Cover

Das Buch

Eines Tages entdeckt ein Junge namens Zachary Ezra Rawlins auf dem Schulweg eine gemalte Tür an einer Mauer. Sie wirkt täuschend echt, und schon geht er einen Schritt darauf zu, gezogen von einem Gefühl, als ließe sich diese Tür öffnen. Doch er öffnet sie nicht – und vergisst dieses Erlebnis schon bald. Jahre später, Zachary studiert inzwischen Neue Medien an der Ostküste der Vereinigten Staaten, nimmt er zufällig ein unscheinbares Buch aus der Bibliothek mit nach Hause. Als er zu Lesen beginnt, will er seinen Augen nicht trauen: Das Buch erzählt eben jenes Erlebnis aus seiner Kindheit, von dem er niemals jemandem berichtet hatte. Aber wie ist das möglich? Das Rätsel dieses Buches lässt Zachary nicht mehr los. Auf seiner Suche nach Antworten folgt er einer Spur aus Bienen, Schlüsseln und Schwertern in eine unterirdische Welt voller Bücher. Zachary ist jedoch nicht allein – er wird verfolgt. Denn es gibt Menschen, die sich der Zerstörung dieses Refugiums der Bücher und Geschichten verschrieben haben. Hier, tief unter der Oberfläche am Ufer eines sternenlosen Meers, muss sich Zachary seinem Schicksal stellen und lernen, für das zu kämpfen, was er liebt.

Der neue große Roman der Autorin des Weltbestsellers Der Nachtzirkus

»Lesen Sie Das sternenlose Meer, wenn Sie wissen wollen, was Erzählkunst

wirklich bedeuten kann!« LIBRARY JOURNAL

Die Autorin

Erin Morgenstern, geboren 1980, hat Theaterwissenschaften studiert und mit ihrem Debütroman Der Nachtzirkus einen Welterfolg gelandet, der in 37 Sprachen übersetzt wurde. Mit ihrem zweiten Roman Das sternenlose Meer kehrt die Autorin auf die Bühne des magischen Erzählens zurück. Erin Morgenstern ist verheiratet und lebt in Massachusetts.

Mehr über die Autorin und ihre Romane auf:

www.erinmorgenstern.com

ERIN MORGENSTERN

Das

sternenlose

Meer

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Karin Will

Blessing

Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel

THE STARLESS SEA

bei Doubleday, New York

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Das Gedicht von Sappho [>>] wurde nach folgender Ausgabe zitiert:

Strophen und Verse. Übersetzt und hrsg. von Joachim Schickel,

Frankfurt am Main 1978.

Copyright © 2019 by Erin Morgenstern

Copyright © 2020 by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,

nach einem Originalentwurf von John Fontana

Umschlagillustration: Dan Funderburgh

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-25519-0
V001

www.blessing-verlag.de

ERSTES BUCH

SÜSSES LEID

SÜSSES LEID

Einst, vor langer, langer Zeit …

Im Keller sitzt ein Pirat.

(Der Pirat ist eine Metapher, aber auch ein Mensch.)

(Den Keller könnte man auch als Verlies sehen.)

Der Pirat ist wegen zahlloser Akte piratenhafter Natur hier, die in den Augen der Nichtpiraten, die über derlei Dinge entscheiden, eine Bestrafung rechtfertigen.

Irgendjemand hat befohlen, den Schlüssel wegzuwerfen, doch er hängt an einem angelaufenen Ring neben der Zelle an der Wand.

(Nahe genug, um ihn hinter dem Gitter sehen zu können. Freiheit, gut sichtbar, aber außer Reichweite, eine Mahnung für den Gefangenen. Auf der Schlüsselseite des Gitters weiß keiner mehr davon. Die psychologische Absicht ist vergessen, reduziert auf Gewohnheit und Zweckmäßigkeit.)

(Dem Piraten ist das klar, doch er verkneift sich jede Bemerkung.)

Der Wachmann sitzt neben der Tür auf einem Stuhl und liest vergilbte Fortsetzungskrimis. Er wäre gern eine idealisierte, tiefgründigere Version seiner selbst und fragt sich, ob es bei dem Unterschied zwischen Piraten und Dieben um den zwischen Schiffen und Hüten geht.

Irgendwann nimmt ein anderer Wachmann seinen Platz ein. Der Pirat kann keinen richtigen Zeitplan erkennen, denn in dem unterirdischen Verlies gibt es keine Uhren, die die Zeit in Abschnitte unterteilen, und das Wellenrauschen am Strand unterhalb der Steinmauern übertönt den Gong am Morgen und das lebhafte Treiben am Abend.

Der neue Wachmann ist kleiner, und er liest nicht. Er will niemand sein als er selbst, ihm fehlt die Vorstellungskraft für Alter Egos, selbst die Vorstellungskraft, um Mitgefühl mit dem Mann hinter dem Gitter zu empfinden, dem einzigen lebenden Wesen im Raum, von den Mäusen einmal abgesehen. Wenn er nicht gerade schläft, widmet er sich intensiv seinen Schuhen. (Er schläft fast immer.)

Etwa drei Stunden, nachdem der kleine Wachmann den Platz des Lesenden eingenommen hat, erscheint ein Mädchen.

Das Mädchen bringt einen Teller mit Brot und eine Schale Wasser und stellt sie vor der Zelle des Piraten ab. Ihre Hände zittern dabei so stark, dass sie die Hälfte des Wassers verschüttet. Dann dreht sie sich um und huscht die Treppe hinauf.

Am zweiten Abend (zumindest glaubt der Pirat, dass es Abend ist) steht der Pirat so nahe wie möglich am Gitter und blickt hinaus, und das Mädchen stellt das Brot so hin, dass er es kaum erreichen kann, und verschüttet beinahe das ganze Wasser.

Am dritten Abend hält sich der Pirat ganz hinten im Schatten auf und kann sein Wasser so zum größten Teil behalten.

Am vierten Abend kommt ein anderes Mädchen.

Dieses Mädchen weckt den Wachmann nicht. Ihre Füße tappen leiser über die Steine, und alle Geräusche, die sie verursacht, werden von den Wellen oder den Mäusen fortgetragen.

Das Mädchen blickt hinüber in den Schatten zu dem kaum sichtbaren Piraten, stößt einen leisen, enttäuschten Seufzer aus und stellt Brot und Schale vor dem Gitter ab. Dann wartet sie.

Der Pirat bleibt im Schatten.

Nach mehreren Minuten der Stille, unterbrochen vom Schnarchen des Wachmanns, dreht sich das Mädchen um und geht.

Als der Pirat sich sein Essen holt, stellt er fest, dass Wein in das Wasser gemischt ist.

Am nächsten Abend, dem fünften, falls es denn Abend ist, wartet der Pirat am Gitter, bis das Mädchen mit den leisen Füßen zu ihm herunterkommt.

Als sie ihn bemerkt, bleibt sie nur kurz stehen.

Der Pirat sieht sie an, und das Mädchen erwidert seinen Blick.

