Die Welt vor 40 000 Jahren. Ein besonders strenger Winter hat die letzte Sippe der Neandertaler hart getroffen, nur wenige haben überlebt. Unter ihnen auch »Mädchen«, die älteste Tochter. Nun bricht die Familie auf zu dem jährlichen Treffen, um einen geeigneten Partner zu finden. Doch die raue und unwirtliche Natur fordert ihren Tribut. Mädchen und »Mickerling«, ein Bastard ungewisser Herkunft, bleiben allein zurück. Als die Zeit der Winterstürme naht, erkennt Mädchen, dass es nur eine Möglichkeit gibt, ihr Leben zu retten. In der Jetztzeit arbeitet die schwangere Archäologin Rosamund fieberhaft daran, neue Neandertal-Artefakte zu bergen, bevor ihr Kind auf die Welt kommt. Über Jahrtausende verbunden durch gemeinsame urweibliche Erfahrungen geht die Geschichte beider Frauen zentralen Themen im Leben aller Frauen auf den Grund.
CLAIRE CAMERON, geboren 1973, ist eine preisgekrönte kanadische Schriftstellerin und Journalistin. Ihre Romane sind in ihrer Heimat Nummer-1-Bestseller und begeistern Lesepublikum wie Kritik gleichermaßen. Ihre Texte erschienen u. a. in der New York Times und in The Globe and Mail. Cameron lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen in Toronto.
Claire Cameron
NEANDER
TAL
Roman
Aus dem Englischen
von Marie Rahn
Unsere Handlungen aus der Vergangenheit begleiten uns, und was wir waren, macht uns zu dem, was wir sind.
George Eliot, Middlemarch
Über Unterschiede dachten sie kaum nach.
Es gab einen guten Grund dafür, denn sie lebten in kleinen Familienverbänden und verbrachten jeden Tag mit Menschen, die ihnen ähnlich waren. Die anderen, mit denen sie am Feuer saßen, hatten denselben Wirbel am Hinterkopf, dasselbe Lachen oder genauso schiefe Zähne. Jedes Mal, wenn sie den Kopf wandten, um einander anzusehen, fanden sie etwas von sich im Gegenüber.
Ihre Ähnlichkeit zu uns erlaubt mir, für sie zu sprechen und zu behaupten, dass vieles von dem, was über sie gesagt wird, nicht der Wahrheit entspricht.
Sie waren gutartig und schlau. Sie hatten Hände mit beweglichen Daumen wie wir, und ihr Rücken war mit Haarflaum bedeckt. Sie hatten Herzen in der Brust, die beim Anblick bestimmter Menschen schneller schlugen, und das geschah öfter, als wir uns das vorzustellen vermögen. Ihre Gehirne waren etwa zehn Prozent größer als unsere. Viele von uns haben bis zu vier Prozent ihrer DNA geerbt, und jetzt, da sowohl ihr als auch unser Erbgut entschlüsselt wurde, wissen wir, dass ihres nur etwa um 0,12 Prozent von unserem abweicht. Allerdings sind diese leichten Abweichungen ziemlich bedeutsam. Auf dem Zahnfleisch über ihren Schneidezähnen hatten sie eine empfindsame Stelle, und wenn sie die Oberlippe hochzogen, konnten sie die Wärme eines Körpers bis zu einer Meile entfernt erspüren. Ihre Ohren konnten lokalisieren, wo ein Tropfen Wasser in einen Teich gefallen war, und dies noch lange, nachdem das Wasser sich nicht mehr kräuselte. Ihre Augen erfassten das einzigartige Muster der Rinde eines jeden einzelnen Baumes, sodass sie sie unterscheiden konnten wie wir Gesichter.
Wüssten sie, dass ich dies alles erzähle, wären sie jedoch eher unangenehm berührt. Sie konzentrierten sich nicht gern auf Inneres wie Gedanken, da dies den Körper anfälliger für äußere Gefahren machte. Dann hoben sie wohl eine Hand und senkten, mit leicht erröteten Wangen, den Blick. Würden sie heute immer noch leben, würden sie eines ganz deutlich machen: Sie sind uns sehr ähnlich.
Aber sie leben nicht mehr. Sie sind ausgestorben. Das Wissen, dass eine Art ausgestorben ist, führt oft zu Unbehagen. Wahrscheinlich fühlen Sie sich bereits schuldig, weil Sie annehmen, ich wollte den modernen Menschen die Verantwortung für ihre Auslöschung geben. Wir vergleichen uns mit ihnen durch diesen einen Filter: Wir haben überlebt und sie nicht. Doch genau dort, zwischen Leben und Tod, hat das Problem seinen Ursprung. Wir konzentrieren uns auf den Unterschied und lassen davon all unsere Gedanken beeinflussen. Als Nächstes kommt dann die Schuldzuweisung.
