen Linie, und manche Shōgunate führen das Zepter mehrere Generationen lang, bis sie von einem stärkeren Rivalen verdrängt werden. Da die Führerschaft der Ersten Familie unbestritten und unangefochten bleibt, verlangt diese systematisierte Wandelbarkeit nach einer Erklärung. Die Eisenmeister betrachten den Shōgun als Gleichen unter Gleichen; einen Landfürsten, dessen Familie Vorrang durch Zustimmung seiner Standesgenossen oder durch Waffengewalt erhalten hat. Als Folge davon hängen das Erlangen und Bestehen der Macht des Shōgunats letztlich von Allianzen mit anderen Landfürsten ab, deren Loyalität in großem Umfang mit Eigeninteressen verknüpft ist – eine nachteilige Nebenerscheinung aller offenen Systeme.
Obwohl durch eine Kriegerkaste beherrscht, konzentriert sich die Haupttätigkeit der Eisenmeister auf den Binnenhandel. Bodenschätze, landwirtschaftliche und handwerkliche Erzeugnisse werden auf der Basis von Angebot und Nachfrage von einem Gebiet ins andere verschifft. Alle Landfürsten sind zu jährlichen Unterhaltszahlungen (Steuern) an ihr Shōgunat verpflichtet. Der von ihnen zu entrichtende Anteil errechnet sich prozentual aus den Aktivposten ihrer Besitzungen. Da die Schätzungen von Regierungsagenten vorgenommen werden, hat sich diese Einrichtung in der Vergangenheit als potenzielle Quelle von Unzufriedenheit erwiesen.
Diese Zahlungen ergeben gemeinsam mit dem Verkauf von Handelslizenzen und Fertigungsmonopolen die öffentlichen Einnahmen, die die bakufu benötigt, um die verschiedenen Regierungsgeschäfte wahrzunehmen.
Alle Überschussgüter werden mittels eines Prä-Holocaust-Mediums gekauft und verkauft, das als Geld bekannt ist. Es kommt in Form dünner, rechteckiger Stücke aus gepresstem Holzstoff (Dollars) und kleiner Metallscheiben (Yen) vor, die jedes für sich eine bestimmte Anzahl von Tauscheinheiten (Währung) repräsentiert, seinen Besitzern ein Äquivalent an Kaufkraft verleiht und auf diese Weise die eigenartige Vorstellung persönlichen Reichtums zulässt – eine aus der Mode gekommene Vorstellung, von der sich die Föderation klugerweise distanziert hat.
ENDE DES AUSZUGS
Siehe auch die Stichworte CHINKS, DINKS, GOOKS, JAPSE, FLEISCHKLOPSE, NUDELFRESSER, SCHLITZAUGEN, GELBE GEFAHR!
PROLOG
Cadillac übergab seiner Dienerin den Bademantel, setzte sich in den großen Badekübel und ließ sich hinabsinken, bis das dampfende Wasser sein Kinn umspülte. Zwei andere weibliche Totengesichter – nackt bis auf ihre baumwollenen weißen Kopftücher – standen je eine links und rechts von ihm im Wasser, bereit, seinen gebräunten Körper zu säubern und zu massieren. Er bedeutete ihnen, anzufangen, dann schloss er die Augen und dachte wieder einmal über sein Glück nach. Obwohl er die Zukunft in den Sehsteinen erblicken konnte, hatten sie ihm nicht entschleiert, dass innerhalb weniger Monate nach dem Abzug des Prärievolkes alles in seiner Reichweite sein würde, was er sich je gewünscht hatte. Macht, Verantwortung, eine seinen Fähigkeiten angemessene Aufgabe, und – am wichtigsten von allem – Ansehen.
Sein Leben hatte sich grundlegend verändert, und zum ersten Mal fühlte er sich völlig zufrieden. Die Wärme des Wassers durchdrang seinen Körper, löste sanft Fleisch und Knochen auf. Die Augen vor dem flackernden gelben Licht der Laternen geschlossen, hatte er die Empfindung, dahinzutreiben; ohne Form; wie ein Geistwesen, das durch Mo-Town in den Uterus seiner Erdmutter einfließt.