Er streckt die Hand nach der Wasserschale und dem Brot aus, doch das Mädchen stellt beides auf den Boden, wobei sie ihn nicht aus den Augen lässt und dafür sorgt, dass nicht einmal der Saum ihres Gewands in seine Reichweite gerät. Mutig, aber scheu. Als sie sich wieder aufrichtet, deutet sie eine Verbeugung an – ein leichtes Neigen des Kopfs, eine Bewegung, die ihn an den Beginn eines Tanzes erinnert.

(Selbst ein Pirat ist imstande, den Beginn eines Tanzes zu erkennen.)

Am nächsten Tag hält sich der Pirat abseits vom Gitter auf, ein Höflichkeitsabstand, den er mit einem einzigen Schritt überbrücken könnte, und das Mädchen kommt ein winziges Stück näher.

Ein weiterer Abend, und der Tanz geht weiter. Ein Schritt vor. Ein Schritt zurück. Eine Bewegung zur Seite.

Am nächsten Abend streckt er die Hand aus, um die Gaben von ihr anzunehmen, und diesmal kommt sie seinem Wunsch nach, und seine Finger streichen über ihren Handrücken.

Das Mädchen beginnt, jeden Abend ein wenig länger zu bleiben, doch wenn der Wachmann sich regt und aufzuwachen droht, geht sie, ohne sich umzusehen.

Sie bringt zwei Schalen Wein, und sie trinken gemeinsam in einvernehmlichem Schweigen. Der Wachmann hat aufgehört zu schnarchen, er schläft tief und fest. Der Pirat hegt die Vermutung, dass das Mädchen dabei die Hände im Spiel hat. Mutig und scheu und schlau.

An manchen Abenden bringt sie ihm nicht nur Brot. Auch Orangen und Pflaumen, die sie in den Taschen ihres Gewands verbirgt. Kandierte Ingwerstückchen, eingewickelt in Papier voller Geschichten.

An manchen Abenden bleibt sie bis kurz vor dem Wachwechsel.

(Der Wachmann für tagsüber lässt neuerdings, scheinbar zufällig, seine Fortsetzungskrimis in Reichweite der Zelle liegen.)

An diesem Abend geht der kleinere Wachmann auf und ab. Er räuspert sich und scheint etwas sagen zu wollen, doch dann schweigt er. Danach setzt er sich auf seinen Stuhl und fällt in einen unruhigen Schlaf.

Der Pirat wartet auf das Mädchen.

Sie kommt mit leeren Händen.

Dieser Abend ist der letzte. Der Abend vor dem Galgen. (Auch der Galgen ist eine Metapher, wenngleich eine, die auf der Hand liegt.) Der Pirat weiß, dass es keinen weiteren Abend mehr geben, dass der nächste Wachwechsel der letzte sein wird. Das Mädchen kennt die genaue Anzahl der Stunden.

Sie sprechen nicht darüber.

Sie haben noch nie gesprochen.

Der Pirat dreht eine Haarsträhne des Mädchens zwischen seinen Fingern.

Das Mädchen lehnt sich ans Gitter, ihre Wange ruht auf dem kühlen Metall, so nahe wie möglich bei ihm und doch eine Ewigkeit entfernt.

Nahe genug für einen Kuss.

»Erzähl mir eine Geschichte«, sagt sie.

Und der Pirat erfüllt ihr den Wunsch.

SÜSSES LEID

Es gibt drei Pfade. Dieser ist einer von ihnen.

Tief unter der Erdoberfläche, fernab von Sonne und Mond, am Ufer des sternenlosen Meers, liegt eine labyrinthartige Ansammlung von Tunneln und Räumen, die voller Geschichten sind. Geschichten, die in Büchern stehen, in Einweckgläsern stecken und an Wände gemalt sind. Oden, die man in Leder geätzt und zu Rosenblättern gepresst hat. Zu Fabeln gelegte Fußbodenfliesen, Plotversatzstücke, abgetragen von darübergehenden Füßen. In Kristall geritzte Legenden, die an Lüstern hängen. Geschichten, die katalogisiert und gehätschelt und verehrt werden. Alte Geschichten, die man aufbewahrt, während ringsherum neue sprießen.

Es ist ein weitläufiger Ort, und doch intim. Seine Ausdehnung lässt sich schwer ermessen. Säle gabeln sich zu Zimmern oder Galerien und Treppen, die nach unten oder nach oben führen, zu Alkoven oder Arkaden. Überall gibt es Türen, die zu weiteren Räumen und weiteren Stockwerken und weiteren, noch zu entdeckenden Geheimnissen führen, und überall gibt es Bücher.

Es ist ein Refugium für Erzähler und Bewahrer und Liebhaber von Geschichten. Hier essen und schlafen und träumen sie, inmitten von Geschichte und Chroniken und Mythen. Manche von ihnen verweilen hier stunden- oder tagelang, bevor sie in die obere Welt zurückkehren, doch andere bleiben Wochen oder Jahre, leben in Gemeinschafts- oder Einzelzimmern und lesen oder studieren oder schreiben, diskutieren oder erschaffen, gemeinsam mit den Mitbewohnern oder allein.

Von denen, die bleiben, entscheiden sich ein paar wenige, ihr Leben diesem Ort, diesem Tempel der Geschichten zu widmen.

Es gibt drei Pfade. Dieser ist einer von ihnen.

Es ist der Pfad des Akolythen.

Wer sich für diesen Pfad entscheidet, muss davor einen ganzen Mondzyklus in innerer Einkehr verbringen. Allgemein herrscht der Glaube, dass es sich dabei um schweigende Einkehr handelt, aber von denen, die sich in das Zimmer mit den Steinmauern sperren lassen, werden einige begreifen, dass niemand sie hören kann. Man kann reden oder brüllen oder kreischen, ohne dabei gegen irgendwelche Regeln zu verstoßen. Die Einkehr halten nur die für stumm, die noch nie in dem Raum gewesen sind.

Wenn die Einkehr vorbei ist, hat man Gelegenheit, den Pfad zu verlassen. Und einen anderen zu wählen – oder gar keinen.

Diejenigen, die diese Zeit schweigend verbringen, entscheiden sich oft dafür, sowohl den Pfad als auch den Ort zu verlassen. Sie kehren zur Oberfläche zurück. Sie blinzeln in die Sonne. Manchmal denken sie noch an die Welt dort unten, der sie sich einst hingeben wollten, doch die Erinnerung ist verschwommen, wie ein Ort in einem Traum.

Viel öfter sind diejenigen, die schreien und weinen und stundenlang Selbstgespräche führen, wenn es Zeit wird, bereit, die Weihe fortzusetzen.

Heute Abend ist Neumond, die Tür geht auf, und dahinter erscheint eine junge Frau, die die meiste Zeit über gesungen hat. Sie ist scheu und das Singen nicht gewöhnt, doch während der Zeit ihrer Einkehr hat sie in der ersten Nacht fast zufällig begriffen, dass niemand sie hören konnte. Sie hat gelacht, teils über sich selbst, teils darüber, wie bizarr es doch ist, dass sie sich in eine so überaus luxuriöse Zelle mit Daunendecke und seidenen Laken hat stecken lassen. Das steinerne Zimmer hat ihr Lachen zurückgeworfen wie Meereswellen.

