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Zum Buch

»Nimm mein Kind!«, sagt die Fremde und stürzt vor den einfahrenden Zug. Morgan steht fassungslos mit dem Baby in den Armen am Gleis. Schnell gerät sie in Verdacht, nicht so unschuldig und ahnungslos zu sein, wie sie aussagt. Denn sie wünscht sich schon lange ein Kind. Doch wie konnte die Fremde das wissen? Und wieso hat sie Morgan in ihrem Testament berücksichtigt, obwohl sie einander noch nie begegnet sind? Morgan muss die Wahrheit herausfinden. Dabei stößt sie auf jemanden, der für die Erreichung seiner Ziele töten würde…

Zur Autorin

Samantha M. Bailey lebt in Kanada und arbeitet als Journalistin in Toronto, unter anderem für die Oxford University Press. Bailey ist die Co-Gründerin von BookBuzz, einem interaktiven Event für Autorinnen und Autoren in New York und Toronto. Weil sie lesen fast so sehr liebt wie schreiben, findet man sie mit einem guten Buch auf dem Sofa, wenn sie nicht gerade neue Geschichten verfasst. »Ich weiß, was du willst« ist ihr spannendes Debüt, das in sieben Sprachen übersetzt wurde.

SAMANTHA BAILEY

ICH

WEISS,

WAS

DU

WILLST

THRILLER

Aus dem Englischen

von Kerstin Winter

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Deutsche Erstausgabe 10/2020

Copyright © 2019 by Samantha Bailey

Die Originalausgabe erschien 2019

unter dem Titel Woman on the Edge bei Headline, London

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe

© 2020 by Diana Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Janine Malz

Umschlaggestaltung: Nastassja Abel, Geviert, München

Umschlagmotive: © Ana Aguilar/EyeEm/Getty Images

Herstellung: Helga Schörnig

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-25432-2
V001

www.diana-verlag.de

Für meine Eltern, Celia und Michael,

die dafür gesorgt haben, dass meine Kindheit voller Bücher

und Liebe war. Sie haben mir beigebracht,

dass ich alles schaffen kann,

wenn ich nur hart genug dafür arbeite.

Mom und Dad, das ist für Euch – 

weil nur durch Euch möglich.

Keine Sprache vermag die Kraft, die Schönheit, die Heldenhaftigkeit und die Erhabenheit der Mutterliebe auszudrücken. Sie weicht nicht zurück, wo der Mensch sich duckt, erstarkt, wo der Mensch schwach wird, und überstrahlt einem Stern gleich mit ihrer unauslöschlichen Treue die Vergeudung weltlicher Geschicke.

Edwin H. Chapin

1. Kapitel

Morgan

Montag, 7. August

»Hier, nimm mein Baby!«

Die Stimme ist spröde und kratzig. Erschreckt fahre ich zusammen. Ich stehe wie jeden Tag nach der Arbeit auf dem U-Bahnsteig und warte auf den Zug. Früher habe ich den Leuten versuchsweise zugelächelt, aber inzwischen halte ich mich zurück. Seit dem Tod meines Mannes weiß keiner, wie er sich in meiner Gegenwart verhalten soll, und ich weiß nicht, wie ich mich unter Leuten verhalten soll. Meistens bleibe ich für mich und halte den Kopf gesenkt, weswegen die Stimme mich überrascht.

Ich schaue auf. Ich bin davon ausgegangen, dass die Frau mit einer Freundin gesprochen hat, aber das stimmt nicht. Sie wirkt verwahrlost und trägt eine ausgeblichene schwarze Yogahose und ein fleckiges weißes T-Shirt. Sie ist allein, und sie spricht mit mir.

Ihr schlafendes Baby mit einem Arm an die Brust gepresst, drängt sie sich an mich. Meine Handtasche prallt gegen meine Hüfte. Scharfe Nägel bohren sich in mein Handgelenk. »Bitte. Nimm mein Baby.«

Trotz der drückenden Hitze hier unten in der Haltestelle Grand/State packt mich die Furcht mit eisigen Fingern. Die Frau wirkt kopflos, unberechenbar, und ich bin mir nur allzu bewusst, dass ich – wie immer, um als Erste einsteigen zu können – dicht an der Bahnsteigkante stehe. Ein kräftiger Stoß, und ich lande auf den Gleisen. Und so trostlos die vergangenen achtzehn Monate nach Ryans Selbstmord auch gewesen sein mögen und sosehr ich auch ausgegrenzt wurde, habe ich dennoch wieder Fuß gefasst und mir ein neues Leben aufgebaut. Hier soll es ganz bestimmt nicht enden.

Behutsam mache ich mich los. »Entschuldigen Sie, aber könnten Sie …«

Sie tritt noch einen Schritt näher; ich stehe nun auf dem blauen Streifen. Ihr Blick ist wild, ihre Lippen sind wund und verkrustet – wie aufgebissen. Sie braucht eindeutig Hilfe. Ich streiche mir mein langes dunkles Haar ins Gesicht und senke den Blick auf die grau gesprenkelten Kacheln. »Wir sollten lieber einen Schritt zurücktreten. Kommen Sie.« Ich strecke ihr auffordernd eine Hand entgegen, um sie von der Bahnsteigkante wegzuführen, doch sie rührt sich nicht.

