Buch
An dem Tag, als die Autorin Sonja Nordstrøm verschwindet, sollte sie zur Premiere ihres Buches »Ewige Eins« erscheinen. Dass sie nicht auftaucht, veranlasst die Promireporterin Emma Ramm, Nordstrøm zu Hause aufzusuchen. Die imposante Villa ist leer, doch eine am Fernseher angebrachte Zahl weckt Emmas Neugierde: die Nummer eins. Alexander Blix vom Osloer Dezernats für Gewaltverbrechen ist der Nächste, der eine Zahl findet: die Nummer sieben, und zwar auf der Leiche eines Mannes, der in Sonja Nordstrøms Sommerhaus gefunden wird … Was Emma und Alexander noch nicht wissen: Ein Countdown hat begonnen, und er wird in Blut enden.
Autoren
Thomas Enger, Jahrgang 1973, studierte Publizistik, Sport und Geschichte und arbeitete in einer Online-Redaktion. Nebenbei war er an verschiedenen Musical-Produktionen beteiligt. Sein Thrillerdebüt »Sterblich« war im deutschsprachigen Raum wie auch international ein sensationeller Erfolg, gefolgt von vier weiteren Fällen des Ermittlers Henning Juul. Er lebt zusammen mit seiner Frau und zwei Kindern in Oslo.
Jørn Lier Horst, geboren 1970, arbeitete lange in leitender Stellung bei der norwegischen Kriminalpolizei, bevor er Schriftsteller wurde. 2004 erschien sein Debüt; seither belegt er mit seiner Reihe um Kommissar William Wisting regelmäßig Platz 1 der norwegischen Bestsellerliste. Für seine Werke erhielt er zahlreiche renommierte Preise, zuletzt 2019 den Petrona Award für den besten skandinavischen Spannungsroman.
Die beiden Bestsellerautoren belegen mit ihrer Thrillerreihe über die Ermittler Alexander Blix und Emma Ramm regelmäßig die Spitze der norwegischen Bestsellerliste.
Alle Bände der Blix- und Ramm-Serie
Blutzahl
Blutnebel (erscheint im März 2021)
Teil 3 in Vorbereitung
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Thomas Enger
Jørn Lier Horst
BLUT
ZAHL
Thriller
Deutsch von Maike Dörries
und Günther Frauenlob
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Nullpunkt« bei Capitana, Oslo.
This translation has been published with the financial support of NORLA, Norwegian Literature Abroad
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Copyright der Originalausgabe
© Jørn Lier Horst & Thomas Enger 2018
Published by agreement with Salomonsson Agency.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Ricarda Essrich
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotiv: Roberto Moiola/Sysaworld/Moment/Getty Images
BL · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-25409-4
V003
www.blanvalet.de
»Let’s do it.«
(Gary Gilmores letzte Worte
vor seiner Hinrichtung)
Es knackte im Funkgerät.
»0-1 erbittet Einsatz im Agmund Bolts vei 25 in Teisen. Wer ist in der Nähe und hat freie Kapazitäten?«
Alexander Blix warf rasch einen Blick zu Gard Fosse.
»Das ist hier ganz in der Nähe«, sagte er.
Fosse nahm das Mikrofon vom Armaturenbrett. Blix gab Gas.
»0-1, hier ist Fox 2-1«, meldete Fosse sich. »Wir sind im Tvetenveien, kaum eine Minute entfernt.«
Blix schaltete das Blaulicht und die Sirene ein, während das Knacken durch den Wagen schallte.
»Fox 2-1. Verstanden. Möglicher Schusswaffengebrauch. Die Adresse ist wegen häuslicher Gewalt bekannt.«
Häusliche Gewalt, dachte Blix. Er hatte ein paar solcher Einsätze hinter sich, aber dass Schüsse gefallen waren, war eine schlechte Nachricht.
Er bog vom Friedhof Østre Gravlund her in den Agmund Bolts vei ein, gab Gas und raste an den Stadthäusern vorbei, die so friedlich hinter den Birken und den am Straßenrand geparkten Autos lagen.
Genau dafür hatten sie trainiert. Genau darauf hatten sie gewartet.
Endlich einmal als Erste an einem Tatort zu sein, an einem richtigen Tatort. Ein ganzes Jahr lang hatten sie auf der Rückbank anderer Streifenwagen gesessen, bis ihnen am Ende genug Vertrauen geschenkt worden war. Gemeinsam. Blix umklammerte das Lenkrad.
»Scheint da vorne zu sein«, sagte Fosse und zeigte auf eine kleine Gruppe Menschen, die vor einem Haus zusammengelaufen war.
Blix bremste und blieb schräg auf der Straße stehen. Schaltete den Motor und die Sirene aus, ließ das Blaulicht aber an.
»Das ist aus dem Haus da gekommen«, erklärte eine Frau, als Blix und Fosse ausstiegen. Sie zeigte auf ein kleines, weißes Haus.
»Hat sich nach einem großen Kaliber angehört«, fügte ein Mann hinzu.
»Ist anschließend jemand rausgekommen?«, fragte Blix. »Oder ins Haus gegangen?«
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Wie viele Menschen wohnen da?«, fragte Fosse.
»Vier«, antwortete eine andere Frau. »Sie haben zwei kleine Mädchen, aber ich glaube, es ist nur eins von ihnen zu Hause.«
Blix fluchte innerlich.
»Okay«, sagte er dann. »Gehen Sie nach Hause und bleiben Sie in Ihren Wohnungen. Schließen Sie ab.«
Die Gruppe der Schaulustigen löste sich auf. Blix ging durch das Gartentörchen. »Geh du auf die andere Seite, dann bleibe ich hier vorn«, sagte er und zeigte hinter das Haus.
»Du willst doch wohl nicht da rein?«, protestierte Fosse.
»Da ist ein Schuss abgefeuert worden«, antwortete Blix. »Und es kann noch ein kleines Kind im Haus sein.«
»Du musst an deine eigene Sicherheit denken«, sagte Fosse und wiederholte das Mantra der Ausbilder an der Polizeihochschule. »Wir müssen auf die Verstärkung warten.«
Blix kannte die Vorschriften. Die Situation erforderte, das Haus zu isolieren und zu beobachten und auf Verstärkung zu warten. Aber dieser Einsatz war keine Kursaufgabe.
»Es kann zehn Minuten dauern, bis die hier sind«, sagte er. »Und wir wissen nicht, ob wir zehn Minuten haben.«
Er ging zum Auto, öffnete den Kofferraum und schloss den Waffenkasten auf. Dann lud er seine Dienstwaffe mit sechs Patronen.
»Also ehrlich, wir …«
»… müssen dem Kind helfen«, unterbrach Blix ihn und ging an seinem Kollegen vorbei. »Wenn es da drin ist.«
Er blieb vor der Haustür stehen und versuchte, durch das dicke Glasfenster, das von der Klinke bis zum oberen Türrahmen reichte, ins Haus zu sehen. Aber das Glas war zu trüb, er erkannte nichts.
Er drehte sich zu Fosse um.
»Willst du etwa da stehen bleiben?«
Fosse trat von einem Fuß auf den anderen.