Sie hat sich den Mund zugehalten und gewartet, ob jemand kommt, aber es kam niemand. Sie hat versucht, sich zu erinnern, ob ihr das Sprechen ausdrücklich verboten wurde.

Sie hat »Hallo?« gesagt, aber nur das Echo hat ihren Gruß erwidert.

Es hat ein paar Tage gedauert, bevor sie den Mut zum Singen fand. Sie hat ihre Singstimme nie gemocht, aber dort in der Gefangenschaft, frei von Scham und Erwartungsdruck, hat sie gesungen, erst leise, dann kühn und frei. Die Stimme, die das Echo zu ihr zurückwarf, war überraschend angenehm.

Sie hat alle Lieder gesungen, die sie kannte, und eigene erfunden. Wenn ihr die Worte nicht einfielen, hat sie sich Fantasiesprachen ausgedacht, um Texte mit Lauten zu dichten, die für sie gut klangen.

Es hat sie verblüfft, wie schnell die Zeit vergangen ist.

Jetzt geht die Tür auf. Der eintretende Akolyth hat einen Schlüsselbund mit Messingschlüsseln in der Hand. Die andere Handfläche hält er ihr hin. Darin liegt eine kleine Metallscheibe, in die eine Biene geprägt ist.

Die Biene anzunehmen ist der nächste Schritt, wenn sie Akolythin werden will. Das ist ihre letzte Chance, Nein zu sagen.

Sie nimmt die Biene aus der Hand des Akolythen. Er verneigt sich und bedeutet ihr, ihm zu folgen.

Die junge Frau, die nun Akolythin werden wird, dreht die warme Metallscheibe zwischen den Fingern, während sie durch schmale, von Kerzen erhellte und Bücherregalen gesäumte Tunnel gehen und durch Höhlen mit zusammengewürfelten Stühlen und Tischen, auf denen hohe Bücherstapel liegen und vereinzelt Statuen stehen. Im Vorbeigehen streichelt sie eine Fuchsstatue, ein gängiger Brauch, der das gemeißelte Fell zwischen ihren Ohren abgeschliffen hat.

Ein älterer Mann, der in einem dicken Buch blättert, blickt auf, als sie vorbeigehen. Er erkennt die Prozession, legt zwei Finger an die Lippen und neigt den Kopf vor ihr.

Vor ihr, nicht vor dem Akolythen, dem sie folgt. Eine Respektsbezeugung für die Position, die sie offiziell noch gar nicht innehat. Sie senkt den Kopf, um ihr Lächeln zu verbergen. Weiter geht es, eine goldene Treppe hinab und durch verschlungene Gänge, die sie bisher nie durchschritten hat. Sie geht langsamer, um sich die Gemälde anzusehen, die zwischen den Bücherregalen hängen, Bilder von Bäumen und Mädchen und Geistern.

Vor einer Tür mit einer goldenen Biene bleibt der Akolyth stehen. Er wählt einen Schlüssel von seinem Bund und schließt die Tür auf.

Hier beginnt die Weihe.

Es ist eine geheime Zeremonie. Die Einzelheiten kennen nur diejenigen, die sich ihr unterwerfen, und diejenigen, die sie durchführen. Solange man sich erinnert, hat sie sich stets auf die gleiche Weise vollzogen.

Als die Tür mit der goldenen Biene offen steht und die Schwelle überschritten ist, nimmt der Akolyth ihr ihren Namen. Welchen Namen diese junge Frau zuvor auch getragen hat, man wird sie nie mehr damit rufen, er bleibt in ihrer Vergangenheit. Vielleicht wird sie irgendwann einen neuen bekommen, aber vorerst ist sie namenlos.

Das Zimmer ist klein und rund und hat eine hohe Decke, eine Miniaturausgabe der Zelle ihrer Einkehr. Auf der einen Seite stehen ein einfacher hölzerner Stuhl und eine halbhohe Säule, auf der eine Feuerschale ruht. Das Feuer ist die einzige Lichtquelle.

Der ältere Akolyth bedeutet der jungen Frau, sich auf den Holzstuhl zu setzen. Sie tut es. Sie blickt zum Feuer und sieht zu, wie die Flammen tanzen, bis man ihr die Augen mit einem schwarzen Seidentuch verbindet.

Ungesehen geht die Zeremonie weiter.

Man nimmt ihr die Metallbiene aus der Hand. Eine kurze Pause, dann hört sie das Klappern von Metallgegenständen und spürt, wie ein Finger auf einen Punkt an ihrem Brustbein drückt. Der Druck verschwindet und wird durch einen scharfen, brennenden Schmerz ersetzt.

(Später wird sie begreifen, dass man die Metallbiene im Feuer erhitzt und ihr das geflügelte Abbild auf die Brust gebrannt hat.)

Sie ist so überrascht, dass sie die Fassung verliert. Innerlich hat sie sich auf das vorbereitet, was sie über den Rest der Zeremonie weiß, aber das hier kommt unerwartet. Ihr wird klar, dass sie noch nie die nackte Brust eines anderen Akolythen gesehen hat.

Wo sie zuvor noch bereit war, ist sie jetzt erschrocken und verunsichert.

Doch sie sagt nicht Halt. Sie sagt nicht Nein.

Sie hat ihre Wahl getroffen, auch wenn sie nicht alles wissen konnte, was diese Wahl mit sich bringt.

Im Dunkeln ziehen fremde Finger ihre Lippen auseinander, und auf ihre Zunge tropft Honig.

Er soll dafür sorgen, dass der letzte Geschmack süß ist.

Doch in Wahrheit ist der letzte Geschmack im Mund eines Akolythen nicht nur Honig: Die Süße geht über in Blut und Metall und verbranntes Fleisch.

Könnte eine Akolythin das Ganze später noch beschreiben, würde sie vielleicht klarstellen, dass der letzte Geschmack, den sie erlebt, der von Honig und Rauch ist.

Er ist nicht gänzlich süß.

Immer wenn sie die Flamme einer Bienenwachskerze löschen, denken sie daran.

Eine Erinnerung an ihre Hingabe.

Doch sprechen können sie nicht darüber.

Sie opfern ihre Zungen freiwillig. Sie geben ihre Fähigkeit zu sprechen hin, um den Stimmen der anderen besser dienen zu können.

Schweigend geloben sie, keine eigenen Geschichten mehr zu erzählen, aus Achtung vor den Geschichten, die davor waren, und denen, die noch folgen werden.

In ihrem honiggetränkten Schmerz glaubt die junge Frau auf dem Stuhl, schreien zu müssen, doch sie tut es nicht. In der Finsternis scheint das Feuer den ganzen Raum auszufüllen, und obwohl ihre Augen verbunden sind, sieht sie Umrisse in den Flammen.

Die Biene auf ihrer Brust flattert.