Sie macht mich furchtbar nervös. Als Sozialarbeiterin erkenne ich die Anzeichen seelischer Not, auch wenn ich sie bei Ryan übersehen habe. Wäre ich nicht, ohne es selbst zu wollen, zu einer loyalen, gutgläubigen Gattin geworden, die bewusst die Augen vor den Dingen verschließt, hätte ich meinen Mann vielleicht dazu bewegen können, sich Hilfe zu holen, ehe es zum Schlimmsten kommen konnte. Vielleicht hätte er erkannt, dass eine Verurteilung wegen Veruntreuung nicht das Ende bedeuten muss. Ein Selbstmord dagegen schon. Hätte ich früh genug etwas bemerkt, müsste ich jetzt vielleicht nicht für Verbrechen bezahlen, von denen ich nicht einmal etwas wusste, bis er tot war.

Vielleicht wäre ich sogar selbst inzwischen Mutter wie diese Frau vor mir.

Sie sieht furchtbar aus. Verfilzte Büschel kurzer, dunkler Locken stehen von ihrem Schädel ab, als sei sie gerupft worden. Ich schaue hastig weg.

»Ich hab dich beobachtet«, sagt sie mit erstickter Stimme.

Sie drückt das schlafende Baby so fest an sich, dass ich um das Kind fürchte. Die Ringe unter ihren Augen sind dunkel, als hätte man sie geschlagen, und ihr Blick huscht hektisch hin und her.

»Suchen Sie jemanden? Wollten Sie sich hier mit jemandem treffen?« Sofort verfluche ich mich, dass ich auf sie eingehe, anstatt ihr einfach die Telefonnummer meiner Chefin Kate im Haven House zu geben, dem Frauenhaus, in dem ich arbeite. Schließlich bin ich nicht mehr die Leiterin der Einrichtung und auch nicht die führende Therapeutin. Ich wünschte, ich hätte Ryan nie kennengelernt. Wäre nie auf sein verschmitztes Lächeln und seinen selbstironischen Humor hereingefallen. Man hat mich zur Bürokraft degradiert, und ich kann nicht dagegen angehen; immerhin habe ich noch eine Stelle. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen und doch so viel verloren. Zum Beispiel das Vertrauen anderer. Mein Vertrauen in mich selbst.

Sie ist nicht meine Klientin. Wer bin ich, dass ich mir anmaße, überhaupt jemanden zu beraten?

Ihr gepeinigter Blick kehrt zu mir zurück, und aus ihrem hageren Gesicht spricht nackte Angst. »Bitte pass auf sie auf!«

Das Baby schläft tief, Näschen und Mund gefährlich dicht an die Brust seiner Mutter gepresst. Es merkt nichts von ihrer Pein. Ohne dass ich es verhindern kann, empfinde ich ihren Schmerz mit, obwohl ich selbst genug habe, mit dem ich fertigwerden muss. Ich will ihr gerade die Telefonnummer geben, als sie wieder zum Sprechen ansetzt.

»Ich beobachte dich schon lange. Du bist ein guter Mensch. Warmherzig. Klug. Bitte, Morgan.«

Schockiert fahre ich zurück. Hat sie mich gerade beim Namen genannt? Das ist doch vollkommen unmöglich. Ich habe sie nie zuvor gesehen.

Die Frau küsst ihr Baby auf das flaumige Haar, dann blickt sie wieder zu mir auf. Ihre Augen sind blau und durchdringend. »Ich weiß, was du willst. Lass nicht zu, dass man ihr etwas antut. Lieb du sie an meiner Stelle.«

Ich weiß, was du willst?

»Woher wollen Sie das wissen? Sie kennen mich doch gar nicht«, sage ich, doch meine Stimme wird von der Durchsage übertönt, die vor dem einfahrenden Zug warnt. Die gesprungenen Lippen der Frau bewegen sich, aber ich kann sie durch das Rauschen des Windes im Tunnel nicht hören.

Ich habe jetzt wirklich Angst. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht, das spüre ich. Ich muss Abstand zu dieser Frau einnehmen, und zwar sofort.

Leute scharen sich um uns, bemerken aber offenbar nicht, dass hier etwas Merkwürdiges vor sich geht. Es sind Pendler in ihrer eigenen Welt, wie ich einen Moment zuvor auch.

Die Frau sucht noch einmal den Bahnsteig ab. Dann streckt sie mir plötzlich das Kind entgegen, und instinktiv greife ich zu. Ich blicke hinab auf das kleine Wesen in meinen Armen und spüre Tränen aufsteigen. Die gelbe Decke, in das es eingewickelt ist, fühlt sich so weich an, das Gesichtchen ist heiter und zufrieden.

Als ich wieder zu ihrer Mutter aufblicke, fährt der Zug kreischend in die Haltestelle ein.

In diesem Moment springt sie.

2. Kapitel

Nicole

Nicole klopfte mit ihrem goldenen Montblanc-Füller der Limited Edition »Bohème Papillon« – ein Geschenk ihres Mannes Greg – auf die letzte Seite des Hochglanzkatalogs für die Winterkollektion. Irgendetwas störte. Das Model stand in der Kriegerpose und präsentierte die neuen gerade geschnittenen Yoga-Pants. Mit verengten Augen betrachtete Nicole das Foto genauer. Doch, da war eine Falte am Knie zu sehen. Das ging nicht. Diese Werbekampagne war ihr letztes großes Projekt, ehe sie heute Abend in Mutterschutz ging. Als Gründerin und CEO einer der umsatzstärksten Athleisure- und Wellnessunternehmen in Nordamerika war sie diejenige, die in letzter Instanz alles absegnete, was Breathe produzierte. Sie würde nicht eher ihre Sachen zusammenpacken, bis der Katalog hundertprozentig stimmte.

