Zum Buch
Spanien im 18. Jahrhundert: Clara, frisch angestellt als Hilfsköchin am Hof von Castamar, weckt durch ihre raffinierten Köstlichkeiten schon bald das Interesse des verwitweten Herzogs. Da es für beide jedoch nicht möglich ist, am Hof miteinander in Kontakt zu treten, entwickeln sie anhand von in Kochbüchern versteckten Nachrichten und außergewöhnlichen Gerichten eine »Geheimsprache«, um sich kennenzulernen. Doch sowohl der Herzog als auch die Köchin machen sich damit erbitterte Feinde, die die Annäherung über alle Standesgrenzen hinweg argwöhnisch beobachten …
Zum Autor
Fernando J. Múñez, geboren 1972 in Madrid, studierte Philosophie und Filmwissenschaften. Er verfasste Drehbücher und Jugendliteratur, bevor er die historische Saga »Die Köchin von Castamar« schrieb, die in Spanien sofort zum Bestseller wurde. Eine TV-Verfilmung ist bereits in Vorbereitung.
FERNANDO J. MÚÑEZ
Claras Geheimnis
ROMAN
Aus dem Spanischen
von Anja Rüdiger
C. Bertelsmann
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel La Cocinera de Castamar bei Planeta, Barcelona.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2019 Fernando J. Múñez
The translation follows the edition of Editorial Planeta, Barcelona 2019
Published by arrangement with UnderCover Literary Agents
on behalf of IMC Literary Agency
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020
beim C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
nach einer Idee von Planet Art & Design
Umschlagabbildung: © Cristina Reche;
© Ilina Simeonova / Trevillion Images
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-25106-2
V001
www.cbertelsmann.de
Für meine Frau, den Hauch meines Atems,
das wogende Meer, das meine ganze Welt erfüllt.
Für meine Mutter, die Erste,
die mich ermuntert hat, dieses Buch zu schreiben.
Für meinen Vater, weil er der Mensch ist,
von dem ich jeden Tag lerne.
Es gibt keinen ewigen Schmerz«, sagte sie sich immer wieder, um die Hoffnung zu nähren, dass alles vergänglich war. »Und auch keine anhaltende Freude«, fügte sie hinzu. Möglicherweise hatte dieser Satz, weil sie ihn für sich zu oft wiederholt hatte, mit der Zeit an Bedeutung verloren und verdeutlichte nur die Bitterkeit, mit der das Leben sie in den letzten Jahren erfüllt hatte. Sie fühlte sich wie eine Marionette mit durchgeschnittenen Fäden, dazu verurteilt, sich jeden Tag neu zum Weitermachen zu ermuntern. Dennoch hatte sie dank des aus der Not geborenen Wagemuts und ihres unbeugsamen Charakters nie klein beigegeben, was sie abgehärtet und dazu befähigt hatte durchzuhalten. »Niemand wird je von mir behaupten können, dass ich feige war«, sagte sich Clara einmal mehr.
Vollständig unter einer Decke aus Stroh verborgen, konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit auf die Regentropfen, die an den Ballen herabliefen. So vermied sie es, in das milchige Licht zu blicken, das zwischen den Halmen hindurchschimmerte. Als sie es dann doch tat, konnte sie plötzlich die bedrohliche Weite jenseits des Karrens erahnen, in dem sie zu dem herrschaftlichen Besitz von Castamar unterwegs war. Sie merkte, dass sie auf ihren Atem achten musste, denn der bloße Gedanke, sich nicht innerhalb der vier Wände eines Hauses zu befinden, beschleunigte ihn derart, dass sie fürchtete, ohnmächtig zu werden, wie es ihr bei anderer Gelegenheit während einer solchen Panikattacke bereits passiert war. Wie sie diese Schwäche hasste! Sie fühlte sich dann jedes Mal so verletzbar, als ob im nächsten Augenblick alles Übel der Welt auf sie niederginge, was ihr sämtliche Kräfte raubte. Sie erinnerte sich, dass sie genau wegen dieser Angst zunächst gezögert hatte, als sie über Señora Moncada erfuhr, dass es in Castamar eine freie Stelle gab. Die dicke Leiterin des Personals und des Hospitals war zu ihr gekommen, um ihr mitzuteilen, dass Don Melquíades Elquiza, ein guter Freund von ihr und Majordomus in Castamar, eine Küchenhilfe für das herzogliche Anwesen suche.
»Das könnte eine gute Gelegenheit für dich sein, Clara«, hatte sie gesagt.