Er schickte seinen Geist auf die Reise …
Kurz nachdem Steve Brickman in den morgendlichen Himmel emporgestiegen war, verfolgt von mehreren Haufen Bären, begann Cadillac mit dem Bau eines zweiten Donnerkeils aus den Teilen, die der Clan vor dem Wolkenkrieger versteckt hatte. Versehen mit den Fähigkeiten und Kenntnissen, die er aus Steves Geist gezogen hatte, fand er diese Aufgabe ziemlich einfach. Und auch außerordentlich befriedigend, denn sein Donnerkeil war schlanker und stärker als Bluebird, das notdürftige Gebilde, das er Steve zu bauen geholfen hatte und den zu fliegen er Cadillac gelehrt hatte.
Cadillac lächelte, als er sich erinnerte, wie sorgfältig er darauf geachtet hatte, es nicht zu rasch zu lernen. Brickman war zurück in die dunkle Welt der Sandgräber gegangen, ohne zu erkennen, dass er den Schlüssel zu einem Schatz im Haus der Informationen fortgegeben hatte. Dank der von Talisman übergehenden Kraft hatte er eine mentale Kopie von allem angefertigt, was der Wolkenkrieger wusste; von jeder Kenntnis, die er erworben, von allem, was er in seinem ganzen Leben gelernt hatte. Jetzt konnte er über die ganze Bandbreite der Talente, Fähigkeiten und Kenntnisse Brickmans verfügen.
Ja … der Verlust Clearwaters war ein geringer Preis für solche Gaben.
Die Flugmaschine bezog ihre Energie von einem Elektromotor, den sie einem der in der Schlacht mit der eisernen Schlange abgestürzten Himmelsfalken entnommen hatten. Es war derselbe Motor, den Brickman an Bluebird angebracht und dann, kurz vor seiner Flucht, wieder abgenommen hatte, weil er ihn nicht zum Laufen hatte bringen können. Cadillac tat, was Steve sich in seiner Hast nicht hatte leisten können: er nahm den Motor auseinander, überprüfte jedes Teil, baute ihn mit liebevoller Sorgfalt wieder zusammen und arbeitete so lange daran, bis er einwandfrei funktionierte.
Brickman jetzt in der Luft ebenbürtig, hob er von dem Fels oberhalb der Siedlung ab und flog mit derselben Furchtlosigkeit über den Rand des schroffen Felsens ins Leere. Er spürte, wie ihn der Wind umfing, fühlte seinen kühlen, süßen Atem auf dem Gesicht; ließ sich von dem glückseligen Gefühl der Freiheit überwältigen, während er in weiten Spiralen emporgetragen wurde, wie die goldenen Adler, die auf den Bergen horsteten.
Höher und höher stieg er in die Himmelswelt, mit ihren sich ständig verändernden, von Sonnenlicht durchtränkten Weiten, stieg und sank zwischen den hoch aufragenden Wänden der Wolkenschluchten. Von Weitem sahen sie wie riesenhafte unbezwingliche windgeformte Schneewehen aus, aber die gekurvten Hänge und die sich türmenden, ihre Erstürmung herausfordernden Gipfel schmolzen bei seiner Annäherung dahin, lösten sich zu einem feinen, formlosen Schleier auf, der seine Flugmaschine einhüllte und die Sonne verschluckte; wie die Morgennebel, die sich in der Zeit des Gilbens auf die Erde legten. Denn hier war das Reich der Himmelsstimmen; eine zauberische Landschaft, die nur mit den Augen des Geistes sichtbar war; heiter, Ehrfurcht gebietend, majestätisch – von derselben vergänglichen Schönheit wie ein Regenbogen –, für alle Zeiten dem Zugriff der Sterblichen entzogen.
Als er hinabsah, wirkte alles so klein. Die Probleme, die am Boden so schwer wogen, verloren hier oben jede Bedeutung. Das Freiheitsgefühl war so überwältigend, dass er zwei ganze Stunden lang oben blieb. Sogar nach der Landung war sein Gefühl noch so abgehoben, dass seine Füße kaum den Boden zu berühren schienen.
