Buch
Rom 1542. Der 68-jährige Michelangelo wird von der Familie della Rovere aufgefordert, endlich das Grab des Rovere-Papstes Julius II. fertigzustellen, an dem er bereits seit vierzig Jahren arbeitet. Doch der Künstler hat nicht nur jedes Vertrauen in die katholische Kirche verloren, sondern sich auch von Rom entfremdet, einer Stadt, in der das Verbrechen regiert und Landsknechte plündernd umherziehen. In seinem Zorn schließt sich Michelangelo der häretischen Sekte der Spirituali an. Doch damit hat er nicht nur seine Auftraggeber, sondern auch die Inquisition im Nacken. Und er muss sich einer List bedienen, um zu überleben …
Autor
Matteo Strukul wurde 1973 in Padua geboren. Er hat Jura studiert und in Europäischem Recht promoviert. Seine Romane wurden für die wichtigen italienischen Literaturpreise nominiert. Strukul lebt mit seiner Frau Silvia abwechselnd in Padua, Berlin und Transsilvanien. In »Das Geheimnis des Michelangelo« bezieht er sich auf die historische Sensation, als vor ca. zehn Jahren bekannt wurde, dass Michelangelo der häretischen Sekte der Spirituali angehörte.
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Für Silvia,
die ich immer schon liebte und für immer lieben werde,
und für Rom,
dessen Schönheit mich immer wieder bewegt
Für Antonio Forcellino, meinen verehrten Lehrmeister
Herbst 1542
Macel de’ Corvi
Er fühlte sich müde und schwach. Er schaute auf seine kräftigen Hände, die vom Marmorstaub ganz weiß waren und immerzu dem rasenden Drängen seiner Seele folgten, die Gestalten im Stein erspürten und die dank eingehender Körperstudien kundig Muskeln und Ausdrucksformen erforschten.
Er seufzte. Seine Behausung war einfach und karg. So wie immer. Sie war sein Refugium, der sichere Hafen, in dem er zur Ruhe fand. Er blickte auf die Esse. Auf die Glut, die blutrot unter der Asche hervorleuchtete. Auf ein paar Werkzeuge, die wild durcheinandergeworfen auf einem Arbeitstisch lagen.
Er stand auf. Er öffnete die Tür und trat hinaus. Vor ihm lag Macel de’ Corvi, jenes schmutzige Stadtviertel einfacher Leute, in dem die Häuser übereinander hinweggewachsen zu sein schienen, so als seien sie aus der grauen Haut eines Kadavers hervorgebrochen.
Rom siechte vor seinen Augen dahin, doch was er sah, spiegelte nur ein weit größeres Übel, einen seelischen Schmerz, der die Stadt zu verzehren schien. Unter den Willen der Päpste gebeugt, den zeitlichen Herrschern über eine Welt, die nicht mehr den kleinsten Funken Gottesfürchtigkeit besaß.
Er sah, wie sich weiße Flocken auf die architektonischen Überreste der antiken Foren und die Rundbögen des Kolosseums legten, dessen Inneres als aufgebrochene Grotten und Höhlen skelettartig aus dem Boden ragte. Abgestorbene Bäume, Opfer dieses erbarmungslos eisigen Herbstes, waren weiß besprenkelt. Die Stille, die in diesem Augenblick herrschte, verlieh dem Anblick etwas Unwirkliches.
So karg und schal die Darbietung auch war, sah Michelangelo darin doch den Sinn aller Dinge, den Inbegriff einer Stadt, die ihren eigenen Dämonen erlegen war und sich dennoch trotzig auf den Beinen hielt. Rom stellte die Schätze der Vergangenheit wie prachtvolle Narben zur Schau, in Vergessenheit geratene Überbleibsel, deren Glanz vergangener Zeiten dennoch durch das Schneetreiben drang. Die Säulen des Saturntempels ragten wie die Finger eines Giganten in den Himmel, der verwundet, aber noch nicht endgültig bezwungen war.
Wie er so den Schnee fallen sah, spürte er, dass Melancholie von ihm Besitz ergriff. Wie kaltes Feuer breitete sie sich in seiner Brust aus und war nicht zu löschen. Er wusste genau, dass er selbst Teil dieser anschwellenden Flut war, die alles ins Verderben zog und die den Namen der Kirche trug. Er war sogar ihre raffinierteste und effektivste Waffe, war er doch imstande, die Armen und Vernachlässigten zu blenden, ihre Aufmerksamkeit zu bannen, mit dem Glanz seiner großartigen Werke die Sinne zu betäuben. Das Deckengewölbe der Sixtinischen Kapelle, das Jüngste Gericht, die römische Pietà vermochten einen zu verzaubern und verbargen gerade durch diesen Glanz die wahre Essenz der Macht und der Herrschaft.
Er machte sich einfach etwas vor, er nahm das Geld der Päpste und stellte seine Kunst in ihren Dienst. Er verherrlichte die Macht und mehrte ihren Ruf. Während er den Schnee auf die schmutzigen Dächer fallen sah, wurde ihm klar, dass der Erfolg seiner Skulpturen, seiner Fresken, ja seines ganzen Lebens im Grunde ein Verbrechen war, der Schatten des Bösen, das sich selbst erhielt.
Er schämte sich.
Er weinte.
Denn er begriff, wie falsch das war, was er da tat.
Er hatte geglaubt, Gott dadurch näherzukommen, dass er aus Marmor die wunderbarsten Formen herauslöste und mit Pinsel und Farben gleichsam das Lied der Natur selbst anstimmte. Doch diese Hoffnung war zunichtegemacht. Er hatte den Verlockungen des Geldes und, schlimmer noch, des Ruhmes nachgegeben. Wie sehr er sich doch darin gefallen hatte, es zum unangefochtenen Meister der Kunst, zum Hofkünstler, gebracht zu haben. Er hatte sich verkauft, das wusste er nur zu gut. So sehr er sich auch vom Gegenteil zu überzeugen versuchte, tief im Innern wusste er, wie sehr er seinem maßlosen Ehrgeiz Vorschub geleistet hatte.
Bis an den Punkt, an dem er Gefahr lief, sich selbst untreu zu werden.
Er ballte die Fäuste und schwor sich, sich davon loszusagen. Um jeden Preis. Eine solche Befreiung brauchte er noch dringender als die kalte, klare Luft, die er stechend im Gesicht spürte.