Und tatsächlich war dies eine Gelegenheit, die sie sehr reizte, aber gleichzeitig auch schreckte, da sie dafür das Hospital verlassen musste, in dem sie arbeitete und das auch ihr Zuhause war. Allein die Vorstellung, dass sie durch die Straßen Madrids und – wie früher mit ihrem Vater – über die Plaza Mayor gehen müsste, verursachte ihr Erstickungsanfälle und Schweißausbrüche und ließ sie sich vollkommen schwach und hilflos fühlen. Señora Moncada war zum Glück so nett gewesen und hatte an ihrer Stelle mit Señor Elquiza geredet, um ihre hervorragenden kulinarischen Fähigkeiten anzupreisen. Wie es schien, waren die beiden schon sehr lange befreundet. Sie hatten sich bei der Ausrichtung verschiedener ländlicher Mahlzeiten im Freien kennengelernt, als sie als Dienstmädchen im Haus des Herzogs von Benavente angestellt gewesen war, während er bereits beim Herzog von Castamar in Diensten stand. Señora Moncada war es zu verdanken, dass der Majordomus nun bereits wusste, dass die Liebe zum Kochen bei Clara in der Familie lag, denn ihre Mutter, mit der Clara diese Leidenschaft teilte, war die Erste Köchin im Haus von Kardinal Giulio Alberoni gewesen, dem ehemaligen Minister von König Philipp V. Unglücklicherweise war der Prälat jedoch in Ungnade gefallen und in die Republik Genua zurückgekehrt, wohin er ihre Mutter mitgenommen hatte.
Clara, die sich bereits bis zur Ersten Beiköchin hochgearbeitet hatte, sah sich daraufhin gezwungen, aus dem Dienst des Kardinals auszuscheiden, denn dieser hatte nur seine Chefköchin auf die Reise mitgenommen. Damals hatte sie gedacht, dass sie sicher bald wieder ein herrschaftliches Haus finden würde, in dem sie arbeiten konnte, doch sobald die Küchenchefs erfuhren, dass Claras Referenzen von ihrer eigenen Mutter stammten, verloren sie ihr Interesse, zumal sie ihnen viel zu gebildet erschien, um ihr zu vertrauen. Daher hatte sie ihre Hoffnung, in einer Küche Arbeit zu finden, erst einmal zurückgestellt und sich ihren Lebensunterhalt mit der Pflege der Patienten des Hospital General de la Villa verdient, das auch als Krankenhaus Unserer Lieben Frau von der Verkündigung bekannt war.
Es tat ihr sehr leid, dass ihr Vater, der angesehene Arzt Armando Belmonte, sich so viel Mühe gegeben hatte, ihrer Schwester und ihr eine anspruchsvolle Erziehung mit auf den Weg zu geben, und trotzdem nichts Besseres aus ihr geworden war. Wobei man ihm keinen Vorwurf machen konnte, denn er hatte sich lediglich so verhalten, wie es dem gelehrten Mann anstand, der er bis zu seinem Tod am 14. Dezember 1710 gewesen war. »All die mühsame Erziehung für nichts und wieder nichts«, hatte er geklagt. Seit ihrer frühen Kindheit hatte ihre Lehrerin Francisca Barroso im Unterricht eiserne Disziplin verlangt. So hatten ihre Schwester und sie Kenntnisse jeglicher Art in den verschiedensten Bereichen erworben, wie im Nähen und Sticken, der Etikette sowie in Geografie und Geschichte, Latein, Griechisch, Mathematik, Rhetorik, Grammatik und modernen Sprachen wie Englisch und Französisch. Außerdem hatten sie Klavierstunden genommen und waren in Gesang und Tanz unterrichtet worden, was ihre Eltern nicht wenig gekostet hatte, ganz abgesehen von Claras persönlichem Bedürfnis nach ständiger Lektüre. Und doch hatte ihnen all ihre Bildung nach dem Tod ihres Vaters nichts genutzt, und sie waren zum gesellschaftlichen Abstieg verdammt gewesen. Die gemeinsame Leidenschaft von Mutter und Tochter für das Kochen dagegen, über die ihr armer Vater sich stets beklagt hatte, war zum Stützpfeiler geworden, der das Überleben der Familie sicherte.
»Meine liebe Cristina, wozu haben wir eigentlich eine Köchin angestellt?«, hatte ihr Vater seine Frau regelmäßig getadelt. »Ich weiß nicht, was unsere Freunde sagen würden, sollten sie erfahren, dass du und unsere ältere Tochter den ganzen Tag zwischen den Küchendünsten zubringt, obwohl es im Haus nicht an Personal mangelt.«
Damals, in den guten Zeiten, hatte Clara stets die Möglichkeit gehabt, alle möglichen Kochbücher zu lesen, einschließlich der Übersetzungen einiger auf Arabisch und Sephardisch verfasster Werke, von denen viele in Spanien verboten waren. So hatte sie gierig das Buch der Schmorgerichte, Milchspeisen und Eintöpfe des berühmten Kochs Robert de Nola verschlungen, genauso wie die Vier Bücher der Kunst der Confiserie von Miguel de Baeza und all die anderen Rezepte, die ihr oder ihrer Mutter in die Hände gefallen waren. Schon als kleines Kind hatte Clara Señora Cano, ihre Köchin, zum Großmarkt begleitet, wo sie gelernt hatte, die besten Kohlköpfe und Salate auszuwählen wie auch Kichererbsen, Linsen, Tomaten, Früchte und Reis. Wie hatte sie es geliebt, während des Einweichens die verdorbenen Linsen und Kichererbsen von den guten zu trennen, und welche Freude hatte es ihr bereitet, wenn sie die Brühe des Ragouts oder die bittere Schokolade probieren durfte, die ihr Vater dank seines Einflusses bei Hofe ergattern konnte! Erneut spürte sie das Glück, das sie empfunden hatte, wenn sie mit ihrer Mutter Zitronenkuchen oder Torten buk oder Marmeladen und Konfitüren einkochte. Und nie würde sie vergessen, wie sie ihren Vater davon überzeugt hatten, einen mit Holz befeuerten Tonofen anzuschaffen, um damit die unterschiedlichsten Gerichte zu zaubern. Zuerst hatte er sich geweigert, doch letztlich hatte er unter dem Vorwand, die Bedürfnisse des Personals zu befriedigen, nachgegeben.