Als ihre Zunge fort und verbrannt und zu Asche geworden ist, als die Zeremonie vorbei ist und ihr Dienst als Akolythin offiziell beginnt, als ihre Stimme verstummt ist, erwacht ihr Gehör.

Ab da kommen die Geschichten.

SÜSSES LEID

Das Auge täuschen

Der Junge ist der Sohn der Wahrsagerin. Er ist jetzt in einem Alter, in dem er nicht recht weiß, ob das ein Grund zum Stolzsein ist oder etwas, das man besser verschweigen sollte, aber es stimmt nun einmal.

Er geht von der Schule nach Hause, in eine Wohnung über einem Geschäft voller Kristallkugeln und Tarotkarten, Räucherwerk und Götterstatuen mit Tierköpfen und getrocknetem Salbei. (Der Salbeigeruch durchdringt alles, vom Bettzeug bis zu seinen Schnürsenkeln.)

Wie an jedem Schultag nimmt der Junge eine Abkürzung durch eine Gasse, die zur Rückseite des Ladens führt, ein schmaler Durchgang zwischen hohen Backsteinmauern, die oft mit Graffiti übersät sind und dann neu getüncht und abermals mit Graffiti verziert werden.

Heute ist auf den ansonsten weißen Backsteinen statt der fantasievollen Kürzel und Obszönitäten aus Ballonbuchstaben nur ein Kunstwerk zu sehen.

Es ist eine Tür.

Der Junge bleibt stehen. Er rückt die Brille zurecht, um sicher zu sein, dass er erkennt, was ihm sein manchmal unzuverlässiges Sehvermögen hier vermittelt.

Die verschwommenen Umrisse werden scharf, doch es ist immer noch eine Tür. Größer und kunstvoller und eindrucksvoller, als er beim ersten, unscharfen Blick dachte.

Er weiß nicht recht, was er davon halten soll.

Ihre Widersprüchlichkeit fesselt ihn.

Die Tür liegt ganz hinten in der Gasse, in einem schattigen Abschnitt, wo die Sonne nicht hinscheint, aber dennoch sind die Farben satt, mit ein paar metallischen Pigmenten. Filigraner als fast alles, was der Junge bisher an Graffiti gesehen hat. Gemalt in einem Stil, von dem er weiß, dass es dafür eine hochtrabende französische Bezeichnung gibt, irgendetwas mit optischen Täuschungen, doch die Bezeichnung fällt ihm gerade nicht ein.

Entlang der Türränder sind präzise geometrische Muster eingeritzt – nein, aufgemalt –, die Tiefe vortäuschen, wo keine ist. In der Mitte, etwa dort, wo ein Guckloch sein könnte, und mit stilisierten Strichen, die zu der aufgemalten Schnitzerei passen, ist eine Biene. Unter der Biene ist ein Schlüssel, unter dem Schlüssel ein Schwert.

Der goldene, scheinbar dreidimensionale Türknauf schimmert trotz des schwachen Lichts. Darunter befindet sich ein gemaltes Schlüsselloch, so dunkel, dass es eher einem Hohlraum ähnelt, der auf den Schlüssel wartet, als ein paar schwarzen Pinselstrichen.

Die Tür ist seltsam und schön und etwas, für das der Junge keine Worte findet und von dem er nicht weiß, ob es dafür Worte gibt, und seien es hochtrabende französische Namen.

Irgendwo auf der Straße bellt ein unsichtbarer Hund, es klingt seltsam und abstrakt. Die Sonne verschwindet hinter einer Wolke, und die Gasse scheint länger und tiefer und dunkler zu werden, die Tür dagegen heller.

Zögernd streckt der Junge die Hand aus, um die Tür zu berühren.

Der Teil von ihm, der noch an Magie glaubt, erwartet, dass sie trotz der Kälte warm sein wird. Erwartet, dass das Bild den Backstein von Grund auf verwandelt hat. Lässt sein Herz schneller schlagen, noch während sich seine Hand langsamer bewegt, weil der Teil von ihm, der den ersten für kindisch hält, sich gegen die Enttäuschung wappnet.

Seine Fingerspitzen berühren die Tür unterhalb des Schwerts und verharren auf der glatten Farbe über dem kühlen Backstein, wo die leicht ungleichmäßige Oberfläche das darunterliegende Material verrät.

Es ist nur eine Mauer. Nur eine Mauer mit einem schönen Bild.

Dennoch.

Dennoch kann er das Gefühl nicht abschütteln, dass hier mehr ist, als es den Anschein hat.

Er legt die Handfläche auf den bemalten Backstein. Das Braun des falschen Türholzes unterscheidet sich nur um ein, zwei Schattierungen von seiner eigenen Hautfarbe, so als wäre es eigens auf ihn abgestimmt.

Hinter der Tür liegt etwas. Nicht der Raum hinter der Mauer. Etwas Größeres. Er weiß es. Er hat es im Gefühl.

Das hier ist das, was seine Mutter als bedeutsamen Augenblick bezeichnen würde. Ein Augenblick, der alle nachfolgenden Augenblicke verändern wird.

Der Sohn der Wahrsagerin weiß nur, dass die Tür auf eine Art wichtig ist, die er nicht richtig erklären kann, nicht einmal sich selbst.

Ein Junge am Anfang einer Geschichte kann nicht wissen, dass die Geschichte begonnen hat.

Er fährt die gezeichneten Schlüsselumrisse mit den Fingerspitzen nach, voller Staunen, wie sehr der Schlüssel, genau wie das Schwert und die Biene und der Türknauf, den Anschein von Dreidimensionalität erweckt.

Der Junge fragt sich, wer das alles gemalt hat und was es bedeutet, falls es denn etwas bedeutet. Wenn schon nicht die Tür, dann zumindest die Symbole. Ob es ein Zeichen ist und gar keine Tür, oder beides zugleich.

In diesem entscheidenden Moment wird sich alles verändern – wenn der Junge den gemalten Türknauf dreht und die unmögliche Tür öffnet.

Aber er tut es nicht.

Stattdessen schiebt er die Hände in die Hosentaschen.

Ein Teil von ihm kommt zu dem Schluss, dass er sich kindisch aufführt und zu alt ist, um noch zu glauben, dass es im echten Leben so zugeht wie in Büchern. Ein anderer Teil von ihm denkt, dass er nicht enttäuscht werden kann, wenn er es nicht versucht, und weiter daran glauben darf, dass sich die Tür öffnen könnte, obwohl sie nicht echt ist.

Die Hände in den Hosentaschen, steht er da und betrachtet die Tür noch einen Augenblick. Dann geht er.

Am nächsten Tag gewinnt seine Neugier die Oberhand, doch als er zurückkehrt, stellt er fest, dass die Tür übermalt wurde. Die Backsteinwand ist so weiß getüncht, dass er nicht einmal sagen könnte, wo genau die Tür gewesen ist.

Und so kommt es, dass der Sohn der Wahrsagerin den Weg zum sternenlosen Meer nicht findet.

Noch nicht.

