Das Buch
Im beschaulichen Galway wird auf dem Parkplatz der Universität die Leiche einer jungen Frau gefunden, bei der es sich offenbar um Carline Darcy handelt. Ihrem Großvater gehört der Pharmakonzern Darcy Therapeutics, der auch an der Uni einen eigenen Forschungszweig finanziert.
Sofort ist klar: Die junge Frau wurde absichtlich überfahren. Detective Cormac Reilly übernimmt die Ermittlungen – und hat von Anfang an ein ungutes Gefühl. Nicht zuletzt, weil es seine Freundin Emma ist, die buchstäblich über die Leiche stolpert. Emma, die für Darcy Therapeutics forscht und in deren Vergangenheit es einen dunklen Fleck gibt. Reillys Befürchtungen scheinen sich schon bald zu bewahrheiten. Der Fall, der zudem die höchste Aufmerksamkeit der Medien erregt, wird mit jedem Tag komplizierter. Und mit einem Mal kommt Reilly selbst ins Grübeln, ob Emmas Anwesenheit am Tatort wirklich nur Zufall war …
Die Autorin
Dervla McTiernan wurde in Cork, Irland, in eine siebenköpfige Familie geboren. Sie hat Firmenrecht an der National University of Ireland in Galway und bei der Anwaltskammer von Irland studiert und zwölf Jahre lang als Anwältin gearbeitet. 2015 hat sie eine Geschichte für den Sisters-in-Crime-Scarlet-Stiletto-Wettbewerb eingeschickt und wurde dabei in die engere Wahl gezogen. Dies inspirierte sie, die Krimireihe um Inspector Cormac Reilly zu schreiben. Sie lebt mit ihrem Ehemann und zwei Kindern in Perth.
Lieferbare Titel
Todesstrom
DERVLA McTIERNAN
DIE GELEHRTE
KRIMINALROMAN
Aus dem Englischen von Heike Holtsch
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe THE SCHOLAR erschien erstmals 2019 bei Sphere, Little, Brown Book Group, London.
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Deutsche Erstausgabe 06/2021
Copyright © 2019 by Dervla McTiernan
Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: lüra – Klemt & Mues GbR
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München,
unter Verwendung von © shutterstock (Honza Krej, Aine)
und Alamy Stock Photo (James Byard)
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-25262-5
V001
www.heyne.de
Für Mum, für all die Worte.
Für Dad, für die Lieder.
Dublin, Irland
Februar 2006
Carline erfuhr vom Tod ihres Vaters, als sie bei Laila Barret in der Küche saß und Pfannkuchen mit Wassermelone aß. Sie war zum Spielen zu Laila gekommen. Dabei fanden die beiden, dass sie sich mit ihren zwölf Jahren solche Spieltreffen eigentlich nicht mehr vorschreiben lassen mussten. Immerhin darin waren sie sich einig. Lailas Au-pair-Mädchen Alice sah sich im Fernsehen die Nachrichten an.
Eine blonde Reporterin mit Skijacke und Mütze stand dicht vor der Kamera und sagte: »Gestern kam Eoghan Darcy, der Sohn von John Darcy und Erbe des multinationalen Pharmakonzerns Darcy Therapeutics, bei einem Lawinenunglück ums Leben. Mr. Darcy war mit Freunden auf dem Pisaillas-Gletscher im Val d’Isère Ski gefahren, obwohl der Gletscher aufgrund von Lawinengefahr bereits gesperrt war. Es gab keine Überlebenden.«
Carline schluckte hart und legte die Gabel beiseite. Die Fernsehreporterin zeigte auf die Berge im Hintergrund, die man im Schneegestöber kaum erkennen konnte, und sprach weiter. Aber Carline hatte plötzlich ein so lautes Rauschen in den Ohren, dass sie nichts mehr hörte. Alice sprang auf und drückte auf den Knöpfen der Fernbedienung herum. Auf irgendeinem anderen Sender lief ein Fußballspiel, und dann ging der Fernseher aus.
Alle drei saßen da wie versteinert. Carline schloss die Augen. Das Rauschen in ihren Ohren ließ allmählich nach, sodass sie nun ihren eigenen Atem hören konnte, den Verkehrslärm von weit weg und das Prasseln des Regens gegen die Fensterscheiben.
»Mein Dad ist nicht tot«, sagte sie. Aber als sie die Augen öffnete, sah sie den Schrecken in Alice’ Gesicht. Laila saß reglos da und starrte sie an, mit aufgerissenen Augen und leicht geöffnetem Mund, so als hätte die Reporterin von ihrem Vater gesprochen. Als wären ihre Mutter und ihr Vater nicht irgendwo hier in der Stadt in Sicherheit, wie auch ihre beiden älteren Schwestern und ihr kleiner Bruder, der im Zimmer nebenan spielte. Außerdem wollte Laila Carline überhaupt nicht zu Besuch haben. Das hatte sie ihr selbst gesagt. Sie hatte Carline nur eingeladen, weil ihre Mutter das so wollte. Laila selbst war ziemlich sauer darüber gewesen, weil sie sich eigentlich lieber mit Aoife verabredet hätte.
