Buch
Sommer 1955. Filmstars und Paparazzi strömen zum glamourösen Filmfest nach Cannes, doch der größte Star von allen, Grace Kelly, will nichts mehr, als dem Blitzlicht zu entkommen. Auf der Flucht vor dem hartnäckigen britischen Fotografen James Henderson stolpert sie in die Boutique der Parfümeurin Sophie Duval, die sie im Hinterzimmer versteckt – der Beginn einer tiefen Freundschaft zwischen den beiden Frauen.
Noch ein Jahr später kann James Henderson seine kurze Begegnung mit Sophie Duval nicht vergessen. Obwohl er Schuldgefühle hat, weil er seine Tochter allein lässt, nimmt er den Auftrag an, über die Hochzeit des Jahrhunderts zu berichten, und begleitet Grace Kellys Hochzeitsgesellschaft nach Monaco. Dort müssen James und Sophie – wie auch Prinzessin Grace – entscheiden, was sie bereit sind, für die Liebe zu opfern …
Autorinnen
Hazel Gaynor stammt aus Yorkshire, England und lebt heute mit ihrem Mann, ihren zwei Kindern und einer Katze in Irland. 2015 wurde sie vom Library Journal als eine der zehn besten neuen Autorinnen ausgewählt. Bei Blanvalet ist von ihr bereits »Das Mädchen aus dem Savoy« erschienen sowie »Noch bevor das Jahr zu Ende ist«, ihr erster Roman in Zusammenarbeit mit Heather Webb.
Heather Webb ist erfolgreiche Autorin mehrerer historischer Romane und arbeitet außerdem freiberuflich als Lektorin. Sie lebt mit ihrer Familie und einem temperamentvollen Kaninchen in Neuengland, USA.
Von Hazel Gaynor und Heather Webb bereits erschienen
Das Mädchen aus dem Savoy · Noch bevor das Jahr zu Ende ist
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Hazel Gaynor und Heather Webb
Miss Kelly und
der Zauber von
Monaco
Roman
Deutsch von Claudia Geng

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
»Meet Me in Monaco« bei William Morrow an imprint of HarperCollins Publishers, New York.
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Copyright der Originalausgabe © 2019 by
Hazel Gaynor und Heather Webb
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Ulrike Nikel
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Alex Staroseltsev; MarinaD_37; Kraphix; Bukhavets Mikhail) und Richard Jenkins Photography
DN · Herstellung: sam
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-25407-0
V001
www.blanvalet.de
Für Grace
Die Vorstellung, mein Leben sei ein Märchen,
ist selbst ein Märchen.
Fürstin Gracia Patricia von Monaco
TEIL EINS
DIE KOPFNOTE
Der erste Eindruck von einem Parfüm sind die Duftnoten, die von der Nase wahrgenommen werden und am schnellsten verfliegen.
Sie kann es in Cannes!
Grace Kelly besucht zum ersten Mal die Filmfestspiele
Angeline West berichtet für den Herald
Mai 1955
Noch im März dieses Jahres war Grace Kelly von ihrem Filmstudio Metro-Goldwyn-Mayer mit einer umstrittenen Sperre belegt worden, nachdem sie sich geweigert hatte, die weibliche Hauptrolle in dem Western Mein Wille ist Gesetz zu übernehmen. Doch ihr überraschender Oscargewinn als beste Hauptdarstellerin für Ein Mädchen vom Lande ließ sie in der Gunst der Filmverantwortlichen wieder steigen, und so ist Grace Kelly als Repräsentantin der amerikanischen Delegation bei den achten Internationalen Filmfestspielen von Cannes die unbestrittene Königin von Hollywood.
Als sie in Cannes aus dem Pariser Nachtzug stieg, wurde Miss Kelly, die ein dezent-klassisches Kostüm trug, dazu ihre typischen weißen Handschuhe und ihre Lieblingstasche von Hermès, von einer Schar internationaler Fotografen und Bewunderer empfangen. Zwar wirkte sie von der langen Reise etwas müde, aber sie lächelte routiniert in die Kameras und gab geduldig Autogramme in der warmen Maisonne.
Im Hinblick auf ihr volles Programm mit zahlreichen offiziellen Terminen bemerkte Miss Kelly, sie hoffe dennoch darauf, ein bisschen von der hinreißenden Côte d’Azur zu sehen, wenn sie schon einmal in der Gegend sei.
Hinreißend ist auch die richtige Bezeichnung für Miss Kelly selbst. Hollywoods hellster Stern hat bereits jetzt ganz Cannes, einschließlich meiner Wenigkeit, in seinen Bann gezogen.
Kapitel 1
Sophie
Jeder Duft berge ein Geheimnis, habe seine eigene Geschichte. Das war die erste Lektion, die mein Vater mich lehrte.
»Parfümeur zu sein heißt, ein Detektiv zu sein, Sophie«, hatte er gesagt, während er sich mit einer Pipette hoch konzentriert über das Mischgefäß beugte, dabei das ätherische Öl in das Lösungsmittel träufelte, rührte und schnupperte, wieder träufelte, rührte und schnupperte, bis er zufrieden war. Erst dann tauchte er einen schmalen Papierstreifen, eine Mouillette, in die Mischung und gab ihn mir. »Was siehst du?«
Natürlich war seine Frage nicht wörtlich gemeint, sondern zielte darauf ab, was der Duft in mir auslöste. Also nahm ich einen tiefen Atemzug und fühlte mich im Nu an einen anderen Ort versetzt. Der Hauch von Jasmin, der mir in die Nase stieg, erinnerte an unbekümmerte Tage in der Sonne. Holzrauch beschwor das Bild eines kräftigen Eintopfs an einem kühlen Herbstabend herauf. Der Geruch trockener Erde rief mir unseren Familienbesitz in Grasse ins Bewusstsein: ein rustikales, ländliches Haus aus Naturstein, umgeben von Sonnenblumen- und Lavendelfeldern, dessen Fenster meist weit offen standen, um die Räume mit frischer Luft zu füllen und den Staub zu vertreiben, der von dem ausgedörrten Boden aufstieg und den ich beinahe auf meiner Zunge zu schmecken meinte.
Jäh brachen die Erinnerungen an schöne Zeiten ab, als mir ein Stück Papier mit verschmierter Tinte in den Sinn kam: das Telegramm, das die Nachricht vom Tod meines Vaters enthielt.
Papa war nicht für den Krieg geschaffen gewesen. Halb Wissenschaftler, halb Künstler, war er ein Mann mit einem sanften Naturell, der nichts mehr liebte als die duftenden Felder der Provence und die reichhaltigen Essenzen, die er aus ihren Blüten gewann. Als er sich dem Widerstand gegen Hitler-Deutschland anschloss, war ich ein junges Mädchen, das erste Ansätze machte, zur Frau zu reifen, und der Lavendel färbte gerade die Hänge violett und blau. Damals sah ich ihn zum letzten Mal, eine Silhouette vor dem sonnenüberfluteten Horizont. Es war der Tag, an dem Mama die Geschäftsführung unseres Familienbetriebs übernahm, und zugleich der Tag, an dem ich zum ersten Mal begriff, dass das Leben nicht immer nach Wunsch verlief.