Januar 2015

Im Regal einer College-Bibliothek steht ein Buch.

Daran ist zwar nichts Besonderes, aber dieses Buch steht nicht dort, wo es sein sollte.

Das Buch steht irrtümlich in der Abteilung für Belletristik, obwohl es größtenteils wahr und der Rest nur allzu wahr ist. Die Abteilung für Belletristik ist in dieser Bibliothek nicht so gut besucht wie andere Bereiche; ihre Gänge sind schummrig und oft staubig.

Das Buch war eine Spende, Teil einer Sammlung, die deren Vorbesitzer kraft seines letzten Willens und Testaments hinterlassen hat. Die Bücher wurden der Bibliothek zugeführt, gemäß der Dewey-Dezimalklassifikation katalogisiert und an der Rückseite des Einbands innen mit einem Barcode versehen, damit man sie am Schalter scannen und in alle möglichen Richtungen schicken kann.

Dieses spezielle Buch ist nur einmal gescannt worden, nämlich, als es ins Verzeichnis aufgenommen wurde. Ein Verfasser wird nirgendwo im Buch genannt, weshalb es unter »Unbekannt« Eingang ins System fand und anfangs unter dem Buchstaben U gelistet wurde, doch als Folge der Bewegungen anderer Bücher in seiner Umgebung ist es seither kreuz und quer durch das Alphabet gewandert. Hin und wieder wurde es aus dem Regal genommen, betrachtet und wieder zurückgestellt. Sein Einband ist mehrfach gebrochen, und einmal hat sogar ein Professor die ersten paar Seiten gelesen und wollte eigentlich später auf das Buch zurückkommen, aber dann hat er es wieder vergessen.

Niemand hat das Buch je ganz gelesen – nicht, seit es in dieser Bibliothek steht.

Einigen Menschen (auch dem zerstreuten Professor) kam kurz der Gedanke, dass das Buch nicht hierhergehört. Dass es vielleicht eher in einer Spezialsammlung stehen sollte, in einem Raum, für den die Studenten eine schriftliche Erlaubnis brauchen und wo Bibliotheksangestellte sitzen, während die Besucher sich seltene Bücher ansehen, und wo niemand sich einfach ein Buch nehmen kann. Auf diesen Büchern gibt es keine Barcodes. Bei vielen muss man Handschuhe tragen, wenn man sie berührt.

Dieses Buch jedoch bleibt weiter im regulären Bestand. In einem reglosen, hypothetischen Kreislauf.

Das Buch ist in dunkles, weinrotes Leinen gebunden, das gealtert und dessen Farbe verblasst ist. Früher einmal waren goldene Lettern darauf eingeprägt, doch das Gold ist verschwunden, die Buchstaben abgeblättert, sodass nur noch runenähnliche Einkerbungen übrig sind. Wo während einer längeren Zeitspanne zwischen 1984 und 1993 in einem Lager ein dicker Schmöker auf dem Buch lag, ist oben am Einband eine Ecke abgeknickt.

Es ist Januar, ein Monat, den die Studenten das J-Trimester nennen – die Vorlesungen haben noch nicht begonnen, aber man darf wieder auf den Campus, und es gibt Vorträge und studentische Zusammenkünfte und Theaterproben. Ein kleiner Vorlauf nach den Feiertagen, bevor der normale Betrieb wieder losgeht.

Zachary Ezra Rawlins ist zum Lesen auf den Campus gekommen. Ihn plagen deshalb leichte Schuldgefühle, denn eigentlich sollte er die kostbaren Winterstunden nutzen, um zur Vorbereitung seiner Abschlussarbeit Videospiele zu spielen (und sie dann erneut zu spielen und zu analysieren). Doch er verbringt so viel Zeit vor dem Bildschirm, dass ihn das beinahe zwanghafte Bedürfnis treibt, seine Augen auf Papier auszuruhen. Er ruft sich ins Gedächtnis, dass sich die Themen ohnehin oft überschneiden, auch wenn er in Videospielen bei so ziemlich jedem Thema Überschneidungen festgestellt hat.

Das Lesen eines Romans ähnelt, so findet er, einem Spiel, in dem jemand, der darin viel besser ist, einem vorab sämtliche Entscheidungen abgenommen hat. (Auch wenn er sich manchmal wünscht, interaktive Spielbücher würden wieder in Mode kommen.)

Eine ganze Menge Kinderbücher hat er ebenfalls gelesen (oder wieder gelesen), weil ihm die Geschichten darin mehr wie richtige Geschichten vorkommen, auch wenn ihn die leise Sorge quält, es könnte sich dabei um das Symptom einer beginnenden Halbzeit-Midlifecrisis handeln. (Halb rechnet er damit, dass diese Halbzeit-Midlifecrisis pünktlich an seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag einsetzen wird, bis dahin sind es nur noch zwei Monate.)

Die Bibliotheksangestellten hielten ihn für einen Studenten der Literaturwissenschaft, bis eine von ihnen ein Gespräch mit ihm anfing und er sich zu dem Geständnis genötigt fühlte, dass er Neue Medien studiere. Die Undercover-Identität hat ihm sofort gefehlt – eine Tarnung, die er genossen hat, ohne dass es ihm bewusst war. Wahrscheinlich sieht er nach Literaturwissenschaft aus, denkt er, mit seinen viereckigen Brillengläsern und den Zopfpullovern. Zachary hat sich noch nicht richtig an den Winter in Neuengland gewöhnt, schon gar nicht an einen wie in diesem Jahr, mit seinen nicht enden wollenden Schneefällen. Er schützt seinen im Süden aufgewachsenen Körper mit dicken Schichten aus Wolle, hüllt ihn in Schals und wärmt ihn mit Thermoskannen voll heißem Kakao, den er manchmal mit einem Schuss Bourbon aufpeppt.

Der Januar dauert noch zwei Wochen, doch Zachary hat die meisten Kinderbuchklassiker von seiner Leseliste bereits ausgelesen, zumindest die, die diese Bibliothek führt, weshalb er nun Bücher liest, die er schon immer mal lesen wollte, und dazu ein paar andere, willkürlich ausgewählte, in die er zuvor kurz hineingesehen hat.

Das ist zu seinem Morgenritual geworden – sich in der gedämpften Stille zwischen den Bücherregalen seine Lektüre auszusuchen, um anschließend ins Wohnheim zurückzukehren und den ganzen Tag zu lesen. In der Vorhalle mit den Oberlichtfenstern klopft er sich auf der Eingangsmatte den Schnee von den Stiefeln und legt Der Fänger im Roggen und Der Schatten des Windes in das Fach für die Rückgabe, wobei er überlegt, ob es wohl mitten im zweiten Jahr seines Masterstudiums zu spät ist, sich hinsichtlich seines Hauptfachs unsicher zu sein. Aber dann ruft er sich ins Gedächtnis, dass er Neue Medien mag und die Literaturwissenschaft nach fünfeinhalb Jahren inzwischen wohl ebenfalls satthätte. Ein Masterstudium »Lesen«, das wäre es. Ohne Hausarbeiten, ohne Prüfungen, ohne Analysen, einfach nur lesen.

