Über das Buch:
Konflikte. Jeder hat sie, niemand will sie. Deshalb wollen wir sie schon im Vorfeld verhindern oder möglichst schnell lösen. Genau das ist falsch, sagt Reinhard Sprenger, der als Managementberater und Autor seit Jahrzehnten Themen gegen den Strich bürstet, Kontroversen entfacht und in diesem Buch einen revolutionär neuen Konfliktbegriff entwickelt. In Konflikte gehen wir nur in Erwartung einer gemeinsamen Zukunft, sei es als Paar, unter Freunden, mit unseren Kindern oder am Arbeitsplatz. Der Konflikt sollte keinesfalls gemieden werden, denn er belebt, schafft Zusammenhalt und ermöglicht Fortschritt und Erfolg. Weil uns das tiefe Verständnis für Konflikte fehlt, haben wir nie gelernt, wie wir angemessen im Konfliktfall agieren, was zu tun ist und was zu lassen (z. B. alten Ärger präsentieren). Dieses Buch führt Schritt um Schritt in die Magie des Konflikts und leitet an zum Umdenken: Die Lösung des Konflikts zu tauschen gegen den Konflikt als Lösung.
Über den Autor:
REINHARD K. SPRENGER, geboren 1953 in Essen, hat in Bochum Geschichte, Philosophie, Psychologie, Betriebswirtschaft und Sport studiert. Als Deutschlands profiliertester Managementberater und einer der wichtigsten Vordenker der Wirtschaft berät Reinhard K. Sprenger alle wichtigen Dax-100-Unternehmen. Seine Bücher wurden allesamt zu Bestsellern, sind in viele Sprachen übersetzt und haben die Wirklichkeit in den Unternehmen in 30 Jahren von Grund auf verändert. Zuletzt sind von ihm bei DVA erschienen »Das anständige Unternehmen« (2015) und »Radikal digital« (2018).
Reinhard K. Sprenger
Magie des Konflikts
Warum ihn jeder braucht und
wie er uns weiterbringt
Deutsche Verlags-Anstalt
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Zeichnung: Peter Palm, Berlin
Typografie und Satz: DVA/Andrea Mogwitz
E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-25536-7
V003
www.dva.de
Für Wolfgang Hildesheimer, dessen gedankliche und sprachliche Pluralität mich einst anstiftete.
Heute hätte er einem Buch möglicherweise diese Trigger-Warnung vorangestellt:
Ich möchte Sie warnen, dass Sie folgende Warnung vielleicht gar nicht lesen wollen: Dieses Buch könnte Ideen enthalten, die Sie vielleicht gar nicht lesen wollen.
Vorwort
Teil 1 Klärungen
Konflikte sind Motoren des Lebens
Konflikte vitalisieren Unternehmen
Die Normalität des Konflikts
Individualisierung und kulturelle Unterschiede als Konfliktverstärker
Das »Was« und »Wie« des Konflikts
Es gibt nicht nur eine Vernunft
Alles Denken beginnt mit Konflikten
Das Gemeinsame im Trennenden finden
Zum Konflikt gehören zwei
Gemeinsame Zukunft oder flüchtige Begegnung?
Wann Sie in einen Konflikt einsteigen sollten. Und wann nicht.
Teil 2 Mehrdeutigkeiten
Konflikte entscheiden (I): Schwarz oder weiß?
Konflikte entscheiden (II): Denken Sie Grau!
Konflikte entscheiden (III): Kompromisse
Ambiguitätstoleranz – wie mit Mehrdeutigkeit umgehen?
Tolerieren
Balancieren
»UND« als Metakompetenz
Teil 3 Psycho-soziale Konflikte
Konflikt als Erwartungsdifferenz
Konfliktdämonisierung
Erwartungen und Unterscheidungen
Platons Kugelwesen
Wie der Verstand funktioniert und die Natur sich durchsetzt
Rechthaben
Luxus-Rechthaben: Wenn Sie kein Problem haben
Das Gewinner-Verlierer-Modell
Wahrheit behaupten heißt, einen Konflikt haben
Gefühl als Kalkül
Der Beginn des Konflikts: Unterscheiden und Abwerten
Dreierlei Erwartungen
Erwartungen – festhalten, fallenlassen oder verhandeln?
Fremde Erwartungen
Erwartungen und Enttäuschungen
Beziehung dominiert die Sache
Was sind Sie sich eigen-wert?
Der Kampf um Anerkennung
Spiele um Aufmerksamkeit
Selbstbegegnung
Carl Gustav Jung: Schatten – Eine Übung
Zulassen macht gelassen
Ich sah dich und erkannte mich
Ihr Weg in die Vollständigkeit – Lost and Found
Enneagramm – Die 9 Gesichter des Selbst
Das Ziel des Konflikts
Perspektivwechsel: Both sides now
Both sides now
Die ultimative Konfliktlösung
Konfliktgespräche führen (I): Der richtige Zeitpunkt
Konfliktgespräche führen (II): Rabattmarken fortwerfen
Konfliktgespräche führen (III): Klarheit und Klärung
Konfliktgespräche führen (IV): Die sieben Klärungen
Teil 4 Systemisch-soziale Konflikte
Menschen handeln immer sinnvoll
Ohne Vorteil kein Konflikt
Individualisierung struktureller Konflikte
Der Fall Thomas D. – Eine Übung
Unternehmen als Widerspruchsverarbeiter
Rollenkonflikte
Personalisierung struktureller Entscheidungen
Widerspruchsvernichtung – Sieg als Niederlage
Teil 5 Führung
Widerspruch einführen
Der blinde Fleck der Hierarchie
Was zählt? Ihr Verhalten im Konfliktfall!
Gute Störung: Mobilisierung
Konflikte im digitalen Zeitalter
Germany’s next Superboss: der Konfliktkünstler
Urteilskraft – die Metakompetenz der Zukunft
Zum Schluss: Wie gelingt das Gemeinsame?
