Buch
Auf der Suche nach einer dringend nötigen Auszeit beschließt Christian Busemann, sich auf die Spuren seines früh verstorbenen Vaters zu begeben und von Florenz nach Assisi zu pilgern. So macht er sich als waschechtes Pilger-»Küken« auf, um den Franziskusweg zu erwandern und die Orte zu besuchen, die seinem Vater so viel bedeuteten. Zwischen Übergepäck, Glaubenskrisen, Schweißgeruch und Orientierungslosigkeit geht es im Laufschritt durch die schönen Weiten der Toskana und Umbriens. Was Christian Busemann hier übers Pilgern lernt, gibt er kurzweilig und informativ weiter: Von Vorbereitungen und Packlisten, über hilfreiche Apps bis hin zum kleinen Einmaleins des Vor-Ort-eine-Unterkunft-Organisierens – hier finden sich jede Menge Inspirationen und nützliche Informationen für Abenteuer im Pilgermodus. Und vor allem: beste Unterhaltung für alle Pilger-Interessierten!
Autor
Christian Busemann arbeitet als Autor, Entwickler und Produzent von TV-Produktionen. Außerdem hat er die erfolgreiche Papa To Go-Reihe ins Leben gerufen. Nun hat er sich einer ganz neuen Herausforderung gestellt: dem Franziskusweg. Wenn er nicht gerade als Neu-Pilger unterwegs ist, lebt Christian Busemann mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Hamburg.
Außerdem von Christian Busemann im Programm
Papa To Go – Schnellkurs für werdende Väter
Papa To Go – Intensivkurs für Väter
Papa To Go – Yoga für gestresste Väter
Parents To Go – Das Reisebuch für Eltern
CHRISTIAN BUSEMANN
Easy nach Assisi
PILGERN FÜR EINSTEIGER
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Originalausgabe April 2021
Copyright © 2021: Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Fotos: Christian Busemann
Umschlag: Uno Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: FinePic®, München
Redaktion: Joscha Faralisch
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
KW ∙ IH
ISBN 978-3-641-25171-0
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»Vires acquirit eundo« –
Auf dem Weg werden wir stärker!
Alte Stoiker-Weisheit
Für »Karl Zwei«
Dein Tutu
Vorab: Gruß vom Pilgerweg aus Sant’Ellero
Der Weg zum Weg
Die Vorbereitungen
Die Etappen
Assisi
Anhang
Bücher, Links, Apps
Welche Pilgerwege gibt es noch?
Register
Mein Herz pocht, mein Kopf glüht. Die Trageriemen auf meinen dürren Schultern empfinde ich ehrlicherweise als unfreundlich und fies. Ich befürchte bereits jetzt schon leichte Druckstellen in meiner zarten Haut. Spitze! Wenn ich mir ein Mal einen 15 Kilo schweren Rucksack auf den Rücken werfe …
Mein Problem ist gerade allerdings ein ganz anderes. Wie komme ich an diesem Prachtexemplar eines Laubbaumes – keine Ahnung welche Sorte, Gattung oder Geschmacksrichtung – vorbei, der sich hier selbstgefällig quer über den schlammigen Minipfad gelegt hat. Was ein Arschloch. Rechts kann ich nicht vorbei, da ist nur Abhang. Links geht es steil bergauf, der Boden ist jedoch glitschig, und ich sehe keine Möglichkeit, mich irgendwo festzuhalten. Dann muss ich eben drüberklettern. Kein Problem – wäre da nicht diese üppige Baumkrone, die sich als so wuschig-buschig erweist wie eine blickdichte Vorgartenhecke im Hamburger Elbvorort, die die luchtigen Blicke auf Gründerzeitvilla und Tesla-Fuhrpark verhindern soll. Für einen Moment halte ich inne und muss lachen – bin ich ernsthaft gerade zu blöd, ein einfaches Hindernis in der Natur zu überqueren? Ja, äh, nein natürlich nicht! Ich fühle mich wie eine sakrale Heldenfigur im Indiana-Jones-Stil: »Der Pilger-Busi und das Geheimnis des Bäumlings.« Das ist hier wie beim Multiple Choice in der Quizshow: A und B sind ausgeschlossen, C wäre fliegen, beamen, Tunnel graben oder einfach umkehren – geht auch nicht. Dann bleibt ja nur D: Es doch irgendwie linksrum versuchen.
Da kommt mir eine Idee: Ich nehme einen Ast und … aber wo ist ein … da! Okay, also, ich nehme den Ast, ramme ihn in den Glitschboden, zieh mich hoch zur Baumwurzel, und dann hangle ich mich drumherum. Der Ast ist zu dünn, der Glitschboden lässt nach, als ich mit dem einen Wanderschuh schon Halt suche – Ast bricht, Schuh rutscht weg – und plötzlich fällt ein 1,89 Meter langer Spargel mit rotem Schwiegermutterrucksack und Marc-Kevin-Göllner-Gedächtnis-Käppi der Länge nach auf die Fresse. Natürlich in den Matsch. Hat er doch glatt die 15 Kilo hinten auf dem Rücken vergessen, die einen so herrlich runterziehen wie die schlecht gelaunte Kollegin montagmorgens im Büro.
Schizophren lache ich, obwohl ich die gesamte Arie gerade extrem peinlich finde. Ich stehe auf, nestle an Hose und Hemd, wische und verschmiere den Dreck und probiere mein Glück erneut. Anderer Stock, anderer Winkel, anderer Style – leider aber derselbe Typ. Und dennoch: Es klappt!
Wie ein Akrobat aus dem Cirque du Soleil tänzele ich regelrecht elegant an den dinosaurierhirnähnlichen Baumwurzelverästelungen vorbei. Geschafft! Endlich wieder freie Sicht! Der restliche Weg überrascht nicht großartig. Er führt weiter steil bergauf, scheint aber erst mal kein erwähnenswertes Hindernis für mich parat zu halten.
Ich will einen großen Schluck aus meiner 20-Euro-Trinkflasche nehmen, die ich heute zum ersten Mal im Einsatz habe – doch es kommt nichts raus. Hä? Gut, das muss warten, ich frage mich nämlich gerade: Ist das überhaupt mein Weg, oder muss ich … Ich zupple mein iPhone raus und klicke auf die GPS-App. Mist, geht gerade nicht. Was sagt denn der analoge Pilgerführer – da steht’s … Ich muss vor dem Baum links abbiegen. Also vor dem Baum. Auf der anderen Seite.
»Oh, neiiiiiiin«, brülle ich, will einen Schluck aus der Flasche nehmen – aber wieder nuckle ich wie ein Baby an dem Kautschuk-Nupsi, und nichts kommt. Wütend schmeiße ich die Flasche auf den Boden und denke an das Verkaufsversprechen: Life Time Guarantee – kein Wunder, wenn nichts rauskommt.