Die Abteilung Belletristik, zu der man zwei Stockwerke nach unten fahren und einen Gang durchqueren muss, in dem zu beiden Seiten gerahmte Lithografien aus der Frühzeit des Campus hängen, ist – wenig überraschend – leer. Die Regale werfen das Geräusch von Zacharys Schritten zurück. Das hier ist ein älterer Teil des Gebäudes, ein Gegenpol zu der hellen Vorhalle hinter dem Eingang. Die Räume sind niedriger, und die Bücher reichen bis zur Decke, das Licht fällt als schwache, scharf umrissene Rechtecke aus Leuchtröhren, die öfter mal durchbrennen, wie häufig sie auch gewechselt werden. Wenn er nach seinem Abschluss jemals genug Geld haben sollte, denkt Zachary, wird er vielleicht dafür spenden, dass die Elektrik in diesem Teil der Bibliothek erneuert wird. Ausreichend Licht zum Lesen, gestiftet von Z. Rawlins, Abschlussjahrgang 2015. Gern geschehen.

Da er seit Neuestem eine Schwäche für Sarah Waters hat, entscheidet er sich für den Buchstaben W, und im Katalog sind zwar mehrere Titel verzeichnet, doch im Regal steht nur Der Besucher, was ihm die Qual der Wahl erspart. Anschließend macht sich Zachary auf die Suche nach Büchern, die für ihn geheimnisvoll sind – Titel, die er nicht kennt, oder Autoren, von denen er noch nie gehört hat. Zunächst hält er nach Büchern Ausschau, deren Buchrücken leer sind.

Er reckt sich nach einem Regalbrett weiter oben, für das ein kleinerer Student vermutlich eine Trittleiter bräuchte, und nimmt ein in weinrotes Leinen gebundenes Buch herunter. Sowohl der Buchrücken als auch die Vorderseite sind leer, weshalb Zachary das Buch aufschlägt und das Titelblatt liest.

Süßes Leid

Er blättert um auf der Suche nach dem Autor, doch als Nächstes folgt sofort der Text. Er blättert bis zum Ende, aber es gibt weder eine Danksagung noch Anmerkungen des Verfassers, nur den Aufkleber mit dem Barcode auf der Innenseite des Umschlags. Er kehrt zum Anfang zurück, findet jedoch kein Copyright, kein Datum, keinen Eintrag über die Auflage.

Das Buch ist offenbar sehr alt, und Zachary weiß kaum etwas über die Geschichte des Buchdrucks oder des Verlagswesens und ob diese Art von Information in Büchern eines bestimmten Alters vielleicht gar nicht enthalten ist. Die fehlende Nennung des Autors irritiert ihn. Vielleicht ist ja eine Seite verloren gegangen, oder es handelt sich um einen Fehldruck. Er blättert in dem Buch und bemerkt, dass einige Seiten fehlen, dass es diverse Lücken gibt und das Papier an manchen Stellen eingerissen ist, aber wo die Titelei sein sollte, ist nichts.

Zachary liest die erste Seite, dann noch eine und noch eine.

Dann flackert die Leuchtröhre über seinem Kopf, die den Abschnitt U bis Z erhellt hat, und geht aus.

Widerstrebend schließt Zachary das Buch und legt es auf Der Besucher. Er klemmt sich beide Bücher sorgsam unter den Arm und kehrt in die helle Vorhalle zurück.

Die studentische Hilfskraft am Schalter, die ihr Haar zu einem Dutt gezwirbelt hat, in dem ein Kugelschreiber steckt, hat ihre Probleme mit dem geheimnisvollen Buch. Der erste Scan schlägt fehl, der nächste zeigt ein vollkommen anderes Buch an.

»Ich glaube, der Barcode ist falsch«, sagt sie. Sie tippt auf ihrer Tastatur herum und blickt mit zusammengekniffenen Augen auf den Monitor. »Kennst du das?«, fragt sie und reicht das Buch dem anderen Bibliotheksangestellten am Schalter, einem mittelalten Mann, der einen hinreißenden grünen Pulli trägt.

Stirnrunzelnd blättert er durch die ersten Seiten. »Kein Verfasser – das ist mal was Neues. Wo stand das?«

»Bei der Belletristik, irgendwo unter W«, antwortet Zachary.

»Sieh vielleicht mal unter ›Anonym‹ nach«, schlägt der Bibliothekar im grünen Pulli vor, gibt seiner Kollegin das Buch zurück und widmet sich dann einer anderen Besucherin.

Die Bibliotheksangestellte tippt erneut auf ihrer Tastatur herum und schüttelt dann den Kopf. »Nichts zu finden«, sagt sie zu Zachary. »Wirklich seltsam.«

»Falls das ein Problem ist …«, beginnt Zachary, doch dann verstummt er, in der Hoffnung, dass sie es ihm einfach so überlassen wird. Schon jetzt verspürt er einen eigenartigen Besitzerinstinkt.

»Ist kein Problem, ich mache einfach einen Vermerk in deinem Account«, sagt sie. Sie gibt etwas in den Computer ein und scannt den Barcode erneut. Dann schiebt sie ihm das verfasserlose Buch zusammen mit Der Besucher und seinem Studentenausweis über den Tresen. »Viel Spaß damit!«, sagt sie fröhlich und wendet sich wieder dem Buch zu, in dem sie gelesen hat, bevor Zachary an den Schalter trat. Irgendetwas von Raymond Chandler, auch wenn er den Titel nicht sehen kann. Im J-Trimester sind die Bibliotheksangestellten, die dann mehr Zeit mit Büchern verbringen können und sich weniger mit erschöpften Studenten und erzürnten Dozenten herumschlagen müssen, irgendwie immer engagierter.

Auf dem eisigen Rückweg zu seinem Wohnheim denkt Zachary über das Buch nach, das er unbedingt weiterlesen will, und über die Frage, wieso es sich nicht im Bibliotheksverzeichnis befindet. Da er schon viele Bücher ausgeliehen hat, hatte er schon einige Male mit Ärgernissen dieser Art zu tun. Manchmal schafft der Scanner es nicht, den Barcode auszulesen, aber in solchen Fällen kann die Bibliotheksangestellte die Nummer manuell eingeben. Er fragt sich, wie sie dort wohl in der Zeit vor dem Scanner zurechtgekommen sind, mit Katalogkarten und kleinen Laschen hinten in den Büchern, in denen die Karten mit den Unterschriften steckten. Es wäre schön, mit seinem Namen zu unterschreiben, statt nur eine Nummer in einem System zu sein.