Anhang
Ambivalenzen des Sozialen
Literaturverzeichnis
»Das ist er! riefen die beiden Frauen mit einer Stimme und ergriffen den Zauderer. Für eine von ihnen hatte er sich bereits entschieden und nannte sie daher ›Die Lösung‹. Seitdem verfolgte ihn die andere und bedrohte ihn (…). Sie hieß folglich ›Das Problem‹. Aber Lösung und Problem gehörten zusammen wie Auge und Apfel, sie sollten einunddieselbe Frau für ihn sein. (Problem) forderte, daß er Lösung verlasse und sie wähle. Das hätte er tun können, denn Problem war für sich betrachtet anziehend genug. Aber wäre dann Lösung nicht zum Problem geworden? Wie sie beide vereinigen und er durch beide hindurch der Vereinigungsfaktor?«
Botho Strauß
»Den Satz des Widerspruchs zu vernichten ist vielleicht die höchste Aufgabe der höheren Logik.«
Novalis
»Deine Zauber binden wieder / was der Mode Schwert geteilt«
Friedrich Schiller, »An die Freude« (Urtext)
»Magie des Konflikts« – seit Jahren gebe ich ein öffentliches Seminar mit diesem Titel. Oft wurde ich gefragt, wo man den Inhalt nachlesen könne. Nun, hier! Es schien mir dringlich, meine Praxiserfahrungen und Gedanken rund um Konflikte niederzuschreiben. Dies vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Beunruhigung. Die allgemeine Gereiztheit nimmt zu, zivilisierende Filter brechen weg, der Zeitgeist verändert sich – oft Zeit minus Geist.
War im Kalten Krieg die Welt noch klar in Gut und Böse geteilt, so verlaufen die politischen und gesellschaftlichen Konfliktlinien jetzt kreuz und quer durch die westlichen Gesellschaften. Die Frontstellungen haben sich nach innen verlagert und formen dort neue Konfliktmärkte. Auf diesen Märkten handeln wir auch unsere eigenen Konflikte, im Privaten wie im Beruflichen. Das gesellschaftliche Klima umgibt uns und bildet den Hintergrund dafür, wie wir mit unserem Partner, mit Freunden, mit unseren Kindern in Konflikten handeln. Und natürlich prägt es uns besonders am Arbeitsplatz. Zwar sind die Spannungen einer hysterischen Öffentlichkeit in den Unternehmen noch kaum angekommen, aber das könnte sich rasch ändern, wenn wir nicht lernen, Konflikt anders zu begreifen. Dieses Buch macht jedenfalls nicht selbst den Wind, für den sein Autor die Segel setzt.
Im Hintergrund steht die Frage: Wie schaffen wir Zusammenhalt? Wie schaffen wir ein »Wir« – in der Gesellschaft, als Familie, im Unternehmen? Die Antwort dieses Buches lautet:
Der Konflikt ist die Lösung.
Ja, ich weiß, das klingt rätselhaft, aber doch auch verheißungsvoll, nicht wahr? Es geht mir dabei um nicht weniger, als Ihre Wahrnehmung des Konflikts fundamental zu verändern. Auch Ihre Selbstwahrnehmung im Konfliktfall. Egal, ob es um Auseinandersetzungen im Privaten oder am Arbeitsplatz geht – überall gilt es, die tiefgreifenden Vorurteile zu Konflikten zu prüfen, die uns gefangen halten. Vor allem jene Einseitigkeiten, die in Konflikten etwas Negatives, ja Niederziehendes sehen. Denn der Konflikt ist immer schon da – und wird weiterhin da sein. Als System, als Struktur, als Hohlform. Er wartet geradezu darauf, dass wir ihn mit Inhalten füllen. Diese könnten unterschiedlicher kaum sein: Werte, Ehekrach, Ziele, Wettbewerb, Kindererziehung, Familienfehden, Entscheidungen, Fremdgehen, Verhandlungen, Fußballspiele, Meinungsverschiedenheiten, Elternabende, Work-Life-Balance – suchen Sie sich etwas aus.
Dabei wird Konflikt zumeist missverstanden. Es wird nicht gesehen, dass der Konflikt verbindet, was getrennt wurde, vereint, was sich zu sondern drohte. Wie der Zirkustrick von der zersägten Dame: Der Zauberer hat die Illusion der Trennung erzeugt, die Dame war nie wirklich zersägt. Für einen kurzen Augenblick haben wir es geglaubt. Das ist das Magische am Konflikt: In nahezu allen Erscheinungsformen scheint er zu spalten – und fügt doch zusammen, was ich im weiteren Verlauf des Buches zeigen werde. Er ist Teil von jener Kraft, die (manchmal) das Böse will und doch das Gute schafft. Jedenfalls scheint es mir an der Zeit, die Lösung des Konflikts einzutauschen gegen den Konflikt als Lösung.
Halten Sie das für ein Sprachspiel? Für Übertreibung? Provokation? Wenn Ihnen das »Ja, aber …« auf den Lippen liegt oder Sie gerade aktuell unter einem Konflikt leiden, bitte ich um etwas Geduld. Ich will Ihre Skepsis keineswegs vom Tisch wischen. Schon aus eigener Erfahrung nicht. Aber geben Sie mir eine Chance, Konflikt neu zu beschreiben und zu bewerten – als ein Unterwegssein in einer unablässig schwankenden Wirklichkeit. Weil Leben heißt: Widersprüche verwalten – in der Gesellschaft, im Unternehmen, in privaten Beziehungen und in sich selbst.
Um Sie für die Magie des Konflikts zu gewinnen, beginne ich mit einigen grundsätzlichen Aussagen zum Konflikt. Dafür knipse ich verschiedene Lampen an, die den Konflikt in ein neues Licht tauchen. Wie Sie den Konflikt anschauen – das ist entscheidend dafür, wie Sie mit ihm umgehen. Ich hoffe jedenfalls, dass Sie die eine oder andere Beleuchtung er-leuchtet. Danach widme ich mich der Grundbedingung von Konflikten: der Tatsache, dass alles sein Gegenteil in sich trägt, alles einen Pluspol und einen Minuspol hat: die Mehrdeutigkeit der Wirklichkeit, Gegensatz, Ambivalenz – Worte für konfliktäre Uneindeutigkeit. Und damit für Realität. Drittens zeige ich, was mit uns passiert, wenn der Minuspol abgespalten wird: innere Verödung. Und was passiert, wenn wir diese Abspaltung nach außen tragen: psycho-soziale Konflikte. Aber auch, im positiven Fall, wenn wir als Individuen den Weg in die Souveränität gehen. Im vierten Teil schildere ich den Konflikt als Ordnungsprinzip von Organisationen. Ich zeige, dass der Konflikt nicht nur Individuen vitalisiert, sondern auch Unternehmen. Und was passiert, wenn das verkannt wird: systemisch-soziale Konflikte. Im fünften und letzten Teil ziehe ich Konsequenzen für Führungskräfte, den Lückenbüßern der Organisation. Gerade für sie gilt: Der Konsens darf nicht auf Kosten der Zukunft des Unternehmens gehen, der Konflikt nicht auf Kosten der Einheit.