»Die Sache gefällt mir gar nicht«, sagte er.
»Mir auch nicht«, sagte Blix. »Aber wir müssen was tun.«
Er ging auf der rechten Seite um das Haus herum und stellte sich auf die Zehenspitzen, um durch die Fenster zu schauen, aber sie waren zu hoch. Im Garten hinter dem Haus lag noch Schnee. Die Büsche waren braun und kahl. Neben einer verfallenen Terrasse stand eine rostige Schaukel. Gartenstühle mit vergilbten Kissen. Leere, braune Bierflaschen auf dem Terrassenboden. Ein überfüllter Aschenbecher. Kippen am Boden.
Blix ging vorsichtig weiter, er wusste, dass das Knirschen seiner Schritte seine Position verriet. Die Wohnzimmerfenster waren groß, aber wegen der Spiegelung sah er kaum etwas, während er selbst vollkommen exponiert dastand.
Er drehte sich um und ging zurück zur Haustür. Sah Fosse im Wagen sitzen und mit der Einsatzzentrale reden. Blix schob sich den Ohrhörer ins Ohr und bekam mit, dass die nächste Streife zwölf Minuten entfernt war. Dann drückte er die Klinke nach unten.
Die Tür knarrte. Sie war unverschlossen. Blix öffnete sie und machte zwei Schritte ins Haus hinein. Blieb stehen. Lauschte. Hörte nichts.
Oder …
War das ein Jammern? Schniefen? Ein »Psst«?
Er ging mit vorgehaltener Waffe weiter. Ließ die Tür hinter sich offen stehen und hoffte darauf, dass Fosse ihm folgte.
Die Dielen knarrten, als er durch den Flur weiter ins Haus ging. Er warf einen Blick in den ersten Raum und zog den Kopf schnell wieder zurück. Gästetoilette mit Waschbecken. Beim nächsten Raum wiederholte er den Vorgang, aber auch dort war niemand zu sehen. Zitternd holte er Luft, hielt sie an und lauschte erneut. Hörte nichts.
Ein schlechtes Zeichen.
Die Tür zur Küche stand einen Spaltbreit offen. Blix drückte sie langsam auf. Auch diese Tür knarrte.
Er ließ sie los.
Auf dem Boden sah er eine große Blutlache. Daneben ein vollgesogenes Handtuch. Eine Frau lag leblos am Boden. Den Kopf zur Seite gedreht, sodass er in die leeren, offenen Augen sehen konnte.
Er schluckte. Spürte das Herz bis zum Hals hämmern. Er hielt noch einmal die Luft an, ehe er die Waffe nach vorne streckte. Dann trat er einen Schritt in den Raum hinein und achtete darauf, nicht in das Blut zu treten. Er bückte sich und überprüfte, ob die Frau noch Puls hatte. Er fand keinen. Stand auf und sprach so leise, wie er konnte, in das Mikro an seinem Jackenkragen.
»0-1, hier ist Fox 2-1 Alfa. Eine Frau ist tot, erschossen, ich wiederhole: Eine Frau ist tot, erschossen.«
Es knackte leise. Blix ging an der Frau vorbei und sah die Einschussstelle in ihrer Brust.
»Verstanden, 0-1.«
»Kommen Sie nicht näher.«
Die Stimme, heiser und angespannt, kam von weiter hinten. Blix blieb stehen. Er streckte sich, versuchte, an dem Türrahmen vorbei ins Wohnzimmer zu schauen. Vor einem Glastisch stand ein Mann mit einer Waffe in der Hand. Der Lauf war auf den blonden Kopf eines Mädchens gerichtet, das kaum fünf Jahre alt war und leise weinte. Zitterte. Schluchzte.
»Keinen Schritt näher«, wiederholte der Mann. »Ich schieße. Ich erschieße Sie und die Kleine.«
Der Mann drückte die Pistole aggressiv an den Kopf des Mädchens. Blix hoffte, dass die Kleine die Tote nicht gesehen hatte.
»Ruhig«, sagte Blix – und hörte das Zittern in seiner eigenen Stimme.
»Legen Sie die Waffe weg«, sagte der Mann.
»Bitte, nicht …«
»Ich hab gesagt, Sie sollen die Waffe weglegen.«
Der Mann war Ende dreißig, bärtig, verschwitzt, mit kurzen, hoch stehenden Haaren. Er richtete die Waffe auf Blix. Kein Zittern. Keine Nervosität. Nur Verzweiflung.
Das Mädchen schloss die Augen. Tränen rollten über ihre Wangen.
»Tun Sie jetzt nichts Dummes«, sagte Blix und versuchte, sich all das ins Gedächtnis zu rufen, was er in der Ausbildung gelernt hatte. Was sollte er sagen? Wie vorgehen? Aber keine der vernünftigen Strategien wollte ihm einfallen. Er musste improvisieren, um den Mann zur Vernunft zu bringen.
Er dachte an Merete, die zu Hause auf ihn wartete. Sie hatte seine Berufswahl nie akzeptiert. Hatte ihn immer vor den Gefahren gewarnt, die auf ihn lauerten.
Dann dachte er an Iselin, die gerade einmal drei Monate alt war.
Blix ließ die Waffe sinken.
»Wie heißen Sie?«, fragte er und versuchte, seine Atmung unter Kontrolle zu bekommen.
Der Mann antwortete nicht.
»In ein paar Minuten wird das ganze Haus umstellt sein«, fuhr Blix fort. »Sie kommen hier nicht raus.«
»Sie gehören mir!«, presste der Mann hervor. »Mir!«
»Ja, und Sie wollen sie aufwachsen sehen«, erwiderte Blix mit einem Nicken.
Sein Blick suchte nach dem anderen Kind, aber es war nur ein Mädchen im Raum.
»Niemand wird sie mir nehmen!«, sagte der Mann. »Verstanden?«
»Ich höre, was Sie sagen, aber tun Sie jetzt nichts Unüberlegtes – machen Sie es nicht schlimmer, als es schon ist.«
»Legen Sie Ihre Waffe weg!«, wiederholte der Mann, jetzt mit Verzweiflung in der Stimme. »Ich sage das nicht noch einmal! Raus hier. Das ist mein Haus!«
Blix lauschte auf die Sirenen. Auf Fosse.
»Ich kann das nicht tun«, sagte Blix. Er sah noch einmal zu dem Mädchen und verdrängte die Gedanken an seine eigene Tochter. »Ich kann hier nicht weggehen«, sagte er. »Nicht, solange Sie …«
»Sie haben fünf Sekunden«, unterbrach der Mann ihn. Blix sah den Mann an. Das weiße Unterhemd war schmutzig, Schweißflecken auf dem Bauch, Brusthaare über dem oberen Rand.
»Bitte …«
»Fünf.«
Der würde das nicht tun. Das waren nur leere Drohungen.
»Können wir uns nicht hinsetzen und in Ruhe …«
»Vier.«
Blix hielt die Luft an. Schluckte.
»Lassen Sie uns darüber reden …«
»Drei.«
Blix umklammerte seine Waffe fester.
»Denken Sie an Ihre Tochter, denken Sie daran, was Sie ihr nehmen.«
»Zwei.«
Der Mann sieht verrückt aus, dachte Blix und hob seine Waffe.