Nachdem Señor Melquíades von Señora Moncada ihre Referenzen erhalten hatte, hatte er eingewilligt, sie einzustellen. Castamar bedeutete für Clara, dass sie die erste Stufe auf ihrem Weg zum Ziel erreicht hatte: Endlich kehrte sie in eine richtige Küche zurück. Im Hause des Herzogs von Castamar zu arbeiten – der sich unter den Adligen an der Seite König Philipps V. besonders hervorgetan hatte – bedeutete außerdem, eine sichere Dienststelle zu bekleiden. Wie sie erfahren hatte, handelte es sich um ein außergewöhnliches Haus, das, obwohl die Anzahl der Granden – der Angehörigen des höchsten spanischen Adels –, die sich dort aufhielten, besonders hoch war, lediglich über ein Drittel der Dienstboten verfügte, die man in einem herzoglichen Haushalt erwartete. Wie es schien, hatte Don Diego, der Hausherr, sich nach dem Tod seiner Frau beinahe vollkommen aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen und sich in den letzten Jahren lediglich bei wenigen Gastmählern am Königshof sehen lassen.
Vor ihrem Aufbruch nach Castamar hatte Clara ihrer Schwester und ihrer Mutter geschrieben. Da König Philipp dankenswerterweise nun erlaubte, dass – neben der königlichen Familie, den Adligen und den Kaufleuten – jeder seiner Untertanen den Postweg nutzte, konnte sie die beiden über ihren Umzug in Kenntnis setzen. Außerdem versprach sie, dass sie sich später erneut bei ihnen melden werde, um ihnen eine feste Adresse mitzuteilen. Sie hatte ihre gesamten Ersparnisse dafür aufgebraucht, die Post zu frankieren. Auch wenn das so nicht üblich war, da normalerweise der Empfänger die Post bezahlte, hatte sie diesen Weg vorgezogen, um den beiden diese Last zu ersparen.
Nachdem Clara die Nachrichten abgeschickt hatte, musste sie noch einen Tag warten, bis Señor Pedro Ochando, der im Hause Castamar als Postkutscher arbeitete und mit dem Einkauf für die herzoglichen Stallungen beauftragt war, am Abend seine Transportarbeiten erledigt hatte und am frühen Morgen die Strohballen auflud. Es war ein regnerischer Tag, was ihr Glück war. Denn der Herr war so freundlich, sie im Depot des Fuhrparks des Hospitals abzuholen, sodass sie ihre Angst davor, das Gebäude zu verlassen, nicht überspielen musste.
»Ich würde lieber hinten aufsteigen, wenn es Euch nichts ausmacht«, hatte sie sich geschickt entschuldigt. »Dann kann ich mich unter den Heuballen vor dem Regen schützen, da ich für das Wetter nicht die geeignete Kleidung trage.«
Für den Weg von Móstoles nach Boadilla brauchten sie im strömenden Regen drei Stunden. Hin und wieder spürte Clara, dass sie durch ein Schlagloch fuhren, und dachte erschreckt, dass die Strohdecke verrutschen könnte und sie dann schutzlos dem Regen ausgesetzt wäre, was jedoch nicht geschah. Wenig später – von dem anhaltenden Gepolter taten ihr sämtliche Knochen weh – hielt die Lastkutsche an, und Señor Ochando, der kein Mann vieler Worte war, teilte mit, dass sie ihr Ziel erreicht hatten.
Sie verabschiedete sich und dankte ihm, um dann mit geschlossenen Augen von dem Gefährt hinunterzuklettern. Das kalte Regenwasser lief ihr über den bestickten Kragen in den Nacken und ließ sie erschaudern. In der Hoffnung, dass die durch die polternden Räder verursachten Schmerzen bald nachlassen würden, band sich Clara die Binde vor die Augen. Dank des schmalen Spalts an der Unterseite, durch den sie wenigstens einen schmalen Streifen des Bodens zu ihren Füßen sehen konnte, und mithilfe eines Hirtenstabs, den sie wie einen Blindenstock verwendete, ging sie in die Richtung eines von Mauern umgebenen Hofes, der sich vor dem palastartigen Gebäude erstreckte. Sie wandte den Blick nicht von ihren Füßen ab und betete, dass die Binde hielt und weiterhin die Umgebung von Castamar verdeckte. Mit rasendem Puls beschleunigte sie ihren Schritt und atmete zu schnell und tief ein, bis es in ihren Gliedmaßen zu kribbeln begann. Als sie unter dem schmalen gemauerten Bogen hindurchging, der in den Hof führte, hätte sie beinahe nicht gemerkt, dass ihr ein paar lachende Dienstmädchen entgegenkamen, die einige am Trockenplatz vergessene Kleidungsstücke einsammeln wollten.