Mr. Snow ließ ihn in seiner typischen Klugheit ein paar Tage lang im Glanz der Selbstversunkenheit schweben, dann brachte er ihn mit einem Ruck auf den Boden zurück, indem er ihm von dem Handel berichtete, den er mit den Eisenmeistern abgeschlossen hatte. Wie er es erzählte, hörte es sich so einfach an: ein Donnerkeil, vollständig und unbeschädigt, dazu ein Wolkenkrieger in gleicher Verfassung im Austausch gegen neue, lange, mächtig scharfe Eisendinge. Gewehre …
Cadillac brachte nichts als ein verblüfftes Starren zustande. Es gab keinen Donnerkeil. Die Wracks der von der eisernen Schlange freigesetzten Maschinen waren in Stücke zerlegt worden. Und der Wolkenkrieger war längst fort.
Mr. Snow, der am anderen Ende der Gesprächsmatte saß, las seine Gedanken und antwortete ihm mit finsterem Nicken. »Du hast recht. Ich nehme an, das heißt, dass du einspringen musst.«
Süße Himmelsmutter! Cadillac fröstelte bei diesem Gedanken. Denn kein Mutant war je von den Feuergruben Beth-Lems zurückgekehrt.
Mr. Snow wischte seine Einwände beiseite. Eine solche Undankbarkeit! Bedankte er sich so bei Talisman, der einen Wortschmied und Seher aus ihm gemacht hatte und ihn jetzt jedem Wolkenkrieger ebenbürtig stellte? Gaben, wie er sie erhalten hatte, mussten zum Wohle des Prärievolkes genutzt werden!
»Vergiss nie, was ich dir jetzt sage«, schloss er und drohte mit dem Finger. »So etwas wie eine kostenlose Mahlzeit gibt es nicht.«
»Kostenlose Mahlzeit?«
Mr. Snow schien seine Frage überhört zu haben; er fuhr fort, indem er den Plan eingehender erläuterte. Cadillac sollte nach Norden zum Yellow-Stone-River fliegen, sich dann nach Osten in Richtung des Handelspostens im Gebiet des San’Paul wenden. Von dort aus musste er dem Lauf des großen Flusses folgen, des ersten von mehreren großen Flüssen. Der letzte, der von Norden nach Süden verlief, hieß Iri. Jenseits seines östlichen Ufers lag das Land der Eisenmeister und das Reich Yama-Shitas, des Fürsten der Raddampfer. Den Handelsposten zu erreichen bedeutete eine gefahrvolle Reise über ein Gebiet, das von den feindlichen D’Troit und C’Natti gehalten wurde, aber wenn er hoch genug flog, konnte er den Bolzen ihrer Armbrüste entgehen. Und es verlangte zwar viel von ihm, aber er würde noch sicherer sein, wenn er bereit war zu fliegen, wenn die Welt unter Mo-Towns bestirntem Mantel schlief. Wenn er vor dem nächsten Vollmond vor Sonnenuntergang aufbrach, würde er – wenn alles gut ging – sein Ziel im Verlauf des folgenden Tages erreichen.
An diesem Punkt der Erklärung brach Mr. Snow ab und kramte in dem schlampigen Haufen seiner Besitztümer herum. Nach ein paar Flüchen brachte er schließlich zwei zusammengefaltete Stoffstücke hervor, die sich, als er sie entfaltet hatte, als rechteckige Fahnen aus feinem, weißem Tuch entpuppten.
Auf beiden Fahnen war in der Mitte eine blutrote Scheibe dargestellt: das Emblem der Eisenmeister. Die Fahnen, die an Bord eines der Raddampfer Yama-Shitas aus Beth-Lem hergebracht worden waren, sollte Cadillac unter den Tragflächen des Donnerkeils anbringen, damit man sie vom Boden aus sehen konnte. Damit ihm ein sicherer Empfang bereitet wurde, sollte das Fluggerät außerdem eine weiße Rauchspur hinterlassen, sobald er das Gebiet der Eisenmeister erreichte. Grüne Raketen – wie er sie bei seinem letzten Besuch beim Handelsposten hatte in den Himmel schießen sehen – würden signalisieren, wo er landen sollte.