Ein ungekannter neuer Wind wehte aus dem Norden Europas. Die Worte eines deutschen Mönches wirkten wie Brandsätze und hatten für ein aufgeheiztes Klima gesorgt. Seine Thesen waren Stigmata auf dem Leib der Kirche aus Luxus und Prunk, Dornen im Fleisch eines Klerus, der schon viel zu lang materiellem Besitz, der Lasterhaftigkeit, der Fleischeslust und dem Ablasshandel ergeben war. Dieser Eigenkult, der die vorrangige Bedeutung von Begriffen wie Glaube, Barmherzigkeit, Frömmigkeit und Opfer aus dem Blick verloren hatte.
Sogar in Rom hatte dieses wenn auch schwache Feuer einen neuen Glauben angefacht, ein beständiges Reflektieren; das war in diesen unglückseligen Zeiten wie eine laue Brise, die nur darauf wartete, zu einem Wind anzuwachsen, der alle Männer und Frauen erreichen würde, die guten Willens waren.
Dieser klaren und redlichen Kraft würde er die kommenden Jahre widmen. Er wollte diesen kleinen Schatz hüten, ihn wie eine Flamme in die Nacht tragen, um das, was ihm vom Leben blieb, zu erhellen.
Er würde sich nicht länger fürchten.
Er straffte sich. Ihm wurde allmählich kalt, doch dieser sanfte, weiße, reine Schnee erschien ihm wie eine himmlische Botschaft, ein Zeichen, geschickt, um den Herzen der Menschen Frieden zu bringen. Er liebte diese Art der Stille, in der das Lärmen der Stadt zum Erliegen kam.
In diesem weißen Mantel, der Macel de’ Corvi einhüllte, war ihm, als stünde er direkt vor Gott, als könne er dessen großen, ruhigen Atem wahrnehmen und seine Stimme wie ein mächtiges, doch friedvolles, fast zärtliches Raunen hören.
Weit entfernt von der Engelsburg, von der Tiberinsel, von jenem Teil Roms, wo Bramante und Raffael in den letzten Jahren Palazzi von unglaublicher Schönheit gebaut und ausgeschmückt hatten. Weiß und leuchtend waren sie, geschmückt mit eindrucksvoller Rustika sowie schlanken, geschmeidig wirkenden Säulen. Michelangelo schwor sich, dass er niemals mehr den Befehlen der Päpste gehorchen würde.
Er würde die Zeit, die ihm blieb, nutzen, um das eigene Herz zu ergründen, dessen Schläge und Gebete. Und was darin bebte, würde er auf den Marmor übertragen. Mehr denn je.
Schließlich ging er wieder hinein.
Die Römische Inquisition
In der Via Ripetta, im Palazzo del Sant’Uffizio, dem Sitz der Römischen Inquisition, nicht weit der Kirche San Rocco, traktierte Kardinal Gian Pietro Carafa seinen langen braunen Bart. Nervös wickelte er ihn um seine groben Finger. Der Monsignore seufzte tief. Er war nervös.
Die Edelsteine, die in seine zahlreichen Ringe eingefasst waren, ließen die Lichtstrahlen der herbstlichen Sonne in vielfarbigen Facetten erstrahlen. Das harte bleiche Licht drang durch die schweren Samtvorhänge vor den hohen Fenstern. Unter den stattlichen Rubinen und Smaragden war der vielleicht am wenigsten strahlende ausgerechnet der des Hirtenrings, so als wollte er die Dunkelheit anprangern, von der die Kirche in diesen Tagen befallen war.
Gekleidet in Kardinalspurpur, mit Mozetta, scharlachrotem Scheitelkäppchen und gleichfarbigem, golddurchwirktem Zingulum, saß Gian Pietro Carafa auf einem Stuhl und wartete darauf, dass sein bester Mann hereingeführt würde. Die Bediensteten hatten ihn bereits angekündigt.
Er erhob sich also von seinem kunstvoll geschnitzten Sitz und sah sich um. Der Raum war so weitläufig, dass sich jeder Besucher darin verloren vorkommen musste. Zumindest bis er sich an die spartanische Einrichtung gewöhnt hatte. Und genau das war die Wirkung, die Kardinal Carafa bei jedem seiner Gesprächspartner erzeugen wollte: ein Gefühl der Verlorenheit.
Abgesehen von fünf weiteren Stühlen und einem großen Kamin bestand die einzige weitere Einrichtung in den vor Handschriften und gebundenen Büchern überquellenden Bücherregalen entlang der Wände.
Der Kardinal, Oberhaupt der Römischen Inquisition, stand nun vor einem der Regale. Er nahm einen kleinen Band heraus und wendete es in den Händen. Er befühlte den Buchrücken und seine Seiten, die er geistesabwesend durchblätterte. Er hatte noch nicht einmal einen Blick auf das Frontispiz geworfen. Er hatte bloß das Bedürfnis, mit etwas zu hantieren. Drohte er, wie er befürchtete, die Geduld zu verlieren, konnte er sich immer noch am Buch festhalten.
Eingedenk seines Temperamentes, des Jähzorns, den er wirklich nur mit Mühe zu zügeln vermochte, war eine solche Vorsichtsmaßnahme alles andere als abwegig.
Der Sekretär kündigte den Gast an.
Daraufhin trat Vittorio Corsini, Hauptmann der Gendarmen des Sant’Uffizio, der Glaubenskongregation, mit einer tiefen Verbeugung ein. Der Kardinal streckte ihm die Hand entgegen, und Corsini küsste ergeben den Hirtenring. Dann richtete er sich wieder zu seiner beachtlichen Größe auf.
»Eminenz, ich höre.« Der Hauptmann machte wenig Worte, war aber von großer Anziehungskraft. Stattliche Statur, breitschultrig, mit eindringlichen grauen Augen und gewichstem Schnurrbart, dessen Enden nach oben wiesen. Es hieß, er habe einen großen Frauenverschleiß, doch der Kardinal legte keinerlei Wert darauf, dieses Detail zu vertiefen. Corsini trug eine rote Jacke, die mit einem goldenen und einem silbernen Schlüssel bestickt war, purpurfarbene Strümpfe und dunkle Stiefel, die bis ans Knie reichten. Ein breitkrempiger Filzhut und ein schwerer pelzgesäumter Mantel vervollständigten seine Kleidung.