»Ich will nach Hause«, sagte Carline. »Kann ich bitte nach Hause?«
Dann saßen Carline und Laila im Wohnzimmer und warteten darauf, dass Marie kam und Carline abholte. Es dauerte eine halbe Ewigkeit.
»Tut mir leid, das mit deinem Vater«, sagte Laila irgendwann.
Carline schüttelte nur den Kopf.
»Du kannst ruhig weinen«, sagte Laila.
Aber Carline starrte an ihr vorbei, und nach einer Weile stand Laila auf und verließ den Raum. Carline blieb sitzen, so reglos wie möglich, als könne sie die düsteren Gedanken in Schach halten, wenn sie sich nicht bewegte. Dass ihr Vater tot war, konnte doch nicht sein. Vielleicht war er von der Lawine den Berg hinuntergeschoben worden. Vielleicht hatte er sich dann verirrt, und man hatte ihn bloß noch nicht gefunden. Oder er lag bewusstlos in einem Krankenhaus, und die Ärzte wussten nicht, wer er war. Doch ein Gedanke drängte sich immer wieder an allen anderen vorbei: Wenn es nicht stimmen würde, hätten sie es bestimmt nicht im Fernsehen gesagt. Carline beugte sich nach vorn und presste die Hände auf ihre Augen, ganz fest. Aber auch so flossen die Tränen.
Um sechs Uhr kam Marie endlich. Es sei viel Verkehr auf den Straßen, sagte sie. Schrecklich viel Verkehr. Sie nahm Carline in die Arme und hielt sie lange fest. Und auf dem Weg zum Auto legte sie ihr einen Arm um die Schulter. Zu Hause kochte sie Tee und setzte sich mit ihr an den großen Küchentisch.
»Es tut mir furchtbar leid, dass du es so erfahren hast«, sagte sie. »Aus den Nachrichten. Ich wusste es noch gar nicht. Niemand hat mich angerufen, um es mir zu sagen.«
Carline starrte auf ihren Teller. »Glaubst du, er ist wirklich tot?«, fragte sie. »Nicht bloß verschwunden?«
Marie nahm Carlines Hand und drückte sie. Dann sagte sie, es gebe keinen Zweifel. Carlines Vater hatte einen Ortungssender bei sich, und dadurch hatte man ihn gefunden. Die Lawine war einfach zu groß. Als sie sich von dem Berg löste, hatte keiner mehr eine Chance gehabt. Aber weil es so schnell gegangen war, hatte ihr Vater bestimmt nicht leiden müssen.
Was er wohl gedacht hatte, als er den ganzen Schnee auf sich zukommen sah, fragte sich Carline. Als die tonnenschweren Schneemassen ihn überrollten und unter sich begruben. Sie sah vor sich, wie er panisch versuchte, sich mit den Händen freizuschaufeln – in der eisigen Kälte, mit Schnee im Mund und in der Lunge. Bei der Vorstellung konnte sie selbst kaum noch atmen. Mit offenem Mund schnappte sie nach Luft, und dann noch einmal. Tränen brannten erneut in ihren Augen. Die Arme um den Oberkörper geschlungen wiegte sie sich weinend vor und zurück. Marie stand auf und nahm sie wieder fest in die Arme. So saßen sie da, bis Carlines Tränen versiegten.
In jener Nacht wurde Carline immer wieder wach. Die Schatten in ihrem Zimmer wirkten bedrohlich. Es war kalt. Sie zog die dicke Bettdecke eng um sich, aber dann kam sie ihr so schwer vor, als würde sie davon erdrückt. Fast die ganze Nacht lang starrte sie an die Decke und dachte an ihren Dad. Er fuhr gern Ski. Er fuhr auch gern schnelle Autos, und er ging gern auf Reisen. Viel arbeiten, viel feiern. Das hatte er immer gesagt und ihr dabei durchs Haar gestrichen, wenn er sich wieder einmal auf die Reise machte und sie mit Marie allein ließ, oder mit Maries Vorgängerin oder ihrer Vorvorgängerin oder dem Au-pair-Mädchen davor. Warum hatte er nicht einfach zu Hause bleiben können? Was hätte sie tun können, um ihn davon abzuhalten, ständig irgendwohin zu reisen? Erst als die Sonne aufging, wurde Carline klar, wie unsinnig diese Fragen waren. Da dachte sie die ganze Zeit über ihren Vater nach, anstatt sich zu fragen, wie es weitergehen sollte. Das war es, worüber sie jetzt nachdenken musste. Schließlich war sie erst zwölf Jahre alt. Bis sie erwachsen war, würde sie ja bei irgendjemandem wohnen müssen. Und so viele Möglichkeiten gab es da nicht.
Also musste sie etwas tun, bevor es zu spät war. Sie ging ins Badezimmer, putzte sich besonders gründlich die Zähne und flocht sich das Haar zu einem Bauernzopf. Sie zog eine saubere Jeans an und den hellblauen Pullover, von dem ihr Vater gesagt hatte, dass er ihre Augen so schön zur Geltung brachte. Dann schlüpfte sie in ihren besten Mantel und ihre schönsten Stiefel und schlich durch die Hintertür aus dem Haus.