Zacharys Wohnheim ist ein Backsteingebäude zwischen lauter alten Behausungen von Graduierten, überzogen von totem, schneebedecktem Efeu. Er steigt die vielen Stufen hinauf, zu seinem Zimmer mit den schiefen Wänden und zugigen Fenstern unter dem Dachvorsprung im vierten Stock. Er hat es größtenteils mit Decken ausgelegt und einen tragbaren Heizkörper für den Winter hineingeschmuggelt. An den Wänden hängen dekorative Stoffbehänge, die ihm seine Mutter geschickt hat und die das Zimmer zugegebenermaßen behaglicher machen, auch weil der Salbeigeruch einfach nicht herausgehen will, wie oft er sie auch wäscht. Der Kunststudent nebenan bezeichnet das Zimmer als Höhle, doch es ähnelt eher einem Schlupfloch, jedenfalls, wenn es in Schlupflöchern Magritte-Poster und vier verschiedene Spielkonsolen gäbe. Von der Wand starrt ihn, schwarz wie ein Spiegel, sein Flachbildschirmfernseher an. Er sollte einen Wandbehang darüberwerfen.

Zachary legt die Bücher auf seinen Schreibtisch und verstaut Stiefel und Jacke im Schrank, dann geht er durch den Korridor in die Teeküche, um sich eine Tasse Kakao zu kochen. Während er darauf wartet, dass das Wasser heiß wird, wünscht er, er hätte das weinrote Buch mitgenommen, aber er legt auch Wert darauf, seine Nase nicht ständig in einem Buch zu haben – ein Versuch, zugänglicher zu wirken, von dem er noch nicht recht weiß, ob er funktioniert.

Zurück im Schlupfloch setzt er sich mit seinem Kakao in den Sitzsack, den ihm ein Studienabgänger aus dem letzten Jahr hinterlassen hat. Der Sitzsack war früher mal neongrün, aber Zachary hat einen Wandbehang darübergelegt, der für die Wand zu schwer war und der den Sitzsack unter braunen, grauen und violetten Farbschattierungen verschwinden lässt. Er richtet den Heizkörper auf seine Beine, schlägt Süßes Leid dort auf, wo er wegen der unzuverlässigen Leuchtröhre aufhören musste, und beginnt zu lesen.

Nach ein paar Seiten verändert sich die Geschichte, ohne dass Zachary sagen könnte, ob es sich um einen Roman oder eine Kurzgeschichtensammlung oder vielleicht eine Geschichte in einer Geschichte handelt. Ob sie wohl noch einen Schlenker zum ersten Teil machen wird? Aber dann verändert sie sich erneut.

Zachary Ezra Rawlins’ Hände beginnen zu zittern, denn während der erste Teil des Buchs irgendetwas Romantisches mit einem Piraten behandelt und es im zweiten um eine Zeremonie mit einem Akolythen in einer merkwürdigen unterirdischen Bibliothek geht, ist der dritte Teil völlig anders.

Der dritte Teil handelt von ihm.

Der Junge ist der Sohn der Wahrsagerin.

Nur ein Zufall, denkt er, doch als er weiterliest, passen die Details zu perfekt, als dass es sich um Fiktion handeln könnte. Gut möglich, dass die Schnürsenkel bei vielen Söhnen von Wahrsagerinnen nach Salbei riechen, doch er bezweifelt, dass sie alle auf dem Nachhauseweg von der Schule Abkürzungen durch kleine Gassen nehmen.

Als er zu der Stelle mit der Tür kommt, legt er das Buch weg.

Ihm ist schwindlig. Er steht auf und fürchtet, ohnmächtig zu werden. Vielleicht sollte er lieber das Fenster öffnen, doch stattdessen stößt er die vergessene Tasse Kakao um.

Automatisch geht Zachary durch den Korridor zur Teeküche, um Papiertücher zu holen. Er wischt den Kakao auf und kehrt zurück in die Teeküche, um die klatschnassen Tücher wegzuwerfen. Dann spült er die Tasse im Spülbecken ab. Die Tasse ist an einer Stelle angestoßen, und er weiß nicht, ob das schon vorher so war. Das Echo von Gelächter dringt durch das Treppenhaus zu ihm herauf, fern und hohl.

Zachary kehrt in sein Zimmer zurück und bleibt vor dem Buch stehen. Er betrachtet es, wie es da so harmlos auf dem Sitzsack liegt.

Dann schließt er die Tür ab, was er nur ganz selten tut.

Er nimmt sich das Buch und inspiziert es gründlicher als zuvor. Der Einwand ist oben an der Ecke eingedellt, das Leinen an einigen Stellen dünn. Auf dem Buchrücken finden sich ein paar winzige goldene Sprenkel.

Zachary holt tief Luft und schlägt es erneut auf. Er blättert zurück zu der Stelle, wo er aufgehört hatte, und zwingt sich, die Sätze zu lesen, die genau so weitergehen wie erwartet.

Seine Erinnerung ergänzt die Einzelheiten, die im Text fehlen: dass die untere Hälfte der Wand weiß getüncht ist und wie die Backsteine ab der Mitte wieder rot werden, die Mülltonnen am anderen Ende der Gasse, das Gewicht des Schulrucksacks mit den Büchern, das an seinen Schultern zerrt.

Tausendmal hat er sich an jenen Tag erinnert, aber diesmal ist es anders. Diesmal wird seine Erinnerung von den Wörtern auf dem Papier geleitet, klar und lebendig. Es ist, als wäre das alles gerade erst geschehen und nicht vor über zehn Jahren.

Er sieht die Tür genau vor sich. Die präzise Bemalung. Den Anschein von Dreidimensionalität, den er damals nicht benennen konnte. Die Biene mit den feinen goldenen Streifen. Das Schwert, das nach oben zum Schlüsselloch zeigt.

Doch als Zachary weiterliest, ist da noch mehr als das, woran er sich erinnert.

Er hatte gedacht, nichts könne seltsamer sein, als ein Buch zu finden, das ein längst vergangenes Ereignis aus seinem Leben schildert, von dem er niemals jemandem erzählt hat, über das nie gesprochen, das niemals niedergeschrieben wurde und das sich doch hier als Prosa entfaltet. Aber er hat sich geirrt.

Noch seltsamer ist es, wenn ihm diese Schilderung bestätigt, was er lange vermutet hat: dass man ihm damals, in jener Gasse, vor jener Tür, ein außergewöhnliches Geschenk gemacht hat und er die Gelegenheit ungenutzt verstreichen ließ.

Der Junge am Anfang der Geschichte kann nicht wissen, dass die Geschichte begonnen hat.

Zachary liest die Seite zu Ende und blättert um, in der Erwartung, dass die Geschichte weitergeht, doch das tut sie nicht. Wieder wird die Erzählung zu etwas ganz anderem, zu etwas über ein Puppenhaus. Er blättert weiter durch das Buch, überfliegt die Seiten auf der Suche nach einer Erwähnung des Sohns der Wahrsagerin oder bemalter Türen, doch erfolglos.

Er kehrt zum Anfang zurück und liest noch einmal den Teil über den Jungen. Über sich selbst. Über den Ort hinter der Tür, den er nicht gefunden hat, was auch immer ein sternenloses Meer sein soll. Seine Hände haben aufgehört zu zittern, doch er fühlt sich heiß und benommen. Jetzt fällt ihm ein, dass er das Fenster gar nicht geöffnet hat, aber er kann nicht mit dem Lesen aufhören. Um schärfer zu sehen, schiebt er die Brille auf der Nase nach oben.