Die Nachricht von seinem Tod erreichte uns wenige Monate später, im folgenden Frühjahr, zusammen mit seinen Papieren und persönlichen Dingen, die nach Dreck, Blut und Angst rochen. Dieser Geruch eines Lebens, das so grausam endete, hatte sich wie alle Gerüche in mein Gedächtnis eingebrannt, und genau dort bewahrte ich ihn seitdem auf. Als eine Erinnerung – als eine unbeantwortete Frage, was geworden wäre, hätte er den Krieg überlebt.
Seufzend stöpselte ich einen kleinen Glaskolben zu und steckte ihn zurück in das Gestell auf meinem Schreibtisch. Da bald Ladenschluss war, stand ich auf und dehnte meine Glieder, rollte meinen Kopf von einer Seite auf die andere, um die schmerzhafte Verspannung in meinem Nacken zu lösen, ein regelmäßiges Ergebnis meines Experimentierens mit neuen Duftkombinationen, das mich zu einer gebeugten Haltung zwang. Außerdem oblag mir mittlerweile die Leitung unserer Manufaktur in Grasse, wo drei Parfümeure Duftstoffe für Waschmittel entwickelten, während ich Eau de Toilettes und Parfüms entwarf. Besonders die Komposition von edlen Luxusdüften war meine Spezialität. Unwillkürlich stieß ich einen weiteren Seufzer aus und wünschte mir, in Grasse zu sein.
War ich leider nicht, denn während der Hauptsaison musste ich mich um unsere kleine Boutique an der Hafenpromenade von Cannes kümmern. Als junges Mädchen hatte mein Vater mich bereits darauf vorbereitet und darauf bestanden, dass ich ihn im Sommer dorthin begleitete. Er wollte, dass ich eines Tages das Gesicht der Marke Duval sein würde, und lehrte mich, wie wichtig es war, den direkten Kontakt zu unseren Kunden zu pflegen.
Obwohl er aus bäuerlichen Verhältnissen stammte, hatte er keinerlei Probleme im Umgang mit der reichen und eleganten Klientel, die Jahr für Jahr an die Côte d’Azur kam. Im Gegenteil: Er liebte es regelrecht, mit ihnen zu parlieren und eine gepflegte Unterhaltung zu führen. Ich dagegen fühlte mich in unserer Manufaktur im Hinterland zwischen Hunderten Glasgefäßen bedeutend wohler, desgleichen auf meinen Streifzügen durch die Felder unter dem weiten südfranzösischen Himmel, wo ich nach Inspirationen für neue Düfte suchte.
Doch das gehörte der Vergangenheit an, das Mädchen von damals, das sich frei und ungezwungen bewegte, gab es nicht mehr. Es hatte sich in eine selbstbewusste und zielstrebige Firmenchefin verwandelt, die sich nach außen gut zu präsentieren wusste. Es hatte sein müssen, wenngleich es mir nicht leichtgefallen war, aber ich wurde von der Vorstellung angetrieben, dass ich Papa, der so große Hoffnungen in mich gesetzt hatte, nicht enttäuschen durfte. Das hätte ich nicht ertragen.
Die letzten beiden Wochen hatte ich ununterbrochen in Cannes verbracht, experimentierte tagsüber im Hinterzimmer der Boutique, wenn meine Anwesenheit im Verkaufsraum nicht erforderlich war, und schlief nachts in meinem Appartement in der Altstadt. Bis Ende August würde ich an der Küste bleiben und nur hin und wieder nach Grasse fahren, um dort nach dem Rechten zu sehen. Hauptsächlich aber, um nach meiner Mutter zu sehen. Bei dem Gedanken an sie machten sich wie üblich Beklemmung und Verbitterung in mir breit, und ich hoffte inständig, dass sie dieses Mal anders wäre, dass ich sie glücklich und ausgeglichen vorfände, statt zusammengesunken über einer halb leeren Flasche Cognac sitzend. Darauf allerdings hoffte ich inzwischen seit Jahren vergeblich.
»Natalie, könntest du bitte die Vitrinen kontrollieren?«, rief ich meiner Mitarbeiterin zu, während ich die Tür, die den Verkaufsbereich vom Büro trennte, hinter mir abschloss. »Es ist fast Feierabend.«
Meine Füße schmerzten in den neuen eleganten, leider unbequemen Schuhen, und mein Kopf schmerzte von dem Versuch, einen neuen Duft zu zaubern, ohne dass bislang etwas Gescheites dabei herausgekommen war.
»Wir haben heute guten Umsatz gemacht«, verkündete Natalie erfreut und schob eine dunkle, von feinen Silberfäden durchzogene Haarsträhne hinter ihr Ohr. »Dem Himmel sei Dank für betuchte Filmstars. Ich kann immer noch nicht glauben, dass Bernard Blier vorhin wirklich hier war! Er hat gleich drei Düfte für seine Begleiterin gekauft, eine richtige Schönheit.«
Ich lächelte über ihre Begeisterung. Natalie Buzay war selbst eine Schönheit, dazu eine kultivierte und warmherzige Frau. All das, was meiner Mutter fehlte. Überdies war sie mit ganzem Herzen und vollem Einsatz bei der Arbeit, und das nicht zuletzt deshalb, weil sie die Assistentin meines Vaters gewesen war, der ihr mehr oder weniger dauerhaft die kleine Parfümerie anvertraut hatte.
Sie war eine ausgezeichnete Verkäuferin und liebte ihre Tätigkeit, nicht zuletzt weil sie auf diese Weise die eine oder andere Berühmtheit sowie die Reichen und Schönen zu sehen bekam, die sich in Cannes tummelten und bei uns vorbeischauten. Mich dagegen beeindruckten Ruhm und Reichtum nicht. Zwar sah ich mir mit Madame Clouet, meiner Nachbarin in Grasse, gerne alte Hollywoodfilme an, doch meine Helden waren jene Genies, die für Guerlain, Molinard und Fragonard die sensationellsten Düfte kreierten.
»Schade, dass du gerade in der Mittagspause warst«, fuhr Natalie fort, während sie die gläsernen Regalreihen durchsah, Flakons einen Zentimeter nach links oder rechts rückte und unsichtbaren Staub wegwischte. »Du scheinst die Kunden mit den wirklich großen Namen grundsätzlich zu verpassen.«
»Ja, wirklich schade«, murmelte ich und öffnete die Kasse, nahm die Geldscheine heraus und steckte sie in einen Bankbeutel.
Es war eine lange Woche gewesen, und ich freute mich darauf, es mir zu Hause mit einem Glas Wein und einem Buch auf dem Balkon gemütlich zu machen. Verstohlen warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr und runzelte die Stirn: noch eine knappe Viertelstunde bis zum Geschäftsschluss um sechs Uhr.