Am Gürtel hingen eine Radschlosspistole und ein Schwert mit Korbgriff, dessen durchbrochener Handschutz gold- und silberbeschlagen war.
Der Kardinal räusperte sich. Er umklammerte das Buch und setzte Vittorio Corsini in Kenntnis über das, was ihn in diesen Tagen quälte. »Hauptmann, ob Ihr es glaubt oder nicht, dies sind unheilvolle Zeiten. Unser guter Pontifex Paul III. hat gut daran getan, das Sant’Uffizio zu gründen, um die Häresie zurückzudrängen, denn sie verbreitet sich nicht allein im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, ihre giftige Saat treibt auch hier im Herzen des Kirchenstaates aus!«
»Wirklich, Eminenz?«, fragte Vittorio Corsini ein wenig ungläubig.
»Sicher! Wagt Ihr etwa, meine Worte anzuzweifeln?«
»Oh, gewiss nicht!«
»Sehr gut. Im Übrigen erinnert Ihr Euch sicher sehr gut an die Ereignisse vor ein paar Monaten. Oder täusche ich mich?« Bei diesen Worten bearbeitete er das Bändchen in seinen Händen noch heftiger. Man hätte meinen können, er wolle es zerreißen.
Als aufmerksamem Gesprächspartner entging Vittorio Corsini dies nicht. Er konterte daher: »Euer Eminenz, spielt Ihr auf den Fall Bernardino Ochino an? Den Prediger?«
»Genau den«, fauchte der Kardinal.
»Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, hatte Euer Gnaden ihm befohlen, sich am Sitz des Sant’Uffizio einzufinden, und Ochino hat sich gehütet, diesem Befehl Folge zu leisten. Kaum war er in Florenz angekommen, reiste er von dort aus in die Schweiz.«
»Exakt. Nachdem er in Venedig von der Kanzel der Kirche Santi Apostoli gegen den katholischen Glauben gewettert hatte, hat er sich in die Arme des Häretikers Calvin gestürzt! Aber das ist noch nicht alles!«
»Tatsächlich, Monsignore? Was bedrückt Euch? Sagt es mir, und ich sorge für Abhilfe.«
Der Kardinal ließ ein grausames Lächeln sehen.
»Mein guter Hauptmann, Eure Ergebenheit und Euer Glaube sind lobenswert. Der Eifer, den Ihr bei den Euch übertragenen Aufgaben an den Tag gelegt habt, ist mir teurer als die Liebe eines Sohnes und, wie ich hinzufügen möchte, nötiger denn je. Ihr müsst nämlich wissen – aber das ahntet Ihr vermutlich schon –, dass es beim Heiligen Stuhl verschiedene politische Positionen gibt. Jede steht für ein eigenes, klar umrissenes Anliegen oder Interesse, sei es das von Kaiser Karl V., diesem Franzosenfreund, der allen Ansprüchen Franz I. nachkommt, oder zu guter Letzt – und gewiss nicht, was Größe und Bedeutung angeht – die verdammten Medici aus Florenz. Ganz zu schweigen davon, dass Venedig, diese Hure der Meere, sich natürlich nicht damit begnügen wollte, nur zuzusehen. Und doch sind all diese unterschiedlichen Haltungen und Bestrebungen gar nichts gegen die eines bestimmten Kardinals, eines einzigen, der es darauf anlegt, offen gegen meine unumstößliche Position Stellung zu beziehen.«
»Euer Gnaden, Ihr habt Kardinal Reginald Pole im Sinn?«
Bei der Erwähnung des Namens schloss Gian Pietro Carafa die Augen, als wollte er dem obersten Gebot besondere Geltung verschaffen: dem der Wahrheit. Als er sie wieder öffnete, schien sich in seinem Blick das feurige Rot der Glut im Kamin am anderen Ende des Raumes widerzuspiegeln.
»Ganz recht, genau der. Ebendieser Kardinal Reginald Pole ist der Stachel im Fleisch, die treulose Viper, die kraft seiner Abstammung und seiner naturgegebenen Kühnheit, die ihm aus dem Schutz durch den König von England erwächst, in seinem Schlangennest eine Brut kriechender Ungeheuer heranzieht.« An dieser Stelle wurde der Kardinalinquisitor heiser, und seine Stimme zitterte vor Wut; ohne noch etwas hinzuzufügen, hatte Gian Pietro Carafa das Buch auf den Boden geschleudert.
Vittorio Corsini hatte nicht die geringste Gefühlsregung gezeigt. Er war an die Zornesausbrüche der Eminenz gewöhnt und wollte ihn keinesfalls noch mehr reizen. Der Kardinal schien seine unterschwellige Wut geradezu liebevoll zu hegen, so als sei der Groll für ihn eine Form der Kunst, eine göttliche Gabe, die nicht abhandenkommen sollte, im Gegenteil, die Tag für Tag versorgt, genährt und schließlich zu einer tödlichen und unfehlbaren Waffe geschärft sein wollte.
»Was also kann ich tun, um Eure Qual zu lindern, Eminenz?« Corsini wusste genau, dass er heuchlerisch sein musste, ganz dem Willen des Kardinalinquisitors ergeben, wenn er sich nicht dessen Zorn und somit seiner Rache aussetzen sollte, die unfehlbar auf dem Fuße folgen würde.
»Haltet Ihr mich für verrückt, Corsini? Dass ich mich zum Vergnügen so aufführe? Dass ich nur darauf warte, in Zorn zu geraten?«
»Nicht im Geringsten, Euer Gnaden! Ich denke, Ihr seid das letzte Bollwerk angesichts eines überwältigenden Anwachsens der Ketzerei.«
Carafa nickte. »Da habt Ihr erneut recht, Hauptmann, mehr noch, Ihr hättet mir keine bessere Antwort geben können. Genau so ist es! Denn es ist eine Tatsache, dass Luthers Thesen auf deutschem Boden außerordentlichen Erfolg hatten. Ebenso in Holland und Flandern, und ich fürchte, sie könnten auch Frankreich untergraben, auch wenn Franz I. von Valois anscheinend mit Erfolg die Bestrebungen zu bremsen versucht, mit denen die Kritiker die katholische Kirche auseinandertreiben wollen. Doch wie lange noch? Was England angeht, nun schön, die waren schon immer ein zusammengewürfelter Haufen halb Ungläubiger. Seht Ihr, wie schlimm es um uns steht? Und was soll ich nun tun? Das Haupt senken? Mich geschlagen geben, ohne zu kämpfen? Niemals! Deshalb, mein guter Corsini, habe ich Euch rufen lassen. Denn, seht Ihr, besagte Häresie scheint nicht allein aus dem Munde von Kardinal Pole zu kommen, sondern auch über die korallenroten Lippen einer Frau.«
»Einer Frau?« Dieses Mal war der Hauptmann wirklich überrascht. War das also der Grund, aus dem ihn der Kardinal zu sich bestellt hatte? Eine Frau? Die Bedrohung bekam rätselhafte Züge und war schwer zu greifen.