Irgendwann hatte sie mal einen Film über ein Mädchen gesehen, dessen Eltern sich scheiden lassen wollten. Das Mädchen liebte seine Eltern und war wild entschlossen, sie wieder zusammenzubringen. Deshalb dachte es sich alle möglichen Verrücktheiten aus. Am Ende blieben die Eltern dann doch nicht zusammen, aber sie wurden Freunde, und das Mädchen war zwar traurig, doch es kam mit der Situation zurecht. Carline hatte nichts von alldem nachvollziehen können. Das ging schon damit los, dass ihre Eltern nie zusammengelebt hatten. Carline hatte immer bei ihrem Vater in Dublin gewohnt und ihre Mutter Evangeline in Monaco. Zwei Mal im Jahr besuchte Carline sie zum Nachmittagstee in ihrer Suite im Shelbourne Hotel. Die Besuche fingen jedes Mal mit einer steifen Umarmung und einem Kuss auf die Wange an. Und es gab immer eine Flasche Champagner. Evangeline fragte sie nach diesem und jenem, hatte den Blick dabei aber stets auf ihren Vater gerichtet. Wenn die Flasche Champagner leer war, wurde direkt noch eine geöffnet, oder ihre Mutter rannte ständig ins Badezimmer, während die Stimmung immer unangenehmer wurde. Irgendwann folgten noch mehr Umarmungen und viel zu nasse Küsse, und dann ging der Ärger los, mit Geschrei und schrecklichen, wirklich schrecklichen Beschimpfungen. Nicht für eine Sekunde hätte Carline gewollt, dass ihre Eltern zusammenlebten. Im Gegenteil, sie war jedes Mal froh, wenn ihr Vater aufstand, sie an die Hand nahm und sagte, es sei Zeit zu gehen.
Die Fahrt mit dem Transrapid von Blackrock nach Dalkey dauerte nur exakt vierzehn Minuten. Normalerweise fuhr Carline gern mit dem »Dart«, wie der Dublin Area Rapid Transit genannt wurde. Sie sah sich gern die Leute und das Meer an, selbst an trüben Tagen, wenn das Meer düster und bedrohlich schien. Aber an diesem Tag brachte sie es nicht fertig, einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Die hohen Wellen erinnerten sie zu sehr an einen Tsunami aus Schnee. Und vor den anderen Leuten wäre sie am liebsten unsichtbar gewesen, weil sie fürchtete, man würde ihr sofort ansehen, wie sie sich fühlte. So saß sie mit gesenktem Kopf da, starrte auf ihre Stiefel und versuchte, an gar nichts zu denken.
In Dalkey stieg sie aus und machte sich auf den Weg zur Vico Road. Ihr Großvater wohnte in einem Haus oben auf den Klippen, hoch über dem Meer. Carline war noch nie dort gewesen, aber sie wusste, wo es sich befand. Sie ging durch die Ardeevin Road. Eine schöne Gegend. Die Straße war eng, aber es gab einen Bürgersteig, und auf beiden Seiten standen schöne Häuser und viele Bäume. Gut, dass sie noch ein paar Minuten zum Nachdenken hatte, zum Überlegen, was sie sagen wollte. Das Wichtigste war, dass sie nicht anfing zu weinen, denn das würde ihrem Großvater überhaupt nicht gefallen. So viel wusste sie immerhin über ihn. Sie erreichte die Vico Road. Die Straße wurde immer kurviger und steiler. Aus dieser Höhe sah das Meer tief unten ganz anders aus. Das Wasser wirkte viel ruhiger, und die Wellen schienen weniger bedrohlich. Hier oben fühlte sie sich sicher.
Das Haus ihres Großvaters lag abgeschottet hinter hohen Steinmauern und war durch ein Eisentor gesichert. Rechts neben dem Tor befand sich eine Gegensprechanlage. Carline drückte fest auf den Knopf und wartete. Kurz darauf ertönte zunächst Rauschen und dann eine Frauenstimme. »Ja, bitte?«
»Ich bin Carline Darcy.« Carline gab sich Mühe, ihre Stimme so fest wie möglich klingen zu lassen. »Ich möchte gern meinen Großvater sprechen.«
Es folgte eine unbehaglich lange Pause, dann ein Summen, und das Tor schwang auf. Carline ging die Zufahrt zum Haus hinauf. Eine Frau öffnete die Tür. Sie hatte ein nettes Gesicht. Ihr graues Haar war zusammengebunden und sie selbst ziemlich dünn. Für einen Moment fragte sich Carline, ob das ihre Großmutter war, die sie nie kennengelernt hatte. Aber den Gedanken verwarf sie sogleich wieder. Die Frau wirkte ein bisschen nervös, aber nicht abweisend.
»Kann ich ihn bitte sprechen?«, fragte Carline, und nun schwankte ihre Stimme doch ein wenig. Sie räusperte sich und straffte die Schultern.
»Dein Großvater ist gerade außer Haus. Erwartet er dich denn?«
Carline schüttelte den Kopf. Die Frau presste die Lippen aufeinander.