Wie aufs Stichwort öffnete sich in diesem Moment die Ladentür, und eine stürmische Böe fegte so heftig vom Meer herein, dass sich mein wadenlanger Tellerrock bauschte und meine langen dunklen Locken ins Gesicht geweht wurden. Ich fluchte innerlich, weil der Wind wieder einmal meine Frisur ruinierte.
Eine große, schlanke Frau in einer weißen Bluse und einer rosa Caprihose schloss eilig die Tür hinter sich. Ihr Gesicht war größtenteils verdeckt von einer riesigen Sonnenbrille und einem Kopftuch.
»Ganz schön stürmisch hier! Erinnert mich ein bisschen an Kalifornien«, sagte sie und kam näher.
Sie wirkte sehr elegant und sprach mit einem weichen amerikanischen Akzent. Sicher eine Touristin, dachte ich in meiner Naivität. Ganz anders Natalie, die auf reiche Kundschaft tippte.
»Guten Abend, Madame«, wandte sie sich sofort zuvorkommend der Dame zu und wechselte mühelos in die englische Sprache, was bei uns selbstverständlich war. »Kann ich Ihnen helfen? Wir haben ein wundervolles, ganz neues Parfüm in unserem Sortiment. Es heißt Printemps, Frühling, und ist bei Amerikanern sehr beliebt.«
»Danke, ich möchte mich wenn möglich lediglich kurz umschauen.«
Die Frau, die keine Kundin im eigentlichen Sinn zu sein schien, nahm einen Zerstäuber aus dem Regal, drehte ihn in der Hand und stellte ihn wieder zurück, ohne den Duft zu testen. Mit dem nächsten Flakon verfuhr sie genauso, drehte sich zwischendurch immer wieder sichtlich besorgt zur Tür um.
Seltsam. Ich beobachtete sie von meinem Platz hinter dem Verkaufstisch. Irgendwie wirkte sie, als wäre sie vor jemandem auf der Flucht. Ein Grund, sie näher in Augenschein zu nehmen. Ihre Aufmachung war tadellos. An ihrem Arm hing eine Hermès-Tasche. Unter ihrem Kopftuch lugten ein paar feine blonde Haarsträhnen hervor. Warum sie nervös und ein wenig atemlos wirkte, verstand ich nicht.
»Madame, kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?«, fragte ich und ging auf sie zu.
Erschrocken zuckte sie zusammen, drehte sich um und machte mit einem vagen Lächeln einen Schritt auf mich zu. Sogleich wurde ich eingehüllt von einer Wolke aus Vanille und Flieder, einem süßlichen Parfüm mit einem schweren blumigen Bouquet, das nicht richtig zu ihr passte.
»Ja, Sie können mir tatsächlich helfen«, sagte sie und nahm ihre Sonnenbrille ab. »Wenn Sie so freundlich sein wollen.«
Die Antwort blieb mir im Hals stecken. Augen in der Farbe des Mittelmeers blickten mich an. Ich sah einen samtenen Teint, eine zierliche Nase, perfekt geformte Lippen und Wangenknochen, und plötzlich dämmerte mir, dass ich dieses vollkommene, makellose Gesicht kannte. Ich hatte es auf Dutzenden Titelseiten und auf der Leinwand gesehen, denn Madame Clouet war ein Fan dieser Schauspielerin.
»Grace Kelly«, hauchte ich überwältigt.
Natalie, die sie bis zu diesem Moment ebenfalls nicht erkannt hatte, hielt abrupt mit Saubermachen inne, ihren Staubwedel in die Luft gereckt.
»Ja«, antwortete Miss Kelly mit einem leichten Lächeln, ohne dass sie ihre Nervosität verlor. »Ich bin Grace.« Sie streckte ihre weiß behandschuhte Rechte zur Begrüßung aus. »Hallo.«
Unfähig, ein Wort über meine Lippen zu bringen, ergriff ich vorsichtig ihre Hand. Die einzige Hollywooddiva, über die ich etwas wusste, die schönste und berühmteste Frau der Welt, stand leibhaftig vor mir. In meiner Boutique. Und begrüßte mich auf typisch amerikanische Weise, ganz locker und zwanglos eben.
»Sie wollten mir helfen?«, hakte sie mit schmelzender Stimme nach.
Ich stieß ein Räuspern aus. »Ja natürlich. Wie kann ich … Was kann ich für Sie tun, Mademoiselle Kelly?«
»Bitte, nennen Sie mich Grace.«
Wenngleich ihre ungezwungene, erfrischend unprätentiöse Art mich nach wie vor irritierte und mein Puls raste, brachte ich ein Lächeln zustande.
»Sicher. Was kann ich für Sie tun, Grace?«
Sie beugte sich nah zu mir vor, als wollte sie ein Geheimnis offenbaren. »Ich werde von einem Fotografen verfolgt, einem furchtbar hartnäckigen Burschen. Eigentlich glaubte ich ihn abgehängt zu haben, aber dann tauchte er auf der Promenade unvermittelt wieder auf. Also ging ich hinter einer Palme in Deckung und lief schließlich rasch weiter … Nun ja, so bin ich hier gelandet. Klingt fast wie eine Szene aus einem Film, nicht wahr?« Erheiterung und Verdruss wechselten sich auf ihren Zügen ab. »Ich glaube, er hat meine Spur verloren, trotzdem wäre es besser, ich könnte einen Hinterausgang benutzen, für alle Fälle. Diese Paparazzi sind schrecklich aufdringlich, wobei die englischen am schlimmsten sind.«
Ich nickte. »Ja, es gibt einen anderen Ausgang, allerdings liegt er ebenfalls direkt an der Straße«, erklärte ich und fügte hinzu, als ich ihre Enttäuschung bemerkte: »Vielleicht möchten Sie ein paar Minuten in meinem Büro warten, bis die Luft wieder rein ist. Würde Ihnen das helfen?«
»O ja. Haben Sie vielen Dank.« Sie berührte leicht meine Hand. »Ich bin Ihnen wirklich sehr verbunden. Im Grunde wollte ich einfach einen Bummel durch die entzückende Altstadt machen und über die berühmte Croisette schlendern, ein bisschen frische Seeluft schnuppern und für ein, zwei Stunden dem Trubel der Filmfestspiele entkommen. Ich schätze, es war albern von mir, auf etwas derart Utopisches zu hoffen.«
In ihrer Stimme schwang eine leichte Melancholie mit, eine kindliche Verletzlichkeit, die ich von einer Frau in ihrer Position nicht erwartet hätte.
»Haben Sie vielleicht Interesse, ein paar Düfte auszuprobieren, Mademoiselle Kelly?«, meldete sich Natalie auf ihre übliche charmante Art aus dem Hintergrund und glitt an unsere Seite.