»Ganz recht. Vittoria Colonna, mein lieber Corsini. Sie ist die Frau, von der ich spreche.«
»Die Marchesa di Pescara?«
»Genau die.«
»Darf ich fragen, welchen Vergehens sie sich schuldig gemacht hat?«
»Das weiß ich noch nicht genau. Doch Kundschafter und Spione haben mir signalisiert, dass sie geheime Verbindungen zu Reginald Pole unterhält. Ich weiß bloß nicht, zu welchem Zweck, auch wenn ich es mir natürlich denken kann. Aber ich brauche noch mehr Informationen. Und Beweise. Das ist also der Grund, warum ich Euch habe rufen lassen – lasst sie überwachen. Ich will, dass sie Tag und Nacht beobachtet wird. Ein Spion soll sich ganz und gar ausschließlich ihr widmen. Zumindest so lange, bis ich weiß, was ich wissen will. Wählt die betreffende Person mit Bedacht aus. Die Marchesa soll nicht wissen, dass man sie im Auge hat, und noch weniger soll sie den Spion, den Ihr auf sie ansetzt, mit uns in Verbindung bringen können.«
»Ich habe verstanden.«
»Sehr gut. Ich weiß, dass Ihr viel im Kopf habt, aber denkt daran, dass dies absolute Priorität hat. Tragt also Sorge, wirklich unseren besten Mann zu beauftragen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Kristallklar.«
»Ausgezeichnet. Dann bitte ich Euch, so bald als möglich mit den Nachforschungen zu beginnen. Ich erwarte Euren Bericht Ende der Woche. In Ordnung?«
»Wird gemacht.« Mit einem Hüsteln versuchte der Gendarmeriehauptmann, die Aufmerksamkeit des Kardinals für ein Detail zu gewinnen, das ihm allzu oft zu entgehen drohte. Ganz offenbar war dieser Gedächtnisverlust vorsätzlich.
»Ihr seid noch da?«, fragte Carafa unwirsch, der nicht begriff, wieso Vittorio Corsini sich noch nicht entfernt hatte.
»Es gäbe da noch ein an sich unbedeutendes Anliegen, das jedoch unbedingt der Beachtung bedarf, Euer Gnaden.«
In den Augen des Kardinals blitzte es auf. »Ah, natürlich, ich verstehe!« Kommentarlos holte er aus einer Tasche seines Gewandes ein klimperndes Samtsäckchen. »Fünfhundert Dukaten. Macht Euch keine Hoffnungen, noch mehr aus mir herauszuholen, Corsini.«
Mit diesen Worten warf Carafa dem Hauptmann das Säckchen zu. Raubvogelartig ließ der seine behandschuhte Hand vorschnellen, um es aufzufangen.
»Gut, dann geht jetzt.« Damit hüllte der Kardinal sich in ein Schweigen, das keine weiteren Erwiderungen mehr zuließ, und entließ Corsini mit einem Kopfnicken.
Während der Hauptmann auf die Tür zusteuerte, ging Gian Pietro Carafa zu seinem Stuhl zurück. Er ließ sich darauf fallen, als sei er von einer unsichtbaren Bleikugel getroffen worden. Die Arme lagen schlaff auf den Lehnen, der Blick ging ins Nichts.
Die Schlacht hatte begonnen.
Er wusste, dass er sie nicht verlieren durfte.
Das Treffen
Bei ihrem Anblick war Michelangelo geblendet von der Anmut, die sie ausstrahlte und unwiderstehlich machte.
An diesem Tag sah Vittoria Colonna einfach bezaubernd aus. Das lange kastanienbraune Haar war unter einer weißen Haube zusammengefasst. Die lebhaften und von einer nicht zu deutenden Melancholie durchzogenen Augen leuchteten im Licht der Kerzen. Die Perlen der schlichten Kette, die ihren Hals schmückte, schienen wie aus der Morgendämmerung geronnen. Sie trug ein prächtiges himmelblaues Kleid. So gemäßigt ihr Ausschnitt auch war, so vermochte er doch ihre Brust nicht zu verbergen.
Michelangelo war dieser nachdenklichen, klugen, mehr noch geistigen als äußeren Schönheit verfallen. In ihrer Gegenwart nahm er eine überwältigende innere Kraft wahr, eine Flamme, die das Herz eines jeden Gesprächspartners hätte entzünden können.
Seit einiger Zeit traf er sich regelmäßig mit ihr, denn die Gespräche mit ihr waren ein Vergnügen, auf das er nicht mehr verzichten wollte.
Vittoria wusste ihre Worte wohl zu wählen, mehr noch, sie schien schon im Vorhinein zu wissen, was er dachte, und zwar nicht aus irgendeiner Intuition heraus, sondern aufgrund eines gemeinsamen Empfindens, einer wahrlich übernatürlichen Affinität zwischen ihnen.
»Ich sehe, Ihr seid müde, Messer Michelangelo«, flüsterte sie, »dabei hätte ich gedacht, Ihr müsstet doch nun zufrieden sein, angesichts dessen, was Ihr auf Erden erreicht habt.«
Statt einer Antwort schüttelte Michelangelo nur den Kopf. Er wünschte sich innig, Vittoria werde die Wut nicht bemerken, die in seiner Brust tobte.
»Und doch sehe ich, dass Euch etwas quält, ein Groll, der sich jedoch in keiner Weise gegen andere richtet, sondern gleich einem umgebogenen Schwert auf Euch selbst zielt, so als wärt Ihr selbst der Urheber Eures Unglücks. Oder täusche ich mich?« Bei diesen Worten nahm sie sein Gesicht in ihre Hände und zwang ihn so, sie anzusehen.