Da entlädt sich plötzlich der angestaute Frust der letzten 24 Stunden: »Mann, Busemann! Was zum Henker machst du hier eigentlich für einen Scheiß?! Und wo bist du überhaupt?«
Gute Frage. Ich denke, das sollten wir kurz erklären.
»Aufregende Wochen liegen hinter mir – die Oscar-Verleihung für ProSieben, der ESC-Vorentscheid in der ARD, dann der Fernsehgarten on Tour auf Teneriffa für das ZDF, wo ich mit Fieber im Bett lag« – ich nicke betroffen und setze mit betretener Miene nach: »Ich arbeite eigentlich seit 2014 durch.«
Selber schuld, du Affe, schießt es mir durch den Kopf. Hat dich ja keiner gezwungen, aus einer florierenden Fernsehproduktionsfirma auszusteigen und fortan solo als TV-Autor zu arbeiten. Doch meine Heilerin, ihres Zeichens Heilpraktikerin und mir wärmstens von meiner eigenen Frau empfohlen, blickt mich mit ihren liebevollen Augen an und signalisiert mir vollstes Verständnis. Auf ihrem Schreibtisch hat sie sich eine Art Ankerzentrum für faustgroße Trolle und Elfenfiguren eingerichtet. Viel Getümmel, dazu alle möglichen Steine, bewacht von einem gerahmten Foto von ihr in einem mittelalterlichen Gewand. Ich bin kurz etwas irritiert, aber ja mitten im Gespräch.
»Ja, Herr Busemann, Sie haben eine Menge zu schultern. Ich meine: selbstständig, drei Kinder – und Zeit mit Ihrer Frau und für sich brauchen Sie ja auch. Und wenn Sie dann so viel arbeiten und nicht schlafen können – dann ist das kein Wunder, wenn das Ergebnis so aussieht, wie es aussieht.«
Sie sendet auf der Frequenz »Einfühlsam«, und ich blicke höchst betroffen und randvoll mit Selbstmitleid auf die drei bunten Bilder vor mir auf dem Din-A4-Ausdruck. Ich kann sie zwar nicht deuten, aber sie wird es bestimmt wissen: Es sieht wohl schlecht aus. Sehr schlecht. Und ganz ehrlich: Es wundert mich auch nicht.
#panikattacke sage ich nur! Immer öfter und meistens in der Nacht.
Zunehmend, wenn ich auf Montage bin, also bei Fernsehshowproduktionen vor Ort, um letzte Texte für die Moderatorin oder den Moderator anzupassen und auf Karte zu drucken. Da geht mir so sehr die Düse, dass ich, nach einmaligem Aufwachen, nicht wieder einschlafen kann.
Ich schreibe vornehmlich Moderationstexte für Fernsehshows, die als Grundlage und roter Faden für eine TV-Sendung dienen. Von den Umständen her ein absoluter Traumberuf: abwechslungsreich, kreativ, nicht ortsgebunden und zeitlich flexibel einzuteilen. Alles, was man dafür braucht: Laptop, Handy, WLAN. »Guten Abend und herzlich willkommen zu …«
Indras lange, mit Grau durchzogenen Haare sind zu einem Zopf gebunden, der es sich auf der rechten Schulter ihres weiß-blau geringelten Langarmshirts bequem gemacht hat. Vielleicht ist sie 45 oder 50 – sicherlich tue ich ihr damit Unrecht, denn sie wirkt alterslos. Ihre Augen sind wach, ihr Sprechtempo Dauermotiv für Radarfallen. Ich muss mich konzentrieren.
»Eine Amsat-Messung ist perfekt, um sich schnell einen Gesamteindruck vom Gesundheitszustand zu verschaffen. Das System ist eine ehemalige Erfindung der Russen, um in aller Kürze den Leistungsstand von Sportlern, Funktionären oder Kosmonauten abzurufen«, erklärt mir Indra. In Gedanken frage ich mich: »Vor oder nach der Einnahme leistungsfördernder Präparate?«
Die Apparatur sieht aus wie ein Lügendetektor, an dem die Messinggewichte der Wanduhr von Omma Busemann baumeln. Die nahm ich vor unserem Gespräch in die Hand, stellte mich barfuß auf zwei Platten, ebenfalls aus Messing, und zum Schluss stülpte mir die freundliche Assistentin noch ein Guillermo-Vilas-Gedächtnis-Stirnband über – wer ihn nicht (mehr) kennt: ehemalige argentinische Tenniskanone – ebenfalls mit Messingbesatz.
Mittels der Messung von Volumen und Hautwiderständen sollen über sechs Elektroden die Werte von 22 verschiedenen »Kanälen« ermittelt werden. Und auf diesen Kanälen ist »mein« Programm wohl eher semi-unterhaltsam. Das sagt offenkundig Bild 1, das Indra intensiv prüft, während sie nachdenklich an ihrem einfach um den Hals gewickelten Baumwolltuch fummelt. Was sieht sie? Ein Testbild? Schwarz-Weiß-Gekrissel? Meinen endgültigen Sendeschluss?
»Das ist ziemlich eindeutig. Sie haben keine Reserven mehr, Ihr Körper muss leisten, greift aber auf nichts zurück. Das ist sehr schlecht. Wir müssen es vor allem schaffen, Sie zu regenerieren. Sie müssen wieder schlafen können, den Tank aufladen und: Sie müssen lernen, entspannter zu werden – sich Ihre Kraft einzuteilen!«
KATASTROPHE! Ein Armutszeugnis. 2016 habe ich noch stolz ein Yogabuch für Väter veröffentlicht, weil ich mich so tiefenentspannt durch den Alltag geyogt und meditiert habe. Doch kaum ging das Buch in den Druck, lautete mein neues Mantra: weniger Yoga, mehr Projekte! Klar, die geilsten Anfragen trudeln immer gleichzeitig ein!
Aber wie konnte das typische Ja-Sager-Syndrom der Freelancer auch mich nur so brutal darniederraffen?
In meinem müden Hirn grabe ich vergeblich nach plausiblen Erklärungen.
Erster Versuch: »Ja, teilweise jongliere ich zwischen fünf bis zehn Projekte parallel.«
Feedback: Macht jeder andere Bezahl-Schreiber auch. Reicht nicht.
Zweiter Versuch: »Ich mache kein Projektmanagement. Gerate immer in Abgabedruck. Und kleistere dadurch wertvolle Regenerationszeit mit Arbeit zu.«
Feedback: Schön doof. Entweder human planen, oder weniger ist mehr. Nimm dir mal ein Beispiel an den Work-Life-Balance-Gurus! Reicht nicht.