Ich bedachte sie mit einem warnenden Blick. Selbst wenn es unverbindlich klang, wusste ich, worauf Natalie aus war. Sie wollte ihren Freundinnen erzählen, dass sie Grace Kelly beraten hatte, bloß war dies nicht der richtige Moment für ein Verkaufsgespräch.
»Vielleicht ein anderes Mal, Natalie«, ging ich dazwischen. »Bitte, Grace, folgen Sie mir.«
Hektisch suchte ich unter den vielen Schlüsseln, die an einem Ring hingen, nach dem für mein Büro. Erneut registrierte ich die Schwere des Parfüms, das die Diva aufgelegt hatte. Vanille war ein tröstender Duft, weil man ihn mit Heimat und Kindheit assoziierte. Gleichzeitig jedoch verdeckte er eine tiefe Unsicherheit. Jedenfalls nach der Überzeugung meines Vaters, der gerne zu sagen pflegte, dass Menschen, die intensive Düfte bevorzugten und nach außen hin vielleicht eine starke Persönlichkeit ausstrahlten, sich innerlich nach Anerkennung sehnten.
Parfümeur zu sein bedeutet, zugleich ein Psychologe zu sein, lautete die zweite Lektion, die Papa mich gelehrt hatte. Keiner von uns sei frei von verborgenen Selbstzweifeln, und viele Menschen wollten mehr darstellen, als sie waren. Und dieses Mehr zu entschlüsseln und in einen Duft zu verwandeln, das betrachtete er als Aufgabe der Parfümeure.
Unbestritten war Papa außerordentlich gut darin gewesen, verborgenen Geheimnissen auf die Spur zu kommen, dennoch fragte ich mich in diesem Moment, ob er sich in Vanille nicht getäuscht habe. Zumindest was diesen Fall hier betraf. Ich bezweifelte nämlich, dass die stolze und berühmte Grace Kelly womöglich an irgendwelchen Selbstzweifeln litt.
»Sophie, warum überlässt du das nicht mir?«, mischte sich Natalie ein. »Ich werde dafür sorgen, dass Miss Kelly es sich auf der Chaiselongue in deinem Büro gemütlich macht. Dann kannst du in Ruhe den Laden schließen und kommst pünktlich nach Hause.«
Zu gern hätte ich mehr Zeit mit der göttlichen Miss Kelly verbracht, aber ich konnte Natalie schlecht widersprechen, ohne lächerlich zu wirken.
Grace hielt mir ihre Hand entgegen. »Merci, Sophie, richtig?«
»Sophie Duval.«
Sie lächelte. »Aha, Duval. Sind Sie die Besitzerin der Boutique?« Als ich nickte, fügte sie hinzu: »Also nochmals vielen Dank, Sophie. Ich werde Ihre Freundlichkeit nicht vergessen.«
»Vielleicht geben Sie uns eines Tages mal wieder die Ehre, unter günstigeren Umständen wohlgemerkt.«
»Sehr gerne«, erwiderte sie, und ihre blauen Augen funkelten.
Kaum hatte Natalie unsere überraschende Besucherin ins Büro geführt, öffnete sich die Ladentür erneut, und ein großer Mann spähte herein. Unbeweglich stand er auf der Türschwelle, halb drinnen und halb draußen. Er trug einen altmodischen Filzhut und eine abgewetzte Lederjacke, was eindeutig nicht schick genug für Cannes war. Um den Hals hatte er eine Kamera hängen, folglich schien das der Fotograf zu sein, der den Hollywoodstar verfolgte. Allein deshalb war der Mann mir auf Anhieb unsympathisch.
»Tut mir leid, Monsieur, wir schließen gerade.« Ich gab mir keine Mühe, freundlich zu klingen. »Geöffnet wird wieder morgen Früh um neun.«
Daraufhin fragte er mich in gebrochenem Französisch, ob Grace Kelly hier gewesen sei. Seine Aussprache war grauenvoll, seine total dilettantische Wortwahl mehr als komisch.
Missbilligend schürzte ich die Lippen. Ein englischer Paparazzo. Die schlimmsten ihrer Sorte. Das hatte Miss Kelly selbst gesagt.
In belehrendem Ton antwortete ich ihm auf Englisch. »Monsieur, es ist nicht meine Art, Fremden Auskunft zu geben, wer bei uns etwas gekauft hat und wer nicht. Das ist schädlich fürs Geschäft, und ehrlich gesagt, geht es Sie nichts an.«
Statt sich zurückzuziehen, kam der Fotograf ganz herein, musterte mich mit seinen goldbraunen Augen und stieß ein Lachen aus.
»Nun, das nenne ich mal eine typische Französin!«
Ich spürte, dass mir die Hitze ins Gesicht stieg. Wie ertrug die arme Grace nur so schreckliche Leute, die sie die ganze Zeit belästigten?
»Sie brauchen mir nicht zu sagen, ob sie etwas gekauft hat oder nicht.« Der Typ ließ nicht locker, nahm sich beiläufig zwei Visitenkarten vom Ladentisch und warf einen kurzen Blick darauf, bevor er sie einsteckte. »Ich möchte einzig und allein wissen, ob sie hier gewesen ist oder nicht.«
Ungläubig zog ich meine Augenbrauen hoch, vermochte es nicht zu fassen, wie penetrant der Kerl versuchte, Informationen aus mir herauszulocken, als wäre ich die Privatsekretärin der Filmschauspielerin.
»Übrigens, ich heiße Henderson«, sagte er und streckte seine Hand zur Begrüßung aus. »James Henderson. Jim für meine Freunde.«
Als er meine Miene sah, wurde ihm klar, dass ich ihm weder die Hand schütteln noch irgendwelche Informationen preisgeben würde. Deshalb wählte er eine andere Tour, nahm seufzend seinen Hut ab und fuhr sich mit der Hand durch seine Haare, sodass diese in alle Richtungen abstanden. Ich biss auf meine Unterlippe, um mir ein Lachen zu verkneifen.
»Die Sache ist die, Miss, ich hatte einen richtig miesen Tag, und wenn ich meinem Chef kein anständiges Bild von Grace Kelly oder einem anderen prominenten Gesicht liefere, bin ich vermutlich meinen Job los, und meine Katze wird schrecklich enttäuscht von mir sein, weil ich mir ihr Lieblingsfutter nicht mehr leisten kann. Nicht dass das Ihre Sorge sein müsste, doch so ist es nun mal.« Er faltete seine Hände und sah mich flehend an. »Ich bitte Sie, helfen Sie einem armen Engländer.«
Irgendwie war ich gerührt, verbarg das allerdings, indem ich geschäftig Seidenpapier und Geschenkbandrollen unter der Theke zu ordnen begann.