Hinweise, die das Gesagte ergänzen, finden Sie optisch hervorgehoben. Beide Textteile sollen Ihnen Lust machen, mit frischen Augen auf eine Kraft zu schauen, die ertragen werden muss, aber zugleich der Motor unserer Zukunft ist. Letztlich geht es mir darum, Ihnen zu helfen, leichter mit Konflikten umzugehen. Und mit sich selbst.
Mit sich selbst? Ja, gerade Konflikte am Arbeitsplatz bleiben selten dort – wir nehmen sie mit in unsere Familien, Partnerschaften und Freundeskreise. Deshalb sage ich nicht ohne pathetischen Unterton: Ob Ihr Leben gelingt, entscheidet sich im Konflikt! Ob Sie gesund bleiben, entscheidet sich im Konflikt! Ob Sie als Manager erfolgreich sind oder eben nicht, entscheidet sich im Konflikt!
Steile Thesen, mögen Sie denken. Aber was, wenn es stimmt? Beginnen wir mit einigen Klärungen.
Klärungen
Konflikte. Jeder hat sie. Niemand will sie. Deshalb wollen die meisten Menschen sie möglichst weiträumig umfahren. Und wenn das nicht geht, hinter sich bringen. Oder gar lösen. Verständlich. Ist aber etwa so wahrscheinlich wie die Deutsche Meisterschaft für meinen heimatlichen Fußballklub Rot-Weiss-Essen. Mehr noch: schädlich. Wie das?
Gesamtgesellschaftlich hält sich das Vorurteil, dass nur das harmonische Einverständnis der Menschen Zusammenhalt bietet. Konflikt gilt als das Gegenteil von Harmonie und Zusammenhalt, als die Negation des Miteinanders. Man will ihm aus dem Weg gehen oder ihn aus dem Weg schaffen. Das verkennt die magische Doppelwertigkeit von Konflikten.
Natürlich sind Konflikte lästig. Im Grunde will niemand etwas mit Konflikten zu tun haben. Im Extremfall zerstören sie sogar: Eltern-Kind-Beziehungen, Freundschaften und Ehen. Sie zermürben Unternehmen und spalten Nationen. Betrachtet man einige Meter Ratgeberliteratur, dann springt folglich das Vermeiden ins Auge: »Konfliktfrei leben« heißt es da, »Wie man Konflikte löst« und »Konflikte positiv bewältigen«. Diese Titel bezeichnen den Kulturkonsens, die allgemein verpflichtende Lebensweise.
Aber, Hand aufs Herz, ist ein Leben ohne Konflikt wirklich wünschenswert?
Beobachten Sie sich selbst! Sie werden von Konflikten wahrscheinlich ebenso abgestoßen wie angezogen. Man spricht von »dunklen Wolken«, die aufziehen. Aber auch vom »reinigenden Gewitter«, das alles blitzsauber wischt. Manchmal ist der Konflikt ja nicht nur die Lösung, sondern geradezu Erlösung.
Und auch das werden Sie kennen: Wer keine Konflikte hat, ist langweilig. Interessante Geschichten in der Literatur wie im wahren Leben basieren fast immer auf Konflikten. Spannungsverhältnisse sind nicht nur belastend, sondern machen das Leben eben auch – spannend. Eine Zauberwirkung: Lassen Sie den zerstreutesten Zeitgenossen seinen Weg suchen, und er wird unfehlbar wie eine Kompassnadel von einem Konflikt angezogen.
Manche lassen sich von Konflikten geradezu »verhexen«. Oft glaubt man die Menschen kaum wiederzuerkennen, wenn man sie in Konflikten erlebt. Diese Energie! Vergleichen Sie mal zwei Menschen, die heiraten, und zwei, die sich scheiden lassen. Die Frau, die »Keinen Tag länger!« ruft – sie ist nicht dieselbe, die einst das Ja-Wort hauchte. Und der Mann, der »Auf immer und ewig!« beteuerte, ist vielleicht sich selbst ein Fremder geworden. Das sind nicht zwei Menschen, das sind vier. Magisch.
Konflikte sind vor allem dann magisch anziehend, wenn andere ihn haben. Es gibt nicht wenige Menschen, die zwar behaupten, selbst keine Konflikte zu haben, jedoch von zahllosen Konflikten in ihrem Umfeld berichten. Das mag Realitätsausblendung sein. Richtig daran ist: Von den meisten Konflikten sind Sie nicht direkt betroffen. Sie werden Ihnen medial vermittelt. Bequem sitzen Sie in Ihrem Sessel, bekommen die Konflikte mundgerecht serviert, mit Sicherheitsabstand.
Die meiste Zeit also beobachten Sie Konflikte. Sie beobachten, wie andere Menschen andere Menschen beobachten, sie beurteilen und entsprechend handeln. Zeitungen leben davon und Fernsehnachrichten. Ein kurzer Krieg macht bekanntlich bessere Schlagzeilen als ein langer Frieden. Und nichts begeistert den Fernsehzuschauer mehr als die Revolution in einem fernen Land. Ohne Konflikte wären ganze gesellschaftliche Subsysteme gegenstandslos. Das Rechtssystem zum Beispiel, oder die Wehrtechnik. Ebenso: Wahlkämpfe, Demonstrationen, wissenschaftliche Dispute, ja sogar Sportereignisse blieben ohne Resonanz, fehlte ihnen das Hexenkesselige. Opern, Theaterstücke, ein Überangebot an Gegenständen, die Menschen sich ausgedacht haben, um sich gegenseitig zu massakrieren, in den Museen einige Quadratkilometer gemalte Konflikte, die beim Betrachter Schrecken und Mitleid auslösen. Die Marter des heiligen Sebastian, die Verspottung Christi, Perseus kämpft mit der Medusa, der heilige Julian wird enthauptet, Seeschlachten, Gemetzel ohne Ende. Auch die Filmindustrie ist ständig damit befasst, scheußlich-schöne Schrecken hervorzubringen, damit wir unser archaisches Notverhalten nicht vergessen. Wie Platons Höhlenbewohner sind wir gefangen in einem Kino, das uns täglich mit Auseinandersetzungen, Empörungsanlässen und breaking news in Bann schlägt. Und wir werden nicht gefangen gehalten, sondern binden uns selbst, weil wir diese Konflikte als Unterhaltung lieben.