»Sie ist doch erst … fünf Jahre alt.«
»Eins.«
Der macht das, dachte Blix. Verdammt, der macht das.
Dann knallte es.
Die Räder der Straßenbahn ratterten über die Schienen in der Dronningens gate und rissen Alexander Blix aus dem Schlaf. Er richtete sich auf seinem Sitz auf, wischte sich mit der Hand übers Gesicht und warf der Frau, die in der Zwischenzeit ihm gegenüber Platz genommen hatte, ein Lächeln zu.
Weiter hinten lärmten ein paar Jugendliche. Ein Rothaariger wedelte mit einem Handy herum. Ein schmächtiger kleiner Kerl versuchte, es ihm abzunehmen. Der Rest der Jugendlichen lachte bei jedem misslungenen Versuch. Es schien niemanden zu kümmern.
Der Junge, der das Handy in der Hand hielt, kam jetzt durch den Gang auf ihn zu. Der kleinere folgte ihm, und die Verzweiflung in seiner Stimme war deutlich zu hören.
Als der Junge mit dem Handy neben ihm war, schnellte Blix’ Arm vor und hielt ihn entschlossen fest.
Die Schweigaards gate wurde als nächste Haltestelle angekündigt. Das Lachen hinten im Wagen verstummte.
Blix stand auf, schnappte sich das Handy und reichte es seinem Besitzer. Die Straßenbahn hielt, und die Türen öffneten sich.
»Deine Haltestelle«, sagte er zu dem Rothaarigen.
»Nein, ich …«
»Du steigst hier aus«, unterbrach Blix ihn und führte ihn zur Tür. Der Junge landete draußen. Die Türen schlossen sich und die Straßenbahn rumpelte weiter. Brix schob die Hand in eine Schlaufe und hielt sich bis zur nächsten Station fest. Die Frau, die ihm gegenübergesessen hatte, lächelte, als er ausstieg.
Die Luft war kühl und frisch. Blix schlug den Jackenkragen zusammen und ging in Richtung Präsidium. Er zog seine Chipkarte durch den Leser, tippte den Code ein und schaffte es zum Fahrstuhl, ohne mit irgendwelchen Kollegen sprechen zu müssen. Auf der sechsten Etage holte er sich einen Kaffee und steuerte seinen Platz in der hintersten Ecke der geräumigen Bürolandschaft an.
Außer ihm war noch niemand gekommen. Seit er vierzig war, wachte Blix morgens immer öfter vor dem Wecker auf. Zu Hause hatte er nichts zu tun, und im Präsidium gab es wenigstens Kaffee.
Er warf die Jacke über den Stuhlrücken, stapelte vier benutzte Teller übereinander und stellte sie auf den freien Tisch neben seinem. Dann loggte er sich ein und trank einen Schluck, während er darauf wartete, dass das System startete.
Es war eine Art Ritual geworden, dass er jeden Morgen als Erstes einen Blick auf den Livestream von Worthy Winner warf. Die Gesichter der meisten Teilnehmer waren durchgestrichen. Vier waren noch übrig.
Eines davon war Iselin.
Jeder im Präsidium wusste davon, geredet wurde darüber aber nicht. Auf jeden Fall nicht mit ihm.
Er war entschieden dagegen gewesen, dass sie dort mitmachte, ohne zu wissen, worum es bei dieser Show überhaupt ging. Er hatte von ihr verlangt, ihre Teilnahme abzusagen und sich stattdessen einen Job zu suchen oder eine Ausbildung anzufangen. Der Streit hatte damit geendet, dass Iselin ihm ein für alle Mal klargemacht hatte, dass sie ihn während der Live-Übertragung nicht im Studio sehen wollte.
Seither hatte er nicht mehr mit ihr gesprochen.
Er klickte sich durch die Bilder und sah, dass sie noch schlief. Die Kamera war im Nachtmodus und das Bild grünlich und mit schwachen Kontrasten, man sah aber, dass sie die Decke zur Seite geschlagen hatte.
Auf seltsame Weise fühlte er sich ihr durch die Kameralinse näher als irgendwann im Laufe der letzten Jahre.
In den ersten Wochen des Programms hatte es ihn noch gestört, dass sie im Fernsehen zu sehen war, und er war froh gewesen, dass sie Meretes Nachnamen trug. Aber in den letzten Tagen hatte es ihn mehr und mehr mit Stolz erfüllt, dass Iselin als eine der Letzten für würdig erachtet wurde, das Preisgeld zu gewinnen.
Er klickte das Kommentarfeld an und stieß auf das Übliche. Er hatte sie davor gewarnt. Die Zuschauer kommentierten ihr Aussehen, was sie gesagt und wie sie sich aufgeführt hatte. Die meisten Kommentare waren negativ, es gab aber auch ein paar Fans, die ihr Mut zusprachen.
Plötzlich stand Gard Fosse auf der anderen Seite des Schreibtisches, einen Aktenordner unter den Arm geklemmt.
»Ist es nicht noch ein bisschen früh für Pornos?«, fragte er und lachte über seinen eigenen Scherz.
Blix sah den Dezernatsleiter müde an, ehe er zum Polizeisystem umswitchte und seine Kaffeetasse langsam anhob.
»Guten Morgen, Chef«, sagte er, unsicher, ob der ironische Unterton rauszuhören war oder nicht.
»Ich will, dass du dich um die Neue kümmerst«, fuhr Fosse fort, jetzt in formellerem Ton.
Blix hob den Blick.
»Ich?«, protestierte er.
»Sie kommt um neun Uhr«, antwortete Fosse und sah zu dem Stapel schmutziger Teller auf dem leeren Schreibtisch neben Blix hinüber, als wollte er ihm zu verstehen geben, dass sie dort arbeiten sollte.
Blix begann, ein paar Akten zu sortieren, die vor ihm lagen. Fosse öffnete den Aktenordner, den er in der Hand hielt.
»Sofia Kovic, 26 Jahre«, las er. »Halbkroatin. Hat vor fünf Jahren als eine der Jahrgangsbesten die Polizeihochschule abgeschlossen. War danach zwei Jahre in Majorstua und drei auf der Kriminalwache.«
Blix nahm widerwillig die Personalakte entgegen.
»Ist sie eine Quotenfrau?«, wollte er wissen.
»Nein, sie hatte von allen Bewerbern die beste Qualifikation«, erwiderte Fosse. »Ich rechne damit, dass du nett zu ihr bist?«
Ringsherum nahmen jetzt auch die anderen Ermittler an ihren Schreibtischen Platz.
»Noch etwas«, fuhr Fosse fort und blätterte durch den Ordner. »Ich habe dich für Donnerstag auf dem Schießstand angemeldet.«
»Okay«, murmelte Blix.
»Du kannst das nicht länger vor dir herschieben«, sagte Fosse. »Deine Zulassung läuft nächste Woche ab.«
»Hab doch gesagt, dass es okay ist.«
Fosse blieb noch einen Moment stehen und sah ihn an, dann drehte er sich um und verschwand über den Flur in Richtung seines eigenen Büros.