Plötzlich fand sie sich inmitten der fröhlichen Schar wieder, und der schmale Spalt unter dem Tuch reichte zur Orientierung nicht mehr aus. Clara hob den Blick und machte im Hintergrund ein Tor unter einem hölzernen Vorbau aus. Bebend nahm sie alle Kraft zusammen und lief darauf zu, wobei sie den Herrn anflehte, sie nicht stolpern oder in Ohnmacht fallen zu lassen. Als sie den Vorbau erreicht hatte, löste sie die Binde von ihren Augen, lehnte die Stirn an den Türrahmen, versuchte nicht, an den weiten Raum hinter sich zu denken, und rief verzweifelt um Hilfe.
»Was tust du denn da, Mädchen?«
Die barsche Stimme, die hinter ihr erklang, sorgte dafür, dass Clara vor Schreck fast das Herz stehen blieb. Sie wandte sich um und bemühte sich, Haltung zu bewahren. Als sie schließlich aufsah, schaute sie in die strengen Augen einer Frau von etwas über fünfzig Jahren. Auch wenn Clara den Blick nach wenigen Sekunden wieder abwandte, reichte das, um die unbarmherzige Härte darin zu erkennen.
»Ich bin Clara Belmonte, die neue Küchenhilfe«, brachte sie erstickt hervor und hielt der Frau die von Señora Moncada und ihrer Mutter unterzeichneten Referenzen hin.
Die Angesprochene ließ sich einen Moment Zeit und musterte sie, um dann in aller Ruhe nach den Unterlagen zu greifen. Für Clara zog sich dieser Moment unendlich lange hin, und als der Schwindel so heftig wurde, dass sie ohnmächtig zu werden drohte, stützte sie sich unauffällig an der Wand ab. Die Frau, der Claras Zustand nicht verborgen blieb, hob die Augenbrauen und musterte sie misstrauisch.
»Warum bist du so bleich? Du wirst doch nicht krank sein?«, fragte sie, bevor sie weiterlas.
Clara schüttelte den Kopf. Sie hatte weiche Knie und wusste, dass sie den Anschein der Normalität nicht mehr lange würde aufrechterhalten können. Da ihr jedoch klar war, dass sie diese Arbeitsstelle verlieren würde, wenn sie ihre Angst davor, offene Räume zu betreten, zeigte, biss sie die Zähne zusammen und versuchte, tief und ruhig zu atmen.
»Señor Melquíades hat mir gesagt, dass er eine Küchenhilfe mit einiger Erfahrung eingestellt hat. Bist du nicht ein bisschen jung für das, was hier zu tun ist?«
Mit einer Verbeugung, die bewies, wie gut sie die Etikette beherrschte, antwortete Clara, dass sie bei ihrer Mutter im Hause Seiner Hochwürdigsten Eminenz Kardinal Alberoni gelernt habe. Die Frau gab ihr gleichgültig ihre Referenzen zurück. Danach nahm sie mit geübter Geste den Schlüsselbund heraus, streckte die Hand aus und öffnete das Tor.
»Komm mit!«, befahl sie, und Clara trat erleichtert in den Gang.
Je länger sie den energischen Schritten der Frau folgte, desto ruhiger wurde sie. Dennoch erschien ihr der Durchgang zwischen den weißen Wänden sehr weit, und sie nutzte die Gelegenheit, dass sie hinter der Frau ging, um sich immer wieder unauffällig abzustützen. In herrischem Tonfall teilte ihre Begleiterin ihr mit, dass das Tor, durch das sie hereingekommen waren, immer geschlossen bleiben müsse und dass der Eingang, den sie zu benutzen habe, auf der anderen Seite des Hofes lag und offensichtlich direkt in die Küche führte. Dieser Befehl erleichterte Clara ungemein, da sie nicht die Absicht hatte, sich außerhalb des Gebäudes aufzuhalten.
Sie begegneten drei Dienstboten, die sich laut unterhielten, mehreren Dienstmädchen, die sich, sobald sie die Frau sahen, die Kleidung richteten und folgsam weitergingen, zwei Burschen mit müden Augen, die offensichtlich gerade den Beruf des Kammerjungen erlernten, und einem gewissen Jacinto Suárez, dem für die Küche zuständigen Einkäufer, dessen Aufgabe es war, die täglichen Anschaffungen auf dem Großmarkt zu beaufsichtigen. In seiner Begleitung befand sich der Küchenmeister Luis Fernández, dem die Kontrolle der Vorratskammer oblag, in der sämtliche Fleischvorräte und das getrocknete Suppengemüse gelagert wurden, sowie die Aufsicht über das Magazin, wo das Wachs, die Kohle und das Brennholz aufbewahrt wurden. Die Frau grüßte die beiden Herren kühl und hochmütig mit Namen. Nachdem sie eine Weile durch die gewundenen Gänge gelaufen waren, tauchten zwei Laternenanzünder auf, die mit der Beleuchtung des Hauses und des Gartens betraut waren und die Frau mit ehrfürchtigem Kopfnicken grüßten, wobei sie mit dem Kinn fast ihre Brust berührten. Außerdem trafen sie auf eine dicke junge Frau, Galatea Borca, die Grübchen in den Wangen hatte und mehrere Soßenschüsseln trug. Ihre Chefin, Matilde Marrón, die ihr voranschritt und in Castamar für die Obstvorräte und die Aufbewahrung von Porzellan und Besteck verantwortlich war, machte ihr mit hektischen Gesten deutlich, dass sie die Essigflaschen gründlich reinigen solle. Sie alle unterbrachen, was sie gerade taten, und nahmen vor der Haushälterin Haltung an.