Dritter Versuch: »Immer wieder Schlafmangel wegen eines dauerkreisenden Gedankenkarussells in der Nacht. Und wenn ich dann erst mal die Büchse der Pandora geöffnet habe – meistens kann ich das nicht vereiteln –, suchen mich die Ängste heim:
Hab ich mich möglicherweise mit all den Projekten übernommen? Leidet bei so vielen Baustellen nicht die Qualität der Texte? Und was passiert eigentlich, wenn mir plötzlich überhaupt nichts mehr einfällt – trübe Rübe? Bin ich dann raus? Wie kriege ich uns dann durch? Hält meine Beziehung das aus? Und warum liegt hier überall Stroh in der Küche?
Bandsalat im Kopf, jeder Gedanke ein Quälgeist, der den Körper ansteckt.
Mein Puls beschleunigt, mein Herz rast, und sofort bilden sich Schweißperlen direkt unterm Haaransatz. Ich winde mich von links nach rechts, spüre eine Faust im Magen, die unrhythmisch wütet, und dann immer wieder dieses pochende, galoppierende Herz. Es fühlt sich so schrecklich ungesund an. Alles will schlafen, alles will die Ruhezeiten einhalten, aber Geist und Herz scheren sich einen Dreck darum – und spielen dieses unwirkliche Konzert. Überzeugt?«
Feedback: Du arme Sau! Wärste mal 1991 zum Medizinertest gegangen!
»Die Angst ist ein Problem! Aber sie ist für alle Menschen, die im Job erfolgreich sind, ein ständiger Begleiter. Ich versichere Ihnen: Der Druck wird nicht weniger! Deshalb haben Sie in Zukunft mehr Selbstvertrauen in Ihre Arbeit. Seien Sie mal zufrieden mit sich, feiern Sie die kleinen wie großen Erfolge. Sicherer werden ist das Ziel. Und freuen Sie sich über die Möglichkeiten und Erlebnisse, die Ihnen Ihre Arbeit schenkt!«
Eine Welle von Melodramatik umspült uns gerade im Behandlungszimmer zwischen Bücherregal, Fantasyfiguren und einer weiteren, nicht identifizierbaren Apparatur, als plötzlich zwei sonnengebräunte Gerüstbauer durch die Scheibe linsen. Ganz offensichtlich haben sie es soeben auf die dritte Etage geschafft und winken wie die Apollo-11-Crew kurz vor Abflug. Irritiert winke ich zurück und schaue zu Indra, die vor Mitgefühl nur so blubbert. Glasige Augen, zur Seite geneigter Kopf, ein leicht geöffneter Mund, der auf fehlende Order vom Sprachzentrum wartet, und dazu ein tiefes Atmen. Nun wäre eigentlich der ideale Moment, sich fest in den Arm zu nehmen, mit »Du schaffst das schon«-Miene auf die Schulter zu klopfen oder zu brüllen: »Reingelegt – Versteckte Kamera!«
Stattdessen zückt sie unvermittelt den Holzkugelschreiber und notiert etwas mit den Worten: »Bittersaft! Für den Darm! Den müssen wir wiederaufbauen.« Außerdem sei ab sofort »Bio-Doping« angesagt, mit Rosenwurz (»Sollte jeder in der Medienbranche einnehmen! Dadurch ist man sozial mit anderen, aber bleibt trotzdem bei sich!«) und Curcumin. Bei Stress und leerem Akku wäre dieser Doppelpack eine unschlagbare Powerbank.
Und für die Nacht empfiehlt sie mir ein paar Tropfen Strophantus – zum Runterkommen und besseren Schlafen. Im Idealfall: durchschlafen.
Wir sind so weit durch – im Nebenraum lauert bereits Indras Kollegin, um mir noch Blut abzuzapfen – da fragt sie mich beim Rausgehen:
»Haben Sie mal daran gedacht, eine Auszeit zu nehmen?«
Ich gucke sie überrascht an:
»Nein, ehrlich gesagt, wüsste ich nicht, wann. Hab ständig irgendwelche Projekte.«
»Schade. Das wäre nämlich das Beste für Sie. Einmal durchatmen. Ohne Familie. Wenn Sie die Möglichkeit dazu haben, tun Sie es!«
»Schöner Gedanke«, lächle ich. »Aber eher schwierig. Ich probiere es erst mal mit den Tabletten und ein paar guten Nächten.«
Sie nickt verständnisvoll. »Genau! Und dann sehen wir uns in acht Wochen wieder.«
Sie gibt mir die Hand. »Tschüss, bis bald.«
Als ich wieder auf der Straße stehe, sinniere ich über ihren letzten Gedanken und meine Reaktion darauf. Ist es wirklich so unmöglich für mich, die Pausentaste zu drücken, oder habe ich es gar nicht selber in der Hand? Ich meine, die Lage ist doch ernst. Es kribbelt im Bauch.
Es ist der 9. Januar. Seit einem Jahr und sieben Tagen ist er niedergelassener Internist in dem kleinen niedersächsischen Kurort Bad Zwischenahn – über die regionalen Grenzen bekannt für seinen geräucherten Aal aus dem Zwischenahner Meer, Schnaps aus dem Löffel und der Rheumaklinik mit den Moorheilbädern.
Die charismatische 1,83 Meter große Erscheinung mit dem dichten dunklen Haar, dem kleinen Bauch und dem stets zerbeulten Trenchcoat stammt nicht von hier, sondern aus dem »Revier«, aus Dortmund. Dort wuchs er als Sohn eines Bäckermeisters und einer Köchin mit einer jüngeren Schwester und einem älteren Bruder auf. Die Familie lebt bescheiden, geht regelmäßig in die Kirche, große Annehmlichkeiten sind nicht drin. Es reicht gerade so. Der Vater leitet die Backstube im nahegelegenen Marienhospital, und sooft er kann, besucht er ihn bei der Arbeit. Nicht, um die Brötchen im Backofen aufgehen zu sehen oder den Teig für den Butterkuchen zu kosten, sondern, um die Heldinnen und Helden in den weißen Kitteln mit dem Stethoskop um den Hals bei der Arbeit zu bewundern. Wie sie souverän mit einem Blick aufs Klemmbrett erhaschen, in welchem Zustand sich der Patient vor ihnen befindet, und mit gekonnten Griffen und beruhigenden Worten Hilfe und in seinen Augen »Übermenschliches« leisten.
Und so entschließt er sich schon in diesen Tagen, Arzt zu werden.