Blix folgte ihm mit dem Blick. Dachte darüber nach, wie unterschiedlich ihre Wege sich entwickelt hatten, nachdem sie zusammen die Polizeischule besucht und dann auch noch gemeinsam Streife gefahren waren. Ja, sie waren sogar einmal Freunde gewesen.
Es gelang ihm nicht, den Film, der sich vor seinen Augen abspielte, anzuhalten. Der Einsatz in Teisen. Das Blaulicht. Die Sirene. Und alles, was dann schiefgelaufen war.
Emma Ramm schloss die Tür auf, stellte ihr Rad im Flur ab und zog die Schuhe aus. Sie machte ein paar Push-ups, ehe sie ein Glas am Wasserhahn füllte. Während sie trank, sah sie die amerikanischen Promi-Websites auf notizwürdige Ereignisse im Laufe der Nacht durch. TMZ brachte was über einen Einbruch bei Mariah Carey in Bel Air. Das People Magazine berichtete von einem Streit zwischen Pink und Christina Aguilera – möglicherweise war da was Verwertbares für sie dabei. Ehe sie das Handy weglegte, checkte sie noch kurz die Seite von news.no, ob ihr Bericht über Vendela Kirsebom auch brav auf der Titelseite platziert war.
Und wieder ein Tag mit Menschen, die auf mehr oder weniger rechtschaffene Weise Berühmtheit erlangt hatten.
Wie lange würde sie das noch durchhalten?
Sie konnte sich sehr gut andere Herausforderungen vorstellen. Themen, an denen sie zeigen konnte, dass sie eigentlich eine richtig gute Journalistin war und nicht nur Promibloggerin.
Es war acht Uhr.
Sie schenkte noch ein Glas Wasser nach und schaltete den Fernseher ein. Das Nachrichtenlogo schob sich über den Schirm. Schon wieder ein Selbstmordattentäter in Kabul. Eine Bandenschlägerei in Malmö mit tödlichen Folgen. Aktuelle Zahlen bestätigten die bislang höchste Arbeitslosenquote in Spanien. Und die Wettervorhersage verkündete einen kalten, aber schönen Tag in Norwegens Hauptstadt.
Während Emma sich dehnte, begrüßten die Moderatoren von Guten Morgen, Norwegen ihre Zuschauer zu weiteren zwanzig Minuten leicht verdaulichem Input. Der Mann mit rundem Gesicht, Brille und wilden Locken saß nervös nach vorn gebeugt da und warf seiner Kollegin einen raschen Blick zu, ehe er die Brille hochschob und sagte:
»Eigentlich hatten wir in den folgenden Minuten ein Gespräch über dieses aktuelle Thema geplant.«
Er hielt ein Buch hoch, das Emma sofort erkannte: Sonja Nordstrøms Ewige Eins. »Aber die Autorin des Buches scheint im Morgenverkehr stecken geblieben zu sein.«
Emma lächelte. Typisch Nordstrøm, immer, wie es ihr am besten in den Kram passte. Nicht grundlos betitelte Anita Grønvold, Emmas Chefin bei news.no, Nordstrøm konsequent als Superbitch.
»Da müssen wir uns wohl noch etwas gedulden, bis wir mehr über diese Autobiografie erfahren. Im Vorfeld ist ja schon heiß über dieses Buch diskutiert worden – dabei weiß eigentlich niemand Genaueres über den Inhalt.«
Die Kamera schwenkte auf die langhaarige blonde, für die frühe Morgenstunde unverschämt gut aufgelegte Moderatorin.
»Ja, es wurde ein ordentliches Geheimnis um die Publikation gemacht«, sagte sie und suchte mit dem Blick nach der richtigen Kamera. »Sonja Nordstrøm hat zweifelsohne ein spannendes Leben gelebt. Und so ziemlich jeden Preis gewonnen, den man gewinnen kann … in ihrer Branche.«
Emma schnaubte verächtlich über die offensichtliche Unkenntnis der Moderatorin und schenkte sich noch ein Glas ein.
»Und heute ist außerdem ein besonderer Tag für Sonja Nordstrøm«, schob der andere Moderator ein. »Sie wird nämlich 50, das war übrigens auch für sie der Anlass, das Buch zu schreiben.«
»Hoffen wir, dass sie bald auftaucht«, schloss die Moderatorin mit einem übertriebenen Lächeln ab. »In der Zwischenzeit dürfen wir dann erst einmal dich im Studio begrüßen, Petter Due-Eriksen.«
Auf dem Bildschirm war ein beleibter Mann in den Fünfzigern zu sehen, der sich setzte und ein Mikrofon an sein etwas zu enges Hemd gesteckt bekam.
»Du bist der Produzent des Gesprächsthemas Nr.1 hier im Sender – Worthy Winner –, die erste Staffel neigt sich dem Ende zu. Vier Teilnehmer sind noch übrig, und nach heute Abend werden es nur noch drei sein.«
»Ja, jetzt wird es wirklich spannend.«
Emma regelte die Lautstärke runter und zog die Trainingsjacke aus. Sie hatte fast jeden Tag über das neue Reality-Konzept geschrieben und war es leid. Eigentlich war überhaupt nichts neu daran. Zehn Teilnehmer, die in einem Haus eingesperrt waren, und überall Kameras.
Sie nahm ihr Handy und überlegte, ob sie Nordstrøm anrufen sollte, schob es aber beiseite. Die Superbitch würde so früh garantiert nicht rangehen. Außerdem hatte Emma in einer Stunde eine Verabredung mit ihrem Verleger.
Sie zog den Rest der Kleider aus und ging ins Bad. Schloss ab, obgleich sie alleine wohnte.
Der Soleane Verlag lag in der Kristian Augusts gate, genau gegenüber dem Café Amsterdam auf der anderen Straßenseite. Es gab keine großen, auffälligen Schilder über dem Eingang, nur eine kleine Namenplatte an der Tür, die verriet, dass sie um neun Uhr öffneten.
Emma checkte die Uhrzeit auf ihrem Handy und schickte eine SMS an den Verlagschef, dass sie wie verabredet draußen wartete. Zwei Minuten später tauchte ein übergewichtiger Mann in den Sechzigern mit einem Exemplar von Ewige Eins in der einen und einem Mobiltelefon in der anderen Hand auf. Amund Zimmer hieß er, hatte sie sich notiert.
»Emma?«, fragte er.
Sie nickte.
»Tut mir leid«, entschuldigte er sich und wedelte mit dem Telefon, um seine Verspätung zu erklären.
»Alles gut«, versicherte Emma. »Ich bin ja froh, das Buch zu kriegen, ehe es in die Läden kommt.«
»Bitte schön«, sagte Zimmer und reichte ihr das Exemplar. »Schreiben Sie etwas Nettes darüber.«
Er drehte sich um und war schon wieder auf dem Weg nach drinnen.
»Wissen Sie, was sie heute für Termine hat?«, fragte Emma und zeigte auf das Foto von Sonja Nordstrøm auf dem Buchcover. Zimmer schien auf die Frage vorbereitet, auch wenn sie ihm augenscheinlich unangenehm war. Es wäre ihm offensichtlich lieber gewesen, dass sie sie nicht gestellt hätte. Er fuhr sich mit einer Hand durch die blonden Strähnen und schnitt eine Grimasse. Sein Handy brummte. Er warf einen Blick darauf, ehe er antwortete.