»Deine Probezeit wird so lange dauern, wie ich es für angemessen erachte, und wenn deine Arbeit und dein Einsatz nicht meine Zustimmung finden, kannst du sofort wieder nach Madrid zurückkehren. Dein Lohn beträgt täglich sechs Reales de Vellón, du hast das Recht auf drei Mahlzeiten pro Tag und einen Ruhetag pro Woche, in der Regel den Sonntag. In jedem Fall kannst du jeden Tag zur Messe gehen. Du wirst in der Küche in einer kleinen Kammer hinter einer Schiebetür schlafen!«, fügte die Haushälterin hinzu, während sie zwei Wäscherinnen überholte, ohne ihnen auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken.
Clara nickte. Wäre sie am Hofe des Königs und ein Mann gewesen, hätte ihr Lohn in etwa elf Reales de Vellón pro Tag betragen, doch Castamar war, obwohl eines der bedeutendsten Häuser Spaniens, nicht der Alcázar und sie nun einmal eine Frau. Doch auch so lag ihr Lohn über dem Durchschnitt, sodass sie sich glücklich schätzen konnte, denn es gab junge Frauen, die für weniger als zwei Reales täglich Treppen fegten. Sie konnte immerhin einiges sparen, falls es ihr in der Zukunft einmal schlechter gehen sollte.
»Ich dulde keine Faulheit, keine heimlichen Beziehungen unter dem Personal und natürlich keinen Männerbesuch«, fuhr die Haushälterin fort.
Sie folgten weiter dem Gang, dessen Decke mit kunstvollen Holzarbeiten geschmückt war, bis sie zu einer Doppeltür aus Kirschbaumholz kamen. Ein darüber angebrachtes Schild wies den dahinter liegenden Raum als den Ort der Speisenzubereitung aus, was den Besucher darüber informierte, dass er auf der Schwelle zur Küche stand. Plötzlich tauchte ein weiteres Dienstmädchen mit einem Silbertablett auf. Darauf befand sich ein Frühstück, das aus einer Geflügelbrühe, Milch und Schokolade in getrennten Kännchen, mit Zucker und Zimt bestäubtem und mit Butter bestrichenem geröstetem Brot, Frühstückseiern, süßen Brötchen und etwas Speck bestand. Clara fiel sofort auf, dass die Brühe zu stark gewürzt war, die Süßigkeiten zu viel Fett enthielten, die Eier zu fest und die Brötchen nicht lange genug im Ofen gewesen waren. Außerdem vermisste sie neben dem Mädchen den Fleischbegleiter, der üblicherweise von der Kammer, in der das Brot und die Tischwäsche aufbewahrt wurden, das Gedeck, die Gläser, das Brot und die anderen Speisen begleitete, die von der Küche aus zur Herrschaft gebracht wurden. Lediglich der Speck schien angemessen zubereitet zu sein: korrekt in Scheiben geschnitten und im eigenen Fett gebraten. Was Clara allerdings besonders auffiel, war, wie sich das Ganze präsentierte. Trotz des eleganten Geschirrs mit den gemusterten Tassen und dem edlen Silberbesteck, einschließlich der selten benutzten vierzackigen Gabel, wurde deutlich, dass das Frühstück nicht in der für einen spanischen Herzog angemessenen Form angerichtet war. Der Abstand zwischen den Besteckteilen war nicht richtig eingehalten worden, aber das Schlimmste von allem war das Fehlen jeglichen Blumenschmucks, wie er bei einem Frühstück unerlässlich war. Außerdem hing das kleine weiße Tischtuch mit dem bestickten Rand nicht auf korrekte Art und Weise über den Rand des Tabletts. Und das süße Gebäck, die Brühe, der Speck und die Eier waren nicht mit der eigentlich vorgesehenen Tellerglocke bedeckt, die sie warm gehalten hätte.
Ein Blick der Haushälterin reichte aus, dass das Dienstmädchen stehen blieb. Die Haushälterin trat näher, korrigierte die Anordnung des Kaffeelöffels und positionierte auch die silbernen Kännchen so, dass sie am richtigen Platz standen.
»Pass auf, dass es sich nicht wieder verschiebt, Elisa«, sagte sie drohend. »Weiter! Du kannst gehen.«
Clara erkannte, dass die Haushälterin die Etikette und das Protokoll durchaus schätzte, wenn ihr auch die höchst elegante, dem Hof von Versailles entsprechende Art der Präsentation und die kulinarischen Feinheiten der Hohen Küche, die König Philipp am spanischen Hof eingeführt hatte, nicht bekannt waren.
»Aber natürlich, Doña Úrsula«, entgegnete Elisa, verbeugte sich mit dem schweren Tablett in der Hand und wartete höflich darauf, dass sie die Küche betraten.