»Leider kann ich Ihnen nicht weiterhelfen, Monsieur«, sagte ich und reckte das Kinn. »Wenn Sie für Ihren Job nicht taugen, bezweifle ich, dass eine kleine Parfümerie Sie retten kann.«
Ein breites Grinsen überzog sein Gesicht. »Völlig richtig. Ich bin ein Idiot und sollte mich lieber schleichen.« Er setzte seinen Hut auf, tippte zum Abschied an die Krempe und wandte sich zum Ausgang. »Bevor ich gehe, darf ich Sie fragen, was für ein Parfüm Sie benutzen? Es riecht wirklich verführerisch.«
Ich sah ihn tadelnd an. »Sie sind wirklich schrecklich unhöf …«
Ein Blitzlicht flammte auf. Geblendet riss ich meine Hand hoch, um meine Augen zu schützen.
»Hey, was soll das?«
Er zuckte mit den Achseln. »Wenn ich schon Grace Kelly nicht fotografieren kann, dann wenigstens eine erboste Französin.«
Mit diesen Worten verließ er den Laden und zog lachend die Tür hinter sich zu.
Eine erboste Französin? Wie konnte er es wagen! Ich stapfte zur Tür und drehte das Schild schroff auf Fermé, während er sich draußen eine Zigarette anzündete und davonschlenderte. Zurückgeblieben war ein vertrauter Geruch nach Leder und Tabak. Trotz meines Unmuts weckte das Aroma Erinnerungen an glückliche Zeiten.
Oder, besser gesagt, an die dritte Lektion, die Papa mich gelehrt hatte. Parfümeur zu sein bedeutet, ein Bewahrer von Erinnerungen zu sein, Sophie. Jeder Geruch wird dich an etwas oder an jemanden erinnern.
Erst als ich zum Büro ging, um Miss Kelly zu versichern, dass die Luft rein sei, wurde mir bewusst, an wen James Henderson und sein Duft mich erinnerten.
An meinen Vater.
Kapitel 2
James
Vor dem Palais des Festivals et des Congrès an der Croisette drängelten sich ganze Heerscharen von Fotografen, als ich eintraf. Ich war spät dran wie immer. Zu meinem Glück war Grace Kelly ebenfalls unpünktlich. Nachdem ich die erste Chance verpasst hatte, sie vor meine Kamera zu bekommen, durfte ich mir einen weiteren Fehlschlag nicht leisten und abermals die unbestrittene Königin von Hollywood verpassen. Vorausgesetzt, die Person, die ich gestern bis in die Parfümerie verfolgt hatte, war tatsächlich Grace Kelly gewesen, wovon diese Miss Duval felsenfest überzeugt zu sein schien.
Widerwillig musste ich der jungen Französin Anerkennung für ihre Hartnäckigkeit zollen, mit der sie einen Hollywoodstar im Hinterzimmer ihrer engen Boutique versteckt hatte. Wenigstens konnte sie nun vor ihren Freunden und Bekannten mit einer tollen Geschichte angeben. Unwillkürlich fragte ich mich, ob ich, der lästige Fotograf, darin überhaupt vorkommen würde.
Sophie Duval, Parfümeurin. Cannes und Grasse, stand auf ihrer Visitenkarte, die ich eingesteckt hatte und jetzt hervorzog. Hochnäsige, schöne Sophie Duval. Aufreizend französisch. Und nicht aus meinem Kopf zu verdrängen, zumal an der Karte verführerisch ihr Parfüm haftete. Egal. Es war Zeit, mich wieder in den Trubel des Festivals und die Menge der Besucher und Neugierigen zu stürzen. In der Wärme der Nachmittagssonne eigentlich keine unangenehme Aufgabe, vor allem nicht nachdem es den ganzen Morgen geregnet hatte.
Mir mit den Ellenbogen einen Weg durch das Gedränge bahnend, hielt ich nach Teddy Ausschau. Er hatte versprochen, mir einen Platz in der ersten Reihe freizuhalten, wie er das immer tat. Auf ihn war Verlass. Ich mochte vielleicht zu spät dran sein, weil ich verschlafen hatte – Teddy mit seiner absoluten Korrektheit und Pünktlichkeit sorgte unerschütterlich dafür, dass ich trotzdem an vorderster Front stand. Das A und O für einen Fotografen bei einem glamourösen, weltweit beachteten Event wie diesem, das die Chance für außergewöhnliche Aufnahmen bot.
Und um dabei zum Zug zu kommen, nutzte jeder von uns seine Beziehungen und Möglichkeiten weidlich aus. Für das beste Bild waren wir praktisch zu allem bereit. Bestechung. Falsche Versprechen. Insidertipps und Ersatzfilme, die man sich hier erbettelte und dort lieh. So lief das in unserer Branche, und wenn eine berühmte Hollywooddiva in der Stadt war, stieg der Einsatz noch höher und sank unsere Moral noch tiefer.
Ich hob meine Kamera über den Kopf und machte auf gut Glück ein paar Testaufnahmen von dem Menschenauflauf, durch den ich mich gerade nach vorn kämpfte. Meine Augen konzentrierten sich auf den Kontrast zwischen den dunklen Anzügen der Pressemeute und dem strahlend blauen Himmel. Farben und Landschaften waren das, was mich wirklich interessierte, Prominente hingegen weniger. Tatsache war, dass ich viel lieber die Klippen und Buchten der Riviera und die schwindelerregenden Serpentinenstraßen fotografieren würde als platinblonde Schönheiten. Leider traute man Landschaftsporträts ausschließlich künstlerisch ausgebildeten Fotografen zu, von einem einfachen Pressefotografen, einem gewöhnlichen Lohnarbeiter, der Rechnungen zu bezahlen hatte und dem sein Chefredakteur im Nacken saß, wollte das niemand sehen. Der wurde auf eine Ebene gestellt mit Sensationsreportern, die auch kein großes Ansehen genossen. Und das wollte ich eines Tages hinter mir lassen, doch noch zwangen mich ständige finanzielle Engpässe, diesen Job zu machen.
»He, pass auf, Henderson!« »Geh mir aus dem Weg, Langer.« »Wie wäre es mit ein bisschen Rücksicht«, klang es mir von allen Seiten entgegen.
Sollten sie getrost meckern und schimpfen, die werten Kollegen, das kratzte mich nicht. Alles, was mich interessierte, war, ein Bild zu schießen, das meinen Chef glücklich machen und mir den nächsten Gehaltsscheck sichern würde. Immerhin hatte ich eine eindeutige Warnung bekommen, und Sanders war nicht der Typ, der seine Drohungen nicht wahr machte.
Ein Geniestreich in Cannes oder Rausschmiss, das war der Deal.
Nach wie vor inmitten des Pulks steckend, der sich zum Festspielgelände schob, umgaben mich Lärm und Hektik. Blitzlichter wurden getestet und Filme eingelegt. Alte Bekannte begrüßten sich mit einem kräftigen Schulterklopfen. Es roch nach Tabak, billigem Rasierwasser und Brillantine, und von Gauloises-Zigaretten, die lässig zwischen den Lippen klemmten, stiegen Rauchfahnen in die Luft.