»Nein.«
»Nein?«
Er schüttelte den Kopf.
»Dann können Sie auch nichts dazu sagen, wieso Sonja Nordstrøm heute Morgen nicht bei Guten Morgen, Norwegen aufgetaucht ist?«
»Nein, ich habe sie bis jetzt noch nicht erreicht.«
»Kommt es häufiger vor … dass sie Termine auf diese Art platzen lässt?«
Zimmer zog die Schultern hoch und ließ sie schnell wieder sacken.
»Sonja Nordstrøm war schon immer eine Primadonna«, sagte er. »Aber bei unseren Treffen war sie immer hundert Prozent professionell. Von daher finde ich es schon etwas … merkwürdig, dass sie nicht in der Sendung heute Morgen erschienen ist. Sie ist nicht der Typ, der verschläft.«
Zimmer sah auf sein Mobiltelefon, das klingelte, nahm das Gespräch aber nicht an.
»Hatte sie noch andere Termine auf ihrem Tagesplan?«
»Ach …«, setzte er an. »Eigentlich sollte sie überall gleichzeitig sein. Morgens TV. Vormittags Radio. Dann Pressekonferenz hier im Haus um 12 Uhr«, er zeigte mit dem Daumen über die Schulter, »zu der sich mehr oder weniger alle Zeitungen des Landes angemeldet haben. Nachmittags und abends wird es dann sicher noch mal was im Fernsehen oder Radio geben, wie ich meine Pappenheimer kenne, auch wenn noch keine Termine angefragt wurden. Wir haben sie gebeten, sich den ganzen Tag freizuhalten, um es mal so zu sagen, und das war okay für sie. Sie war darauf vorbereitet.«
Sein Handy hörte auf zu vibrieren.
»Sie wird schon irgendwann wieder auftauchen«, sagte Emma.
»Ja«, sagte Zimmer und lächelte angespannt. »Das wird sie wohl.«
Sein Telefon klingelte erneut.
»Ich muss wieder rein. Das …«
Er hielt das Handy hoch.
»Danke für das Buch«, sagte Emma. »Ich freu mich schon, es zu lesen.«
»Gerne.«
Zimmer schloss die Tür auf und beantwortete den Anruf. Emma blieb noch ein paar Sekunden stehen und dachte nach. Dann suchte sie Sonja Nordstrøms Nummer raus.
»Hallo, Sie sind auf Sonja Nordstrøms Mailbox gelandet. Ich kann gerade nicht ans Telefon …«
Emma drückte den Anruf weg und focht einen kurzen inneren Kampf aus: in ihr Stammcafé gehen und das Buch lesen oder …
Eine Straßenbahn schepperte vorbei. Die 18. Die fuhr rauf nach Ekeberg, wo Sonja Nordstrøm wohnte, wie Emma wusste. Sie lief los und holte die Bahn am Thinghaus ein.
Das spröde Plastik knackte, als Blix das obere Ende des Kugelschreibers zwischen die Zähne klemmte. Er lehnte sich in dem Bürostuhl zurück und schaute ans andere Ende des Raumes, wo Gard Fosse gerade die neue Ermittlerin mit Tine Abelvik und Nicolai Wibe bekanntmachte, den zwei dienstältesten Ermittlern in der Abteilung.
Blix war unbegreiflich, wie Fosse es an die Spitze des Dezernats für Gewaltverbrechen geschafft hatte ohne ein einziges Ermittlergen im Körper. Oder, dachte er und spuckte ein Stück Plastik aus, gerade deshalb.
Man sah Sofia Kovic ihre südeuropäischen Wurzeln an. Schulterlanges braunes Haar, dunkle Augen und einen eindeutig dunkleren Teint als der Rest der Abteilung. Vor zehn Jahren wäre sie an den Größenkriterien zur Aufnahme auf die Polizeihochschule gescheitert.
Fosse zeigte rüber zu Blix. Kovic warf ihre Haare in Position, ehe sie sich auf den Weg zu ihm machten. Blix legte den Kugelschreiber weg und zupfte ein paar Plastikkrümel von der Zunge, ehe er sich erhob und ihr die Hand schüttelte.
Es folgten ein paar Höflichkeitsfloskeln. Sofia Kovic lächelte. Weiße Zähne.
»Ich habe schon von Ihnen gehört«, sagte sie.
Blix hatte mit nichts anderem gerechnet. Was vor 19 Jahren in Teisen passiert war, war lange Jahre Unterrichtspensum an der Polizeihochschule gewesen. Sogar einen eigenen Namen hatte die Episode bekommen: Die Teisen-Tragödie.
»Blix wird Ihnen zeigen, wie wir hier arbeiten«, erklärte Fosse. »Und das ist Ihr Arbeitsplatz.«
Kovic sah sich um. Blix wünschte Abelvik und Wibe einen guten Morgen und zog ein paar Fallakten rüber auf seine Schreibtischseite. Stellte den Stapel schmutziger Teller auf den Aktenschrank.
Fosse ließ sie allein.
»Was hat Sie dazu bewogen, sich hier zu bewerben?«, fragte Blix, während er weiter Papiere sortierte.
Kovic setzte sich.
»Ich denke, dass ich mit meinen Qualifikationen hier am besten aufgehoben bin«, antwortete sie schnell. »Und das tun kann, worin ich gut bin.«
»Und das wäre?«
»Informationen sammeln, Sachzusammenhänge analysieren, relevante Hypothesen aufstellen, kreativ denken, vorgefasste Wahrheiten abklopfen und alternative Lösungen finden«, fasste Kovic zusammen. »Ermitteln also.«
Blix sah sie an und drehte den Stift zwischen den Fingern. Was sie sagte, hörte sich nach einem Abschnitt aus einem Lehrbuch an. Etwas, das jemanden wie Fosse schwer beeindruckte.
»Es wäre super, wenn Sie zwischendurch dann auch den einen oder anderen Fall lösen würden«, kommentierte Blix und schob den Kugelschreiber wieder zwischen die Zähne.
Kovic legte die dünne, durchsichtige Mappe auf ihren Tisch, die sie bekommen hatte, und schaltete den Computer ein. Sie setzte sich und wartete, dass der PC hochfuhr. Währenddessen warf sie einen Blick aufs Handy, legte es aber hastig weg.
»Wie ist Fosse so als Chef?«, fragte sie.
Direkt, dachte Blix. Eine weitere Eigenschaft der neuen Kollegin. Er schluckte die Antwort, die ihm auf der Zunge brannte, runter.
»Ganz okay.«
»Okay?«
»Ja.« Blix nickte, ohne näher darauf einzugehen.
Die Wahrheit war, dass Fosse und er eine komplett unterschiedliche Herangehensweise an die Polizeiarbeit hatten. Am simpelsten ließ sich das mit den zwei Begriffen Theorie und Praxis beschreiben. Er folgte seinem Bauchgefühl, Fosse dem Lehrbuch.