Als sie in den Raum kamen, unterbrachen alle dort Anwesenden ihre Arbeit. Es war offensichtlich, dass die Haushälterin auch über die Küche des Herzogs und alle Räumlichkeiten herrschte, die damit in Verbindung standen. Auf eine Handbewegung Doña Úrsulas hin widmete sich wieder jeder seiner Tätigkeit. Clara konnte beobachten, wie die beiden Küchenmädchen geschickt jeweils einen der Kapaune rupften, die an diesem Tag für die Mahlzeit vorgesehen waren. Leicht abwesend würzte ein weiteres Mädchen zwei Junghennen. Dabei wurde sie von einer dicken Frau überwacht, die im Hintergrund eine Sauce mit französischen Champignons zubereitete, welche zum Fleisch gereicht werden sollte.
Clara sagte sich, dass das Personal für ein derart angesehenes Adelshaus wie Castamar tatsächlich eher knapp bemessen war. Andererseits bewohnte der Herr des Hauses, wie sie von Señora Moncada erfahren hatte, das Gut nur mit seinem Bruder, weshalb, genau besehen, vier Leute in der Küche völlig ausreichten.
Clara beantwortete die höfliche Begrüßung mit einer ähnlich gearteten Verbeugung und fragte sich, wie es möglich war, dass eine Haushälterin so viel Einfluss für sich beanspruchen konnte. Normalerweise unterstand in einem adligen Hause lediglich das weibliche Personal der Haushälterin, von den Zofen und Kammerfrauen über die Kammermädchen, die Garderobenfrauen und Dienstmädchen bis zu den Wäscherinnen und Stärkerinnen. Diese Haushälterin jedoch schien sowohl die Männer als auch die Frauen unter Kontrolle zu haben. Sie übte also eher ein Amt aus, das dem des Zahlmeisters ähnlich war, der am königlichen Hofe nach dem Majordomus das höchste Amt unter dem Dienstpersonal innehatte und dessen Aufgabe es war, die Nebengebäude zu beaufsichtigen, die Preise und die Zahlungsanweisungen festzulegen und das Gut zu verwalten. Natürlich gehörten am Königshof dem Kreis der Herren, die unter der Leitung des Majordomus für die Verwaltung und die Führung der Geschäfte zuständig waren, auch mehrere Adlige von höchstem Stande an, die dem Monarchen zu Diensten waren. In Castamar dagegen setzte sich dieser Kreis aus Herrschaften bescheidenerer Herkunft zusammen. Von diesen wiederum waren ihr bisher erst zwei Personen bekannt: Don Melquíades Elquiza – der Majordomus von Castamar – und jene mächtige Frau neben ihr, deren vollständiger Name, wie sie bald erfahren sollte, Úrsula Berenguer war. Dabei fragte sich Clara, wie Señor Elquiza und die Haushälterin wohl zueinander standen.
»In wenigen Tagen finden die jährlichen Feierlichkeiten zum Gedenken an unsere geliebte Doña Alba, die verstorbene Gattin des Herzogs, statt«, erklärte Doña Úrsula feierlich. »Für den Herzog ist dies eine äußerst wichtige Angelegenheit. Dieses Datum ist für den gesamten Madrider Adel und Ihre Königlichen Majestäten obligatorisch. Und wir müssen gut darauf vorbereitet sein.«
Clara nickte, und die Frau neben ihr wandte den Blick in den hinteren Teil der Räumlichkeiten.
»Señora Escrivá«, sagte sie barsch, »darf ich Euch Eure neue Küchenhilfe vorstellen, Señorita Clara Belmonte. Bitte führt sie in ihre Pflichten ein.«
Die dicke Köchin kam zu ihnen und musterte Clara mit ihren kleinen Wildschweinaugen, als wäre sie ein Stück Fleisch. Die Haushälterin verließ daraufhin den Raum und ließ eine angespannte Stille zurück. Während die anderen drei Frauen sie nicht aus den Augen ließen, nutzte Clara die Gelegenheit, die Küche in allen Einzelheiten zu betrachten. Ihre Mutter hatte immer gesagt, dass das Aussehen einer Küche ein genaues Bild des dazugehörigen Kochs vermittele. Nach dem Anblick des Frühstücks für die Herrschaften, das das Dienstmädchen auf dem Silbertablett an ihr vorbeigetragen hatte, wunderte Clara sich nicht, dass der Herd verrußt und der Ofen und die Abdeckung über dem Feuer noch nicht gereinigt waren, die Küchengeräte durcheinanderlagen, der Ablauf leicht verstopft und der Brunnen nachlässigerweise nicht geschlossen war. Die Kisten mit den Gewürzen, die gut verschlossen und beschriftet waren, standen fettbeschmiert auf den hinteren Regalen; nach welcher Klassifizierung oder Einteilung sie angeordnet waren, war für Clara nicht zu erkennen. Daneben entdeckte sie die Mehltruhen, die im unteren Teil ebenfalls Fettflecken aufwiesen. Die Wand aus doppeltem Glas, die zum nördlichen Hof hinausging, war so schmutzig, dass man nicht mehr hindurchschauen konnte. Die Arbeitsflächen waren mit Resten von Blut, Wein, Gewürzen und Eingeweiden vorheriger Essenszubereitungen verdreckt, sodass ihre natürliche Holzfärbung nicht mehr zu erkennen war, was darauf hinwies, dass sie bei der täglichen Reinigung nicht mit der nötigen Gründlichkeit abgeschrubbt worden waren.