Sie hingegen würden auf gar keinen Fall wollen, dass wir uns über ihr Aussterben den Kopf zerbrechen. Unterschiede interessierten sie kaum; es war die Ähnlichkeit zwischen Jahreszeiten, Körpern und Arten, die ihnen ins Auge fiel. Es gab nur so wenige von ihnen. Die Welt, in der sie lebten, war riesig und leer. Um zu überleben, konzentrierten sie sich auf das, was gleich war.
Wenn Sie einem von ihnen im Wald begegnen würden – sagen wir einem weiblichen Exemplar namens Mädchen mit roten Haaren –, dann geschähe dies nicht zufällig. Sie hätte schon lange zuvor Ihre Nähe gespürt, wäre neugierig auf einen anderen aufrecht gehenden Primaten gewesen und hätte ihre Begegnung zugelassen. Erst hätte sie im Gebüsch ein Geräusch von sich gegeben, um Sie von ihrer Anwesenheit in Kenntnis zu setzen. Vielleicht hätte sie ihren Speer fallen lassen, um zu zeigen, dass sie nichts Böses im Sinn hat. Sie hätte die Finger ihrer linken Hand gespreizt und Ihnen die Handfläche gezeigt, um Sie zu begrüßen.
Die Höflichkeit hätte geboten, Ihre rechte Hand in derselben Weise zu heben und dann ganz langsam auf sie zuzugehen.
Ihr Körper starrt vor Schmutz und ist nur zum Teil mit einem Umhang aus Bisonpelz bedeckt. Ihr ist oft zu heiß, außerdem stört sie das Gefühl enger Tierfelle auf ihrer Haut. Ihr Atem strömt in Dampfwolken aus ihren Nasenlöchern und verbreitet ihre Körperwärme in der kalten Luft. Ihre Muskeln sind stark, sie verfügt über Kräfte wie die eines Bären. Wenn Sie sich ihr nähern, bemerken Sie den erdigen Geruch von Bisonfleisch und übersäuertem Magen. Doch das ist ganz normal und kommt einfach davon, wie sie lebt.
Holen Sie tief Luft, denn Sie werden sich eingeschüchtert fühlen. Das sollten Sie auch. Es ist Ihr Instinkt, der sich meldet. So eine prächtige Kreatur haben Sie noch nie gesehen – ganz im Gegensatz zu Ihren Vorfahren. Die wussten aus Erfahrung, dass sie Sie an der Kehle packen und mit nur einer Hand erwürgen könnte. Daher gaben sie diese begründete Angst an Sie weiter.
Aber rennen Sie nicht weg. Sie haben Angst, weil sie instinktiv spüren, dass Sie schwächer sind. Sie sollten sich jedoch vergegenwärtigen, dass Ihre Präsenz sie nicht beunruhigt. Sie weiß, sie ist stärker und kann es sich erlauben, Sie ungeniert anzustarren. Konzentrieren Sie sich lieber darauf, dass Sie das eindrucksvollste Ding sind, das sie je gesehen hat. Da die Population der Neandertaler immer sehr klein war, hat sie in ihrem ganzen Leben nur eine Handvoll aufrecht gehender Primaten gesehen, aber noch nie einen wie Sie. Jetzt empfindet sie Staunen.
Zeigen Sie ihr Ihre Handfläche. Spreizen Sie zur Begrüßung die Finger wie sie. Gehen Sie ganz langsam auf sie zu.
Wenn Sie nahe genug bei ihr sind, drücken Sie Ihre Handfläche gegen ihre. Spüren ihre Wärme. Unter Ihrer Haut strömt das gleiche Blut wie ihres. Holen Sie Luft, um Mut zu fassen, heben Sie den Kopf und blicken ihr in die Augen. Aber vorsichtig, denn Ihnen werden die Knie weich werden. Tränen werden Ihnen in die Augen steigen, und Sie werden das Gefühl haben, aufschluchzen zu müssen. Weil Sie ein Mensch sind.
Wenn Sie ihr in die Augen blicken, werden Sie sofort die Verbindung spüren. Und alle Unterschiede werden verblassen. Sie wissen beide ohne jeden Zweifel, dass Sie den Geist des anderen spüren können. Sie denken beide dasselbe: Ich bin nicht allein.