Ich habe daher nur mühevoll der Versuchung widerstanden, alle Bereiche des Lebens als Modifikationen von Konflikt aufzufassen. Auch Vergnügungen und spielerische Lebensaspekte stehen ja, wie gesagt, keineswegs in Opposition dazu. In Konflikten tritt jedenfalls das Grundgewebe unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens exemplarisch zutage. Durch sie und in ihnen erfahren wir mehr über uns und unsere soziale Wirklichkeit.
Wenn wir auf Unternehmen schauen, erkennen wir auch dort den Magnetismus des Konflikts. Einerseits: Konflikte stören Prozesse, Energie wird »innen« gebunden. Wenn Energie nach innen geht, kann sie nicht nach außen gehen, zum Kunden. Zudem machen Konflikte Kollegen zu Gegnern, die dann weiter so tun, als seien sie Kollegen. Produktiv ist das nicht. Und immer kommen Konflikte ungelegen: Man hat Bahnbrechendes vor und zack! – plötzlich hängt der Abteilungssegen schief, weil irgendeine Rüpelvariante eines Kollegen sich nicht im Griff hat. Studien zeigen, dass Manager bis zu 18 Prozent ihrer Arbeitszeit für das Moderieren von Konflikten aufwenden.
Andererseits: Die Attraktion von Konflikten ist auch im Unternehmen riesig. Wenn Sie in einer Organisation ab einer gewissen Größe arbeiten, kennen Sie den Klatsch und Tratsch über Streit zwischen einzelnen Personen, zwischen Abteilungen, zwischen ganzen Organisationsbereichen, die überhaupt nicht »miteinander können« oder gar »zerstritten« sind. Wer gegen wen? Wer hat gewonnen? Wer verloren? Konflikte haben in Unternehmen oft die Qualität von Showspektakeln vor vollem Haus. Der ansonsten routinierte Arbeitsalltag nimmt Fahrt auf. Das hat Tradition: Seit Jahrtausenden versuchen die Menschen der Wiederkehr des Alltäglichen zu entfliehen, egal wohin. Das kann Fest, Abenteuer und Kino sein, das kann eben auch Zwist, Streit und Konflikt sein. Konflikt lässt den Adrenalinspiegel steigen – und alle Lebenszweifel treten in den Hintergrund. Vermutlich werden Sie mir zustimmen: Einen Teil Ihres Gesamteinkommens verdanken Sie dem Unterhaltungswert Ihres Unternehmens. Der wäre dann vergnügungssteuerpflichtig …
Konflikte ziehen also an und stoßen ab. Wer nur die abstoßende Wirkung fühlt, billigt zwar die übliche Dämonisierung, schadet sich aber selbst, weil er etwas ganz Zentrales übersieht: die lebensspendende Funktion von Konflikten.
Mehrdeutigkeiten
»I love managers with one arm and one hand.« – »Why is that?« – »Because I hate managers always saying ›But on the other hand …‹« In den USA schnappte ich diesen Witz auf. Er bringt auf den Punkt, was wir permanent erfahren: Das Leben ist voller Ambivalenzen. Alles ist aufgespannt zwischen Polaritäten, hat einen Pluspol und einen Minuspol, alles trägt sein Gegenteil in sich: kein Einatmen ohne Ausatmen, keine Nähe ohne Ferne, kein Berg ohne Tal. Auf den Tag mit seiner Helligkeit folgt zuverlässig die Nacht mit ihrer Dunkelheit. In uns selbst erleben wir Polaritäten oft als »innere Zerrissenheit«: Man will in die Alpen, aber am Meer ist es genau so schön. Man will als Vater mal allein sein, aber nach zwei Tagen vermisst man die Kinder. Man schuldet jemandem Treue, aber will sich auch selbst treu sein. Man kann nicht ohne den Partner leben, aber irgendwie auch nicht mit ihm. Selbst die glühendste Leidenschaft verlangt irgendwann Abkühlung, die schönste Harmonie irgendwann eine Störung. Und nicht im Bleiben konturiert sich eine Person, sondern im Kommen und Gehen. Das kann melancholisch machen. Wenn Sie im Bus aus Höflichkeit für eine alte Dame aufstehen, kann das als respektlos wahrgenommen werden – wenn die Dame sich jung und rüstig fühlt. Wenn Sie aus München kommen und gefragt werden »Woher kommen Sie?«, dann signalisiert das Interesse; sollten Sie aus Bottrop kommen, ist diese Frage eine Mikroaggression.
Auch moralisch gesehen ist das Leben wankelmütig. Man will ein guter Mensch sein und scheitert doch immer wieder an den eigenen Ansprüchen; man ist und bleibt ein Anstandshochstapler. Ebenso hat das In-sich-Gekehrte aller Doppelbegabten seinen Ursprung in der Ambivalenz – sie wissen ein Leben lang nicht, was für sie richtig ist. Die Entscheidung für das eine war eine Entscheidung gegen das andere und wird somit immer falsch gewesen sein.
Am Arbeitsplatz erfahren wir die gleichen Spannungen: Kommt es Ihnen oft so vor, dass Sie es niemandem recht machen können, egal was Sie tun? Vor allem sich selbst nicht? Wie Sie es auch drehen und wenden? Fühlen Sie sich manchmal ganz krank wegen der widersprüchlichen Anforderungen? Weil Sie zwischen allen Stühlen sitzen? Weil Sie zwischen Pest oder Cholera entscheiden müssen? Handeln Sie als Mitarbeiter Ihres Unternehmens manchmal so, wie Sie es unter Freunden oder als Vater/Mutter Ihrer Kinder niemals gutheißen würden? Fällt es Ihnen unter diesen Umständen schwer, Ihre gute Laune zu behalten? Nicht zynisch zu werden? Nicht spaltungsirre?