»Was habt Ihr mir denn da für ein schmächtiges Täubchen gebracht?«, sagte die Küchenchefin mit abschätzigem Blick.
Clara zuckte zusammen und trat einen Schritt zurück. Als sie den Fuß auf den rutschigen Fliesenboden setzte, knackte etwas unter ihrer Sohle. Señora Escrivá lächelte, als sie sah, wie Clara den Fuß hob und unter dem Schuh eine zertretene Kakerlake entdeckte.
»Und schon hast du etwas Nützliches getan, eine weniger, um die wir uns kümmern müssen. Trotz aller Bemühungen ist es bisher nicht gelungen, sie auszurotten. Die reinste Plage«, sagte die Frau, und alle Anwesenden lachten über den Kommentar ihrer Vorgesetzten. »Ich bin Asunción Escrivá, die Köchin hier in Castamar, und diese beiden sind María und Emilia, die Küchenmädchen. Die, die dort mit dem Geflügel zugange ist, ist Carmen von Castillo, meine Beiköchin. Und dieses zerzauste Ding ist Rosalía, sie ist hoffnungslos schwachsinnig. Der Herzog beschäftigt sie bloß aus Mitleid hier. Sie trägt alles, was wir brauchen, hin und her.«
Tatsächlich entdeckte Clara unter dem Tisch noch eine fünfte Person. Rosalía starrte sie mit offenem Mund sabbernd an, während sie ihre Gesichtszüge zu einem grimassenartigen Lächeln verzog. Dann hob sie die Hand und zeigte Clara eine weitere Kakerlake.
»Ich mag sie, weil sie so schön knacken«, brachte das Mädchen mühsam hervor.
Clara lächelte gerade zurück, als Señora Escrivá zu ihr trat und sie nicht gerade zartfühlend am Arm fasste.
»Du kannst als Erstes gleich mal die Zwiebeln schälen«, keifte sie. »Los, Mädchen, du bist zum Arbeiten hier und nicht zum Gaffen!«
Claras Hoffnung, unter der Anweisung eines großen Kochs arbeiten zu dürfen, schwand auf der Stelle. Ein Blick auf die von Essensresten und Ruß geschwärzten Fingernägel Señora Escrivás genügte, um zu begreifen, dass sie von ihr nichts würde lernen können. Sogleich war ihr klar, dass der Herr des Hauses sich längst der Routine von lieblos und unreinlich zubereiteten Mahlzeiten gebeugt hatte. In einem Adelshaus, das etwas auf sich hielt, wäre eine solche Schlamperei undenkbar gewesen.
Die Männer liebten es, Befehle zu erteilen, doch Úrsula hatte sich nach schmerzhaften Erfahrungen geschworen, dass niemals wieder einer von ihnen ihren Willen brechen würde. Daher hatte die Ankunft der neuen Küchenhilfe ohne ihr Einverständnis oder auch nur eine vorherige Ankündigung ihrer Einstellung sie wütend gemacht. Hin und wieder erlaubte es sich Don Melquíades Elquiza, ihre Herrschaft über das Personal des Hauses herauszufordern, doch in diesem Reich gab es keine lautere Stimme als die ihre, was dem Majordomus sehr wohl bewusst war. In jedem Fall hatte er viel mehr zu verlieren als nur seine Arbeit, wenn er sich gegen sie stellte. Das Beste für alle wäre es, wenn er schon vor einer Weile gegangen wäre und sein düsteres Geheimnis mitgenommen hätte. Denn dann befände sich ganz Castamar jetzt unter ihrer strengen Aufsicht, und alles würde wie am Schnürchen funktionieren.
In derartige Gedanken versunken, eilte Úrsula den Gang entlang, vorbei an der Treppe, die zu den oberen Stockwerken führte, bis sie an die Tür zum Dienstzimmer des Majordomus kam. Sie klopfte zweimal leise an, um die in ihr kochende Wut nicht gleich zu verraten. Woraufhin von der anderen Seite her die tiefe Stimme Señor Elquizas erklang, die ihr erlaubte hereinzukommen. Úrsula trat ein und schloss die Tür hinter sich. Wie das Protokoll es verlangte, neigte sie leicht den Kopf und grüßte ihn mit seinem Namen. Don Melquíades schrieb gerade etwas in eines seiner scharlachroten Hefte, was niemals jemand lesen würde. Er überfrachtete seine Tagebücher mit einem Detailreichtum, der seiner Hingabe in der Erfüllung seiner Aufgaben als Majordomus gerecht werden sollte. Einer Hingabe, die Úrsulas Meinung nach mit den Jahren immer weiter nachgelassen und ihn zu einem allzu routiniert handelnden Dienstboten gemacht hatte, dem der Ehrgeiz fehlte, sich zu verbessern. Úrsula wartete darauf, dass der Schreibende den Kopf hob. Dabei stellte sich zwischen ihnen wie üblich eine düstere Stille ein, die sie jedes Mal heftig irritierte. Don Melquíades sah nur kurz hoch und ergriff dann das Wort, ohne mit dem Schreiben aufzuhören.