So weit, so gut. Die Eisenmeister schienen alle Punkte geklärt zu haben. Alle bis auf einen: die Möglichkeit, dass Mr. Snow den abgesprochenen Plan durch das eine oder andere eigene Detail ergänzt haben könnte. Cadillac sollte seine Körperfarbe ablegen und als Wagner verkleidet gehen und die Kleider eines der gefallenen Wolkenkrieger tragen, dessen Kopf vor Clearwaters Hütte auf einer Stange verweste. Bei seiner reinen Haut, seinem neu erworbenen Wissen und einem kurzen Haarschnitt würde niemand vermuten, dass er kein Flieger der Föderation war. Aber da war noch etwas. Das an die rechte Tasche seiner Tunika genähte Stoffschild würde ihn als »8902 BRICKMAN S.R.« ausweisen.
Die Ironie der Situation führte bei beiden zu einem Ausbruch von Gelächter, der alle Gedanken an Gefahren beiseitewischte – und die gleichermaßen erschreckende Aussicht auf den Verlust seiner langen, schwarzen Haare.
Während sich Cadillac bemühte, im Geist ein Gleichgewicht zwischen den Risiken und Vorteilen auszuarbeiten, die die Ausführung einer derart reizvollen Aufgabe mit sich brachte, kam Mr. Snow mit seiner letzten Überraschung heraus. Die Flugmaschine, die Cadillac gebaut hatte, würde einen zweiten Sitz für seine bewaffnete Eskorte brauchen.
Clearwater.
Als Wölfin verkleidet, die makellose olivfarbene Haut unter verwirrenden schwarzbraunen Mustern verborgen, würde sich Clearwater als Emissärin des Clans M’Call ausgeben. Ihre wirkliche Aufgabe war, ihn moralisch zu unterstützen und – falls nötig – ihre gewaltigen Kräfte als Ruferin einzusetzen, um ihn zu schützen und ihrer beider sichere Rückkehr zu gewährleisten.
Cadillac biss sich auf die Lippe; er zog es vor, nicht über das zu sprechen, was er in den Steinen erblickt hatte – dass der Bund zwischen ihm und Clearwater gebrochen worden war. Dem äußeren Anschein zum Trotz war sie nicht mehr seine Seelengefährtin. Ihre Gedanken und Erdgelüste kreisten jetzt um den Wolkenkrieger; den Tod-Bringer, dessen Geschick es war, zurückzukehren und sie auf einem Strom aus Blut fortzutragen.
Dem Blut des Prärievolkes.
Damals, als Cadillac den Steinen dieses Wissen entnommen hatte, war ihm auch der Ort offenbart worden, an dem Mr. Snow sein Leben lassen würde, um seines, Cadillacs, Leben zu retten. In seinem Kummer hatte er bittere Tränen vergossen, die Gabe des Gesichts verflucht und sich wortlos gelobt, die Sehsteine nie wieder aufzuheben. Das Rad drehte sich, der Pfad wurde bestimmt. Wenn man nichts ändern konnte, war es besser, den Schleier nicht zu lüften. Soll die Zukunft ihre Schicksalsschläge verborgen halten; die Mühsal der Gegenwart war schwer genug.
In den folgenden Tagen, während er den schlanken Rumpf des Flugzeugs verlängerte und einen zweiten Sitz hinter seinem installierte, bemühte sich Cadillac, die stattgefundenen Ereignisse zu verarbeiten. Als er mit Clearwater und Mr. Snow auf dem Fels gestanden war und dem Wolkenkrieger zugesehen hatte, wie er im auffrischenden Wind hochstieg und über den Bergen in südliche Richtung abdrehte, beschloss er, dass es keine Anklagen geben würde, keine Beschuldigungen. Der wahre Krieger erlaubte derart unwürdigen Gefühlen wie Neid oder Eifersucht nicht, ihn abzulenken. Aber Cadillac hatte eben die ersten unsicheren Schritte auf Dem Pfad getan und noch nicht den nötigen Grad philosophischen Gleichmuts erlangt.
Clearwaters blinde Leidenschaft für den Wolkenkrieger hatte ihn tief verletzt. Schon von seinen eigenen inneren Dämonen überzeugt, dass sie straucheln würde, konnte er die Vorstellung, Zweiter zu sein, nicht ertragen. Wenn er die Verletzung seiner Ehre hätte rächen wollen, hätte er sie vor dem versammelten Clan bloßstellen und ihren Tod verlangen können. Nach den Gesetzen des Prärievolks wäre die Untersuchung eine reine Formsache gewesen.