Er spürte, wie ihre weißen, schmalgliedrigen Finger ihm durch den Bart fuhren, den er eine Spanne lang hatte wachsen lassen, und dann sein Gesicht umfassten, dass es ihm fast schon wehtat. Wieder einmal überraschte sie ihn – wie eigentlich immer, wenn sie sich mit ihm traf. Sie kam sogar in sein leeres, kaltes Haus, wo nur die Schmiede lodernde Glut zu kennen schien. Der Marmor der Skulpturen hingegen, die er zu vollenden suchte, die Stechbeitel, Hammer, Stemmeisen, Spitzmeißel und Hohleisen waren nichts anderes als die eisigen Gitterstäbe jenes Käfigs seines Zorns, in dem er gefangen war.
»Lasst ihn heraus, all diesen Schmerz. Was verzehrt Euch? Erzählt mir davon, ich bitte Euch, ich kann das nicht mit ansehen!«
Einen Augenblick lang versenkte sich Michelangelo tief im Goldbraun ihrer Augen, diesem betörend warmen und lieblichen Ton. »Vielleicht werde ich es Euch eines Tages sagen können«, antwortete er mit gesenktem Blick. »Aber ich bin so damit beschäftigt, mir selbst leidzutun, dass ich fast vergessen habe, dass ich Euch etwas geben wollte.«
»Oh, wirklich?« Vittoria riss die Augen auf.
Michelangelo entfernte ihre Hände sanft von seinem Gesicht. »Wartet hier.« Damit begab er sich in den Raum, der als Werkstatt diente. Abgesehen von einer Skulptur unter einem Tuch, von der man ahnte, dass sie sehr eindrucksvoll war, befanden sich dort noch einige Blöcke weißer Marmor und eine Staffelei. Des Weiteren ein Arbeitstisch mit Mörsern zum Zermahlen der Pigmente, um daraus Farben und Lacke herzustellen, außerdem Vorzeichnungen und Farbstifte, Stößel, Gefäße, Spachtel und eine Unzahl anderer Kleinigkeiten, die l’Urbino, sein Gehilfe und faul wie kein Zweiter, immer aufzuräumen vergaß.
Dort befand sich, fast nicht zu sehen in dem Haufen von Dingen und Werkzeugen, ein kleines in Stoff gehülltes Bündel, dessen Form und Inhalt nur schwer zu erraten waren.
Äußerst behutsam und vorsichtig zog Michelangelo es hervor und kehrte in das Zimmer zurück, in dem Vittoria Colonna auf ihn wartete.
»Ist es das, was ich vermute?«, fragte sie ungläubig.
»Schaut selbst nach«, sagte er und reichte ihr das Bündel.
Vittoria wickelte den Stoff aus, der das Objekt barg. Sie entdeckte ein zusammengerolltes Zeichenblatt, das von einem Bindfaden zusammengehalten wurde. Sie löste den Knoten und breitete es vor sich aus. Als sie es vor Augen hatte, fuhr sie zusammen.
Ihr Blick fiel voller Bewunderung auf ein Bild von kleinem Ausmaß, aber von solch unbeschreiblicher Schönheit, dass ihr unwillkürlich die Tränen herabliefen. Sie konnte sie nicht zurückhalten.
Sie nahm die Zeichnung in die Hand. Trotz der geringen Größe war das, was sie erblickte, von solcher Kraft, dass ihr einen Augenblick lang die Hände zitterten. Sie sah den ans Kreuz genagelten Jesus – die Muskeln präzise herausgearbeitet und angespannt fast bis zum Krampf, der Gesichtsausdruck durchzogen von solchem Leid, dass es einem das Herz zerriss.
Am Fuße des Kreuzes befand sich ein Totenschädel und zu beiden Seiten, kaum angelegt, zwei Engel, die Christus im entscheidenden Moment der Kreuzigung betrachten und beklagen.
Es war, als hätte Michelangelo als Schöpfer dieses wunderbaren Werkes Jesu Körper zu einer Landkarte des Schmerzes und der Frömmigkeit machen wollen, doch nicht ganz ohne einen Schimmer der Hoffnung, die vage in seinem Blick zu liegen schien.
Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Ihr war, als hätte sie ein plötzliches Fieber ergriffen.
Sie seufzte.
Sie war der absoluten Schönheit nicht gewachsen. Für Michelangelo hingegen schien die Anschauung des Göttlichen die Regel zu sein, ganz alltäglich. Dabei war es für ihn keineswegs selbstverständlich, er war der Erste, den dies erstaunte. Doch die Leichtigkeit, mit der er die Perfektion malte, zeichnete und skulptierte, machte seine Bewunderer absolut sprachlos.
Was Vittoria wirklich verstummen ließ, war, wie absolut die Figur Jesu ins Zentrum gerückt war, wie sehr sie quasi bis zur Abstraktion auf ihre pure Essenz reduziert war, als hätte Michelangelo sie jeder denkbaren Verehrung und Verherrlichung entledigen wollen, indem er alles auf eine ganz besonders demütige, schlichte und persönliche Sicht konzentrierte.
In dieser Konzentration lag all der Gram, all seine Liebe und der innere Kampf, den der größte Künstler seiner Zeit durchlebte.
Nun erkannte Vittoria, was ihn bedrückte, was Tag für Tag an seinem Herzen nagte.
Und da diese Zeichnung ihr alles offenbart hatte, was es zu wissen gab, waren die Worte, die sich ihr zuvor aufgedrängt hatten, wie im Mund verdorrt, wie ausgetrocknet von der eisigen Sonne dieses Herbstmorgens.
»Danke«, war alles, was sie sagte; sie konnte ihren Blick nicht von der Zeichnung lösen. Sie erkannte einerseits, dass Gott ihr ein großes Geschenk damit gemacht hatte, Michelangelos Seele lesen zu können, andererseits wurde ihr bewusst, dass er von göttlichem Auftrag inspiriert war, denn es war nicht zu bestreiten, dass seine entblößten, nackten, einsamen Gestalten von einer ganz neuen ikonografischen Kraft waren, die gut zur demütig schlichten Sprache ihres guten Freundes Reginald Pole passten.
Da dies für sie so absolut klar war, nahm sie all ihren Mut zusammen und versuchte, mit Michelangelo darüber zu sprechen.