Nicole seufzte. Wie sollte sie bloß auf ihren Job verzichten? Sie hatte bisher nicht einmal ohne Smartphone und Laptop Urlaub gemacht; eigentlich hatte sie überhaupt noch nie wirklich Urlaub gemacht, wenn sie es genau bedachte. Eineinhalb Monate hatte sie hart mit ihrer Erzfeindin, der Vorstandsvorsitzenden Lucinda Nestles, und den anderen Vorstandsmitgliedern von Breathe verhandelt. Sie wollte ihr Dasein als Mutter von Anfang an richtig angehen, aber gleichzeitig konnte sie sich ein Leben ohne ihre Arbeit nicht vorstellen. In vielerlei Hinsicht war Breathe ihr erstes Baby; nun war sie mit dem zweiten schwanger. Aber es würde schon klappen. Tessa, ihre beste Freundin und Produktchefin von Breathe, würde sie über alle Vorgänge auf dem Laufenden halten.

Sie drückte die Taste der Sprechanlage. »Holly, könntest du Tessa bitten, zu mir zu kommen, sobald sie im Haus ist?«

»Selbstverständlich«, antwortete ihre Büroleiterin.

Nicole strich sich die langen kastanienbraunen Locken aus dem Gesicht und legte sich eine Hand auf den runden Bauch. Sie spürte einen Fuß, oder vielleicht war es ein Ellenbogen. Die bevorstehende Mutterschaft war aufregend und beängstigend zugleich. Das Kind war nicht geplant gewesen. Sie war wegen einer vermeintlichen Magen-Darm-Grippe zum Arzt gegangen, nur um zu erfahren, dass sie in der dreizehnten Woche schwanger war. Nicole war beruflich immer derart eingespannt, dass sie selten auf ihre Periode achtete, die durch den Arbeitsstress ohnehin nicht besonders regelmäßig kam. Zuerst war die Nachricht wie ein Schock und löste Panik bei ihr aus. Doch sobald der Ultraschallsensor über ihren Bauch fuhr und sie hörte, was in ihren Ohren wie eine Herde galoppierender Pferde klang, keimte Hoffnung und freudige Erwartung in ihr auf. Das hier war ihre Chance auf Wiedergutmachung. Eine Gelegenheit, sich von der Vergangenheit zu lösen und ein neues Leben zu beginnen. Für ihr Baby. Und für sich selbst.

Sie musste lächeln, als sie an den Abend dachte, an dem sie Greg das Ultraschallbild gezeigt hatte. Sie hatte gewartet, bis sie nach der Launch-Party für die neue Zehn-Minuten-Wellness-App nach Hause zurückgekehrt waren. Nachdem sie sich wie immer zu einer kurzen Nachbesprechung auf der Couch niedergelassen hatten, drückte sie ihm das Schwarz-Weiß-Foto in die Hand.

Er runzelte die Stirn. »Was ist das denn?«

Sie war sich nicht sicher, wie er reagieren würde, doch alles würde gut werden, das wusste sie. »Unser Baby.«

Greg wich so rasch das Blut aus dem Gesicht, dass sie befürchtete, er würde in Ohnmacht fallen, und seine Augen weiteten sich. »Was?«, flüsterte er, als würde die Neuigkeit erst dann real, wenn er sie laut aussprach.

»Ich weiß, das war so nicht geplant. Aber nun ist es passiert.« Sie nahm seine Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen. Ihr Mann liebte es, wenn sie ihn anfasste. Er betete sie an, das wusste sie, und stellte ihre Bedürfnisse stets über seine.

Und obwohl er immer noch wie betäubt wirkte, wurde sein Blick nun weicher. »Ich frage dich das jetzt nur einmal, und dann stehe ich an deiner Seite, wie deine Antwort auch lauten mag. Willst du das Baby?«

Sie sah ihm direkt in die Augen. »Ja. Ich will das Baby. Greg, wir werden tolle Eltern sein. Überleg nur, was wir einem Kind alles bieten können. Und wir kriegen das hin. Das tun wir doch immer.«

Er lächelte und blickte wieder auf das Ultraschallbild. »Dummerweise kann ich gar nichts erkennen.«

Sie lachte und deutete auf ein winziges Böhnchen auf dem Wärmepapier.

Nach einem Moment sah er wieder zu ihr auf. »Hast du nicht immer gesagt, du wolltest keine Kinder?«

Das stimmte. »Mir war nicht klar, wie sehr ich es doch wollte, bis es passiert ist.«

»Ich nehme an, dass wir ein Kindermädchen einstellen. Du willst bestimmt nicht zu Hause bleiben.«

Nicole erstarrte. Niemals würde sie ein Kindermädchen einstellen. Aber den Grund dafür sollte er nicht erfahren.

»Wir werden sehen, wie viel Zeit ich mir nehmen kann«, sagte sie ausweichend. »Und schließlich hat Breathe nicht umsonst eine Kindertagesstätte.«

Er nickte, doch sie sah ihm an, dass die Neuigkeit ihn nachhaltig erschüttert hatte. Schließlich war es ein immenser Einschnitt in ihrer beider Leben.