»Er möchte, dass ich Ihnen zeige, wie wir hier arbeiten«, sagte Blix und streckte sich nach den Unterlagen auf seinem Schreibtisch aus, nahm aufs Geratewohl einen Stapel Fallakten und hievte ihn auf ihren Schreibtisch.
»So arbeiten wir hier«, sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln. »Ein Fall nach dem anderen. Willkommen bei uns.«
Emma stieg an der Haltestelle Jomfrubråten aus. Sie hatte die Fahrzeit für ein Telefonat mit einem Kontakt im TV2-Haus genutzt, von dem sie erfahren hatte, dass für 7 Uhr 20 ein Taxi bestellt gewesen war, um Sonja Nordstrøm abzuholen. Sie hatte sogar den Namen und die Nummer des Fahrers bekommen. Daniel Kvam. Weiter als bis zu seinem Anrufbeantworter war sie leider nicht vorgedrungen.
Die letzten zehn Minuten der Fahrt hatte sie sich durch die ersten Kapitel des Buches geblättert, das zweifellos wie eine Bombe einschlagen würde. Sportler, Trainer und Familienmitglieder bekamen ihr Fett ab, und Nordstrøm beschuldigte einen ihrer Trainer mehr oder weniger direkt, sie sexuell missbraucht zu haben.
Das Handy klingelte, als sie den Kongsveien überquerte.
»Hallo, Daniel Kvam hier. Sie haben angerufen?«
»Ja«, sagte Emma und erklärte ihm, wer sie war. »Danke für den Rückruf. Es geht um eine Tour, für die Sie heute am frühen Morgen bestellt waren. Sie sollten um 7 Uhr 20 Sonja Nordstrøm in Ekeberg abholen, ist das korrekt?«
»Korrekt«, antwortete Kvam. »Aber die Tour ist nicht zustande gekommen.«
Emma runzelte die Stirn.
»Ich hab 15 Minuten vor ihrem Haus gewartet, mindestens, aber sie kam nicht.«
»Haben Sie versucht, sie anzurufen?«
»Natürlich, aber da bin ich immer nur auf dem AB gelandet. Ich hab sogar bei ihr geklingelt, als sie auch darauf nicht reagiert hat, bin ich wieder gefahren.«
Emma überlegte, ob sie ihn sonst noch etwas fragen sollte, aber ihr fiel nichts ein. Sie bedankte sich und beendete das Gespräch.
Jetzt stand sie vor Nordstrøms imposanter Villa direkt am Kongsveien. Mindestens 400 Quadratmeter Wohnfläche, schätzte sie, davor noch eine riesige, weiß gekalkte Doppelgarage. Vor dem einen Garagentor stapelte sich von einer Plane zugedecktes Baumaterial und leeres Verpackungsmaterial von Renovierungsarbeiten, braune, zusammengefaltete Pappkisten.
Das Tor war offen. Was ein Hinweis sein könnte, dass Nordstrøm am frühen Morgen oder Vorabend irgendwohin gefahren war, dachte Emma. Vielleicht war sie ja schlicht und ergreifend Hals über Kopf geflüchtet. So ein Medienrummel, wie von Amund Zimmer geschildert, konnte selbst einen noch so hartgesottenen Menschen in Panik versetzen.
Emma ging über die asphaltierte Auffahrt auf das Haus zu. Sie drückte die Klingel neben der Eingangstür. Hörte den Klingelton durchs Haus schallen.
Keine Reaktion.
Sie klingelte ein zweites Mal, mit dem gleichen Resultat. Machte ein paar Schritte nach hinten und schaute zu den Fenstern in der ersten Etage hoch. Nirgendwo ein Gesicht hinter den Gardinen, kein Geräusch.
Auch nach dem dritten Klingeln blieb es still im Haus. Aus einem Impuls heraus legte sie eine Hand auf die Türklinke und stellte überrascht fest, dass die Tür nicht verschlossen war. Emma nahm die Hand von der Klinke, und die Tür glitt langsam in ihre Richtung auf. Sie machte einen Schritt nach vorne. Schob den Kopf ein kleines Stück in einen breiten Flur mit dunklen Bodenfliesen.
Ein Stück weiter hinten sah sie einen umgekippten Garderobenständer. Auf dem Boden davor lagen Glassplitter, der große Spiegel an der Wand war zu Bruch gegangen.
Emma blieb stehen.
»Sonja Nordstrøm?«, rief sie in den Flur hinein.
Sie lauschte, hörte aber keine Antwort. Der Widerhall ihrer Schuhsohlen auf dem Fliesenboden setzte sich ins Innere des Hauses fort.
»Hallo?«, rief sie und merkte, dass ihre Stimme zitterte.
Was sie nicht davon abhielt, weiter in eine Halle mit Bodenfliesen im Schachbrettmuster zu gehen. Dabei achtete sie sorgsam darauf, nicht auf die Spiegelscherben zu treten.
Aus der Halle führte eine Treppe in die obere Etage. Unter der hohen Decke brannte ein glitzernder Kronleuchter. Emma rief weiter Nordstrøms Namen, ohne eine Antwort zu bekommen.
Sie warf einen Blick in die hochmoderne, elegante Küche. Helle Flächen. Herd und Kühlschrank in gebürstetem Edelstahl. Hier wie im Eingangsbereich dunkle Bodenfliesen. Ein gut gefüllter Weinschrank. Frische Schnittblumen auf einem gediegenen Esstisch. Auf der Arbeitsfläche standen zwei Weingläser, direkt neben einem Exemplar von Ewige Eins.
Emma rief noch einmal Nordstrøms Namen, lauschte, hörte aber nach wie vor nichts. Oder? Doch, da war etwas.
Sie ging dem Geräusch nach aus der Küche in einen Raum, der wie ein Wohnzimmer aussah. Dort kam der Laut her. Der Fernseher lief. Irgendein Sportkanal. Mitten auf dem Bildschirm klebte eine Startnummer. Nummer eins.
Emma starrte ein paar Sekunden auf das Schild. Merkwürdig, dachte sie und suchte die Fernbedienung, um den Fernseher auszuschalten. Danach war es tatsächlich totenstill.
»Nordstrøm?«
Ihre Stimme trug kaum noch.
Sie versuchte es noch einmal, etwas lauter. Immer noch keine Antwort.
Ganz plötzlich überkam sie ein äußerst ungutes Gefühl. Sie wollte nur noch raus hier. Auf dem schnellsten Weg.
Draußen konnte sie wieder einigermaßen normal atmen. Sie schloss die Tür hinter sich und überlegte, was sie jetzt tun sollte.
Eine Katze kam aus einem Busch und verschwand um die Hausecke. Emma nahm ihr Handy und wählte Kaspers Nummer.
Kasper Bjerringbo war ein dänischer Journalist, den sie vor einigen Monaten bei einem Seminar über digitale Journalistik in Göteborg kennengelernt hatte.
»Na so was«, sagte Kasper in breiigem Dänisch.
»Hi, Kasper«, sagte Emma. »Bist du beschäftigt?«
»Jetzt ja.«
Emma lächelte, es schoss ihr warm in die Wangen.