Wenn Sie Führungskraft sind, spitzen sich die Dilemmata noch zu. Man konfrontiert Sie mit Forderungen und Geboten, die sich oft widersprechen: Sie müssen alles verändern! Sie müssen digitaler werden! Handeln wie ein Start-up! Gleichzeitig auch: Sie müssen wachsen! Stillstand ist Rückschritt! Sowie: Sie müssen profitabler sein! Kosten senken und möglichst schnell produzieren, aber die Qualität darf nicht leiden! Aber: Seien Sie korrekt! Moralisch makellos. Diversity! Compliance! Code of Conduct! Hinzu kommen viele »weiche« Soll-Botschaften: Sie sollen fachlich vorn mit dabei sein, und auch charakterlich ein Vorbild. Sie sollen Ihren Mitarbeitern vertrauen und sie gleichzeitig kontrollieren. Sie sollen Ergebnisse liefern, aber genügend Freiraum lassen. Sie sollen in lockeren Socken Ihre Leute coachen, und sich zugleich von Schwachleistern trennen. Sie sollen sich mit der Aufgabe identifizieren und dennoch Sie selbst bleiben. Authentisch natürlich. Nach außen ein Wolf und nach innen ein Lamm. Sie sollen Verantwortung übernehmen und Verantwortung abgeben. Sie sollen motivieren, wertschätzen, fördern, respektvoll sein, immer ansprechbar, empathisch, klug, kreativ, teamorientiert, durchsetzungsstark und vor allem – erfolgreich. Dauernd. Will da noch jemand Chef sein?
Aber auch als Vater oder Mutter erleben Sie täglich die Mehrdeutigkeit Ihres Elternseins: Sie sollen verständnisvoll und langmütig sein – obwohl Klarheit und Konsequenz vermutlich ein besseres Erziehungsergebnis hervorbrächte. Sie wollen jeden Schritt Ihrer Kinder begleiten, möchten aber auf keinen Fall sich später vorwerfen lassen, dass Sie als Helikopter-Eltern die Selbstständigkeit Ihres Nachwuchses verhindert hätten. Und wie wollen Sie die verschiedenen zeitlichen Ansprüche unter einen Hut kriegen? Wie können Sie allen gerecht werden? Und sich selbst dabei nicht aus den Augen verlieren? Wie oft bringen Sie Ihre Kinder ins Bett? Lassen sich Zeit dabei? Schaffen eine ruhige, schöne Atmosphäre? Wie oft lesen Sie ihnen noch eine Gute-Nacht-Geschichte vor? Wo doch die Präsentation für morgen vorbereitet werden muss? Grundsätzlicher noch: Sie wollen Ihre Kinder zu Freiheitswesen erziehen, wissen aber, dass Erziehung immer den Entzug von Freiheit voraussetzt. In ihrem furiosem Essay Lebenswerk. Über das Mutterwerden zersägt Rachel Cusk den bigotten Kult um die Mutterschaft und ersetzt ihn durch Widersprüchlichkeit: Liebe und Enttäuschung, Härte und Zartheit, Innigkeit und Selbstverlust unter der Herrschaft eines schreienden kleinen Tyrannen – eine Widersprüchlichkeit, die Mütter bis zur Stunde ihres Todes in sich tragen.
All diese Beispiele zeigen: Wir sind aus dem Paradies der Eindeutigkeit vertrieben. Schwimmen in einem Meer von Gegensätzen. Diese haben die Form von Dilemmata, Widersprüchen, Ambiguitäten, Paradoxien – Begriffe, die auf konfliktäre Spannungen hinweisen.
> siehe Kasten: Mehrdeutigkeiten
Paradoxerweise ist es der Sinn dieser Gegensätze, überhaupt etwas zu erleben. Wir wüssten nichts vom Paradies, wären wir nicht daraus vertrieben worden. Das ist der Schlüssel zu Realität, ohne ihn kann die Welt nicht begriffen werden. Es gäbe einfach keine Aussage, die einen Unterschied machte. Man könnte sie gegen nichts absetzen, um sie zu verstehen. Keine Beschränktheit kann deshalb größer sein als Grenzenlosigkeit.
Für den Zweck dieses Buches kann ich den fundamentalen Gegensatz so formulieren:
Der Konflikt ist Mehrdeutigkeit.
Mehrdeutigkeit ist das Wesen des Konflikts, seine Grundbeschaffenheit. Aber auch seine Ursache: Eine Situation enthält Alternativen; diese werden unterschiedlich wahrgenommen und bewertet. Von Ihnen selbst und/oder von anderen. Und genau diese Wahrnehmungen und Bewertungen stehen in Konkurrenz. Dann haben Sie einen Konflikt – mit sich selbst und/oder mit anderen. Und Sie spüren den Druck, dass die Alternativen in bestimmten Situationen entschieden werden müssen. Das ist etwas anderes, als den Grund-Konflikt lösen zu können! Weil die Mehrdeutigkeit erhalten bleibt – unabhängig von Ihrer situativen Entscheidung. Durch die Entscheidung wird lediglich der Zustand der inneren Zerrissenheit kurzfristig beendet. Jedoch nicht immer endgültig. Denn die Entscheidung kann unter veränderten Umständen zur Wiedervorlage kommen. Das ist sogar mehr als wahrscheinlich. Dann muss neu entschieden werden. Möglich ist allerdings auch die Verweigerung der Entscheidung. Was wiederum eine Entscheidung ist.
Damit spiegeln ambivalente Inhalte die Doppelwertigkeit des Konflikts. Nicht nur der Konflikt ist ambivalent (Plus/Minus) – die Inhalte selbst sind es auch. Der Konflikt entwirft die Welt mithin als doppelte Doppelwertigkeit. Das macht manchen Konflikt extrem komplex.