Bei ihrer ersten Verabredung in einem Restaurant nur wenige Stunden nach ihrem Auffahrunfall – Nicole war in ihrer Eile, zu einem Meeting zu gelangen, in seinen Audi gerauscht – hatte an einem Nebentisch die ganze Zeit über ein Baby geschrien, woraufhin sie ihm erklärt hatte, dass sie niemals Kinder wolle. Er hatte gelacht und geantwortet, die Entscheidung würde er ihr überlassen, und sein Zwinkern hatte ihr einen wunderbaren Schauder über den Rücken gejagt. Kurz nach ihrer Hochzeit hatten sie noch einmal darüber gesprochen, aber Nicole war bei ihrem Standpunkt geblieben: Sie seien beide karriereorientiert, ein Kind würde sie nur bremsen.

Warum sie wirklich bei diesem Thema so unnachgiebig gewesen war, hatte sie ihm allerdings nie erzählt. Greg war ihr Fels in der Brandung, und sie wollte vor ihm keine Schwäche zeigen. Sie liebte ihn innig, und inzwischen war sie überzeugt, dass ein Baby sie nur enger zusammenschweißen würde.

Beim Ultraschall in der siebzehnten Woche hatte seine verschwitzte Hand die ihre umklammert, als der Arzt verkündete: »Es ist ein Mädchen!«

Greg hatte sie auf die Wange geküsst und geflüstert: »Glaub ja nicht, dass ich sie je mit irgendeinem Kerl ausgehen lasse.«

Und Nicole hatte die Augen geschlossen und die Gewissheit auf sich wirken lassen: Hier schloss sich der Kreis. Ein Mädchen verloren, eins gewonnen.

Nun, in der vierzigsten Woche, am Ende der Schwangerschaft, war das Böhnchen zu einem Baby herangewachsen, das jeden Tag trat und boxte, um seiner Mutter deutlich zu machen, dass es da war. Quicklebendig und putzmunter.

Nicole war so dankbar, dass sie Greg hatte. Dass er so ein wunderbarer Mann und Ehemann war und ihr nun wieder eine Familie gab. Sie blickte auf das Foto, das sie heute Morgen gemacht hatte. Darauf war die edle, cremefarbene Wiege zu sehen, die sie im Petit-Trésor-Katalog mit einem Eselsohr markiert hatte. Greg hatte sie gestern Nacht, während sie schlief, aufgebaut. Und er musste Stunden dafür gebraucht haben, denn er hatte am Morgen fix und fertig ausgesehen, als er sie an die Hand genommen und ins Kinderzimmer geführt hatte. »Überraschung!«

»Oh, Greg, wie wunderschön. Danke!« Sie hatte ihn fest umarmt und gehofft, dass er den heutigen Arbeitstag halbwegs überstehen würde. Ja, Breathe hatte sie beide reich gemacht, aber Greg war auch als Börsenmakler erfolgreich; er hatte sich nie von ihr abhängig machen wollen.

Ihre Tagträumerei wurde von Holly unterbrochen, die eintrat und ihr die säuberlich gestapelte Post neben den violetten Computer legte. »Tessa ist unterwegs.«

Nicole riss sich gedanklich von ihrem Privatleben und den anstehenden Veränderungen los. »Wunderbar. Ich habe mir das Update der Website angesehen und festgestellt, dass wir noch ein paar Kleinigkeiten ändern müssen. Das Chaos-to-Calm-Programm wirkt noch zu unruhig.« Sie dachte einen Moment lang nach. »Vielleicht könnte das E-Team die sieben Yoga-Posen auf fünf reduzieren. Und erkundige dich beim Verkauf, wie sich die Bestellungen für die Herbsttrainingsjacken anlassen. Läuft alles nach Plan, kann Tessa das Marketing der App mit der neuen Broschüre abstimmen.«

Holly nickte und reichte ihr einen weißen Umschlag. »Ich habe die Geschäftspost geöffnet, aber den Brief hier nicht –er sah mir zu persönlich aus. Mach du ihn lieber selbst auf. Vielleicht Fanpost nach dem Artikel in der Tribune.«

Jäh begann ihr Puls zu rasen. Sie konnte ihr Herz hämmern hören, als sie die krakelige Schrift auf dem weißen Umschlag, den Holly ihr hinhielt, erkannte. Er trug ihren Mädchennamen – Nicole Layton – und war in Kenosha, Wisconsin abgestempelt. Der Ort, an dem ihr Leben vor neunzehn Jahren einen Bruch erfahren hatte.

Keine Fanpost. Alles andere als Fanpost.