»Ich rufe ihn an«, sagte sie. »Ich sage ihm, dass du hier bist.«
Carline wartete im Esszimmer, und zwar ziemlich lange. Der Raum lag auf der Vorderseite des Hauses, sodass man das Meer nicht sehen konnte. Stattdessen hatte man einen Ausblick auf den kleinen Vorgarten, dessen Büsche und Sträucher in der Wintersonne ein wenig zerzaust aussahen. Um den langen Tisch im Esszimmer herum standen zwölf Stühle. Es gab einen Kamin, aber darin brannte kein Feuer, und die Heizung war wohl ausgeschaltet. Es war kalt. Also behielt Carline ihren Mantel an und steckte beide Hände in die Taschen. Als sie einen Wagen vorfahren und dann die Stimme ihres Großvaters in der Eingangshalle hörte, zog sie die Hände aus den Taschen und setzte sich aufrecht hin. Ein paar Minuten später betrat er den Raum. Die Tür ließ er geöffnet und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. Ohne das geringste Zeichen von Wärme oder Zuneigung betrachtete er sie. Sie hatten sich ja auch erst ein paarmal gesehen, und jedes Mal auf Initiative ihres Vaters. Carlines Großmutter hatte sich geweigert, bei diesen Treffen dabei zu sein, und ihr Großvater war nur erschienen, weil ihr Vater ihn dazu gedrängt hatte. Carline wünschte, er würde ihrem Vater nicht so ähnlich sehen.
»Also?«, fragte er.
Carline öffnete den Mund, aber sie brachte kein Wort heraus. Er sah sie immer noch an. Dann warf er seufzend einen Blick auf die Uhr.
»Wenn es geht, möchte ich nicht bei meiner Mutter wohnen«, sagte Carline mit heiserer Stimme, aber immerhin ohne zu weinen. Unter dem Tisch ballte sie die Hände zu Fäusten. »Ich möchte lieber in unserem Haus bleiben, zusammen mit Marie oder, wenn Marie wieder nach Hause geht, mit einem anderen Au-pair-Mädchen.«
»Verstehe«, sagte ihr Großvater. »Und warum willst du nicht bei deiner Mutter wohnen?«
Carline schloss die Augen. Sie musste es aussprechen, unbedingt. »Sie mag mich nicht«, sagte sie. Dann schüttelte sie den Kopf. Nein, das traf es nicht richtig. Es stimmte zwar, aber es war nicht das, was sie hatte sagen wollen. Sie schluckte und zwang sich weiterzureden. »Ich habe Angst vor ihr.«
Carlines Großvater schwieg. Sie hörte, dass die Eingangstür geöffnet wurde, und dann hörte sie Maries Stimme, laut und aufgeregt. Ihre Lider fühlten sich so schwer an wie Ziegelsteine, aber sie zwang sich, dem kalten Blick ihres Großvaters nicht auszuweichen. Seine Augen waren heller als die ihres Vaters, von einem blassen Blau, wie Eisstücke, und ihr schien, als würde er durch sie hindurchsehen.
»Also gut«, sagte er.
Marie brachte Carline nach Hause. Unterwegs machten sie halt, um sich etwas zum Mittagessen mitzunehmen. Carline wartete im Auto. Sie fühlte sich seltsam, irgendwie schwach. Und ihr tat alles weh. Ihr war zum Weinen zumute, aber auch zum Lachen. Zu Hause setzten sie sich mit dem Essen an den Küchentisch und ließen den Fernseher laufen. Irgendwann lief Carline ins Badezimmer und musste sich übergeben.
Drei Tage später fand die Beerdigung ihres Vaters statt.
Und nach der Beerdigung kam ihre Mutter, um sie abzuholen.
Galway, Irland
Freitag, 25. April 2014
Carrie O’Hallorans Handy wollte einfach nicht klingeln. Sie hatte erwartet, dass Ciarán anrufen würde, damit die Mädchen ihr Gute Nacht sagen konnten. Und als es dafür zu spät wurde, hatte sie zumindest mit einer Zusammenfassung des Tages gerechnet, sobald sie im Bett lagen. Mittlerweile war es nach neun, aber das Handy blieb hartnäckig stumm. Natürlich hätte sie ihn anrufen können, aber sie hatte keine Energie für eine weitere Diskussion. Also legte sie das Handy in die Schublade und widmete sich wieder dem Stapel Unterlagen auf ihrem Schreibtisch.
Der Fall, an dem sie arbeitete, erforderte ihre volle Konzentration. Dabei hätte längst alles geklärt sein sollen. Rob Henderson war auf frischer Tat ertappt worden, aber allmählich sah es immer mehr danach aus, als würde ihr der Fall aus den Händen gleiten. Dem musste sie unbedingt entgegenwirken. Carrie hatte Lucy Henderson befragt, aber es war ihr nicht gelungen, echten Kontakt zu ihr aufzubauen. Jetzt las sie die Aussagen von Kollegen und Verwandten noch einmal durch und suchte nach etwas, wo sie den Hebel ansetzen konnte, um Lucy klarzumachen, dass ihr Mann ein mörderischer Drecksack war.