Nehmen wir ein Beispiel: Ein Kind kommt ins Krankenhaus. Um es zuzuspitzen: Ihr Kind. Blinddarmentzündung. Häufig kann man dieses Krankheitsbild mit Antibiotika erfolgreich bekämpfen. Ohne Operation. Stattdessen aber regelmäßige Untersuchungen, tägliche Blutkontrollen, häufige Ultraschallaufnahmen. Aufwendige Medizin. Manchmal ist eine Operation unumgänglich, aber nicht immer. Was tun? Keine einfache Entscheidung für Ärzte, schon rein medizinisch. Hinzu kommen nicht-medizinische Aspekte: Eine Operation wäre für die Klinik profitabler. Deshalb werden Ärzte von der Krankenhausleitung daran erinnert, dass ein Krankenhaus auch ein ökonomischer Betrieb ist. Dass es Diagnosen gibt, die deutlich ertragreicher für die Klinik sind. Es gibt sogar Zielvereinbarungen mit den Ärzten – in der Erwartung, die Patientenzahlen zu erhöhen. Zu erhöhen! Auch gälte es bei Krankenhausaufenthalten sogenannte Grenzverweildauern zu beachten, die weder über- noch unterschritten werden dürften. Weil sonst die Kassen nicht zahlen. Auch die Definition eines »Falls« wird von nicht-medizinischen Erwägungen beeinflusst: Es gibt für einen Krankenhausaufenthalt eben nur das Geld, dass dem jeweiligen Fall zusteht. Die doppelte Doppeldeutigkeit dieser Situation liegt auf der Hand: Die Medizin darf nicht das Vertrauen der Patienten verlieren; deshalb dürften ärztliche Entscheidungen keinesfalls von nicht-medizinischen Weisungen beeinflusst werden. Sagen die Mediziner (die aber auch verdienen wollen). Die kaufmännische Leitung will ein profitables Krankenhaus und vor dem Hintergrund explodierender Gesundheitskosten das Vertrauen der Krankenkassen nicht verspielen. Das Ganze vor dem Hintergrund eines Gesundheitsbegriffs, dem man den Warencharakter abspricht; Gesundheit sei ein absoluter Wert. Andererseits türmt sich über dem so definierten Gesundheitsbegriff ein ökonomisches System, für das jeder Bürger Verantwortung trägt, das jedoch von vielen Interessen ausgebeutet wird.
Versucht man diese Gemengelage in ein Portfolio zu übersetzen, dann sieht das in etwa so aus:
AMBIVALENZ |
Kaufmännischer Dienst |
profitable Klinik |
Krankenkassen-Vertrauen |
Medizinischer Dienst |
teure Therapie |
Patienten-Vertrauen |
|
Minus |
Plus |
||
KONFLIKT |
Wenden wir dieselbe Methode für die Leitunterscheidung »zentral/dezentral« an, die viele Unternehmen umtreibt:
AMBIVALENZ |
dezentral |
teuer |
kundennah |
zentral |
starr |
effizient |
|
Minus |
Plus |
||
KONFLIKT |
Oder für die Leitunterscheidung »Freiheit/Zwang«:
AMBIVALENZ |
Freiheit |
orientierungslos |
eigeninitiativ |
Zwang |
ohnmächtig |
bequem |
|
Minus |
Plus |
||
KONFLIKT |
Alle diese Konflikte drängen zur Entscheidung. Wenden wir uns nun den verschiedenen Formen der Entscheidung zu.
Psycho-soziale Konflikte
Konflikt entsteht dadurch, dass die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte. Was ist, ist offenbar ungenügend, verfehlt, ein Schadensgebiet. Auch die Menschen: irgendwie defizitär. Sie sind ja bunt und friedlich – wenn man nichts von ihnen will! Sobald man etwas von ihnen will, wird ihr Anderssein zum Problem: Sehen, dran drehen. »Wäre der andere doch eher wie ich und alles wäre gut.« Dann prallt das Wollen des einen auf das Sosein des anderen – und wird zu dessen Sollen. Die Botschaft: »So, wie du bist, bist du nicht in Ordnung.« Die Gestaltgeste des Konflikts ist also das Sich-Ausdehnen auf das Anderssein des anderen.
Daher hier eine erste, allgemeine Annäherung an eine psycho-soziale Konflikt-Definition:
Konflikt resultiert aus dem Schmerz, dass andere anderes wollen.
Wer diesen Schmerz nicht spürt, hat keinen Konflikt. Umgekehrt gilt ebenso: Wer keinen Konflikt hat, ist entweder Zen-buddhistisch erleuchtet oder unfähig, Schmerz zu empfinden.
Aber der Konflikt hat viele Gesichter. Bei Licht betrachtet stimmt die obige Definition zwar häufig, aber keineswegs in jedem Fall. Man könnte auch so formulieren: Konflikt resultiert aus dem Schmerz, dass andere dasselbe wollen. Dass ein knappes Gut begehrt wird. Der Konflikt trägt dann die Hülle der Konkurrenz, des Wettbewerbs, der Rivalität.
Eine operativere Antwort hängt davon ab, ob man noch einen Schritt zurücktritt und zunächst den intrapsychischen Konflikt betrachtet. Auch dieser kommt in vielen Farben: »Should I stay or should I go?«, 1981 veröffentlicht von The Clash, einer der größten Rocksongs aller Zeiten. Oder der Tragödienkonflikt zwischen Pflicht und Neigung; klassisch vorgeführt von Friedrich Dürrenmatt in Die Physiker. Auch das Zerrissensein zwischen Vernunft und Leidenschaft, zwischen Charlotte und Ottilie, was Eduard in Goethes Wahlverwandtschaften verzweifeln lässt. Oder die große Karrierechance in der Großstadt auf der einen Seite, aufregend und stressig; das eher bescheidene Berufsleben in der Provinz auf der anderen, beschaulich und vorhersehbar.
Das Gemeinsame an diesen Beispielen: Intrapsychische Konflikte sind Denk- und Fühlprozesse, die gleichsam »in« einer Person ablaufen und dort zur Entscheidung drängen. Sie haben häufig, jedoch nicht immer, soziale Konsequenzen. Dann werden sie zu psycho-sozialen Konflikten.
Sobald Sie nach Beispielen für psycho-soziale Konflikte suchen (die das Intrapsychische spiegeln), fallen Ihnen wahrscheinlich sofort etliche ein: zwischen Ehepartnern, Eltern und Kindern, Familienclans, Nachbarn, im Freundeskreis, zwischen verfeindeten Fußball-Fanklubs, gesellschaftlichen Gruppen, ganzen Völkern. Forscht man in der Fachliteratur nach einer Definition, der man den Rang einer gewissen Allgemeingültigkeit zusprechen könnte, kommt man jedoch zu keinem Ergebnis. Daher verwendete ich bisher, um über solche Konflikte sprechen zu können, die ebenso kurze wie lebenserfahrene Formel: Ich will, sie/er nicht.