Aus exakt diesem Grund hatte Nicole in dem Artikel der Chicago Tribune nichts über ihre Schwangerschaft lesen wollen. Niemand aus ihrer Vergangenheit durfte erfahren, dass sie eine Tochter bekommen würde. Lucinda dagegen hatte darauf gepocht, dass sie sich keine bessere PR wünschen konnten: Nicole, die erfolgreiche Geschäftsfrau, die eine Life-Work-Balance propagierte, würde mit ihrem Babybauch demonstrieren, dass Frauen wirklich alles haben konnten. Die Story handelte von den visionären Errungenschaften des Unternehmens: Breathes stärkende und heilsame Achtsamkeitsworkshops, die einzigartige Produktlinie für Körper und Geist – entwickelt »von Frauen für Frauen« – und das Firmenethos, das nach Ausgeglichenheit in jedem Lebensbereich strebte. Ein Teil der Umsatzerlöse ging an eine Stiftung, die verwaiste Jugendliche unterstützte und beriet; Nicole war als Teenager selbst in einer solchen Situation gewesen. Ihre Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als sie das letzte Jahr auf die High School ging, daher wusste sie, wie einsam man sich fühlte, wenn man plötzlich nichts und niemanden mehr hatte. Was sie allerdings nicht hatte wissen können, war, dass die Zeitung sich über ihren Wunsch hinwegsetzen, über ihre Schwangerschaft schreiben und sogar verraten würde, dass sie eine Tochter erwartete.

Vergangene Woche war der Artikel erschienen. Seitdem hatte sie befürchtet, dass sie erneut einen Brief erhalten würde.

Jetzt war es geschehen.

Sie griff nach dem Umschlag und hielt ihn fest. »Danke, Holly«, sagte sie und war zuversichtlich, dass man ihrer Stimme nichts anhören konnte. Blieb nur zu hoffen, dass es nicht auffiel, wie ihr plötzlich der Schweiß auf die Stirn trat. »Könntest du mir die aktuellen Zahlen für die Stream-Kollektion aus San Francisco besorgen? Die Tankinis verkaufen sich nicht so gut, wie sie sollten, und ich brauche die Zahlen für die Vorstandssitzung. Es ist ja auch meine letzte.«

»Ich kann mir kein Meeting ohne dich vorstellen. Wie sollen wir das bloß machen?«

»Ach, ihr schafft das ganz wunderbar. Tessa und Lucinda und die ganze Belegschaft werden den Laden schon schmeißen. Ihr werdet mich überhaupt nicht vermissen.«

»Hauptsache, du versprichst, dich nicht im Still-BH zu den Konferenzen zuzuschalten. Selbst wenn es einer von Breathe ist.«

Nicole lachte. »Das wird wohl eher nicht geschehen.«

Holly ging und zog die Tür zu Nicoles Büro hinter sich zu.

Das aufgesetzte Lächeln auf Nicoles Lippen verblasste sofort. Sie erwog, den Brief in kleine Fetzen zu reißen. Wenn sie den Inhalt nicht kannte, konnte sie sich auch nicht wegen möglicher Drohungen den Kopf zerbrechen. Aber natürlich musste sie es wissen. Ihr wurde die Kehle eng.

Den ersten Brief dieser Art hatte sie bekommen, als sie im ersten Jahr am Columbia College studiert hatte. Er hatte drei getippte Sätze enthalten, und Nicole hatte eiskalte Angst gepackt.

Ich weiß, was du getan hast. Du solltest sie beschützen. Eines Tages wirst du dafür bezahlen.

Danach war ausnahmslos jedes Jahr ein weiterer weißer Umschlag gekommen, bis vor fünf Jahren plötzlich Schluss damit gewesen war. Nicole hatte gehofft, dass Donna jenen furchtbaren Sommer endlich verwunden hatte und sie fortan nicht mehr belästigen würde, aber offenbar hatte sie sich geirrt.

Ihre Hände, die den Umschlag hielten, zitterten, als vor ihrem geistigen Auge Bilder aufstiegen. Donna, die sich wie eine schützende Decke über ihr Baby warf, die sich bei jedem Niesen des Kindes ängstigte, die immer wieder ins Kinderzimmer huschte, während die kleine Amanda schlief, um von der Tür aus mit der Fernbedienung das Schmetterlingsmobile neu zu starten, damit das Schlaflied in Endlosschleife spielte. Donna hatte ihr Baby so innig geliebt, wie Nicole ihr Ungeborenes schon jetzt liebte. Doch Donna hatte ihres verloren. Konnte man einen solchen Verlust je verarbeiten?

Und nun war ein neuer Brief gekommen. Den Umschlag noch in der Hand, stemmte Nicole sich aus ihrem Schreibtischstuhl hoch. Mit dem fast ausgewachsenen Baby im Bauch bewegte sie sich immer schwerfälliger. Doch abgesehen davon war sie dank ihrer täglichen Yoga-Einheiten, die sie im Büro absolvierte, noch immer fit und in Form. Bei Breathe wurden alle Mitarbeiterinnen angehalten, sich auch während der Arbeitszeit kleine Auszeiten zu nehmen.

Sie legte den Umschlag neben sich, ließ sich vor dem deckenhohen Fenster auf ihre Yoga-Matte in den halben Lotussitz herab und bewegte sich vorsichtig in die Katze. Sie konzentrierte sich auf ihren Atem und flüsterte: »Mein Herz ist geerdet und offen. Ich liebe mich selbst und lasse zu, dass mein Herz sich mit anderen verbindet. Ich vergebe mir und will dankbar und würdevoll leben.« Ihr Baby streckte sich in ihrem Bauch, und sie genoss die Verbundenheit, die schon jetzt zwischen ihr und ihrer ungeborenen Tochter bestand.

Sie war bereit. Sie setzte sich auf die Matte zurück, griff nach dem Briefumschlag, riss ihn auf und holte das weiße Papier heraus.

Du bist es nicht wert, Mutter zu sein. Du bist eine Mörderin. Du kannst kein Baby beschützen.