Nach einer Stunde legte Carrie den Kugelschreiber beiseite, lehnte sich zurück und nahm das Handy aus der Schublade. Keine Nachrichten, keine verpassten Anrufe. Mist. Sie wollte nicht nach Hause. Die Mädchen würden schon schlafen, die Küche wäre ein Saustall und Ciarán mal wieder beleidigt. Am besten suchte sie sich eine leere Zelle im Untergeschoss des Polizeireviers und übernachtete da. Um sechs Uhr morgens musste sie ohnehin wieder am Schreibtisch sitzen, wenn sie die Vorbereitung der nächsten Vernehmung im Henderson-Fall rechtzeitig fertig haben wollte.
Carrie ließ den Computer herunterfahren und stand auf. Sie nahm ihre Jacke von der Rückenlehne des Stuhls und sah sich um. Einige der Kollegen saßen noch an ihren Schreibtischen, aber deren Schicht hatte auch nicht schon um sieben Uhr morgens begonnen. Verflucht noch mal! So etwas konnte ja mal vorkommen, aber bei ihr ging es nun schon seit Monaten so. Als sie zum Sergeant befördert worden war, war sie zunächst froh darüber gewesen, dass sie sich ihre Zeit selbst einteilen konnte. Sie musste Murphy natürlich Bericht erstatten, aber ansonsten hatte man als Sergeant mehr Freiheiten. Man bekam eigene Fälle, bei denen man die Ermittlungen leitete, und konnte die Beamten einteilen, die einem unterstellt waren. So hatte sie es sich jedenfalls vorgestellt, dann aber erkennen müssen, dass sie in der Realität vor allem weniger Freizeit hatte als vorher. Als Garda in Uniform hatte sie ihre Schicht gemacht, und wenn die Ablösung kam, war sie nach Hause gegangen. Natürlich war es auch zu Überstunden gekommen, aber nur, wenn es sich nicht hatte vermeiden lassen, und in Zeiten von Budgetkürzungen waren derartige Notwendigkeiten eher eine Seltenheit. Jetzt war sie einer von nur drei Sergeants im Polizeirevier in der Mill Street und kam so gut wie gar nicht mehr nach Hause, weil es sonst unmöglich gewesen wäre, das Arbeitspensum zu bewältigen.
Carrie verließ das Büro und ging zur Treppe, doch auf dem Weg nach unten blieb sie stehen. Mittlerweile graute es ihr davor, nach Hause zu kommen, aber ebenso graute es ihr vor der Arbeit. So konnte es nicht weitergehen. Sie war überhaupt nicht mehr sie selbst. Wenn sie dagegen an Mel Hackett dachte, die gerade Urlaub in Südfrankreich machte, oder an Cormac Reilly, der schon um sechs Uhr gegangen war, so wie jeden Tag in dieser Woche! Carrie machte auf dem Absatz kehrt und ging schnurstracks zu Murphys Büro. Normalerweise war Murphy um diese Zeit längst zu Hause und überließ die sozial unverträglichen Schichten seinen Untergebenen, aber heute war er noch da. Das wusste sie. Er war den ganzen Tag über bei einem Meeting in Dublin gewesen und bei seiner Rückkehr nach Galway noch in die Dienststelle gekommen. Sie klopfte an seine Tür.
»Haben Sie vielleicht einen Moment Zeit für mich, Sir?«
Brian Murphy war in irgendetwas vertieft, das er auf dem Bildschirm vor sich sah. Nach einem Doppelklick auf die Maus hob er den Kopf. Die Dienstzeit war schon vorbei, also postete er wohl wieder einmal etwas bei triathletnow.com. Carrie musste sich unbedingt bald etwas einfallen lassen, um ihn dezent darauf hinzuweisen, dass seine Beiträge nicht so anonym blieben, wie er dachte. Irgendwie hatte sich nämlich ein Lästermaul seine Zugangsdaten verschafft und sie in der Dienststelle herumgereicht. Der Abend, an dem sich TopCopTriGuy an einem detaillierten Austausch über die Problematik von Hämorrhoiden bei in die Jahre gekommenen Radfahrern beteiligt hatte, führte noch immer zu allgemeiner Erheiterung, und es gab jetzt Sitzkissen in den Besprechungsräumen, sobald Murphy sich näherte. Das konnte ihm selbst doch nicht entgangen sein!
Murphy wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Ich habe Ihren Bericht über den Henderson-Fall gelesen. Wie steht es mit dem Gutachten?«
Innerhalb einer Stunde, nachdem er verhaftet worden war, hatte Rob Henderson ein Verhalten an den Tag gelegt, das entweder eine ernsthafte psychische Erkrankung oder eine erstaunliche schauspielerische Leistung erkennen ließ. Derzeit befand er sich im Central Mental Hospital von Dublin und wurde einer Begutachtung unterzogen.
»Noch nichts Offizielles, Sir. Das wird auch noch ein paar Tage dauern. Ich mache schon Druck, aber wie es scheint, wissen die auch nicht recht, was sie von ihm halten sollen. Wenn Sie mich fragen, halte ich das Ganze für Blödsinn. Der spielt doch.«
»Und die Ehefrau?«
»Leugnet nach wie vor alles. Für morgen habe ich noch mal eine Befragung angesetzt. Dann werde ich sie ein bisschen härter rannehmen.«
»Geben Sie mir anschließend ein Update«, sagte Murphy. »Informieren Sie mich darüber, ob Sie weitergekommen sind.«
Carrie nickte. Das hätte sie ohnehin getan. Über den Fall war schon in den Medien berichtet worden, und Murphy hatte von Anfang an Wert darauf gelegt, auf dem Laufenden zu bleiben. Jetzt sah er Carrie auffordernd an, in Erwartung dessen, was sie noch zu sagen hatte. Sie zögerte und hätte die Gelegenheit beinahe verpasst. Doch dann gab sie sich einen Ruck.