Es war die Wärme, an die sich Mädchen erinnern würde. Die Nacht, diese ganz besondere, an die sie später oft dachte und die sich als eine der letzten erweisen sollte, die sie zusammen erlebten, war voller Wärme gewesen. Frühling lag in der Luft, obwohl der Boden noch hart gefroren war. An bloßer Haut zwackte die Kälte.
Wenn sie schliefen, waren sie der Körper der Familie. So empfanden sie sich zusammen: als einen lebenden, atmenden Körper. Ihre Gliedmaßen waren ineinander verschlungen; die Wölbung eines Bauchs schmiegte sich gegen die Kurve eines Rückens; ein Bein lag über einer Hüfte, und eine kalte Fußspitze fand Wärme in einer Achselhöhle.
Als die Sonne ihr Gesicht abgewandt hatte, waren sie alle erschöpft von der Arbeit, die der Frühling mit sich brachte. Daher hatte es diesmal weder nächtliche Schattengeschichten, noch Gespräche oder Lachen gegeben – aber als sie es sich alle bequem gemacht hatten, hatte Er, der älteste Bruder, einen großen Furz gelassen, so mächtig, dass er damit einen Holzklotz hätte spalten können. Mickerling imitierte das, indem er mit den Lippen fest auf seinen Handrücken blies. Krumm lachte auf, nur einmal, und Mädchen verzog den Mund zu einem Lächeln, sparte sich aber vor lauter Müdigkeit jede weitere Reaktion. Große Mutter sagte: »Hom.«
Und dann war es still in der Hütte, man hörte nur noch schweres, langsames Atmen.
Vergraben im Haufen der Körper lagen Mädchen und Wildkater. Normalerweise schlief Mädchen immer tief und fest, doch in dieser Nacht wachte sie zu früh auf und zog ihren tauben Arm unter der großen Katze hervor. Dabei hatte ihn Große Mutter am Anfang der Nacht an den Rand des Nests gescheucht. Der schlaue Kater hatte gewartet, bis der pfeifende Luftzug aus der breiten Nase von Große Mutter gleichmäßig wurde, und war dann wieder hineingekrochen. Wildkater war grau und hatte spitze Ohren mit schwarzen Zipfeln. Er war kräftig und starkknochig und hatte dichtes Fell. Sein Schwanz war mit mehreren schwarzen Ringeln geschmückt. Nun hatte er einen zirpenden Laut von sich gegeben, ein Signal für Mädchen, und näherte sich, um sich an sie zu schmiegen. Er rieb Kopf und Ohren an den ihren. Sie antwortete ebenfalls mit einem schwachen Zirpen. Die beiden waren gute Freunde, und sie kannte nichts, das so weich war wie Wildkater.
Mädchen kratzte an einem Floh, der sich aus ihrer Achselhöhle flüchten wollte. Schläfrig strich sie mit den Fingern über die Haut, um ihn wegzuschnippen. Sie rutschte leicht hin und her und grunzte leise, kam aber nicht dran. Kurz darauf drückte ein dicker Finger gegen ihren Rücken, fuhr über ihr Schulterblatt und bohrte sich in ihre Achsel. Es war ihr Bruder Er, das erkannte sie an seinen rauen Fingerspitzen. Nach kurzem Kneifen und Schnippen zerquetschte er den Floh zwischen den Zähnen. Mädchen bedankte sich nicht. Das war nicht nötig. Es war für alle Zeit in Stein gemeißelt, dass sie auch seine Flöhe oder Läuse entfernen würde. Worte konnten hohl sein. Von Bedeutung war, dass man eine Geste erwiderte.
Und dann war es still. Seufzend ließ sich Mädchen zurücksinken und wurde wieder Teil des Gliedergewirrs. Die schützende Schicht von Haut und Knochen verschwamm. In der Wärme verschmolzen die Grenzen ihrer Körper. Dichte Wimpern legten sich auf Wangen, Atemzüge wurden immer langsamer, und von den Gliedmaßen wich alles Gewicht. Wenn einer einen Traum hatte, sahen auch alle anderen die Bilder in ihren Köpfen, ob sie es am nächsten Morgen noch wussten oder nicht. Im Schlaf waren nicht nur ihre Körper miteinander verbunden, sondern auch ihre Seelen.