»Ach, Ihr seid es«, sagte er lakonisch.
Sie ignorierte seine Herablassung und wartete wie ein lauerndes Tier in der Dunkelheit auf den richtigen Moment, um ihn wegen seines gescheiterten Versuchs, ihr seine Autorität aufzuzwingen, zu demütigen.
»Ich bin gekommen, um Euch mitzuteilen, dass die neue Küchenhilfe eingetroffen ist«, sagte sie betont korrekt. »Ich gehe davon aus, dass sie überaus qualifiziert und …«
»Das ist sie, Ihr müsst nur einen Blick in ihre Referenzen werfen, Doña Úrsula«, unterbrach Don Melquíades sie barsch.
Sie schwieg erneut, während er eine seiner haarigen Augenbrauen hob und sie aus dem Augenwinkel taxierte. Úrsula wartete ab. Sie wusste, dass dieses Spiel mit ihrem Sieg enden würde.
»Für das Mahl am Abend des Jahrestages Ihrer Exzellenz wäre es wohl angemessen, einen der Säle im Ostflügel herzurichten«, sagte sie, das Thema wechselnd.
Er antwortete nicht, sondern fuhr mit dem Schreiben fort. Úrsula sagte sich, dass ihr Schweigen ihn wohl in Sicherheit wiegte, als ob sie tatsächlich bloß auf seine Einwilligung wartete, um das von ihr Angesprochene zu veranlassen.
»Tut, was Ihr für angeraten haltet, Doña Úrsula«, entgegnete Don Melquíades schließlich.
Sie ließ noch ein paar Sekunden verstreichen, bevor sie zum endgültigen Schlag ausholte. Dabei trat sie dicht an den Schreibtisch heran und musterte ihn wie ein Insekt.
»Don Melquíades, könntet Ihr mir den Gefallen tun und für einen Moment mit dem Schreiben aufhören, um mir die mir gebührende Aufmerksamkeit zu schenken?«, fragte sie mit gespielter Höflichkeit.
»Verzeiht, Doña Úrsula«, antwortete er auf der Stelle und tat leicht zerstreut.
Mit unterdrücktem Lächeln näherte sich Úrsula ihrem Opfer noch ein wenig mehr, damit Don Melquíades sich möglichst klein und unbedeutend fühlte. Gleich darauf äußerte sie in sanftem Ton genau die verletzenden Worte, von denen sie wusste, dass sie ihn in seinem männlichen Stolz und der seiner Stellung geschuldeten Ehre am heftigsten treffen würden.
»Don Melquíades, Ihr seid der Majordomus von Castamar, ich bitte Euch, Euch dementsprechend zu verhalten …«
Der Mann errötete und stand, von Jähzorn erfasst, auf.
»… vor allem in meiner Gegenwart«, schloss Doña Úrsula.
Don Melquíades zitterte wie gerade auf den Teller gegebene Gelatine, während sie genau so lange damit wartete fortzufahren, bis er gerade etwas erwidern wollte.
»Oder ich sehe mich gezwungen, mit Seiner Exzellenz über Euer kleines Geheimnis zu reden«, schnitt sie ihm das Wort ab.
Don Melquíades, der genau wusste, dass er angesichts dieser Drohung nur kapitulieren konnte, gab sich geschlagen, wenn er sich auch bemühte, einen Rest Würde zu bewahren, indem er sein Gegenüber mit einem beleidigten Blick strafte.
Doña Úrsulas Mundwinkel zuckten. Im Laufe der Jahre hatte sie sich daran gewöhnt, als Siegerin aus derartigen Begegnungen hervorzugehen, und musste ihn hin und wieder daran erinnern. Damit siegte sie gleichzeitig über die Vorherrschaft des männlichen Geschlechts und über die Gesellschaft, deren Unterdrückung sie zu früheren Zeiten so verletzt hatte. Allerdings kam es immer seltener zu dieser Form der Machtdemonstration – in dem Maße, wie Don Melquíades sich damit abfand, dass die wichtigen Entscheidungen in Castamar nicht in seinem Dienstzimmer getroffen wurden und man ihn anschließend lediglich darüber informierte. Úrsula wandte sich um, um zu gehen. An der Tür angekommen, sagte sie sich jedoch, dass dieser herausfordernde Blick mit einer deutlicheren Kapitulation gestraft werden musste.
»Und ärgert Euch nicht allzu sehr«, fügte sie daher noch hinzu. »Wir beide wissen, wer in diesem Haus das Sagen hat. Wir sind nun mal wie ein unglücklich verheiratetes Ehepaar: Immer schön den Schein wahren.«
Don Melquíades strich sich über den Schnurrbart. Sein Gesicht spiegelte die Traurigkeit seiner geprügelten Seele wider. Úrsula schickte sich an, den Raum endgültig zu verlassen, nahm aus dem Augenwinkel jedoch sehr wohl wahr, wie der Majordomus von Castamar geschlagen auf seinen Stuhl sank.