»Ich arbeite zurzeit an ziemlich vielen Fällen, Sir. An zu vielen, wie ich finde.«
Murphy trommelte mit dem Zeigefinger auf den Schreibtisch, was noch nie ein gutes Zeichen gewesen war.
»Ich leite sechs laufende Ermittlungen. In sieben weiteren Fällen sind die Ermittlungen abgeschlossen, und innerhalb der nächsten Monate wird Anklage erhoben.« Wie viele Fälle hatte Mel Hackett in der Zeit bearbeitet? Maximal drei. Und Reilly hatte momentan überhaupt keine laufenden Ermittlungen. »Das ist eine untragbare Situation. Wenn ich weiter so viel arbeite, fange ich an, Fehler zu machen.«
»Es ist nun einmal kein Nine-to-five-Job, Carrie. Und das hatte ich Ihnen vor der Beförderung auch gesagt.«
Carrie ging gar nicht erst darauf ein, sondern wies auf eine Tatsache hin, der Murphy mit Sicherheit Beachtung schenken würde. »Ich habe mir mal unsere Aufklärungsrate angesehen. Demnach brauchen wir immer ziemlich lange. Bei zwei Vermisstenfällen zum Beispiel sind wir kein Stück weitergekommen.« Die Aufklärungsrate war ein stets aktuelles und regelmäßig wiederkehrendes Thema in der Dienststelle. Für ungeklärte Vermisstenfälle hatte der Commissioner dieses Jahr eine Zielvorgabe von null angesetzt. Diese Vorgabe einzuhalten stand ganz oben auf Superintendent Murphys Prioritätenliste.
»Übernächste Woche ist Hackett wieder da«, sagte er und lehnte sich zurück. »Dann setzen wir uns zusammen, sprechen alle Fälle durch und prüfen, was wir umverteilen können.«
»Ich habe noch vor ihrem Urlaub mit ihr darüber gesprochen. Sie sagte, sie hat absolut keine Kapazitäten mehr, um etwas zu übernehmen.« Was Schwachsinn war, aber das blieb dahingestellt.
Murphy rieb sich die Wangen und presste die Lippen aufeinander.
»Aber Cormac Reilly –«, begann Carrie.
»Reilly hat genug zu tun«, fiel Murphy ihr ins Wort. »Er ist vollauf beschäftigt mit der Prüfung ungeklärter Fälle.«
Carrie konnte ihre Verständnislosigkeit nicht verhehlen. »Aber Sir, wie stellen Sie sich das denn vor? Soll ich auch noch im Schlaf arbeiten?«
»So ist das nun mal in diesem Job, Carrie.«
»Sie haben drei Sergeants zur Verfügung, Sir. Und die Unerfahrenste von allen erledigt siebzig Prozent der ganzen Arbeit. Mehr will ich Ihnen doch gar nicht begreiflich machen.« Melanie Hackett war lange genug dabei, um zu wissen, wie man sich durch dieses System lavierte, und Cormac Reilly wurde von allem ausgeschlossen, was auch nur im Entferntesten nach einem aktuellen Fall aussah. »Reilly ist ein sehr guter Detective«, fuhr Carrie fort. »Ich habe gehört, wie viele Ermittlungen er geleitet und erfolgreich abgeschlossen hat. Wir können von Glück sagen, dass wir ihn hierhaben. Es ist doch Wahnsinn, ihn auf diese dämlichen uralten Fälle anzusetzen, bei denen sowieso nichts mehr rauskommt. Sie sollten ihm laufende Ermittlungen übertragen oder ihn durch jemanden ersetzen, für den Sie noch eine Beschäftigung brauchen.« Carrie hielt inne und wartete darauf, dass Murphy sie vor die Tür setzte.
»Einer dieser ›dämlichen uralten Fälle‹, wie Sie gerade so schön sagten, hat immerhin zu einer spektakulären Verhaftung geführt.«
»Aber auch nur einer«, sagte Carrie hastig, um sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. »Und der hat noch immer Nachwirkungen.«
Es folgte eine lange Schweigepause, während aus dem Treppenhaus herüberschallte, wie die letzten Kollegen, die noch im Büro gesessen hatten, nun auch Feierabend machten und lautstark Kneipenbesuche oder andere Wochenendaktivitäten planten. Carrie verstand nicht, was Murphy mit seiner Strategie bezweckte. Dachte er wirklich, Cormac würde das Handtuch werfen, wenn man ihn nur lange genug kaltstellte? Er war ein Cop, der weiterkommen wollte, das lag einfach in seiner DNA. Aber er trat auf der Stelle. Die Alternative lautete, sich nach Dublin zurückversetzen zu lassen. Vielleicht hätte er das auch längst schon getan, wenn seine Freundin nicht gewesen wäre. Seine Lebensgefährtin. Oder was auch immer.