Diese Verkürzung fanden nicht alle Menschen lustig. Da kam mir der Soziologe Niklas Luhmann zur Hilfe. Er gab 1993 zu bedenken, dass man bei einem »Nein« noch keinen Konflikt hat. Konkret: Eine Meinungsverschiedenheit ist noch kein Konflikt. Erst wenn derjenige, der »Ich will« sagt, ein »Nein« nicht akzeptiert, also mit einem Gegen-Nein antwortet, erst dann gibt es einen Konflikt. Wenn zum Beispiel Vorstand A sagt: »Lasst uns Investition X verfolgen« und Vorstand B sagt: »Ich meine, wir müssen auf die Kostenbremse treten«, gibt es keinen Konflikt. Vorstand A hat in jedem Augenblick die Wahl, die Argumente von Vorstand B anzuerkennen und sich überzeugen zu lassen. Oder umgekehrt. Nur wenn einer der Vorstände an seiner Position festhält, heben sich die Lanzen.
Noch einmal, weil es für mich ein zentraler Gedanke und für Ihre Handlungsoptionen wichtig ist: Niemand zwingt Sie, einen Konflikt entstehen zu lassen. Konflikt ist Ihre freie Entscheidung! Ebenso können Sie gemeinsam nach einer dritten Option suchen. Es ist ja egal, ob das Glas halbvoll oder halbleer ist – solange noch ein paar Flaschen im Kühlschrank sind.
Systemisch-soziale Konflikte
Wie kommen Konflikte zustande? Welche Einflüsse prägen das Konfliktverhalten? Warum verhalten sich Menschen in Konflikten so und nicht anders?
Wir sind es gewohnt (und haben es in diesem Buch bisher getan), die Antwort auf diese Fragen im Individuum zu suchen. Wir sprechen dann von »Charakter« und »Persönlichkeit«, diskutieren über innere Einstellung, Veranlagung, Fähigkeiten, Erziehung und Vorbilder. Derjenige, der uns diese Weltsicht auf magische Weise, weil unendlich einflussreich vermittelt hat, war Sigmund Freud. Sein Ansatz war personenzentrisch: Verhalten erklärt sich »von innen«. Verhält sich jemand konfliktär, dann ist das äußerer Ausdruck intrapsychischer Prozesse. Mitunter therapiebedürftig. Die Diagnosen lauten dann etwa: »Harte Kindheit!«, »Klarer Fall von Napoleon-Komplex!« oder »Typisch Burgenländer (wahlweise Aargauer, Ostfriese)!«.
Eine andere Perspektive bietet die Systemtheorie, die ein anderer Magier begründet hat: der Soziologe Niklas Luhmann. Die Systemtheorie betont die Tatsache, dass wir Menschen keine Inseln sind. Dass wir keineswegs nur von innen heraus agieren, sondern vor allem aufeinander reagieren. Wir handeln ja nicht immer gleich, sondern werden von anderen Menschen in bestimmten Situationen beeinflusst. Manchmal ver-zaubert, manchmal be-zaubert, manchmal geradezu verwandelt. Menschliches Verhalten ist somit das Ergebnis sozialer Prozesse. Daraus resultiert die Frage: Wie reagieren Menschen auf Umstände, in denen sie leben?
Das gilt auch für Konflikte: Zwei Mitarbeiter können reibungslos zusammenarbeiten, dann kommt ein dritter hinzu, und plötzlich funktioniert nichts mehr – ein System, das im Gleichgewicht war, wurde gestört.
Die Systemtheorie beleuchtet daher nicht ein isoliertes Individuum, sondern das, was »zwischen« Menschen stattfindet. Sie spekuliert nicht über die »innere« Psychodynamik des Einzelnen, sondern betrachtet das »Außen«, das beobachtbare Verhalten. Dieses Verhalten des Einzelnen hängt wiederum vom Verhalten anderer ab, die ihre Entscheidungen aufeinander abstimmen. Kurz: Menschen passen sich einander an.
Ich will Ihnen das an einigen Beispielen verdeutlichen: Sie gehen in eine Kirche, automatisch senken Sie die Stimme. Warum? Die anderen tun es auch. Wenn Sie es nicht tun, sorgt das System schon dafür: Irgendwann legt sich eine Hand auf Ihre Schulter. Wenn Sie aber auf ein Börsenparkett gehen, tun Sie das Gegenteil: Reflexhaft fangen Sie an zu brüllen. Warum? Die anderen tun es auch. Wenn nicht, sorgt das System schon dafür: Nur mit lauter Stimme werden Sie gehört, generieren Sie Umsatz. Denken Sie auch daran, wie Sitzordnungen soziale Beziehungen definieren – im Konferenzraum, am Familientisch, im Gerichtssaal. Oder: Sie unterhalten sich auf einem Fest angeregt mit einem Menschen, das Gespräch fließt, Sie fühlen sich wohl. Zehn Minuten später stehen Sie neben einem anderen Menschen, und alles in Ihnen gefriert: »Wo ist hier der Notausgang?« Sie sind derselbe Mensch, und doch – bezogen auf unterschiedliche Gesprächspartner – jeweils ein anderer. Sie sind ja auch eine bessere Ausgabe Ihrer selbst, wenn Sie mit freundlichen Menschen oder guten Freunden zusammen sind. Diese Erfahrung mache ich immer wieder in den USA, wo die Menschen offener, herzlicher, hilfsbereiter sind als hierzulande, sich wechselseitig ermutigen und jeden Unbekannten sofort ins Gespräch ziehen: Ich werde selbst freundlicher. Schauen Sie auch auf den Fußballspieler, der vor dem Tor dem besser stehenden Mitspieler das Zuspiel verweigert, selbst abzieht, den Ball hoch über die Querlatte drischt – er handelt nur konsequent, wenn der Trainer sich in einem Interview der Stadionzeitung vernehmen ließ: »Stürmer werden nun mal an Toren gemessen.« Es wäre naiv, dem Spieler einen Vortrag über Teamgeist zu halten. Im Unternehmen: Der neu ernannte Verantwortliche für Digitalisierung muss erleben, dass seine Kollegen ihre Verantwortung für digitale Serviceleistungen an die neue »Stelle« abtreten. Das Angebot schafft sich eine Nachfrage.