Die Familie lagerte auf zwei dicken Bisonfellen. Darunter hielt eine Schicht frischer, kreuz und quer angeordneter Kiefernzweige die Kälte des nackten Bodens ab. Mädchen und Mickerling hatten just an diesem Tag die Zweige ausgewechselt, sodass die Luft von Kiefernduft erfüllt war. Auf ihren Körpern lagen Tierhäute, die so lange bearbeitet und gekaut worden waren, bis sie sich auf der Haut ganz weich anfühlten. Ganz oben sorgte noch eine zusätzliche Lage Pelze für die Gemütlichkeit der Familie. Dieses Nest befand sich in einer Hütte, die unter einem Felsvorsprung gebaut worden war. Die Position war sorgfältig gewählt, denn die Hütte stand auf einem schmalen Sims mit dem Vorsprung darüber und einem steilen Abhang darunter. Um sie zu erreichen, musste man vorsichtig einen schmalen Pfad hinaufsteigen. Das war zwar mühsam, minderte aber auch die Gefahr sich anschleichender Raubtiere.
Wenn die Familie schlafen ging, stellte sie sich vor, sie kröche in den Bauch eines Bisons. Die Hütte glich nämlich grob der Form der Tiere, die sie aßen. Das Ende war niedrig und eng, damit die Wärme nicht entwich. Der vordere Teil war solider, besser gestützt, mit Spitzen bewehrt und breiter, damit man Wache halten konnte. Ein langer Ast bildete das Rückgrat des Baus. Er wurde an einem Ende mit der Astgabel aufgestützt und mit Schnur aus Fasern von Zedernrinde an Ort und Stelle gehalten. Nachdem dieser Hauptstützbalken stand, waren lange Stöcke wie Rippen darübergelegt worden. Für bessere Stabilität waren noch dickere Äste vorne und hinten mit Steinen befestigt. Dann wurde eine erste mit Hirnsaft behandelte Haut über den Rahmen gespannt. Auf das Gerüst kamen danach tote Kiefernzweige wie eine dicke Fettschicht. Die äußerste Lage bestand aus groben Fellen vom dichten Rückenpelz zweier alter Bisonmännchen, die über den Bau geworfen und mit haltbar gemachten Sehnen befestigt wurden.
Durch die Körperwärme war es in der Hütte behaglich. Die Stärke der Tiere verblieb in ihren Körperteilen und schützte die Familie auf ganz besondere Art. In einem Land voller Gefahren musste man sich Schutz suchen, wo man ihn bekam. Die Sicherheit für den Körper war auch Trost für den Geist.
Wenn Mädchen in der Hütte war, murmelte sie für gewöhnlich: »Warm.« Sie genoss das Gefühl, mit so vielen schlagenden Herzen verbunden zu sein, mit vielen lauschenden Ohren und Augen, die aufpassten, dass sich nichts von hinten anschlich. So gab ihr Blut die Wärme an die Körper ab, die sie liebte. So blieb sie am Leben.
Und viel später, als die ganze Familie verschwunden war und Mädchen ganz allein, war es die Wärme dieser Nacht, die ihr in Erinnerung blieb. Dann äußerte sie ihre Sehnsucht in einem einzigen Seufzer: »Warm.«
Als Mädchen an jenem Morgen aus der Hütte lugte, roch sie den drängenden Frühling. Es war der erste Tag der Jagd, und das Land war zum Leben erwacht. Die Sonne gab sich viel Mühe, die Eisschicht des Winters von der Erde zu schälen. Dabei kam auch der tiefe Hunger des Landes zum Vorschein. Dieses verzehrende Gefühl erfüllte ebenfalls die Bäuche all der Tiere im Tal des Gebirges. Mädchen sah, wie die Bäume vor Sorge erzitterten. Sie spürten die Schwingungen der knurrenden Mägen, die über die Erde an ihren Wurzeln übertragen wurden. Kalte Luft umgab die Kiefernnadeln, und jeder wachsende Zapfen am Ende jedes Zweigs erbebte vor Angst. Der Boden bewegte sich in Pein, als das Eis sich von ihm löste. Frühling bedeutete Leben, aber nur für manche. Für andere bedeutete er den Tod.
Am Fuß des Abhangs stocherte Große Mutter an der Feuerstelle in der Glut, um das Morgenfeuer zu entfachen. Die alte Frau trug ihre Bisonhörner, die an einer weichen Lederhaut befestigt und an den Kopf gebunden waren. Genau am tiefen Haaransatz ihrer niedrigen Stirn ragten sie hervor. So konnte jedes Tier auf einen Blick erkennen, dass Große Mutter das Sagen hatte. Sie war schon alt, sie konnte sich an über dreißig Frühlinge erinnern, wenn auch nicht im Einzelnen. Doch ihre milchigen Augen konnten immer noch Formen, Licht und Bewegungen erkennen. Ihre Nase erspürte immer noch aus einer Entfernung von hundert großen Schritten den Geruch eines frischen Sprösslings.