»Lange nichts von dir gehört«, sagte Kasper. »Und danke noch … fürs letzte Mal.«
»Nicht dafür.«
»Das war sehr nett.«
Sie sah seine schwarzen Locken vor sich. Das ansteckende Lächeln. Seinen durchtrainierten, nackten Körper. Aber sie ließ seine Kurzzusammenfassung ihres letzten Treffens, das bis weit in die Nacht angedauert hatte, unkommentiert. Bis zum Morgen, wenn sie ehrlich sein wollte, ehe die Müdigkeit sie übermannt und sie sich in ihr eigenes Bett geschlichen hatte.
»Ich könnte deine Hilfe gebrauchen«, sagte sie stattdessen. »Einen Rat.«
»Worum geht’s?«
»Ich hab noch nie mit Kriminalstoff gearbeitet«, begann Emma. »Im Gegensatz zu dir.«
»Ja …?«
»Hast du Erfahrungen mit Vermisstenfällen?«
»Wir haben in Dänemark tatsächlich gerade einen ziemlich großen Fall.«
»Ah ja?«
»Ja, seit etwas über einer Woche wird ein Fußballspieler vermisst – du hast eventuell darüber gelesen?«
Hatte Emma nicht; sie machte sich nicht viel aus Fußball.
»Warum fragst du?«
Emma konnte sich nicht recht entscheiden, wie weit sie ins Detail gehen sollte, aber sie erzählte von Nordstrøms Nichterscheinen bei TV2 und wie es bei ihr zu Hause aussah, ohne Kasper den Namen zu nennen.
»Ich glaube, dass ihr was zugestoßen ist«, schloss sie ihren Bericht.
Kasper schwieg einen Augenblick am anderen Ende. Emma nahm an, dass er auf seinem Bürostuhl in Ritzaus Redaktion saß und sich in den Locken kratzte.
»Da bleibt dir nur eine Option: Du musst die Polizei einschalten«, sagte er. »Und sag ihnen, dass du im Haus gewesen bist. Wenn du ihnen diese Info vorenthältst, kannst du später massive Probleme kriegen.«
Emma bedankte sich für seinen Rat.
»Die Polizei wird es sicher sehr ernst nehmen, erst recht, wenn es sich um eine bekannte Person handelt«, fügte Kasper hinzu.
Die Unterhaltung geriet ins Stocken.
»Und wie geht’s dir sonst so?«, fragte Kasper.
»Gut«, sagte Emma.
»Du bist nicht zufällig demnächst mal in Kopenhagen?«, fragte er weiter.
Emma lächelte.
»Vermutlich nicht«, antwortete sie.
»Schade«, sagte Kasper.
Ja, sagte Emma im Stillen. Das ist es wohl.
»Ich muss jetzt los«, sagte sie und bedankte sich noch einmal für die Hilfe.
Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Mein Gott. Was für ein kindisches, idiotisches Benehmen. Kopenhagen zusammen mit Kasper wäre bestimmt total schön. Jedenfalls, bis sich die Frage stellte, wo sie schlafen wollte.
Das Rauschen des Verkehrs auf dem Kongsveien holte sie wieder zurück in die Realität.
»Okay«, sagte sie leise und atmete tief durch. Dann wählte sie die Nummer der Polizei.
Das Telefon in Blix’ Tasche vibrierte. Er nahm es heraus. Im Display wurde TV-Eckhoff angezeigt. Eckhoff arbeitete in der Produktionsgesellschaft der Show Worthy Winner und hatte an der Ausarbeitung des Programmkonzepts mitgearbeitet. Während der Aufnahmen für die einzelnen Folgen fungierte er als Bindeglied zwischen den Teilnehmern und den Familien außerhalb.
»Ja, Blix hier«, meldete er sich.
»Even Eckhoff«, antwortete der Mann am anderen Ende. »Enter Entertainment.«
Blix schob sich mit dem Stuhl vom Schreibtisch weg und drehte sich halb zur Seite. Es kam nicht oft vor, dass er ein Unbehagen spürte, wenn er mit jemandem redete, aber dieser Eckhoff war ihm einfach zutiefst unsympathisch. Sein ganzes Wesen. Die Art, wie er redete. Als versuchte er auf Teufel komm raus, einem etwas zu verkaufen, das man gar nicht haben wollte.
»Es geht um die Live-Sendung heute Abend«, fuhr Eckhoff fort.
Blix stellte sich Iselin mit dem Programmleiter auf dem Sofa vor und wie die Kamera Merete und ihren neuen Lover heranzoomte. Sie waren bei jeder Live-Ausstrahlung gewesen. Die Produktionsgesellschaft legte viel Wert darauf, dass Freunde und Familie der Teilnehmer anwesend waren. Zum einen, um deren Reaktionen und Gefühle einzufangen, zum anderen, um die Ausgeschiedenen auffangen zu können.
»Ich habe mit Iselin gesprochen«, fuhr Eckhoff fort. »Sie würde es sehr schätzen, wenn Sie im Saal wären.«
»Hat sie das gesagt?«, fragte Blix.
»Sie hat auf jeden Fall zugestimmt, dass ich Sie frage«, korrigierte er sich.
Blix spürte, wie sich etwas in ihm regte. Er war bereit, Iselins ausgestreckte Hand zu nehmen, zögerte aber noch.
»Mal sehen«, sagte er.
»Wir müssten Ihnen einen Platz reservieren, es wäre also gut, wenn Sie mir rechtzeitig Bescheid geben könnten.«
»Okay«, sagte Blix. »Ich muss jetzt los.«
Er legte auf, schob sich wieder an den Schreibtisch und warf einen Blick zu Kovic, ehe er sich seinem Computer widmete.
Gard Fosse kam in den Raum. Er hielt einen Notizzettel in der Hand und kam auf Kovic und Blix zu.
Fosses wichtigtuerische Art ärgerte Blix.
»Ihr müsst euch um einen Vermisstenfall kümmern«, sagte er.
»Kann das nicht die Kriminalwache machen?«, fragte Blix.
»Wir sollen uns den Fall angucken, sie haben uns explizit darum gebeten«, erklärte Fosse. »Zurzeit sind da alle mit anderen Sachen beschäftigt.«
»Kannst du nicht einen Streifenwagen schicken?«
»Die sind alle bei der Einsatzzentrale. Von dort aus dauert es gute neunzig Minuten.«
Er wedelte mit dem Zettel herum.
»Eine Journalistin hat angerufen. Sonja Nordstrøm soll verschwunden sein«, fuhr er fort. »Es würde keinen guten Eindruck machen, wenn wir da nicht reagieren.«
Kovic stand auf und nahm den Zettel entgegen.
»Sonja, unsere ewige Eins«, kommentierte sie und schien sich direkt auf den Weg machen zu wollen.
»Eine Journalistin?«, protestierte Blix. »Sollen wir nicht auf eine Nachricht der Familie warten, bevor wir ausrücken?«
»Nordstrøm hat heute ohne irgendeine Nachricht ein Radio- und ein Fernsehinterview platzen lassen«, fuhr Fosse fort. »Die Journalistin ist bei ihr zu Hause. Das Haus ist unverschlossen. Drinnen reagiert aber niemand auf Rufe. Fahrt hin, überprüft das und entscheidet dann selbst, was zu tun ist.«
Kovic hatte bereits die Jacke angezogen. Fosse lächelte sie einschmeichelnd an, ehe er sich umdrehte, um den nächsten Job zu delegieren. Blix stand mit einem Seufzer auf.