Die Buchstaben verschmierten, als ihre Tränen auf das Papier tropften. Also hatte Donna den Artikel in der Tribune gelesen und wusste, dass sie mit einem Mädchen schwanger war.

Nicole schob den Zettel zurück in den Umschlag und zog sich am Fensterrahmen hoch. Sie legte ihre erhitzte Wange an die kühle Scheibe und blickte hinaus auf die West Armitage Avenue. Frauen betraten und verließen Breathes Flagshipstore, der an das vierstöckige Firmengebäude in Chicagos Lincoln Park angrenzte.

Ihre Tochter regte sich in ihr.

Nicole wurde plötzlich die Brust eng, und sie musste flacher atmen. Schwarze Punkte huschten über ihr Sichtfeld. Der Verkehr unterhalb des Fensters verstärkte den Schwindel noch, und sie stemmte die Hand gegen die Scheibe, um sich zu stabilisieren. Sie würde bei der Arbeit nicht ohnmächtig werden.

»Nic?«

Hastig zerknüllte sie den Brief in ihrer Hand und blickte über die Schulter, um Tessas zarte Gestalt im Türrahmen zu sehen. Einen Moment später war ihre Freundin schon bei ihr und legte ihr sanft eine Hand auf den Rücken.

»Alles in Ordnung. Atme tief ein. Gut. Jetzt ausatmen. Und noch mal.« Tessa atmete mit ihr. »Und wieder. Gut.«

Tessa wusste, wie sie sich beruhigen ließ. Nicole vertraute ihr in jeder Hinsicht. Was die Arbeit betraf. Ihre Gesundheit. Ihre Geheimnisse.

»Danke«, sagte sie.

»Einfach nur atmen. Konzentriert atmen. Du bist es, die mir das beigebracht hat, Nicole.«

Nicole lächelte. »Vermutlich sind Freunde genau dazu da – um einander das Atmen zu ermöglichen.«

»So ist es«, antwortete Tessa, und das für sie typische warmherzige Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Ich kann mich gar nicht erinnern, wann du zuletzt eine Panikattacke hattest.«

Nicole dagegen erinnerte sich lebhaft. Es war vor vier Jahren gewesen, als sie gemeinsam mit Tessa den Katalog für Breathes erste Babyhautpflegeserie durchgeblättert hatte. Dabei war sie auf die Abbildung einer Mutter im Schaukelstuhl gestoßen, die ihr Baby glückselig im Arm wiegte, und hatte um Atem ringen müssen, weil der jähe Schmerz in ihrer Brust ihr die Luft abschnürte. Die Mutter auf dem Foto hatte Ähnlichkeit mit Donna und beschwor die Erinnerung an jenen furchtbaren Sommer herauf, ehe sie es verhindern konnte. Sie hatte sich in Grund und Boden geschämt. Tessa war bei ihr als Produktdesignerin angestellt, und sie wollte nicht, dass die Grenzen verschwammen.

Doch Tessa hatte Verständnis gezeigt. Als Yogalehrerin und Fachfrau für ganzheitliche Wellness zeigte sie Nicole, wie sie ihre Angstattacken in den Griff bekam. Ihre sanfte, beruhigende Stimme und leichten Berührungen wirkten Wunder. So konnte Nicole schrittweise sogar die Medikamente gegen die Angstzustände absetzen. Die beiden Frauen freundeten sich an, und Tessa stieg zur Leiterin der Produktabteilung und Nicoles rechter Hand auf. Und irgendwann fühlte Nicole sich ihr so nah, dass sie ihr fast alles über jenen Sommer in Kenosha vor neunzehn Jahren anvertraute. Das Geheimnis mit jemandem teilen zu können befreite Nicole von einer schweren Last, die sich in zunehmend beängstigender Ausprägung auf sie ausgewirkt hatte. In gewisser Hinsicht hatte Tessa – einst nur Angestellte, inzwischen so viel mehr – ihr das Leben gerettet.

Außer ihrem großen Bruder Ben, den sie selten sah, war Tessa der einzige Mensch, der die Geschichte von damals kannte. Greg wusste weder davon noch von ihren Panikattacken. Die Frau, in die Greg sich damals verliebt hatte, war eine starke, unabhängige Führungspersönlichkeit, und Nicole dachte nicht daran, ihm eine andere Seite zu zeigen.

Ihre Atmung beruhigte sich langsam, und die Beklemmung in ihrer Brust ließ nach.

»Magst du mir sagen, was das ausgelöst hat?«, fragte Tessa.

Nicole drehte sich um und lehnte sich mit dem Rücken ans Fenster, um Tessa anzusehen. Sie war zart gebaut, hübsch und trug ihr weißblondes Haar wie immer zu einem dicken Zopf geflochten. Mit neunundzwanzig war sie sieben Jahre jünger als Nicole, aber manchmal so viel erwachsener und klüger, als ihr Alter vermuten ließ. Sie war der entspannte Gegenpol zu Nicoles Ehrgeiz. Tessa hatte keinen Lebensgefährten, keine Kinder. Ihr Leben war so, wie sie es haben wollte. Frei und unbelastet. Oft beneidete Nicole sie. Sie schien niemand anderen zu brauchen, jedenfalls nicht so, wie Nicole es tat. Und einsam fühlte sie sich offenbar nie.