Die Praxis ist für die bäuerliche Region so futuristisch wie ein Raumschiff aus einer anderen Galaxie. Sie verfügt über zwei modern eingerichtete Sprech- und Behandlungszimmer, in denen die Schränke und selbst die Waschbecken mobil sind. Im geräumigen Wartezimmer entspannen die Patienten dank eines Easy-Listening-Klangteppichs, bevor sie umfängliche Untersuchungen und Behandlungen beanspruchen dürfen: Denn neben einem eigenen Labor für die schnelle Blutanalyse, können EKGs geschrieben und spontan Röntgenaufnahmen gemacht werden. Reizstrom gibt’s und Rotlicht für Rheumatiker. Sein Leistungsspektrum ist so enorm, dass ihm die Ammerländer die Bude einrennen. An seinem allerersten Tag hat er bereits sieben Patienten, nach dem ersten Quartal ist er nur noch ausgebucht.
Sein Erfolg ist seiner Hingabe, seiner Gründlichkeit und seinem Humor im Umgang mit den Patienten zuzuschreiben. Er ist sehr gewissenhaft, untersucht lieber einmal mehr, um keine Lücke zu übersehen. In seiner spärlichen Freizeit aktualisiert er sein Wissen, bildet sich fort, isst zu viel, hört Klassik und raucht Zigarillos. Wenn er nicht Notdienst hat, ist er auf Hausbesuch – in seinem eigenen Haus ist er mehr Gast als Gastgeber, mehr Arzt als Vater und Ehemann.
Seine Multilingualität sichert ihm neben der Gunst der Einheimischen auch die der Zugezogenen. Vor allem lieben ihn die Italiener, denn sein Italienisch ist flüssig wie Zabaglione, und keiner von ihnen glaubt, dass er wirklich Deutscher ist. Wenn er mit seinem blauen Audi 100 auf Hausbesuch durch die norddeutsche Provinz donnert, um bei italienischen Familien zu behandeln, weiß seine Frau: Es wird spät, und er wird nach Rotwein riechen.
Es geht ihm nicht gut an diesem Sonntag. Die ganze Zeit über schlägt er sich mit Fieber herum und weiß nicht, ob es die abzugebende Steuererklärung ist, die ihm den Kopf erhitzt oder wirklich ein Infekt. Sei’s drum, das Amt kennt kein Pardon, der Kram muss fertig werden, und so pfeift er sich Tabletten rein, um die Abrechnungen abzuschließen. Auch als seine Frau gegen 23 Uhr ins Bett geht, hält er durch. Er habe es ja fast geschafft. »Ich komme nach«, sagt er und wünscht ihr eine gute Nacht.
Es ist das letzte Mal, dass sie ihren Mann lebend sieht.
Supervision war die Idee – also sein eigenes Handeln prüfen und verbessern. Es wurde aber leider zur Super-Desillusion: Gerade mal zwei Sitzungen brauchten Coachin Ingrid und ich, um festzustellen, dass wir uns zwar mögen, sie mir aber nicht helfen kann. Denn bereits nach Treffen Nummer 1, bei dem ich ihr neben meiner Coming-of-Age-Story vortrug, woran ich gerne mit ihr arbeiten würde – zum Beispiel an meiner Effizienz, einer pfiffigen Projektplanung mit Puffern, mehr Gelassenheit in Stressphasen, meinem Vorhaben, ein neues Buch zu schreiben usw. –, schlug sie mir einen Mann als Coach vor. Huch, was war das?!
»Sie brauchen einen, der zackig sagt, was Sache ist und wo es langgeht – einen, der den Ton angibt. Meine Methoden sind eher sanft ausgerichtet, ich bezweifle, dass Ihnen das hilft!«
Ich widerspreche und erinnere sie an meine kurz skizzierte Familienhistorie: »Ich kann damit gut umgehen – ich bin ja primär unter Frauen aufgewachsen!«
»Genau deshalb! Für Ihre Themen ist es jetzt besser, mit einem Mann zu arbeiten. Denn es geht für Sie gerade auch um männliche Eigenschaften: Stärke, Fokussierung, breitbrüstig sein und das Finden Ihrer Rolle im System – Mannsein ist gefragt!«
Sie müsse überlegen, wer passend wäre, und schlägt mir dann eine hypnotherapeutische Übung vor. Ich solle meine Augen schließen und mich in eine Arbeitssituation hineinfühlen, in der meine Texte in einer großen Runde gelesen und besprochen werden – mit Regisseur, Redaktion, Moderator und anderen Mitarbeitern.
»Wie fühlt sich das für Sie an? Wo spüren Sie was?«
Ich öffne meine Augen. Ingrid ist heimlich mit ihrem Stuhl ganz nah an mich herangerückt und sitzt leicht vorgebeugt, ihr Gesicht direkt vor meinem. Ich rieche warme, leberwurstgetränkte Atemluft, rücke etwas zurück und antworte:
»Da ist gar nichts. Fällt mir gerade auch etwas schwer, mir diese Situation vorzustellen – irgendwie so intim, das Ganze«, spiele ich zugleich auf unsere Sitzsituation an.
»Verstehe!« Sie ändert trotzdem nichts. »Schließen Sie noch mal die Augen und probieren Sie es, wenn ich genauer beschreibe, was passiert. Da ist eine große Runde, ein großer Tisch, viele Leute sitzen bereits – in der Mitte liegen Ihre Texte, ausgedruckt, mehrere Kopien. Jeder nimmt sich einen Schwung, der Regisseur schlägt die erste Seite um, liest, dann die zweite Seite – und Sie beobachten, wie er beim Lesen ab und zu sein Gesicht verzieht. Was denken Sie?«
»Sieh an, selbst mit Ticks kann man so weit kommen und Porsche fahren.« Ich grinse.
»Nehmen Sie das so leicht?«
Ach, so läuft das. Ich antworte mit erkennbarem Ernst: »Nein, natürlich nicht. Ein verzogenes Gesicht könnte bedeuten, dass ich nachts noch mal den Text bearbeiten muss. Fühlt sich automatisch nach Mehrarbeit an. Und das ist natürlich beknackt.«
»Aber kann es nicht auch sein, dass er sein Gesicht verzieht, weil es ihm gefällt? Vielleicht fühlt er sich gut unterhalten!?«
Ich öffne meine Augen – »Schließen!« – und schließe sie wieder.
Ich überlege kurz. »Kann natürlich sein, aber ich würde eher aus seiner Mimik schließen, dass er den anderen in der Runde damit signalisieren möchte, dass der Text ihm Bauchschmerzen bereitet.«
»Wenn das so wäre, wie würden Sie damit umgehen?«
»Mir anhören, was er sagt, was die anderen sagen und darauf reagieren!«
»Geben Sie dann nach, oder verteidigen Sie Ihr Werk?«
»Das ist ja kein Egotrip. Wenn schließlich alle der Meinung sind, es solle anders, dann bekommen sie es auch anders!«
»Wie fühlt sich das für Sie an?«
Boah, diese Fühl-Fragen.