Die Polizei hatte sie gebeten zu warten. Emma setzte sich zuerst auf die Treppe, aber es war kein gutes Gefühl, mit dem Rücken zum leeren Haus zu sitzen, weshalb sie auf die schmiedeeiserne Bank neben der Treppe wechselte.
Sie nahm den Laptop aus der Tasche und überprüfte die Online-Zeitungen. Jede brachte etwas über die Nordstrøm-Biografie.
»Doping«, titelte die VG und spielte damit auf Nordstrøms ärgste Rivalin während ihrer gesamten Karriere an, Cecilie Krogsæther. Der Artikel war illustriert mit einem Foto, auf dem Krogsæther auf dem Siegerpodest des Berlin-Marathons zu sehen war. Ein Jahr, in dem Nordstrøm nicht angetreten war. Nordstrøms Behauptungen wurden in dem Artikel weiter vertieft.
Sie habe mehrmals gesehen, wie Krogsæther sich gespritzt habe, und bezog sich damit auf den tschechischen Arzt ihrer Kontrahentin, der selbst angedeutet hatte, Krogsæther hätte mehr als nur Blut in ihren Adern.
Die Zeitung Dagbladet hatte einen ähnlichen Aufmacher, hatte überdies aber Kontakt mit dem Anwalt von Krogsæther aufgenommen, der die Behauptungen als absurd abtat und Konsequenzen androhte.
Emma klaute ein bisschen von beiden Artikeln, schrieb die Formulierungen um und redigierte sich selbst. Sie bediente sich selten bei anderen, wusste aber, dass Anita Grønvold auf einen Text von ihr wartete.
Ehe sie wenige Minuten später auf Veröffentlichen klickte, versprach sie den Lesern, dass es im Laufe des Tages noch einige aufsehenerregende Neuigkeiten zu Nordstrøms Autobiografie geben werde. Dann notierte sie sich rasch ihre wichtigsten Behauptungen über den sexuellen Missbrauch und ermahnte sich selbst, sich noch im Laufe des Tages im Leichtathletikmilieu umzuhören, wer dafür infrage kommen könnte, da der Name des Trainers nicht genannt wurde. Der angebliche Übergriff hatte stattgefunden, als Nordstrøm fünfzehn Jahre alt war.
Als Letztes ging Emma auf die Homepage des Verlags, auf dem gleich zuoberst eine Videopräsentation lockte. Nach einer Reihe rasch zusammengefügter Bilder aus Nordstrøms Karriere, unterlegt mit Vangelis’ Chariots of Fire, meldete sich eine theatralisch klingende Männerstimme zu Wort.
»Im Alter von vier Jahren wurde Sonja Nordstrøm von ihrem Vater, der ihr Talent bereits erkannt hatte, gefragt, ob sie die Beste der Welt werden wolle. Sonja antwortete mit Ja. ›Dann musst du auf mich hören‹, fuhr ihr Vater fort. ›Ja‹, antwortete Sonja. Vierzehn Jahre später gewann Sonja Nordstrøm ihre erste WM-Medaille. Zwölf Jahre gehörte sie zur Weltspitze, aber der Erfolg fiel ihr nicht in den Schoß. In ihrer schonungslos offenen Autobiografie erzählt sie von Siegen und Niederlagen, von Freunden und Feinden und von den Problemen mit allen, die ihr näherkommen wollten.«
Weitere Clips folgten, Nordstrøm auf dem Siegerpodest, jubelnd, winkend, aber immer mit kontrollierten Gesichtszügen, als erlaubte sie sich selbst keine echten Gefühle.
Keine der Online-Zeitungen hatte bis jetzt etwas über Nordstrøms Verschwinden gebracht.
Emma warf einen Blick in Richtung Haus, dann öffnete sie das Publikationsprogramm erneut und begann mit dem Entwurf eines neuen Artikels. Die Überschrift lautete: Vermisst.
Das schmiedeeiserne Gittertor stand offen und schwang langsam im Wind hin und her. Blix fuhr auf den Bürgersteig und parkte den Wagen direkt vor dem Gartenzaun.
Kovic warf einen letzten Blick auf die Notizen, die sie von Fosse bekommen hatte. »Die Journalistin heißt Emma Ramm«, informierte sie ihn. »Sie arbeitet bei news.no.«
Blix’ Magen verkrampfte sich.
»Was sagst du?«, fragte er mit trockener Stimme. Kovic wiederholte den Namen und den Arbeitgeber der Journalistin.
Blix schluckte. Mehrmals.
»Stimmt was nicht?«, fragte Kovic.
Blix reagierte erst, als er Kovics fragendem Blick begegnete.
»Hm?«
»Ich habe dich bloß gefragt, ob alles in Ordnung ist. Du bist so blass.«
Blix schüttelte den Kopf und gab ihr mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie aussteigen solle.
Er selbst brauchte etwas mehr Zeit, um sich aus dem Sitz zu hieven. Die kalte Luft strich angenehm kühl über sein erhitztes Gesicht. Trotzdem musste er einen Schritt zur Seite machen und sich an der Figur auf dem Pfosten des Zauns festhalten. In diesem Moment fiel sein Blick auf die junge Frau, die auf einer Bank neben dem Eingang saß.
Er bat Kovic, vorzugehen und die Leitung zu übernehmen. Blix spürte das Hämmern in seiner Brust. Er schwitzte. Emma Ramm stand auf und begrüßte Kovic, die zur Seite trat und Blix vorstellte. Er streckte die Hand aus und hoffte, dass sie nicht bemerkte, wie klamm sie war.
»Seit wann sind Sie hier?«, fragte Kovic.
»Seit etwa vierzig Minuten«, antwortete Emma. »Die Tür ist unverschlossen. Sonja Nordstrøm ist aber nicht zu Hause.«
Blix musterte sie. Die blonden Haare, die ihr Gesicht einrahmten, reichten bis über die Schultern. Die Augen waren stechend blau. Die Nase schmal, markante Wangenknochen. Ihre Zähne waren weiß und ebenmäßig.
»Waren Sie im Haus?«, fragte Kovic.
»Ich habe einen Blick hineingeworfen, ja«, erklärte Emma. »Im Flur ist ein Spiegel zerbrochen.«
Kovic und Blix’ wechselten rasche Blicke.
»Sie wissen also nicht mit hundertprozentiger Sicherheit, dass Nordstrøm nicht im Haus ist?«, fragte Kovic.
Die Antwort klang etwas kleinlaut.
»Nicht wirklich, nein.«
Blix räusperte sich.
»Wir gehen rein.«
»Warten Sie hier«, sagte Kovic zu Emma und folgte ihm. Blix schob die Schultern nach hinten und versuchte, sich nur auf den Job zu konzentrieren. Auf dem Flur rief er laut: »Hallo, hier ist die Polizei.«
Kovic zeigte auf einen umgestürzten Garderobenständer und den zerbrochenen Spiegel am Boden des Flures.
»Zimmer für Zimmer«, sagte Blix.