»Dass er schießen musste, war nicht seine Schuld, Sir.«
»Das habe ich auch nie behauptet.«
Carrie zögerte wieder. Wäre es einzig und allein nach ihrem Selbstschutzmechanismus und ihren Karriereaussichten gegangen, hätte sie nun besser den Mund gehalten. Aber sie brauchte endlich ein freies Wochenende, um Zeit mit ihren Kindern verbringen und sich wenigstens eine kleine Chance erhalten zu können, ihre Ehe zu retten. Das Ausschlaggebende dafür, dass sie doch den Mund aufmachte, war jedoch, dass Cormac Reilly ihrer Ansicht nach unfair behandelt wurde.
»Das geht so nicht«, sagte sie leise. »Cormac Reilly kommt nicht voran, und die Leute fangen schon an zu reden. Das Ganze ist jetzt über ein Jahr her. Die uniformierten Beamten sind doch auch nicht blöd. Die wissen, was für eine Aufklärungsrate er früher hatte. Bei der internen Ermittlung wurde er von jeglicher Schuld freigesprochen. Auf dem Papier ist er also wieder im aktiven Dienst, aber in der Praxis ist davon nichts zu merken. Allmählich fragen sich alle, warum nicht. Ohne Rauch kein Feuer, heißt es doch so schön. Früher oder später wird Reilly selbst eine Entscheidung treffen. Und was wäre, wenn er sich an die Gewerkschaft wendet? Oder schlimmer noch, wenn er sich einen Anwalt nimmt?«
»Sollten Sie damit andeuten wollen, Cormac Reilly sei wegen des Vorfalls im letzten Jahr benachteiligt worden, so sehen Sie das falsch, O’Halloran. Reilly bekommt seine Fälle nach dem Rotationsprinzip zugeteilt, so wie jeder andere hier auch.«
Carrie sagte nichts darauf, sondern ließ ihre aus der Luft gegriffenen Andeutungen erst einmal wirken. Sie fing Murphys Blick auf und hielt ihm stand, sodass schließlich Murphy als Erster den Kopf abwandte.
»Sind Sie sich sicher, Carrie, dass Sie einige Ihrer Fälle abgeben wollen?«, fragte er nach einer Weile. »Zurückbekommen werden Sie die nämlich nicht.«
Carrie überlegte kurz und antworte dann: »Ganz sicher.«
Murphy richtete den Blick auf den Bildschirm seines Computers, bewegte die Maus und klickte auf etwas, das Carrie von ihrer Position aus nicht sehen konnte.
»Dann geben Sie den Durkan-Fall an Reilly ab.« Murphy tippte etwas ein. »Den Fall Nesbitt auch.« Nach weiterem Tippen: »Und den Henderson-Fall.«
Carrie hatte schon ein erleichtertes Lächeln auf den Lippen gehabt, doch das erstarrte angesichts des letztgenannten Falls. Sie hob zu Protest an: »Aber Sir, ich ...«
»Ich habe das Protokoll Ihrer letzten Befragung von Lucy Henderson gelesen. Sie kommen bei ihr nicht weiter. Vielleicht kann Reilly da mehr rausholen. Wäre ja möglich, dass sie anders reagiert, wenn sie von einem Mann befragt wird.«
Murphys Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass das Gespräch hiermit beendet war.
Mist!
»Vielen Dank, Sir.« Carrie wartete für einen Moment, aber von Murphy kam nichts mehr. Erst als sie schon an der Tür war, sagte er doch noch etwas.
»Ich hoffe, das war kein Fehler, O’Halloran.« Sein Ton klang abermals deutlich, sein Blick war distanziert und die Botschaft klar: Er tat Carrie einen Gefallen, und der wurde auf der Liste von Geben und Nehmen genau vermerkt. Irgendwann würde er einen Gefallen zurückfordern. Das machte er immer.
»Jawohl, Sir.«
Cormac war überrascht, aber keineswegs unangenehm, als er eine Textnachricht von Carrie O’Halloran bekam, in der sie fragte, ob er Zeit für einen Drink habe. Zufällig war er ohnehin gerade im Stadtzentrum, saß bei einem Pint und wartete auf Emma. Also schrieb er Carrie zurück, dass er Zeit habe, bestellte sich noch ein Pint und ein Glas Rotwein für Carrie.
Er mochte seine Kollegin. Sie war eine gute Polizistin, ein guter Sergeant, und er vertraute ihr. Im Jahr zuvor, als Cormacs Ermittlungen zu einer gewalttätigen Konfrontation mit einem Kollegen führten, hatte Carrie alles getan, was sie konnte, um dafür zu sorgen, dass er nicht von höherer Stelle zum Sündenbock gemacht wurde. Seitdem waren sie das eine oder andere Mal zusammen Kaffee trinken oder zum Lunch gegangen, aber bisher hatten sie sich nicht freitagabends auf einen Drink verabredet. Deshalb musste es nun wohl einen wichtigen Grund dafür geben.
Fünf Minuten später bahnte sich Carrie einen Weg durch das Lokal und erspähte Cormac in einer Ecknische. Als sie auf ihn zukam, fiel ihm auf, wie erschöpft sie aussah, besonders um die Augen herum. Sie trug noch immer dieselbe Kleidung wie ein paar Stunden zuvor in der Dienststelle. Also war sie noch gar nicht zu Hause gewesen.