»Messer Michelangelo, Euer Geschenk ist für mich deshalb so kostbar, weil ich darin nicht nur Euren Schmerz sehe, sondern den all der Männer und Frauen, die in diesen Zeiten von der Epidemie des Lasters erfasst wurden, die Rom zu verschlingen droht. Ich weiß, dass das, was ich Euch sagen will, Euch vielleicht überrascht, doch zugleich denke ich, dass es auch nicht völlig an Euch vorbeigegangen sein kann, dass manch einer ein großes persönliches Opfer bringt, um für eine neue Sicht auf die Welt zu kämpfen – bescheidener, schlichter, wesentlicher.«
»Wirklich«, fragte Michelangelo fast ungläubig, »gibt es solche Leute, abgesehen von Euch, meine liebe Vittoria?«
Die Marchesa di Pescara nickte. »Gewiss, und wenn Ihr nichts dagegen habt, wäre es mir eine Freude, Euch mit ihnen bekannt zu machen.«
Michelangelo schaute sie an. Zum ersten Mal an diesem Tag sah Vittoria, wie ein heiterer Glanz in seine Augen trat, so als hätte ihm diese Ankündigung den ersten glücklichen Moment seit Längerem beschert.
»Nichts wäre mir lieber.«
»Auch wenn dies eine Gefahr für Euch darstellen würde?«
Michelangelo seufzte. »Vittoria, ich bin mittlerweile achtundsechzig Jahre alt. Ihr seht selbst, in welch elenden Verhältnissen ich lebe. Und damit meine ich nicht die wirtschaftlichen Verhältnisse, denn da kann ich mich gewiss nicht beklagen. Sondern alles andere. Es ist, als hätte ich im Namen der Bildhauerei und der Malerei mich selbst verleugnet. Und in gewisser Hinsicht stimmt das ja auch. Die Kunst verlangt Disziplin und absolute Hingabe und ist die eifersüchtigste und anspruchsvollste aller Geliebten. Ich habe ihr mein Leben gewidmet, doch nun, da ich alt, allein und müde bin, wund an Körper und Seele, bleibt mir nichts als das Vergnügen Eurer Gesellschaft, und das ist der beste Trost und Schutz vor der Bitterkeit, der ich schwacher Mann mich so gern ergebe. Daher antworte ich Euch: selbstverständlich! Auch wenn die Personen, die Ihr mir vorstellen werdet, eine Gefahr darstellen sollten, bitte ich Euch dennoch, mich mit ihnen bekannt zu machen, denn Ihr, Vittoria, seid das einzige Licht, das ich kenne.«
Diese Worte versetzten der Marchesa di Pescara einen Stich ins Herz. »Nun gut. Ihr werdet bald von mir hören. Jetzt muss ich gehen.«
Der Rückzugsort
Es war kalt, und es schneite.
Die Bäume schienen mit ihren nackten Ästen nach dem verhangenen Horizont greifen zu wollen, der ein bisschen aussah wie ein glänzend polierter Silberstab, den ein zerstreuter Trödelhändler dort hatte liegen lassen.
Michelangelo roch den Duft des Winters: Er war schwer zu beschreiben; was ihn ausmachte, war ein schwacher Geruch nach Holz, Aromen von Rauch und Schnee, und er erreichte den Geruchssinn in jener eigenartigen Mischung, die Michelangelo bestens kannte, denn er war schon einige Male auf den felsigen Wegen der Gegend unterwegs gewesen, in den steilen Schluchten des Berges Altissimo nahe Seravezza. Diese Felsnadeln gehörten zu den Apuanischen Alpen, und sie erinnerten ihn mit ihren schroffen, wilden Hängen an die Zeit in Carrara, in denen er in die Steinbrüche gegangen war, um dort die Marmorblöcke auszusuchen und dann persönlich glatt zu schleifen. Es waren diese spröden Gebirgszüge, durch die er bis in den letzten Winkel mit den Marmorbrechern und Steinhauern gezogen war.
Auch wenn er nun in Carrara nicht mehr gern gesehen war, seit er wegen Giulio de’ Medici eine Bestellung stornieren musste, die so groß war, dass damit beinahe all diese außergewöhnlichen Handwerker und ihre Familien in den Ruin getrieben wurden. Dennoch konnte er nicht anders, er musste den winterlichen Wald und die Steinbrüche aufsuchen. Es war eine Art Ritual, eine eingefleischte Angewohnheit, auf die er, selbst jetzt mit müden Gliedern und Muskeln, die von lebenslangen Hammerschlägen taub waren, nicht verzichten mochte.
Diese Ausflüge schärften seinen Sinn für Opfer und Entsagung, der ihm schon immer geholfen hatte, nicht zum Sklaven der irdischen Genüsse zu werden.
So hatte er im Lauf der Jahre ein anderes Refugium aufgetan, ein anderes Gebiet, das es zu erkunden galt. Dort gab es einen Marmor, der so rein und von ebenso geschlossener Struktur war wie der von Carrara. Er war von bester Qualität, und vor allem befand er sich in einer ebenfalls rauen Gegend, die ihm die gleiche Ruhe und Stille versprach, welche die einzige Kraftquelle für seine zerrissene Seele darstellte.
Und so machte er sich unverzüglich auf den Weg.
Er bestieg einen Rappen. Wegen seines glänzend schwarzen Fells hatte er ihn Inchiostro – Tusche – genannt. Er nahm den gewundenen Karrenweg. Der dumpfe Rhythmus von Inchiostros Hufschlägen hallte in der verlassenen Felsschlucht wider. Michelangelo erblickte eine kleine Hochebene, eine unregelmäßig runde Fläche, die sich ein paar Schritte weit rechts vom Weg erstreckte – wie eine Art Narbe in diesem Areal kahler Bäume, grauer Felsen und Schneekrusten.
Er begab sich in die Mitte der Fläche und stieg vom Pferd. Er nahm Inchiostro am Zügel und band ihn an einen Baumstamm.
Dann bereitete er das Feuer für die Nacht vor.
Er verspeiste das Fleisch, das er über dem Feuer gebraten hatte. Er mochte dessen Festigkeit und den intensiven, schon fast beißenden Geschmack. Er trank einen Schluck schweren Wein dazu, und im glutroten Widerschein der Flammen begann er zu schreiben.
Später richtete er, eingewickelt in seine Decke, seinen Blick zum Himmel. Für einen Moment stockte ihm der Atem angesichts der fast schmerzlichen Schönheit dieser Darbietung: das dunkle Himmelsgewölbe, besetzt mit Hunderten und Aberhunderten von Perlen.