»Weiß ich nicht. Mal finde ich es doof, mal völlig gerechtfertigt.«
»Wer sitzt gerade am Tisch?«
Ich öffne die Augen. »Schließen!«
»Aber hier ist kein Tisch«, antworte ich.
»An dem Tisch mit Ihren Texten – wie sehen Sie aus?«
»So wie jetzt. Ich trage Jeans …«
»Nehmen Sie die Situation ernst, oder fühlen Sie sich gefährdet durch die Kritik?«
»Nö, ich kenn das doch. Ist halt ärgerlich, aber das ist das Geschäft. Generell mag ich es aber natürlich nicht, meinen Text zerlegt zu bekommen.«
»Verbinden Sie was damit? Eine Erinnerung?«
»Klar, das erinnert mich an Schule und schlechte Noten. Meine schlechten Noten.« Ich stocke, obgleich es gerade im Kopf rattert. Aus der Versenkung steigen vor meinem inneren Auge Bilder auf, wie ich das Deutschheft aufschlage und paralysiert auf die unter meinem Text in Rot geschriebene Note starre: eine Fünf! Das wird Mama wieder Bauchschmerzen machen. Und mir erst recht. Sofort umklammert eine Stahlhand meinen Magen und zerdrückt ihn wie Raimund Harmstorf die Kartoffel. Aus einem geöffneten Pharaonengrab ziehen muffig-alte Angstgefühle und dunkle Sorgenwolken auf: Ich sehe mich weinen, meine Mutter traurig auf die Note blicken, Mitschüler lachen mich aus, ich will einschlafen im viel zu hellen Kinderzimmer, Herzrasen – ich reiße meine Augen auf.
»Wollen Sie weiter ausführen, woran es Sie erinnert? Teilen Sie es mit mir!«, fordert mich Ingrid auf. Ich schüttele den Kopf und atme einmal tief durch. War das gerade das klassische Coaching-Aha? Du erwartest nichts, und plötzlich platzt die Bombe? Über Jahrzehnte liebevoll ignoriert, rutscht sie immer tiefer, wird mit Sand zugeschüttet, sogar Häuser und Denkmäler bauen wir drauf – doch dann taucht der Greifarm einmal an der richtigen Stelle in den Sumpf und holt dir den Scheiß wieder hoch.
»Hat nichts gebracht, oder? Ich meine, meine Antworten waren ja …«
»Finden Sie?«, unterbricht sie direkt und fährt fort: »Ich finde, da waren zwei grundsätzliche Haltungen sehr gut zu erkennen.«
»Oh! Jetzt bin ich aber gespannt«, täusche ich interessiert vor und fürchte, was kommt.
»Erstens haben Sie von Ihrer Arbeit keine gute Meinung. Und zweitens sitzen Sie wie ein kleiner Junge selbst an einem Tisch voll von Erwachsenen, die alle Kante zeigen.«
Ich gucke wie ein Auto. Ich sehe es zwar nicht, aber ich ahne es. Denn Ingrid sagt:
»Sie gucken wie ein Auto! Finden Sie das nicht?«
»Darüber habe ich noch nie so genau nachgedacht. Ich bin, wie ich bin, und gehe, glaube ich, grundsätzlich mit meiner Arbeit kritisch um. Wie viele.«
»Das ist durchaus eine positive Eigenschaft, weil Sie dadurch offen sind – aber bei allem, was ich von Ihnen gehört habe, mit Ihren Schlafstörungen und Ihren Ängsten, ist es wichtig, dass Sie mit mehr Selbstvertrauen dasitzen und nicht gleich denken: ›Ach, der findet’s scheiße – dann ist es auch scheiße‹.«
»Guter Punkt!«
»Und wenn es um Ihre Arbeit geht – dann gehört das Kind da nicht an den Tisch. Das ist wichtig für Sie! Keine Frage, der kleine Junge in Ihnen ist der Kreative, der nährt Sie, den müssen Sie auch pflegen, aber er hat dort, wo sozusagen verhandelt wird, nichts zu suchen! Hier geht es um Verantwortung und eine Haltung zu sich und seinem Tun.«
»Der kleine ›Busi‹ muss also draußen bleiben!«, bestätige ich sie und merke, wie gut mir Ingrids Worte tun. Der sensible Fun-Busi hockt tatsächlich immer mit dabei. Den zwischendurch mal an die frische Luft zu setzen ist in der Tat einen Versuch wert!
»Wissen Sie, es ist schwierig, mannhaft zu sein, wenn man nie einen Mann als Leitbild hatte«, rechtfertige ich mich.
»Absolut! Deswegen sollten Sie Ihren Vater besser kennenlernen!«
»Der ist tot. Habe ich doch erzählt.«
»Ich weiß, aber das schließt ja nicht aus, ihm näherzukommen! Es gibt doch vielleicht noch alte Notizen von ihm, Bücher, Bilder und Musik, die er mochte. Oder Orte, an denen er gerne war.«
»Assisi«, sage ich, wie aus der Pistole geschossen. »Meine Mutter spricht immer von Assisi als seinem Kraftort.«
»Na, dann haben Sie ja was vor!«
Dagmar wacht am Morgen des 10. Januar ungewöhnlich früh auf und wundert sich über die leere Betthälfte. Als sie realisiert, dass Decke und Kopfkissen unberührt sind, fährt sie hoch. Sie schlüpft in den Bademantel, öffnet die Schlafzimmertür und blickt auf den dunklen Flur im ersten Stock. Auch im Treppenaufgang ist kein Licht, doch es schimmert hell von der Küche her. Das ist aber auch das Einzige, was sich verändert hat, seit sie ins Bett gegangen ist. Ihr Mann ist »verleckert« – es könnte sein, dass er sich kurz nur was aus dem Kühlschrank holt. Wäre nicht das erste Mal. Der Gedanke beruhigt sie so sehr, dass sie glatt über das unberührte Bett hinwegsieht und sich schon wieder umdrehen will. Nur hört sie nichts. Keine Kühlschranktür, kein Geschirrklappern, kein Schubladenöffnen. Nichts. Selbst, wenn er isst, kann man ihn hören, weil er die Beine überschlägt, noch mal Wurst nachlegt, das Gürkchen auf dem Teller schneidet. Geräusche gehören zu ihm wie sein Duft nach Tabac Original. Aber es ist nichts zu hören. Einfach nur Stille.
Um die Kinder nicht zu wecken, ruft sie leise die Treppe hinunter: »Karl-Heinz?«
Vielleicht war es zu leise. »Karl-Heinz?« Erneut keine Antwort.
Barfuß tapst sie die kalte Marmortreppe hinunter und sieht schon in der großen Diele das kalte Neonlicht aus der Küche scheinen. Und es wird mit jedem Schritt kälter. Sie ruft etwas lauter »Karl-Heinz«, als sie gerade die Küche betritt, und zuckt vor Schreck zusammen.