Die vertrauten Gerüche einer Männerhorde katapultierten mich zurück in das Truppenquartier in Southampton, wo wir darauf gewartet hatten, den Ärmelkanal in Richtung Frankreich zu überqueren und an den Stränden der Normandie zu landen, um den Nazis endgültig den Garaus zu machen.
Eine Erinnerung, die ich wie immer ganz schnell verdrängte.
Schließlich entdeckte ich Teddy. »Mahlzeit«, sagte ich, als ich mich endlich zu ihm durchgezwängt hatte, ein Trommelfeuer von Beschwerden wie eine Schleppe hinter mir herziehend.
»Grundgütiger, Jim, du siehst verdammt übel aus. Was ist mit dir passiert?«
Achselzuckend schnappte ich mir Teddys Kamera und nutzte die Rückseite des Blitzlichts als Spiegel. Na ja, toll sah ich nicht aus. Meine untere Gesichtshälfte war mit Bartstoppeln übersät, meine Augen umgaben dunkle Ringe. Ein zerknitterter Hemdkragen und eine Lederjacke, die bessere Tage gesehen hatte, taten das ihre. Mein Aussehen war rundum grauenvoll.
»Das Leben ist mir passiert«, erwiderte ich sarkastisch und gab Teddy seine Kamera zurück. »Du siehst selbst ebenfalls nicht gerade taufrisch aus, wenn ich das hinzufügen darf.«
»Das liegt an diesem verdammten Husten, der mich die ganze Nacht wach hält.«
»Du solltest mal zum Arzt gehen. Oder das Rauchen aufgeben.«
Er zog es vor, nicht darauf zu antworten.
»Wo hast du so lange gesteckt?«, murmelte er, zündete sich, meinen Rat ignorierend, eine Zigarette an und stellte die Verschlusszeit seiner Kamera ein. »Das Objekt deiner Begierde wird jeden Moment eintreffen.«
»Wo ich war? Ich habe mit Emily telefoniert. Sie hat heute Geburtstag und musste mir unbedingt von ihrem neuen Chemiebaukasten erzählen. Ich konnte nicht einfach auflegen.«
Teddy antwortete mit einem freundlichen Klaps auf meine Schulter, und das war alles, was es dazu zu sagen gab. Stattdessen wechselten wir die Objektive und überprüften Brennweite, Belichtung und Schärfe, folgten der üblichen Routine, die ohne großes Nachdenken verrichtet werden konnte.
Zum Glück, denn ich war noch ein bisschen verkatert von zu viel billigem Vin rouge gestern Abend. Dabei mochte ich Rotwein nicht einmal, aber die Welt hatte am Ende der Flasche gleich besser ausgesehen. Auf den Brummschädel hätte ich zwar verzichten können, doch ich hatte keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, weil in diesem Moment eine elegante bleigraue amerikanische Limousine heranrollte und vor dem Eingang hielt.
»Es geht los, Jungs! Sie ist da!«, rief jemand hinter mir.
In der Tat war sie es. Die Wagentüren schwangen auf, die Jagd war eröffnet. Blitzlichter feuerten los wie ein Kugelhagel. Plopp! Plopp! Plopp! Um mich herum wurden Rufe laut.
»Miss Kelly! Miss Kelly! Grace! Hier! Hier drüben! Winken Sie bitte in die Kamera! Gefällt Ihnen Frankreich?«
Wie abgerichtete Hunde reagierten wir auf den Wahnsinn des Augenblicks. Wir schrien, unsere Kameras klickten, Blitzlichter blendeten die Augen, und das alles wegen der vagen Möglichkeit, dass sie sich vielleicht, nur vielleicht, in unsere Richtung drehte und uns ein gutes Bild lieferte.
Neben Marilyn Monroe war Grace Kelly der Hollywoodstar, auf den es alle abgesehen hatten. Jeder von uns träumte davon, wie es wäre, wenn sein Bild auf der Titelseite der New York Times oder der Washington Post erscheinen würde. Jeder von uns hatte schon seine Dankesrede für den Pulitzerpreis im Kopf. Ein einziges perfektes Bild unter den Hunderten, die wir machten, ein Volltreffer auf Film gebannt, und unser Ruf, unsere Karriere und Zukunft wären gerettet. Dieser lächerlich einfache Grund brachte uns dazu, wieder und wieder auszuschwärmen, selbst wenn unser Chefredakteur mit zornrotem Kopf unsere jüngsten Anstrengungen in den Papierkorb gefeuert und gedroht hatte, dass dies unsere letzte Chance sei, sonst seien wir erledigt.
Obwohl der Reiz der Jagd sich mit der Zeit abnutzte, konnte ich, genau wie die anderen, nicht einfach davon lassen. Wie ein Jäger, der sich an seine Beute heranpirschte, geriet ich stets in höchste Alarmbereitschaft: Der Blick hoch konzentriert, die Ohren gespitzt, die Kamera fest im Griff, als wäre sie an meinen Händen angeschraubt, visierte ich jetzt mein Ziel an, den Finger fest auf dem Auslöser.
Bloß dass ich nicht abdrückte, sondern zur Salzsäule erstarrte.
Als Grace Kelly aus der Luxuslimousine stieg, tat ich nichts weiter, als sie anzugaffen. Die Art, wie sie sich schwebend bewegte, wie ein Lächeln ihr Gesicht erhellte und wie sie ihren Kopf zum Sonnenlicht neigte, all das hatte Stil. Sie war der Inbegriff von Weiblichkeit, wunderbar fotogen, und ich war vollkommen fasziniert von ihr. Wollte sie studieren – sie in den Fokus nehmen, sie ausleuchten, ihr näherkommen. Und in diesem Augenblick, als ich ein paar Sekunden abgelenkt war von ihrer Erscheinung, bekamen alle anderen ihr Bild. Außer mir. Bis ich meine Sinne wieder richtig beisammenhatte und auf den Auslöser drückte, hatte Miss Kelly sich längst umgedreht, um hineinzugehen, und damit war es vorbei.
Unwiderruflich.
Teddy pfiff durch die Zähne. »Sie ist echt eine Wucht, oder? Hast du sie gut getroffen?«
Ich hängte mir meine Kamera über die Schulter, strich mit beiden Händen durch meine Haare und zündete mir eine Zigarette an.
»Ja, leider bloß von hinten.«
Mein Freund lachte, während er neben mir seine Ausrüstung zusammenpackte.
»Was? Wie kann das sein? Sie hat direkt zu uns hinübergeschaut!«
Ich nahm einen tiefen Zug von meiner Zigarette und blies den Rauch in den Himmel.
»Die Kamera hat wieder mal verrücktgespielt.«
Natürlich glaubte Teddy mir nicht und verdrehte die Augen. Er hatte in letzter Zeit zu oft von mir gehört, dass meine Kamera schuld sei. Ich legte den Kopf nach hinten, um meinen Nacken und die Schultern zu entspannen, und kniff meine Augen gegen das grelle Sonnenlicht zusammen.