Er hörte das Heulen der Wölfe – von ferne schienen sie ihn daran erinnern zu wollen, wie grausam das Leben außerhalb der großen Städte wie Rom, Florenz oder Bologna war. Er kannte sie voller Leben, Geschäftigkeit und Lärm, doch trotz der vielen Erfolge, der Aufträge, die ihm der Ruhm eingebracht hatte, träumte er stets davon, in diese rauen Gegenden zurückzukehren, die des Nachts die Geheimnisse eines urväterlichen und ungezähmten Geistes offenzulegen schienen.
Noch für paar Zeilen lang ließ er die Feder übers Papier gleiten. Schwarze Linien durchzogen das Papier, das im Licht der Flammen fast rot erschien. In der Nähe des Feuers war die Wärme so angenehm und durchdringend, dass Michelangelo langsam einnickte und schließlich, Gott dankend, einschlief.
Doch irgendetwas weckte ihn sofort wieder.
Er hörte knackendes Holz, dann, plötzlich, zwischen den kahlen Bäumen und den Felsen ein leises Knurren, das die gesamte kleine Ebene erfüllte.
Wilde Natur
Vor sich sah er zwei gelbe Lichter im Dunkel. Sie schimmerten wie Goldmünzen.
Das Knurren nahm an Intensität zu, erfüllte den Wald, die Steine, die Ebene. Es schien sich in Zeit und Raum zu vervielfältigen.
Dann ein Wiehern: hoch, laut und voller Schrecken.
Inchiostro! Er musste ihn beschützen.
Michelangelo stand auf, griff sich einen brennenden Scheit und leuchtete den Platz um sich herum aus. Die feurigen Spuren, die die Flammen zeichneten, schienen andere Lichtlein aufzunehmen, die in der Nacht leuchteten.
Ohne noch mehr Zeit zu verlieren, steckte Michelangelo den Scheit in den Schnee. Er holte weitere brennende Äste aus dem Lagerfeuer und schuf so innerhalb kürzester Zeit einen brennenden Kreis um sein Biwak. Nun sah er viel besser. Doch was er entdeckte, gefiel ihm mitnichten. Mindestens ein halbes Dutzend Wölfe stand vor ihm. Also nicht wirklich ein Rudel, aber genug, um ihn und sein Pferd in Stücke zu reißen, wenn sie alle zusammen angreifen würden.
Er durchwühlte das Reisegepäck und fischte aus seinem Arbeitswerkzeug ein Klopfholz heraus. Er hätte lieber was mit einem längeren Griff gehabt, um die Raubtiere besser auf Distanz halten zu können, aber er hatte nichts Besseres. Er griff nach einem brennenden Scheit aus der Feuerstelle, das größte, das er finden konnte, und machte sich zur Verteidigung bereit.
Die Wölfe kamen näher. Sie rückten von verschieden Stellen aus vor und umzingelten den Feuerkreis, den Michelangelo errichtet hatte. Sie waren groß und hatten dichtes Fell. Augen, die das Dunkel durchbohrten. Erbarmungslose Augen.
Er sah ihre groben Schnauzen mit den weißen Reißzähnen, den dunklen, hochgezogenen Lefzen, den Speichel, der ihnen in Fäden aus den hungrigen Mäulern tropfte.
Der, der dem Feuerkreis am nächsten war, preschte plötzlich mit Höchstgeschwindigkeit nach vorn und hielt auf die Beute zu.
Michelangelo spürte kalten Schweiß auf der Stirn. Seine Glieder schienen einen Augenblick lang aus Marmor zu sein. Er schüttelte den Kopf, die Haare flogen. Genau in dem Augenblick, als der große Wolf zum Sprung über die hohen Flammen der Scheite im Schnee ansetzte, umfasste Michelangelo den hölzernen Hammer fester, hob die Fackel, die er in der anderen Hand hielt, und hieb, als der Wolf genau vor ihm war, mit aller verfügbaren Kraft auf dessen Kopf.
Als die Hinterhauptknochen unter dem Hieb des mit unglaublich brachialer Kraft geführten Schlagwerkzeugs brachen, war ein deutliches und etwas beunruhigendes Knacken zu hören. Das Raubtier lag mit eingeschlagenem Schädel im Schnee. In hohem Bogen schoss das Blut auf die weiße Schneedecke.
Ein furchtbares Heulen war zu hören. Und während der zweite Wolf noch zum Sprung ansetzte, gelang es Michelangelo mit einer gut ausbalancierten Drehung des Oberkörpers, ihm das Scheit in den aufgerissenen Rachen zu rammen. Seitlich zu Boden geschmettert verendete der Wolf, doch es gelang ihm noch, zittrig einen Hieb mit der Tatze zu führen. Die Klauen zerfetzten Michelangelos wollene Tunika und fügten ihm eine tiefe Wunde an der Schulter zu. Blutige Linien zogen sich durch sein Fleisch.
Er merkte, wie sein Körper wie Feuer brannte, doch er konnte sich unmöglich erlauben nachzulassen.
Inchiostro, der, wahnsinnig vor Angst, mit weit aufgerissenen Augen wieherte, trat aus und traf den Wolf mit dem durchbohrten Rachen, zermalmte ihm den Kopf und verwandelte ihn in eine blutige Masse aus Hirn und Knochen.
Währenddessen ergriff Michelangelo eines der im Schnee steckenden Scheite und ließ es kreisen wie eine Fackel.
Die übrig gebliebenen Bestien schienen zurückzuweichen.
Das Knurren ließ nach.
Wieder wedelte er mit der notdürftigen Fackel und zog Leuchtspuren durch die Luft. Die kleine Ebene, die von den Flammen des Feuers erleuchtet wurde, schien in einen Feuerregen getaucht. Michelangelo hoffte, dass die wilden Tiere so aufgeben würden.
In der Wunde pulsierte ein nicht nachlassender scharfer Schmerz. Er hatte das Gefühl, dass etwas aus der Seele des Wolfes auf ihn übergegangen sei und sein Hunger und sein Instinkt auf ihn übertragen worden sei.
Er schrie.
Immer lauter.
Er wusste, dass ihn niemand hören würde.
Die Wölfe zogen sich nach und nach zurück. Zwei blieben mit zerschlagenen Knochen reglos im Schnee liegen.