Es ist für mich zu einer sehr lieb gewordenen Gewohnheit geworden, regelmäßig unregelmäßig mit Marco Krahl essen zu gehen. Marco ist der Erfinder der Dad, der einzigen Väter-Zeitschrift in Deutschland, und darüber hinaus stellvertretender Chefredakteur der deutschen Men’s Health. Ein feiner Mensch, ein spannender Gesprächspartner und grundsätzlich immer für Neues und Kreatives im Pingpong mit seinem Gegenüber zu haben.
Gerne wähle ich ihn auch als meinen ersten Prüfstein, wenn ich ein neues Buch plane oder mich sonst wie mit einem Projekt verlustiere, das sich mit Vaterschaft beschäftigt. Seine Einschätzungen sind immer substanziell, und er traut sich auch, eine Killerfrage zu stellen, die die Idee möglicherweise wieder vom Tisch wischt.
Diesmal jedoch war es einfach nur an der Zeit, wieder mal miteinander essen zu gehen, um sich upzudaten und auszutauschen.
Wir treffen uns in einem kleinen Bistro in Eimsbüttel zum Mittagessen. Bei Salat und Pasta berichte ich von meinen Erlebnissen bei den Oscars, er wiederum von den ständigen Veränderungen im Verlagswesen mit Personalrochaden, Einsparungen und Werbeeinbrüchen im Printmarkt. Dann erzählt er mir von neu erschienenen Väter-Büchern, darunter von einem Italiener, der über sein Leben als Vater von drei Kindern geschrieben hat.
»Das könntest du doch eigentlich auch machen. Die Storys hast du doch alle zu Hause«, grinst Marco und kratzt seinen gepflegten Hipsterbart.
Ich winke ab. »Nee, ich glaube, dieses Väterthema ist für mich durch. Habe da noch drei, vier Anläufe gestartet – Stichwort ›Mehrfachbelastung‹: Alleinverdiener, Freelancer, oft unterwegs, Kraftakt und so weiter, aber schon im ersten Notizstadium war das nur transkribiertes Geheule. Will doch keiner lesen!«
Marco gibt nicht direkt auf: »Meinst du?! Auch nicht, wenn es lustig ist?«
»Vielleicht, aber mein Verlag schwenkt da sofort die rote Fahne. Die haben monatlich unendlich viele Elternthemen auf dem Tisch – ich denke nicht. Und: Zeit habe ich ja sowieso keine. Ich bin ja dauernd mit TV-Projekten beschäftigt.«
»Ach, schade!«, Marco nimmt einen kleinen Schluck von seinem Wasser und verschränkt die Arme zu einer bequemen Haltung. »Ich wollte dich nämlich eigentlich fragen, ob du für unser Dad-Herbstheft etwas schreiben könntest – vorausgesetzt, du hast Lust auf das Thema!?« Ich fackle nicht lang: Freelancer-Ja-Sager-Modus ist on, und außerdem macht es einfach Spaß, für Marco zu schreiben. Das Vaterthema bleibt ja dennoch eine Herzensangelegenheit.
»Na klar, für Kurzstrecken reicht die Zeit doch immer! Worum geht’s?«
»Du hast mir seinerzeit mal erzählt, dass du ohne Vater aufgewachsen bist, weil deiner so früh gestorben ist …«
»Ich war vier Jahre alt«, sage ich.
»Und darum geht es. Um Väter ohne Väter. Also Männer, die ohne Vater aufgewachsen sind und nun selber Kinder haben – nur das Rollenvorbild fehlt. Ist das ein Thema für dich?«
Seine Frage raubt mir den Atem. Das wirkt doch gerade alles wie ein Scherz oder eine schlechte Soap! Ich schaue ihn offensichtlich fassungslos an.
»Was ist?«, fragt Marco leicht irritiert. »Blödes Thema?«
»Nein, mein Lieber, ganz im Gegenteil! Du hast gerade mein Ticket gelöst. Mein Ticket nach Assisi!«
»Hä?! Was soll das heißen?«
»Ich mach’s. Natürlich!«
Es ist Sonntagnachmittag im April, der sich ungewöhnlich mild und freundlich zeigt. Die drei Busi-Kinder spielen Steckenpferd und Sandkasten-Bäckerei, Kristy, meine Frau, ergeht sich voller Hingabe in Gartenarbeiten – Kräuterhochbeet anlegen, Rasen mähen, Vertikutieren –, und ich sitze in meinem kühlen Souterrain-Home-Office und schiele auf meinen Laptop – ausnahmsweise im Eigenauftrag!
Eine Auszeit, während ich den Kraftort meines Vaters erobere – das klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Am besten in Kombination mit all dem, was im »Relax«-Modus angesagt ist: sich besinnen, achtsam sein, mal die Seele baumeln lassen!
Ich scanne meinen digitalen Kalender und meine handschriftliche Moleskine-Kladde.
Drei Sendungen und Shows stehen im Restapril noch an, danach öffnet sich ein Zeitfenster von bis zu sechs Wochen, in denen bislang kein Moderationsbuch von mir gefertigt werden soll. Nur ein einziges Projekt müsste ich vorziehen. Und da es sich dabei um Treatments für eine kleine Comedyserie handelt, die ich in Bälde locker runterschreiben kann, dürfte das alles kein Problem sein.
Vorausgesetzt, ich bekomme ein Go von Kristy, könnte ich am 14. Mai starten. Nicht zu viel Zeit verplempern – direkt abhauen, wenn die Jobs vorbei sind. Sonst plumpst noch was Neues ins Netz, und dann haben wir den Salat.
Ich checke, ob es Flugverbindungen von Hamburg nach Assisi gibt. Der nächste Flughafen liegt im umbrischen Perugia, den aktuell selbst Ryanair nicht mehr anfliegt.
Dann wohl Florenz. Würde funktionieren. Und wie geht es von Florenz nach Assisi? Ich tippe auf Bahn oder FlixBus – doch dann spuckt Google plötzlich das Wort aus, das sofort all meine Synapsen miteinander reagieren lässt: Franziskusweg. Pilgern auf dem Franziskusweg! Das ist es.
Und obwohl ich sofort weiß, dass ich ihn gehen werde, meldet sich der Frontallappen. Ist das eine Art billiges Jakobswegplagiat, erdacht vom italienischen Tourismusverband?
Läuft’s wirtschaftlich so schlecht bei den Römern, dass sie jetzt ernsthaft mit so einer Masche für ein paar mehr Touristen in atmungsaktiver Unterwäsche sorgen wollen?
Doch je tiefer ich mich einlese, desto substanzieller wird’s. Die Strecke führt von Florenz nach Rom; über Pfade und Wege, die – sollten die Historiker recht haben – Franz von Assisi wahrscheinlich vor 800 Jahren entlangwandelte.