Aber diese Vorgehensweise war ihm nicht möglich. Er hätte selbst jetzt noch mit Freuden sein Leben gegeben, um das ihre zu retten. Die freundschaftlichen Bindungen, die in den geteilten Schmerzen und Freuden ihrer Kindheit verwurzelt waren und durch ihr gemeinsames Anderssein genährt wurden, würden sich niemals lösen lassen, bis Mo-Town ihre Seelen in die schimmernden kristallklaren Wasser zurückbefahl, die den großen Becher des Lebens füllten. Außerdem hatte er keinen Beweis dafür, dass ihn Clearwater betrogen hatte. Sie hatte ihre Schuld nicht zugegeben. Tatsächlich hatte sich ihr Benehmen ihm gegenüber kaum geändert. Aber er wusste, dass sie schuldig war! Er wusste es! Ihre umwölkten blauen Augen verrieten ihm, dass ihr Herz die Gemeinschaft mit dem seinen gekündigt hatte.
Außerdem wusste er, dass Mr. Snow in seiner Eigenschaft als Rufergenosse verpflichtet war, ihr zur Verteidigung beizuspringen, ohne dass er etwas dagegen sagen konnte. Das Maß an Respekt und Gehorsam, das der uralte Codex der Wortschmiede verlangte, machte es jedem Lehrling unmöglich, seinem Meister öffentlich zu widersprechen. Es dennoch zu tun wäre ein unverzeihlicher Traditionsbruch gewesen. Aber selbst wenn er so töricht gewesen wäre, es zu versuchen, hätte er den Streit mit Mr. Snow niemals gewinnen können. Weit davon entfernt, irgendwelche Sympathien zu gewinnen, hätten ihn alle verspottet, die ihn beneideten und versuchten, ihn aus den Reihen der Bären zu entfernen.
Die einfachste Lösung war, aus dem Wettbewerb auszutreten; seinen Anspruch an Clearwater aufzugeben. Aber selbst das war nicht völlig ungefährlich. Wenn es ihr einfiel, ihn in seiner Hütte aufzusuchen, würde es erhobene Augenbrauen und Gerede geben. Und wenn sie und der Wolkenkrieger, wie er es vermutete, zwischen dem Fuchs und dem Wolf gelegen hatten, würde das vor ihren Clanschwestern nicht lange geheim bleiben. Frauen hatten ihre Wege, solche Dinge zu erfahren. Und sie waren unfähig, ein Geheimnis für sich zu behalten. Wenn diese Neuigkeiten erst bekannt wurden, würde es nicht lange dauern, bis die beiden vor die Claneltern zitiert wurden.
Nein. Was er auch fühlen mochte, das Klügste war, sie mit nach Beth-Lem zu nehmen. Dadurch konnte die Wahrheit dem Clan bis zu ihrer Rückkehr verborgen bleiben – vielleicht sogar für immer. Falls Zeit genug verging, war eine spätere Versöhnung nicht ausgeschlossen. Sein Stolz war verletzt worden, aber er war nicht zu stolz, um zuzugeben, dass ihm ihre Gegenwart bei einer derart gefährlichen Reise willkommen war.
Was geschehen war, entsprach dem Willen des Talisman. Also sei es …
Aber sein Verstehen hatte den Schmerz nicht gelindert. Selbst jetzt, fast neun Monate später, während sein Denken und seine Tage glücklich mit der Myriade an Problemen erfüllt waren, die sich aus seinem neuen Aufgabenbereich ergaben, öffnete sich die unsichtbare Wunde erneut und vertrieb seine neu gefundene Zufriedenheit. Zum Glück hatten die Eisenmeister eine kräftige Medizin für diese Art Kummer – ein feuriges Getränk namens Sake, das ihn mit neuem, verwegenem Mut begabte, seiner Zunge neue Schärfe verlieh und Bedürfnisse in ihm erweckte, die seine Leibsklavinnen mit Hingabe, Geschick und unermüdlichem Eifer befriedigten. Und wenn alle Leidenschaft besänftigt und der bittersüße Schmerz betäubt war …
Vergessenheit.