»An diesen blauen Himmel könnte ich mich gewöhnen«, wechselte ich das Thema. »Verglichen damit wirkt England verdammt trostlos.«
»England ist verdammt trostlos.« Teddy musterte mich eindringlich. »Ist alles in Ordnung, Jim? Du wirkst selbst ein bisschen trostlos, wenn ich ehrlich bin. Trostloser als sonst, meine ich.«
Ich seufzte. »Es ist hauptsächlich wegen Emily. Ich fühle mich schlecht, weil ich ihren Geburtstag verpasse. Wieder einmal. Immerhin ist es eine große Sache, wenn man zehn wird.«
»Ich würde mir ihretwegen nicht zu viele Gedanken machen. Mädchen brauchen vor allem ihre Mutter. Schließlich dreht sich alles um hübsche Kleider und Partys. Bestimmt bist du besser dran, wenn du sie einfach machen lässt.«
Nein, dem konnte und wollte ich nicht zustimmen. Emily war nicht wie die anderen Mädchen in ihrem Alter. Sie las lieber Geschichten über Wissenschaftler und Forscher, als Tee aus feinen Porzellantässchen zu trinken und Prinzessin zu spielen. Deshalb brauchte sie ihren Vater.
Und was tat ich? Ich leistete ganze Arbeit, um mich als völlig unfähig in dieser Rolle zu erweisen.
»Und dann ist da noch ein kleines Problem mit meinem Job«, fügte ich hinzu. »Sanders wird einen Tobsuchtsanfall kriegen, wenn ich mit nichts als ein paar verwackelten Bildern von Miss Kellys Kehrseite auftauche.« Ich warf meine Zigarette auf den Boden und schob meine Hände in die Hosentaschen. »Du hast nicht zufällig Lust auf einen Drink?«
Teddy zögerte, war hin- und hergerissen zwischen seiner Loyalität mir gegenüber und der Hingabe für seinen Job.
»Sorry, Kumpel. Ich muss erst die Bilder wegschicken, danach kann ich mich dir zum Essen anschließen. Allerdings solltest du vorsichtig mit dem Wein sein, du wirst mir allmählich zu französisch!« Er legte seine Hand auf meine Schulter. »Mach dir keine Vorwürfe wegen Emily. Kinder verzeihen viel schneller als Erwachsene und geben dir die Chance, Versäumnisse wiedergutzumachen.«
Ich war froh über seine beruhigenden Worte. Teddy Walsh war wie ein Bruder für mich – immer mit einem guten Rat zur Stelle, immer konzentriert auf das Positive. Wir hatten beide im Krieg Dinge gesehen, die niemand jemals sehen sollte, geschweige denn junge Männer, die zum ersten Mal von zu Hause fort waren. Teddys Optimismus und Hoffnung hatten uns über manches hinweggeholfen. Und das war noch heute so. Er lebte ganz im Hier und Jetzt und ließ sich von jedem Tag überraschen, eine Einstellung, um die ich ihn beneidete. In seiner Anwesenheit kam es mir vor, als würde ich durch ein hochwertiges Objektiv schauen, die Dinge klarer und schärfer sehen. Selbst Marjorie, meine Exfrau, räumte ein, dass er einen guten Einfluss auf mich hatte – dabei befasste sie sich nicht oft mit dem Guten im Menschen.
Natürlich hatte Teddy mal wieder recht. Emily würde mir verzeihen. Also sollte ich mir keine unnützen Gedanken machen, zumal es selbst in London nicht unproblematisch war, etwas mit ihr zu unternehmen. Dafür sorgte Marjorie. Warum also diese Schuldgefühle? War dieses Leben auf der Jagd nach Neuigkeiten und Stars rund um die Welt vielleicht eine Flucht vor dem Gefühl, ein schlechter Vater zu sein? Oder hatte ich einfach Angst davor, mich zu bemühen, ein guter Vater zu werden?
Noch vor wenigen Tagen war ich in meiner Wohnung in Clapham aufgewacht und hatte mich gefragt, ob im Kühlschrank etwas zum Frühstücken war, während ich dem Regen lauschte, der gegen die Fensterscheiben prasselte. Heute Morgen hingegen hatte ich in einem Strandhotel in Cannes die Augen geöffnet, die Sonne über dem Meer glitzern sehen und ein Omelett und Croissants gegessen. Welch ein Kontrast. Mein Beruf als Pressefotograf brachte mich an einige ungewöhnliche Orte, was ich jedoch wenig würdigte. Für mich war wichtiger, dass er mich von den Schatten der Vergangenheit ablenkte, von den Schrecken des Krieges. Und nebenbei führte er mich fort von dem spektakulären Chaos, das ich in meiner Ehe angerichtet hatte. Es war schließlich einfacher, den Fokus auf etwas oder jemand anders zu richten als auf sich selbst.
Dabei übersah ich bisweilen, dass mein Beruf mich auch von dem Einzigen entfernte, das mir wirklich wichtig war: von meiner Tochter.
Nachdem die Presseschar sich aufgelöst hatte, bummelte ich über die Croisette, die berühmte Promenade von Cannes, kaufte zunächst in einem Tabakladen eine Postkarte für Emily ein und ging anschließend zu meinem Hôtel Barrière Le Majestic, um dort auf der Terrasse unter freiem Himmel mein Abendessen einzunehmen. Vorher schrieb ich bei einem Café Crème die Karte an meine Tochter, die begierig darauf war, Ansichtskarten aus aller Welt zu bekommen. Das war ihr fast wichtiger als meine wöchentlichen Anrufe, und sie bewahrte die bunten Grüße unter ihrem Bett in einer Schatztruhe auf, die mit einem zitronengelben Band verschlossen war.
Lange Zeit saß ich da und beobachtete die Leute, lauschte dem unverständlichen französischen Gebrabbel um mich herum und fragte mich, warum hier jeder so viel glücklicher und entspannter und verliebter wirkte als die Menschen in London. Hier berührte, küsste und streichelte man sich, ohne dass es jemanden kümmerte. Vielleicht lag es am schönen Wetter, am Meer und am billigen Wein. Oder an diesem undefinierbaren französischen Je-ne-sais-quoi. Was immer es war, es ließ meine englische Miesepetrigkeit umso deutlicher hervortreten. So sehr, dass ich mich fragte, ob ein Mensch sich veränderte, wenn er an einem Ort wie diesem lebte, und ob das Leben an der Côte d’Azur ebenfalls auf mich abfärben würde.
Während ich überlegte, inwieweit es mir guttäte, mir mehr Savoir-vivre, dieses Wort für Lebensart kannte ich immerhin, von den Franzosen abzuschauen, versuchte ich gleichzeitig, nicht daran zu denken, wie übel der Anschiss von Sanders ausfallen würde, wenn ich ihm nicht wenigstens ein perfektes Bild von Grace Kelly verpasste.