Sicher ist: Der Weg bringt einen an Orte, an denen er tatsächlich gewirkt und gelebt hat. Doch nicht nur das. Denn wie es auf einer Seite heißt: »Der Franziskusweg führt nicht nur zu einer Begegnung mit franziskanischen Orten und ihrer Spiritualität, sondern lädt auch dazu ein, verträumte italienische Landschaften abseits des Touristenstroms zu erleben.«
Klingt für mich geradezu nach Wanderurlaub! Perfekt.
Mit Franziskanern hatte ich bislang noch keinerlei Berührung, mit Spiritualität hingegen jede Menge. Es ist Zeit für mich, die Papa-Karte aus dem Ärmel zu zücken und sie endlich zu spielen. Wenn dieser Weg nicht wie für mich gepuzzelt ist, welcher sonst!?
Die Sache ist geritzt: Ich wandere von Florenz nach Assisi – auf dem Franziskusweg!
Franz von Assisi
Wanderst du noch, oder pilgerst du schon?
Den »Pilgerpass« griffbereit, das Kreuz an der Halskette, eine Jakobsmuschel am Rucksack baumeln und in der Kirche in der ersten Reihe sitzen – das müssen doch Pilger sein. Oder einfach nur Wanderer mit viel Kirchen-Merch?
Selbst wenn sich anhand dieser Fanartikel ein Vertreter der Spezies gut enttarnen lässt – die Unterschiede zwischen Wandern und Pilgern sind auf den ersten Blick eher soft!
Erstens laufen beide eine ganze Weile durch die Gegend, und zweitens folgen sie dabei einer festgelegten Route!
Doch während das Wandererlebnis vornehmlich auf das damit verbundene Glücksgefühl in der Natur abzielt, suchen Pilger darüber hinaus eine spirituelle Erfahrung, nach einer tieferen oder überhaupt nach einer Beziehung zu Gott.
Es geht um eine vorübergehende Konzentration auf sich selbst und das Erkunden von Gedanken und Erfahrungen, die tief in einem schlummern.
Oft entsteht die ganze Idee fürs Pilgern also aus einem Beweggrund heraus; beinah einer Notwendigkeit, die einen dazu bringt, die Wanderstiefel zu schnüren und loszulaufen.
Interessant: Die Diskussion über den Unterschied zwischen Wandern und Pilgern gab es bereits im Mittelalter. Sind die einen losgezogen, um dem Alltag zu entfliehen und auf dem Weg ein neues Leben für sich zu entdecken, haben sich die anderen auf den Weg nach Santiago de Compostela gemacht, um all ihre Sünden erlassen zu bekommen. Gelübde erfüllen oder Sündenerlass – das waren im Mittelalter die traditionellen religiösen Motive, die die Menschen pilgern ließen!
Heute pilgern nur noch wenige, um Buße zu tun, Pilgerreisen zu diesem Zweck werden aber nach wie vor von Kirchen und Pfarreien organisiert.
Wie alle ausgelatschten Traditionen wird das Pilgern seit Jahren von einer neuen, einer anderen Generation geprüft, zerlegt und auf heutige Maßstäbe angepasst.
Pilgern im 21. Jahrhundert ist einfach ein anderer Schnack als noch vor 700 Jahren.
Eins ist dabei aber geblieben: Es macht mit jedem etwas, der sich zum Ziel setzt, sich selbst und seiner Spiritualität näherzukommen!
Es gibt Augenblicke im Leben, da vermischen sich Erinnerung und Fantasie zu einer Wahrheit. Erst viele Jahrzehnte später werden mein großer Bruder und ich dieses in unseren Hirnen eingestanzte Bild miteinander vergleichen. Wir sitzen in unseren Schlafanzügen auf der kalten Treppe und linsen durch die dünnen Geländersprossen hinunter in die großzügige Diele. Im Haustürrahmen lehnt ein Rettungssanitäter, von meiner Mutter keine Spur. Wir hören nichts. Wir sehen nichts. Was dann passiert, ist bei mir gelöscht. Nicht so bei Andreas.
Meine Mutter findet ihren Mann frühmorgens gegen fünf Uhr tot in der Küche liegend. Er stirbt mit 37 Jahren an einem Herzinfarkt und hinterlässt eine 33-jährige Ehefrau, einen zehn und einen vier Jahre alten Sohn.
Omi hätte plötzlich in jener Nacht an seinem Bett gesessen und ihm gesagt, er solle im Zimmer bleiben, erzählt mir Andreas eines Tages. Er wusste sofort, dass etwas nicht stimmt, weil überall Licht brannte und der reflektierende Schnee sogar seinen Raum erhellte. Der Tod kommt unangekündigt, knipst das Leben aus – und die Scheinwerfer glühten, als könnten wir ihn auf diese Weise stellen. Sicherlich ein Grund, weshalb wir beide bis heute Räume mit grellem Licht meiden.
Die Beerdigung findet ohne mich statt, wie die gesamte Trauerarbeit im stillen Kämmerlein. Ich bleibe in dem Glauben, dass Papa lebt. Und wenn ich nach ihm frage, heißt es, er hätte einen Hexenschuss und läge im Bett! Ich solle ihn bitte nicht stören.
Ständig hockt Omi bei uns. Andreas geht weiter in die Schule und zum Sport, und Mama ist nicht zu sehen. Sie ist nie zu sehen. Und wenn, dann trägt sie einen schwarzen Rollkragenpullover.
Es fällt kein Wort über Papa. Was konsequent totgeschwiegen wird, ist es irgendwann auch. Ein Vater findet nicht statt. Daran gewöhne ich mich, und irgendwann frage ich nicht mehr.
Erst die Schule rüttelt in mir das Fehlen und die Sehnsucht wach, als wir reihum erzählen sollen, was unsere Eltern beruflich machen. Ich wähle die Vergangenheitsform: »Mein Vater, äh, also Arzt war er. Er ist schon tot. Lange tot.« Ich werde rot, denn die plötzliche Aufmerksamkeit behagt mir nicht. Die Stille im Raum ist drückend. War gerade noch alles lustig, als drei Kinder nacheinander erzählten, ihre Eltern hätten eine Baumschule, kommt jetzt der Downer durch den dicken Jungen. Als auch der Lehrer das merkt, übergibt er das Wort an meinen Nachbarn, der sich nun selbst aus dem Stimmungstal rausmoderiert – seine Eltern haben nämlich auch eine Baumschule.