Nicole drückte sich vom Fenster ab. Dies hier sollte eigentlich die glücklichste Zeit ihres Lebens sein. Ein – weiterer – Neuanfang. Sie würde nicht zulassen, dass Donna wieder alles kaputtmachte.

Daher beschloss Nicole, nicht die Wahrheit zu sagen. »Ich denke, die bevorstehende Geburt macht mich einfach ein bisschen nervös. Und Breathe Lucinda zu überlassen macht mich auch nicht ganz glücklich. Es ist mein Unternehmen, und es bedeutet mir alles. Ich kann mir kaum vorstellen, dass ich sechs Wochen lang nicht hier sein soll.«

»Aber ich bin hier. Und Lucinda glaubt an Breathe. Sie ist ganz aus dem Häuschen, dass sie in deiner Abwesenheit den Laden führen darf.«

Das entlockte Nicole ein Grinsen. Als sie mit Breathe an die Börse gegangen war, hatte sie zur Bedingung gemacht, dass der Posten der Geschäftsführerin dauerhaft in ihren Händen blieb, sofern nicht unvorhergesehene Umstände eintrafen, die das unmöglich machten. Lucinda hatte sich dagegen ausgesprochen und verloren. Nun bekam sie zumindest einige Wochen lang genau das, wonach sie sich sehnte. Sobald Nicole aus dem Mutterschaftsurlaub zurückkehrte, würde sie Tessa für ihre Loyalität belohnen und vielleicht zur stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden befördern.

»Wenn du sie in den Aufsichtsratssitzungen erleben könntest …«, begann Nicole. »Wie auch immer, du hast recht. Natürlich wird es gut laufen.«

Tessa lachte, wurde dann jedoch wieder ernst. »Geht es dir gut genug für das Meeting?«, fragte sie.

»Ja, sicher.« Nicole straffte sich. Sie war die Geschäftsführerin, Herrgott noch mal. Sie war mit ihrem Unternehmen an die Börse gegangen, als sie gerade achtundzwanzig gewesen war. So leicht warf sie nichts aus der Bahn. Die Vergangenheit war vorbei. Es war ja nur ein Brief, und Worte konnten ihr nichts mehr antun. »Wirklich, Tessa. Ich bin absolut in der Lage, die Sitzung hinter mich zu bringen.«

»Okay, dann komm doch danach bei meinem Büro vorbei, und wir gehen etwas essen, um deinen letzten Tag zu feiern.«

»Das wäre toll, aber Greg und ich sind für heute verabredet. Mit den Wehen kann es jederzeit losgehen, daher wollen wir aus den letzten Tagen, die wir für uns allein haben, möglichst viel herausholen.«

Tessa lächelte und verließ ihr Büro. Nicole trat an ihren Schreibtisch und schob den zerknüllten Brief in die Schublade. Doch während sie sich sammelte, um zu ihrer letzten Vorstandssitzung vor dem Mutterschutz zu gehen, hallte Donnas Warnung durch ihre Gedanken.

Du kannst sie nicht beschützen.

Und plötzlich kam ihr ein schrecklicher Gedanke.

Was, wenn sie recht hatte?

3. Kapitel

Morgan

Das Kreischen der Bremsen auf den stählernen Schienen ist ohrenbetäubend. Ich schreie aus vollem Hals. Als ich die Augen wieder aufreiße, ist der Zug bereits in den Bahnsteig gedonnert. Und es ist zu spät.

»Hilfe! Die Frau ist gesprungen! Oh, Gott. Ich habe ihr Baby!« Ich zittere so sehr, dass ich Angst habe, das Kleine fallen zu lassen. Als ich einen kurzen Blick auf die Gleise wage, sehe ich die Glieder der Frau in unnatürlichem Winkel hervorragen und weiß, dass sie tot ist. Hastig wende ich den Blick ab. Die blinkenden roten Lichter des Zugs, die von den Wänden reflektiert werden, tun mir in den Augen weh. Alarmsirenen heulen, aber der Lärm klingt wie aus der Ferne, als stünde ich unter Wasser.

Menschen brüllen, schubsen, drängen. Die Türen des Zugs öffnen sich und spucken Pendler aus, bis kein Platz mehr auf dem Bahnsteig ist. Die Leute geraten in Panik, schreien, deuten auf die Frau auf den Gleisen. Wo ist die Polizei? Wo sind die Rettungssanitäter? Auch wenn ich weiß, dass es keine Hoffnung gibt, müssen sie es doch versuchen.

Bemüht, den Brechreiz zu unterdrücken, wende ich mich mit dem Baby ab, damit wir beide die Mutter nicht mehr sehen müssen.

Immer mehr Leute drängen sich um mich, bis mir so heiß ist, dass ich kaum noch atmen kann. Ihre Münder bewegen sich, aber ich verstehe nichts. Sie reden zu schnell, zu viel, zu eindringlich.

»Wer war die Frau?«

»Warum ist sie gesprungen?«

»Kannten Sie sie?«

»Geht’s dem Baby gut?«

Fragen prasseln auf mich ein, aber ich weiß keine Antwort. Schweiß rinnt mir über das Gesicht, und ich brauche Luft, aber die Menge droht mich zu verschlucken, und ich will raus hier, nur raus.

Etwas stößt mich in den Rücken, und ich stolpere. »Hilfe! Rufen Sie Hilfe!«, schreie ich wieder, als ich nach vorne falle.