Sobald er sie mit eingekniffenem Schwanz fliehen sah, ging Michelangelo zu Inchiostro. Er streichelte dessen muskulösen Hals, spielte mit der Mähne und wickelte sich die langen Strähnen um den Finger, schließlich legte er ihm die rechte Hand auf die Schnauze.
Inchiostro schien sich zu beruhigen. Er stampfte mit dem rechten Vorderhuf auf dem kargen, schneegesprenkelten Boden auf und ließ ein leises Wiehern hören. Michelangelo streichelte ihn nochmals und nahm dann eine Handvoll Schnee und ließ sie in den Händen schmelzen, die er zu einer Schale formte und Inchiostro vors Maul hielt. Er wartete, bis das Pferd alles bis zum letzten Tropfen getrunken hatte. Als er die große, raue Zunge an den Handflächen spürte, gab er ihm einen sanften Nasenstüber und streichelte ihm noch etwas über die Flanken.
Schließlich beschloss er, das Feuer wieder anzufachen.
Nach dem, was geschehen war, würde er bestimmt nicht mehr schlafen können. Er musste die Gebeine der getöteten Wölfe beiseiteschaffen und das Lager bis zum Morgengrauen bewachen. Und er musste auch nach seiner Verletzung sehen, damit kein Wundbrand entstand.
Er war müde. Und Inchiostro noch mehr als er.
Er hoffte, er würde sich ausruhen. Wenn das Tier am nächsten Tag zu erschöpft wäre, dann wäre die Gefahr bestimmt groß, dass er sich ein Bein bräche. Allein der Gedanke machte ihm Angst und Bange.
Der Steinbruch
Während er sich dem Steinbruch näherte, führte er Inchiostro am Zaumzeug und bewegte sich vorsichtig zwischen den vereisten Flächen des felsigen Saumpfades. Sein Geist sträubte sich gegen die Erinnerungen an eine Obsession. Immer, wenn er in den Hügeln unterwegs war, dachte er an Julius II., den Papst und kriegerischen Territorialfürsten, der Rom in seiner Hand hatte, wie es eher einem Monarchen entspräche als einem Mann des Glaubens.
Im Übrigen war er es gewesen, der Bologna für die Kirche zurückerobert hatte, der die Franzosen vertrieben und sie gezwungen hatte, sich jenseits der Alpen zurückzuziehen. Julius hatte von Florenz den Rauswurf des Gonfaloniere Pier Soderini verlangt, der dafür verantwortlich war, dass ihm zum Vorteil des verhassten Ludwig XII. von Frankreich Unterstützungstruppen verweigert worden waren. Mit der Androhung eines Interdiktes hatte er die Florentiner gezwungen, Soderini ins Exil zu schicken.
Seither war einige Zeit vergangen, aber das Werk, an dem er weiterhin arbeitete und das ihn inzwischen an die vierzig Jahre Qual und Leid gekostet hatte, schien niemals fertig zu werden: das Grabmal Julius II. Julius war gestorben, aber seine Erben, die della Rovere und ganz besonders Guidobaldo II., hatten das Grabmonument nicht aufgegeben. Im Gegenteil, es verging kein Monat, in dem sie nicht nach dem Stand der Arbeiten fragten und danach, wie lange es noch bis zu seiner Fertigstellung dauern würde. Michelangelo konnte die Gründe nachvollziehen, doch nach dieser schier unendlichen Zeitspanne war es ihm immer schwerer gefallen, diesem Projekt, das ihn nicht mehr mit Leidenschaft erfüllte, Aufmerksamkeit und Energie zu widmen. Nun, in mittlerweile völlig veränderter Gemütsverfassung, war er dessen müde und überdrüssig.
Dass er ihm jetzt aus Anlass des sechsten Vertrages vielleicht zum letzten Mal gegenübertreten sollte, war ein Gedanke, der in seinen Schläfen hämmerte wie ein unaufhörlicher Schrei, der ihm Schlaf und inneren Frieden raubte.
Genau aus diesem Grund würde er, sobald er die Marmorblöcke ausgesucht und grob behauen hatte, wieder auf Inchiostros Rücken steigen und ihn aufs Äußerste antreiben müssen, um so schnell wie möglich nach Rovigo zu gelangen. Dort würde er Guidobaldo II. della Rovere treffen, Söldnerhauptmann und Oberbefehlshaber des venezianischen Heeres der Terraferma, den Gebieten auf dem Festland, um mit ihm die letzten Klauseln des Vertrags zu besprechen.
Julius II. war ein schwieriger, temperamentvoller Mensch, der stets in Wut geraten und in Empörung schwelgen konnte, als seien sie für ihn eine unerschöpfliche Quelle des inneren Antriebs. Michelangelo erinnerte sich an seine kleinen Augen, in denen jederzeit der Zorn stehen konnte, was die sorgsam verborgene Heuchelei demaskierte, die sich hinter den scharf geschnittenen Gesichtszügen mit den schmalen und für alle Zeit zu einem verächtlichen Lächeln verzogenen Lippen verbarg.
Gewiss, die enorme Energie, die Begeisterung, die ihn bisweilen wohlwollend erröten ließ, waren rare und deshalb kostbare Momente, die jene, die er liebte, entschädigten. Und Michelangelo konnte wohl von sich sagen, dass er zum Kreis derer zählte, die die Gunst Julius II. genossen. Zumindest eine Zeit lang. Doch war er auch wechselhaft, unberechenbar und mehr als geneigt, seinen Launen und Gelüsten nachzugeben. So konnte ein Projekt, das er für unaufschiebbar erklärt und mit großem Nachdruck in Auftrag gegeben hatte, noch vor der Fertigstellung wieder aufgegeben werden, weil er nun ein völlig anderes, noch kühneres und verrückteres wollte als das vorherige.
Michelangelo schüttelte den Kopf.
In einer leichten Senke im felsigen Gelände stieg er ab.
Die Verletzung schmerzte ihn. Er hatte sie mit Essig gesäubert, damit sie sich nicht entzündete und am Ende gar zum Wundbrand führte. Nachdem er sie gründlich ausgewaschen hatte, hatte er die Wundränder sorgsam mit Nadel und Faden verschlossen. Dabei hatte er einen kleinen Spiegel zu Hilfe genommen, den er immer bei sich trug. Zu guter Letzt kam noch eine Binde, wofür er ein Stück feines Leinen verwendete.