Ein vertrautes Gesicht riss mich aus meinen fruchtlosen Grübeleien. Sophie Duval. Sie stand vor dem Eingang zur kleinen Galerie mit Luxusboutiquen neben der Hoteleinfahrt und kämpfte mit dem Wind, der ihren knielangen Rock hochwehte. Ihr Unmut amüsierte mich, und ich beschloss, zu ihr hinüberzugehen und mich für mein ziemlich grobes Benehmen in ihrem Laden zu entschuldigen. Vielleicht könnte ich ihr ja einen leichten Duft für Emily als Wiedergutmachung abkaufen, schoss es mir spontan durch den Kopf.
Ich legte die passende Summe Francs auf den Tisch, griff nach meiner Kamera und erhob mich so hastig, dass ich den Stuhl umstieß. Das Scheppern weckte Miss Duvals Aufmerksamkeit, und mein Vorsatz, sie zu überraschen, verwandelte sich in Schall und Rauch. Kaum hatte sie mich entdeckt, wandte sie sich abrupt ab und marschierte zügig davon. An Verfolgungsjagden gewöhnt, schlängelte ich mich zwischen den voll besetzten Tischen auf der Terrasse so schnell durch, wie meine langen Gliedmaßen es erlaubten, aber es war zu spät. Als ich endlich die Straße erreichte, war Miss Duval bereits in einer schmalen Seitengasse verschwunden.
Nicht mit mir, dachte ich. So leicht würde ich nicht aufgeben. Ich spurtete los und folgte dem verlockenden Duft ihres Parfüms durch die verwinkelte Altstadt von Cannes, die so ganz anders war als die mondäne Promenade.
Kapitel 3
Sophie
Die letzten Sonnenstrahlen tauchten den Horizont in ein rotes Licht und warfen eine glitzernde Bahn aus Gold auf das Wasser, ihr Abschiedsgeschenk, bevor die Dunkelheit hereinbrach. Ich hätte mich gerne irgendwohin gesetzt, um das Schauspiel zu beobachten, nur war ich ohnehin spät dran für das Dîner im Chez Benoît. Deshalb trippelte ich so schnell weiter, wie meine Bleistiftabsätze es erlaubten. Lucien hasste es nämlich, warten zu müssen, selbst wenn es von mir keine Absicht war. Ich vergaß einfach gelegentlich die Zeit, wenn ich zu sehr in meine Arbeit vertieft gewesen und in einer Welt der Düfte, Erinnerungen und Träume versunken war.
Heute hatte ich sogar einen besonderen Grund für meine Verspätung, denn beim Experimentieren war ich auf etwas Außergewöhnliches gestoßen, auf eine wahre Verführung der Sinne: Ambra, angereichert mit Moschusöl, als Fixativ für die Basisnote, Trockenkirsche und Veilchen für die Kopfnote, Akazie und Eichenmoos für die Herznote. Die sorgfältig ausbalancierte Zusammensetzung aller Bestandteile hatte ich in einem Notizbuch festgehalten, in dem sämtliche Formeln für die Duval-Düfte dokumentiert waren. Ursprünglich hatte es meinem Vater gehört, der es liebevoll sein Journal des Fleurs, sein Blumenjournal, genannt hatte, und dieser Name war geblieben. Jeder Parfümeur wusste, dass er seine Formeln wie ein kostbares Geheimnis hüten musste. Wissenschaft und Magie, Kunst und Schönheit, all das befand sich in den kleinen Glaskolben, die eines Tages durch einen edlen Flakon ersetzt würden. Meine neue Komposition benötigte zwar noch etwas Feinarbeit, doch ich stand dicht, ganz dicht vor einem Durchbruch.
Lächelnd betrat ich das Restaurant.
»Bonsoir, Madame.« Der Empfangschef nickte mir zu und hielt mir die Eingangstür auf. »Monsieur Marceau erwartet Sie an Ihrem üblichen Tisch.«
»Merci, Jacques. Ich komme zu spät«, erklärte ich und ließ meine Jacke von meinen Schultern gleiten, damit er sie mir abnahm.
»Madame, eine so schöne Frau wie Sie kann niemals zu spät kommen.«
Ich lachte über seine charmante Bemerkung und ging zwischen den runden Tischen durch, die mit flackernden Kerzen und steifem weißem Leinen gedeckt waren. Dezente Klaviermusik mischte sich mit Gelächter und wehte durch den Raum. Köstliche Düfte aus der Küche umfingen mich: Es roch nach saftigem Schmorbraten, wildem Knoblauch und nach frischem Fisch. Luciens Lieblingsrestaurant in Cannes war rasch zu unserem Lieblingsrestaurant geworden, trotz der sündhaften Preise, was indes für den Sohn eines millionenschweren Bauunternehmers keine Rolle spielte. Mir hingegen mit einem ganz anderen Hintergrund bereitete Luciens sorglose Spendierfreudigkeit durchaus manchmal Unbehagen.
Er stand höflich auf, als ich mich dem Tisch näherte, schaute allerdings demonstrativ auf seine Armbanduhr.
»Würdest du nicht so blendend aussehen, wäre ich jetzt böse auf dich.« Nach dem üblichen Ritual des Austauschs von Wangenküssen zog er den Stuhl für mich vom Tisch zurück und stellte mich zur Rede. »Was hat dich so lange aufgehalten?«
»Tut mir leid, dass ich wieder mal zu spät bin«, entschuldigte ich mich und strich meinen geblümten Rock glatt. »Ich komme gerade aus Grasse«, fuhr ich fort und konnte es nicht erwarten, ihm von meinen Fortschritten zu berichten, aber seine vorwurfsvolle Miene hinderte mich daran.
»Ich warte seit fast einer Stunde«, beschwerte er sich erneut, trank seinen Martini aus und winkte den Kellner heran. »Wir sind bereit für die Vorspeise, dazu nehmen wir eine Flasche Pommery.«
»Très bien.«
Der Kellner verbeugte sich ehrerbietig und eilte davon. Das Personal war Luciens teuren Geschmack und seine anspruchsvolle Art gewohnt.
»Noch etwas länger, und ich hätte in Erwägung gezogen, den Tisch zu wechseln«, sagte er mit einem Hauch von Ironie in der Stimme. »Die Florents sitzen vorn am Fenster.«
Ich griff nach seiner Hand und drückte sie. »Verzeih, ich werde es wiedergutmachen.«
»Diese Antwort gefällt mir«, sagte er augenzwinkernd, und wie auf Kommando breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.
Der Sommelier, der am Tisch erschien, verhinderte eine Vertiefung des unersprießlichen Gesprächs. Er entkorkte die Champagnerflasche und goss einen Schuss von der schäumenden Flüssigkeit in ein Kristallglas. Auf meinem Stuhl zurückgelehnt, beobachtete ich, wie Lucien den Pommery kostete und zustimmend nickte. Offenbar handelte es sich um einen erstklassigen Jahrgang, denn Lucien hatte einen unfehlbaren Geschmack und gab sich mit nicht weniger als Perfektem zufrieden.
»Ich habe eine Entdeckung gemacht.«