Oder eben dieses Beispiel aus meinem Privatleben, das ich für besonders illustrativ halte: Meine beiden Söhne hatten als etwa 8- und 10-Jährige die Neigung zum 24-stündigen Dauerstreit. Keine Gelegenheit ließen sie aus, sich hingebungsvoll zu malträtieren. Interessant war: In dem Augenblick, in dem sie wahrnahmen, dass ich sie dabei beobachtete, änderten sie ihren Aggregatzustand in Sekundenschnelle. Aus Tätern, die lustvoll immer neue Gemeinheiten ersannen, wurden Opfer, die beide angerannt kamen und sich wechselseitig übereinander beschwerten. Als Vater war ich offenbar eine Institution, die zum Sich-Beschweren einlud. Logischerweise beschuldigte ich beide des Petzens. Ich hielt dabei ihr Verhalten für ein Persönlichkeitsdefizit. Lange Zeit sah ich nicht, dass ich durch mein Beobachten das Petzen erst erzeugt hatte – ein Verhalten, was ich nur zu beobachten meinte. Ich rechnete mich gleichsam aus der Situation heraus, schaute lediglich auf die Kinder, aber nicht auf mich. Dabei hatte – wie in einer Versuchsanordnung – meine Anwesenheit die Verhaltensweisen der beiden verändert. Und jetzt tauschen Sie mich aus und setzen sich selbst ein …
Die Systemtheorie schaut also nüchtern auf die Prägekraft von Institutionen, die bestimmte Verhaltensweisen von Menschen wahrscheinlich oder unwahrscheinlich machen. Ihre Familie, Ihre Verwandtschaft, Ihr Freundeskreis, Ihre Arbeitskollegen, Ihr Unternehmen – sie alle bilden Systeme, innerhalb derer alle Teile/Personen aufeinander reagieren. Das kann man am besten so illustrieren:
Aus diesem Bild resultiert eine der lebenspraktischsten Fragen, die ich in Konfliktsituationen kenne:
Was tragen Sie dazu bei, dass der andere sich so verhält, wie er sich verhält?
Was genau Sie beitragen, das ist oft auf den ersten Blick nicht sofort sichtbar. Aber dass Sie beitragen – da können Sie sicher sein. Sie mögen nicht für den gesamten Konfliktverlauf verantwortlich sein, aber Sie haben ihn zweifellos beeinflusst. Daraus resultiert: Schauen Sie nicht auf Ihren Kontrahenten, sondern auf sich selbst. Nach dieser Logik kann jeder Konfliktpartner seine eigenen Verhaltensweisen prüfen: »Warum passt der andere sich in dieser Weise an mich an? Wieso erscheint ihm dieses Handeln zielführend?« Sie prüfen dadurch nüchtern die Funktion von Verhaltensweisen im System. Der eigenen wie der fremden.
Nehmen Sie exemplarisch einen Konflikt, der daraus resultiert, dass Probleme verschwiegen werden. Wenn Sie das Verhalten eines Menschen am systemischen Kältepol betrachten, dann heißt »Probleme verschweigen«: Der Rechtfertigungsdruck ist zu hoch; man steht unter Anklage. Sie spekulieren dann nicht mehr über die Psychodynamik des anderen (»Feige Socke!«), sondern anerkennen sein Verhalten sachlich als Anpassung an institutionelle Bedingungen. Das kann auch heißen: als Anpassung an Sie! Außer in Ausnahmefällen sind die Verhaltensweisen der Konfliktpartner zirkulär. Sie bedingen einander wechselseitig. Wie oft schon habe ich dieses Muster erlebt:
Wenn du nicht so drücken würdest, müsste ich nicht so drücken.
Das bisher Gesagte ist leicht missverständlich. Es geht nicht darum, sich selbst die »Schuld« zu geben. Es geht auch nicht um »Wer hat angefangen?«. Es geht darum, zu prüfen, was Sie selbst beigetragen haben. Denn irgendetwas haben Sie beigetragen – willentlich oder unwillentlich. Schon Ihre bare Existenz, wie im obigen Beispiel meiner streitenden Söhne gezeigt, fügt etwas hinzu, in dem Fall den beobachtenden Vater, und erzeugt eine Reaktion. Sie können also den Beleuchtungskegel drehen und sich selbst anschauen.
Spannend ist diese Selbstbetrachtung in allen privaten Konfliktsituationen, vor allem aber in der Rolle als Führungskraft. Denn als Führungskraft sind Sie eine Institution. Aus Sicht Ihres Mitarbeiters sind Sie ja nicht Frau Dr. Meier oder Herr Müller, nicht der Lars oder die Maria, sondern Sie repräsentieren vor allem den institutionellen Rahmen des Unternehmens (auch wenn das nicht immer fair ist). Und daran passen sich Mitarbeiter an. Der Chef beobachtet dann die Anpassung des Mitarbeiters an die Tatsache des Beobachtetwerdens. Das schlummert aber meist im toten Winkel der Selbstbeobachtung des Chefs. Weshalb man den Beobachter beim Beobachten beobachten sollte …
Führung
Warum gibt es Organisationen? Ohne lange Umschweife: Organisationen gibt es, weil es zu viele Möglichkeiten gibt. Deshalb wird »organisiert«, werden einige Optionen ausgeschlossen. Das sichert den Fokus und senkt Transaktionskosten.
Wenn aber, so mögen Sie fragen, durch das Organisieren alles in schöner Ordnung ist, warum gibt es dann Führungskräfte? Eben weil nicht alles geregelt werden kann. Es gibt Widersprüche, Paradoxien, Überraschungen und Abweichungen vom gewohnten oder geplanten Gang der Dinge. Nicht alles kann die Organisation für jeden Fall vor-entscheiden. Insbesondere der Markt steht niemals still. Er hat eine nicht vorhersehbare Eigenlogik, die sich jeder Kontrolle entzieht. Organisation kommt daher immer zu spät. Und genau dort ist Ihr Einsatzpunkt als Führungskraft. Deshalb müssen Sie »einspringen«.