Zum ersten Mal bin ich Halbwaise. Für andere sowieso, für mich überraschend, für meine Mutter außerplanmäßig. Der Deckel sollte doch geschlossen bleiben. Doch an jenem Tag konfrontiere ich sie mit der mir widerfahrenen Schande. Sie ist voller Mitgefühl für mich, verletzlich in der Erinnerung und ratlos, was sie mir sagen soll. Ich weine, und sie hält es aus. Vielleicht hätte sie mich gerne getröstet, doch mir reicht es schon, dass sie da ist.
Später gehe ich in Papas altes Arbeitszimmer. Zum ersten Mal in dem Bewusstsein, seinen Geist hier niemals antreffen zu können, aber Hinweise auf ihn zu erhalten. Mit wem habe ich es zu tun, wenn ich Papa sage? Wer ist die geheime Hälfte meiner Backmischung?
Mein allererstes Wanderabenteuer steht an – und eins wird bei der Recherche im Internet schnell klar: Der Franziskusweg ist ein ganz schöner Klopper! Etwa 500 Kilometer lang, erstreckt er sich von Florenz bis nach Rom – durch angeblich »malerische Landstriche« der Toskana und Umbriens bis in die Region Latium. Bis auf Toskana klingelt bei mir Erdkunde-Amateur überhaupt nichts. Latium erinnert mich an einen römischen Fußballklub, und Umbrien lässt mich nur laut »Ich werde dich Umbrien« sagen.
Es wird eine Route beschrieben, die Spiritualität, Kunst, Geschichte und Natur miteinander verbindet. Sie führt durch pittoreske Dörfchen, bekannte Kleinstädte, über nicht zu unterschätzende Berge und traumhaft gelegene Hochwiesen, durch märchenhafte Wälder und natürlich zu besonderen Franziskus-Wirkungsstätten, wie Klöstern, Kirchen und Gebetsorten.
Und wie die Redewendung schon sagt: Viele Wege führen nach Rom. Zumindest bei Amazon. Es existieren diverse Pilger- und Wanderführer, die im Titel meinen neuen Buddy Franziskus verwursten.
Die einen folgen der Route von Hobbywanderer und Autor Kees Roodenburg, der eine Strecke von 490 Kilometern in 34 Etappen zerlegt hat. Die anderen ziehen die Wegbeschreibung von Angela Seracchioli vor, deren Tour circa 350 Kilometer misst, erst in La Verna startet und nur bis Poggio Bustone reicht. Wo auch immer das ist.
Und dann finde ich noch einen Pilgerführer von einem deutschen Ehepaar – Anton und Simone Ochsenkühn. Die Rezensionen sind richtig gut. Pilger vor mir schwärmen, dass die Wegbeschreibungen »idiotensicher« seien – da fühle ich mich doch direkt zu Hause abgeholt und greife zu. Bestellt!
Mich interessiert, wieso es so viele Navigationen in Buchform gibt – da muss die Hölle los sein, wie auf dem Jakobsweg –, und finde heraus, dass der Franziskusweg aus vielen unterschiedlichen Wanderrouten, ja einem regelrechten Wegenetz besteht und es den »einen« Weg gar nicht gibt. Außerdem kann heute niemand tausendprozentig sagen, welche exakte Route Franziskus gewählt und zurückgelegt hat.
Und nicht zu vergessen: Aus vielen kleinen verwunschenen Sträßchen sind heute monströse Autobahnen geworden – an denen will ja niemand entlangwandern. Deshalb mussten Alternativen her.
Aber die meisten Strecken seien zumindest zwischen La Verna (»Einen La Verna aufs Haus?«) und Poggio Bustone (»Nehme ich als Primi Piatti – und mit Parmesan!«) zur Hälfte identisch. Und: Es gibt auf dem Weg, welcher Route man auch immer vertrauen mag, viele jahrhundertealte Abschnitte, die Franziskus entlanggewandert sein muss! Also: Auf den Spuren des Heiligen wandeln ist definitiv drin! Wenngleich nur ein Stück weit.
Die Ochsenkühn-Route sieht 28 Etappen vor, im Durchschnitt mit mehr als 20 Kilometern pro Tag. Die lassen mich etwas stutzig werden. Finde ich ziemlich wenig für einen ganzen Tag.
Ich bin Freizeit-Läufer, Jogger. Alle zwei Tage renne ich zehn Kilometer – meistens in 50 Minuten. Jetzt mal aufs Wandern umgerechnet – da sind 20 Kilometer doch nach maximal vier Stunden gelaufen, oder!? Also könnte ich locker auch mal täglich zwei Etappen zurücklegen, und ich wäre inklusive Pause neun Stunden unterwegs. Aufenthalt und Fortbleiben von zu Hause wären dadurch auf läppische 21 Tage beschränkt – inklusive zwei, drei Tage Assisi-Bummel und auch mal nur eine Etappe am Tag zurücklegen. Das ist doch ein spitzenmäßiges Paket. Muss ich direkt meiner Frau unterbreiten, die im Garten »Kristy Gnadenlos« spielt und unter dem harmlos sprießenden Unkraut ein fürchterlich anzusehendes Massaker anrichtet. Vertikutieren bis selbst die Mauerasseln im Huckepack an meinem Souterrainfenster vorbeiflüchten. Das hat unser beschauliches Ökosystem nun auch wieder nicht verdient. Und tief im Herzen mag ich es ja, wenn es nicht so geleckt aussieht. Sieht sie anders. Leider. Wie auch meine Zeitplanung: »Drei Wochen finde ich zu viel. Du weißt, was hier los ist mit drei Kindern. Und ich habe auch Projekte.«
O. k., verstanden! Unsere Kinder sind zehn, sieben, drei – das heißt: Remmidemmi im Dauerloop mit Schule, Kindergarten, Freizeitfahrerei, Tagestattoo-Entfernungen, Hausaufgabencheck, Generalstreik, Pinkelflecken auf Klobrillen, Esstischpöbeleien, Zähneputzen, Ausrastern, Wandbemalungen, Tickern spielen, Alle-wieder-Einfangen und einem unstillbaren Verlangen nach Gute-Nacht-Geschichten! Kristy schultert ohnehin den Großteil des Family-Managements und ist von beeindruckender Ausdauer, was Konzentration und abendliches Bearbeiten ihrer Motion-Graphic-Jobs anbetrifft – dagegen bin ich fürwahr ein Volllappen! Ich lenke ohne Widerworte ein und unterbreite ihr die Kurzversion:
»Dann wandere ich nur von Florenz nach Assisi. Denn um Assisi geht es ja für mich. Ich verbringe dort ein, zwei Tage und komme zurück. Okay?«
DEAL!
Ohne mit der Wimper nur zu zucken, buche ich direkt die Flüge – hin nach Florenz, zurück von Rom.
Denn wer weiß!? Vielleicht ist Rom ja trotzdem drin. Wanderer sind doch Weicheier.
Franziskusweg, ich komme!