Es will ihm einfach nicht in den Kopf. Nicht nur, wie da jemand die Szene so detailliert einfangen konnte, sondern auch, wie sie in diesem Buch stehen kann, das viel älter wirkt als er selbst. Er reibt das Papier zwischen den Fingern, es fühlt sich dick an und spröde, die Ränder sind gelblich, beinahe braun.

Kann das sein, dass jemand ihn vorhergesehen hat, bis hinunter zu seinen Schnürsenkeln? Heißt das, dass auch der Rest davon wahr sein könnte? Und dass es irgendwo, in einer unterirdischen Bibliothek, Akolythen ohne Zunge gibt? Es erscheint ihm nicht fair, dass er der einzig reale Mensch zwischen lauter fiktiven Figuren sein soll, auch wenn er vermutet, dass der Pirat und das Mädchen echt sind. Dennoch, schon die Vorstellung ist so albern, dass er über sich selbst lachen muss.

Er fragt sich, ob er dabei ist, den Verstand zu verlieren. Aber wenn er noch fähig ist, darüber nachzudenken, trifft das vermutlich nicht zu, was ihn nicht sonderlich tröstet.

Er betrachtet die beiden letzten Wörter auf der Seite.

Noch nicht.

Sie schwimmen zwischen den tausend Fragen, die seinen Geist überfluten.

Und dann treibt eine der Fragen an die Oberfläche, ausgelöst von dem wiederholten Bienenmotiv und der Tür, an die er sich erinnert.

Stammt dieses Buch von dort?

Wieder untersucht er das Buch und hält bei dem Barcode inne, der hinten im Einband klebt.

Zachary betrachtet ihn genauer und sieht, dass der Aufkleber eine Beschriftung oder einen Aufdruck verdeckt. Am unteren Rand lugt ein schwarzer Tintenfleck hervor.

Während er den Aufkleber abkratzt, plagen ihn leichte Schuldgefühle. Aber der Barcode hat ohnehin nicht funktioniert und muss vermutlich ersetzt werden. Nicht dass er vorhätte, das Buch zurückzugeben – nicht jetzt. Langsam und vorsichtig zieht er den Aufkleber ab, um das Papier darunter nicht zu beschädigen. Das Etikett löst sich mühelos, und Zachary klebt es an den Rand der Tischplatte, bevor er sich dem zuwendet, was sich darunter befindet.

Es sind keine Wörter, nur eine Reihe von Symbolen, die jemand auf den hinteren Teil des Umschlags gestempelt oder anderweitig aufgebracht hat. Sie sind verschmiert und verblasst, aber gut zu erkennen.

Der freiliegende Tintenfleck ist ein Schwertgriff.

Darüber befindet sich ein Schlüssel.

Und über dem Schlüssel eine Biene.

Zachary Ezra Rawlins starrt auf die Miniaturausgabe der Symbole, die er damals in einer Gasse hinter dem Ladengeschäft seiner Mutter betrachtet hat, und fragt sich, wie er eine Geschichte fortsetzen soll, von der er keine Ahnung hatte, dass er in ihr mitspielt.

SÜSSES LEID

Erdachtes Leben

Es begann als Puppenhaus.

Eine liebevoll erbaute Miniaturwohnstatt, mit höchster Sorgfalt aus Holz und Leim und Farbe gefertigt, um mit viel Hingabe zum Detail eine echte Wohnung nachzubilden. Als das Haus fertig war, wurde es an Kinder verschenkt, die damit spielten, ihren Alltag in versimplizierten Übertreibungen nachstellend.

In dem Haus gibt es Puppen. Eine Familie mit Mutter und Vater, einem Sohn und einer Tochter und einem kleinen Hund. Sie tragen zierliche Nachbildungen von Anzügen und Kleidern. Der Hund hat echtes Fell.

Es gibt hier eine Küche und ein Wohnzimmer und eine Veranda. Schlafzimmer und Treppen und einen Dachboden. Jeder Raum ist mit Möbeln und Miniaturgemälden und klitzekleinen Blumenvasen ausgestattet. Die Tapete ziert ein kompliziertes Muster. Die winzigen Bücher lassen sich aus den Regalen nehmen.

Das Haus hat ein Dach mit hölzernen Schindeln, jede davon kaum größer als ein Daumennagel. Kleine Türen, die sich bewegen und verriegeln lassen. Es gibt einen Schlüssel zu der Eingangstür, hinter der die Zimmer liegen, doch meist bleibt sie verschlossen. Das Leben der Puppen dahinter ist nur durch die Fenster sichtbar.

Das Puppenhaus steht in einem Zimmer dieses Hafens am Sternenlosen Meer. Seine Geschichte ist verschollen. Die Kinder, die einmal mit ihm gespielt haben, sind längst fort und erwachsen. Die Geschichte, wie es in dieses düstere Zimmer an diesem düsteren Ort kam, ist in Vergessenheit geraten.

Es ist nichts Besonderes an dem Haus.

Besonders ist das, was ringsum gewachsen ist.

Was ist schließlich ein Haus ohne seine Umgebung? Ohne einen Garten für den Hund. Ohne einen nörgelnden Nachbarn auf der anderen Straßenseite, überhaupt ohne Straße mit Nachbarn? Ohne Bäume und Pferde und Geschäfte. Ohne einen Hafen. Ein Boot. Eine Stadt am anderen Meeresufer.

All das ist um das Haus herum entstanden. Die erdachte Welt eines Kindes wurde die eines anderen und wieder eines anderen, und immer so weiter, bis es die Welt von allen ist. Verschönert und vergrößert, mit Metall und Papier und Klebstoff. Mit Zahnrädern und Fundstücken und Ton. Weitere Häuser wurden erbaut. Weitere Puppen kamen hinzu. Stapel aus farblich sortierten Büchern dienen als Landschaft. Darüber fliegen Papiervögel. Von oben schweben Heißluftballons herab.

Es gibt hier Berge und Dörfer und Städte, Schlösser und Drachen und schwimmende Ballsäle. Bauernhöfe mit Scheunen und flauschigen Schafen aus Baumwolle. Eine richtige Uhr, aus einer alten Armbanduhr, wacht von einem Turm aus über die Zeit. Es gibt einen Park mit einem See, in dem Enten schwimmen. Einen Strand mit einem Leuchtturm.

Rund um den Wohnraum erstreckt sich die Welt. Es gibt dort Wege, auf denen die Besucher um die Häuser gehen können. Hinter den Gebäuden sieht man schemenhaft etwas, das einst ein Schreibtisch war. Die Wandregale sind jetzt ferne Länder hinter einem Ozean mit Wellen aus sorgfältig gekräuseltem blauen Papier.

Es begann als Puppenhaus. Im Laufe der Zeit ist viel mehr daraus geworden.

Eine Puppenstadt. Eine Puppenwelt. Ein Puppenuniversum.

Das beständig weiter wächst.