Jemand packt mich am Arm und zieht mich von der Bahnsteigkante fort.

»Bitte. Bitte helfen Sie mir«, flehe ich den Mann neben mir an, der eine Uniform der CTA, Chicagos Nahverkehrsunternehmen, trägt. Ich befürchte, dass ich ohnmächtig werden und das kostbare Baby fallen lassen könnte. Er stützt mich mit einem Arm um meine Schultern und einer Hand auf dem Rücken des Babys.

Panisch ringe ich um Atem und lehne mich gegen ihn. »Ich … Sie …«

Jäh schwappt eine Welle der Übelkeit über mich, als mir bewusst wird, dass das Baby verletzt sein könnte. Hastig streife ich die gelbe Decke ab, in die es eingewickelt ist. Ich wappne mich gegen Blut und Prellungen, sehe stattdessen aber nur makellose Babyhaut an speckigen Ärmchen und Beinchen. Ein vollkommenes kleines Wesen in einem elfenbeinfarbenen Body, dessen Lippen wie Rosenblätter an der Schulter meines weißen Kleids liegen.

Meine Knie geben nach. Dann nimmt man mir das Baby ab, und plötzliche Kälte durchströmt mich.

»Das ist die Frau, Officer.«

»Ma’am, alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragt ein Polizist, während er mir eine Decke um die Schultern legt. »Haben Sie den Vorfall gesehen?«

»Sie hat mit der Frau gesprochen, bevor sie vor den Zug gesprungen ist.«

»Sie hat das Baby genommen.«

Eine Kakofonie von Stimmen attackiert meine Ohren. Das Baby wird von dem Polizisten an eine Polizistin weitergereicht. Dann verschwinden beide in der Menge, und das kleine Wesen, das gerade noch sicher in meinem Arm gelegen hat, ist weg. Der Officer neben mir führt mich von den Gleisen fort. Nach ein paar Schritten bleibt er stehen, damit ich mich an die Wand lehnen kann.

Meine Zähne klappern. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, was gerade geschehen ist. Wo bringen sie das arme Kind nur hin? Wie kann eine Mutter so was tun?

Bitte nimm mein Baby.

Morgan.

Hat die Frau wirklich meinen Namen gesagt, oder habe ich mir das nur eingebildet? Ich presse meine Hände an den Kopf, fühle kalten Schweiß und sehe zu, wie die anderen Zeugen einander trösten und die ersten Notfallsanitäter sich auf die Gleise herablassen. Es fühlt sich fast an, als sei ich gar nicht hier. Ich habe keine Ahnung, wer die Frau war. Ich kann einfach nicht aufhören zu weinen.

Der Officer betrachtet mich aufmerksam. »Wie wäre es, wenn wir aufs Revier gehen, wo es ruhiger ist und wir reden können?«

Aufs Revier? Nein. Da gehe ich nie wieder hin.

Dahin hatte man mich gebracht, nachdem ich Ryan in seinem Arbeitszimmer auf dem Boden gefunden hatte, die Pistole noch in der Hand und ein blutendes Loch im Bauch. Mein Mann hatte sich selbst das Leben genommen. Damals wusste ich nicht, wie mir geschah. Genauso wenig wie jetzt.

Warum passiert mir das?

Dennoch bleibt mir keine andere Wahl, als dem Officer durch die Menschenmenge zu folgen. Und im Vorbeigehen auf die Schienen hinabzublicken, wo der entstellte Körper der Mutter gerade auf eine Bahre gehoben wird. Ihre Arme baumeln grausig schief herab, ihre Beine sind zerquetscht, und ihr Gesicht ist so voller Blut, dass ihre Züge nicht mehr zu erkennen sind. Bittere Galle steigt in meiner Kehle auf, und ich muss würgen. Meine Beine sind so schwach, dass ich kaum gehen kann.

Lieb du sie an meiner Stelle, Morgan.

»Das ist unmöglich«, sage ich laut.

Der Polizist kann mich bei all dem Chaos und Gebrüll um uns herum nicht hören.

Meine Angst schmeckt kalt und metallisch. Meine Schritte sind schwer, als ich dem Officer an den Gleisen und den schockierten Gaffern vorbei durch die U-Bahnstation Grand/State folge und den Kopf gesenkt halte, weil mir ist, als würden mich alle anstarren. Andererseits bin ich an das Gefühl gewöhnt, seit mein Mann mich auf seine Art verlassen hat. Ich bin Ryan Galloways Witwe. Die Frau eines Diebs, Feiglings, Selbstmörders. Und nun bin ich der letzte Mensch, mit dem eine weitere Selbstmörderin gesprochen hat. Der Mensch, den sie um Hilfe gebeten hat.

Unwillkürlich drücke ich meine abgewetzte schwarze Handtasche fester an die Brust. Und bemerke, dass etwas Violettes daran klebt.

Ein Post-it-Zettel. Von mir ist er nicht. Ich lege meine Hand darüber und nehme ihn vorsichtig ab. Der Polizist geht vor mir eine Treppe hinauf. Ich bleibe stehen, während er die Leute veranlasst, mir Platz zu machen, und nutze den Moment, um mir den kleinen Zettel unbemerkt anzusehen. In einer geschwungenen Handschrift, die ich nicht erkenne, steht ein einziges Wort geschrieben. Ein Name.

Amanda.