»Danke«, sagte sie, als sie sich setzte und das Glas Wein sah. »Aber ich sollte mir wohl lieber einen Kaffee bestellen.« Dennoch trank sie einen Schluck. »Diese Woche war ich keinen Tag vor zehn Uhr abends zu Hause. Ich habe an den letzten beiden Wochenenden gearbeitet. Vergangenen Monat sogar an dreien. Ich bin total überlastet. Ich habe mit Murphy gesprochen, und er sagte, ich soll ein paar meiner Fälle an Sie abgeben.«
Cormac nickte zögernd. »Scheint angebracht.« Er wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Wollte Carrie das wirklich? »Um welche Fälle geht es?«
»Durkan. Nesbitt. Und Henderson.«
»Verstehe.« Die ersten beiden sagten ihm nichts. Schien sich um Routinearbeit zu handeln. Aber der Henderson-Fall – darüber hatte er genug gehört, um zu wissen, wie sehr Carrie sich hineingekniet hatte. Bestimmt war das sogar der Fall, wegen dem sie letzte Woche fast Tag und Nacht in der Dienststelle gewesen war.
»Henderson?«, fragte Cormac deshalb nach. »Ist Ihnen das denn überhaupt recht?«
»Nein«, lautete ihre unverblümte Antwort. Sie trank noch einen Schluck Wein. »Aber Murphy war nicht begeistert, als ich Druck gemacht habe. Ich habe ihm damit in den Ohren gelegen, dass er Sie nicht nur an diesen ungeklärten Fällen arbeiten lassen soll. Entweder er soll kacken oder vom Klo kommen! Habe ich natürlich in andere Worte gekleidet.«
»Und Henderson war seine Art, sich …«
»Seine Art, sich bei mir dafür zu revanchieren. Ganz genau.« Carrie stellte ihr Glas ab. »Der Fall ist ziemlich heikel.« Cormac merkte, dass sie ihre Worte mit Bedacht wählte. »Lucy Henderson ist eine harte Nuss, aus der man nicht ganz schlau wird.«
»Verstehe«, sagte er, trank einen Schluck von seinem Pint und ließ sich die neuen Aussichten durch den Kopf gehen. Er wollte den Fall gern übernehmen. Wenn er ehrlich war, brauchte er ihn sogar. Er brauchte eine Herausforderung. Aber auf diese Art daranzukommen war nicht gerade ideal – da weiterzumachen, wo jemand anders schon seine Handschrift hinterlassen hatte, seine eigene Herangehensweise, besonders wenn dieser Jemand den Fall nur ungern abgab.
»Vielleicht sollten wir am Montag mit Murphy darüber sprechen und gemeinsam entscheiden, welche Fälle sich anbieten würden. Dann können Sie Henderson behalten. Ich nehme Ihnen ab, was Ihnen ansonsten zu viel wird. Wenn wir Murphy vor vollendete Tatsachen stellen, bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als zuzustimmen.«
Carrie schien überrascht und nachdenklich, doch dann schüttelte sie den Kopf und trank einen kräftigen Schluck. »Er hat ja recht, auch wenn ich es mir nur ungern eingestehe. Ich komme bei Lucy Henderson nicht weiter. Vielleicht spricht sie auf Sie besser an. Außerdem überschneidet sich der Termin der Anhörung vermutlich mit dem eines meiner anderen Fälle. Sie werden also gar nicht darum herumkommen, den Fall zu übernehmen.« So erschöpft Carrie auch wirkte, klang sie nun schon etwas entspannter. »Für morgen früh ist eine Befragung angesetzt. Deshalb wollte ich heute Abend noch mit Ihnen sprechen.«
»Ich will Ihnen aber auf keinen Fall in die Quere kommen, Carrie«, wandte Cormac ein.
Sie winkte ab. »Nein. Schon gut. Erst war ich ziemlich genervt, aber das liegt nur an der Müdigkeit. Ich sollte endlich nach Hause gehen und ein bisschen schlafen.« Aber sie machte keine Anstalten aufzustehen.
Eins der Handys auf dem Tisch vibrierte, und beide warfen einen Blick auf die Displays. Es war Cormacs.
»Das ist Emma. Für ein richtiges Abendessen ist es schon zu spät. Aber wir könnten uns hier eine Kleinigkeit bestellen. Bleiben Sie doch noch, und essen Sie etwas, bevor Sie nach Hause fahren.« Ehe Carrie etwas erwidern konnte, nahm Cormac den Anruf an. »Em? Machst du Feierabend? Ich bin im Busker Brownes. Hinten in der Bar.« Plötzlich wich Cormacs Lächeln einem ernsten Gesichtsausdruck. Er stand auf und hielt sich ein Ohr zu, um Emma mit dem anderen besser verstehen zu können. Kurz darauf schaute er zu Carrie.
»Wo bist du? Emma, hol erst mal tief Luft!« Trotz seiner Anspannung blieb sein Tonfall ruhig. »Sag mir nur, wo du bist.«
Dann setzte er sich in Bewegung.