Als Oberhaupt der Familie würde Große Mutter entscheiden, welches Tier sie an diesem Tag erlegen wollten. Obwohl ihre Tage der Jagd vorüber waren, würde sie gemeinsam mit dem Rest der Familie zur Furt der Bisons gehen. Zu dieser Zeit im Frühjahr konnte Mädchen es nicht riskieren, Große Mutter oder einen der Schwächeren allein zu lassen. In letzter Zeit schlich ein junger Leopard in der Nähe der Feuerstelle herum. Er war neu in ihrer Gegend und unruhig. Früher hätte die Familie ihn mühelos vertreiben können, aber in diesem Frühling waren sie besonders wenige. Daher wagten sie nicht, dem Leopard auch nur die geringste Chance zu lassen, bei ihnen Beute zu machen.
Als Er, Mädchens Bruder, zum Feuer kam, brach Große Mutter in Gelächter aus. Mädchen brauchte einen Moment, bis sie den Grund erkannte: Er hatte oft eine Anschwellung, und da sein Umhang nur lose seinen Körper bedeckte, sah sie, dass dies auch an diesem Morgen der Fall war. Große Mutter lachte vor Freude, denn ein steifes Glied bedeutete Gesundheit. Es war Glück.
Große Mutter hatte schon vieles von ihrem Körper eingebüßt, nicht aber ihr Lächeln. Ihr Lachen war ein scharfes Gackern und zeigte, dass sie bereits alle Zähne verloren hatte, bis auf ein paar vorne links oben und zwei Backenzähne. Wenn sie lachte, drückte sie die Hand an die Wange. Mädchen wusste, dass die alte Frau wünschte, die verbleibenden Zähne würden ebenfalls zu Boden fallen. Denn vor lauter Schmerz fühlte sich ihr Körper an wie Dörrfleisch. Aus ihrem Kinn sprossen ein paar borstige graue Haare, und ihre großen, stolzen Brüste lagen platt auf ihrem Bauch. In der dicken Haut ihres Gesichts war eine Tränenspur zu sehen. Große Mutter glaubte, man könnte den Wert eines Lebens an kleinen Dingen ablesen. An der Zahl der Falten etwa, an der man erkannte, wie oft der Körper ein Lachen und wie oft ein Stirnrunzeln hervorgebracht hatte. Mädchen wusste, dass die alte Frau deshalb darauf geachtet hatte, ganz oft zu lachen.
Leichtes Unbehagen überkam Mädchen, als sie wahrnahm, wie sich der Geruch des Frühlings und der ihrer alternden Mutter vermischten. Ihr war klar, dass Große Mutter jeden Augenblick tot umfallen konnte. Sie selbst sagte oft, ihr Atem würde stinken wie das Hinterteil eines Bisons, weil sie so viele Jahre ausschließlich das gegessen hätte. Bisons verströmten von hinten einen ganz besonderen, aber nicht unbedingt unangenehmen Geruch. Ihre Scheiße roch in gewisser Weise süß und nach Leben. Wenn man sie mit Sand vermischte, konnte man sie auf die Kiefernäste der Hütte schmieren und damit die Löcher abdichten, durch die sonst der Wind drang. Es war nichts Schlimmes daran, den feuchten Wind abzuhalten, der einen anwehte, genauso wenig wie das Altern etwas Schlimmes an sich hatte. Wenn Mädchen klug genug war, so lange zu leben, würde sie sich diesen Atem ebenfalls verdienen.
Die Weisheit von Große Mutter war dringend erforderlich. Nur die besten Instinkte sorgten dafür, dass der Körper so lange überlebte, und Große Mutter hatte Mädchen beigebracht, dass im Rhythmus der stets vorwärts stürmenden Jahreszeiten zu leben bedeutete, dass alles ständig im Wandel war. Alles um sie herum spross, wuchs und erreichte irgendwann seinen Höhepunkt. Wenn etwas nicht länger in der Lage war, sich zu erneuern, schwand seine Kraft. Und dann starb es – wurde Totholz. Ein Blatt, das vom Baum fällt, zersetzt sich und ernährt den Boden. Die gesättigte Erde nimmt Regen in sich auf und wird zur Nahrung für den Baum. Und über einen längeren Zeitraum betrachtet, stirbt somit eigentlich nichts. Es verändert sich nur. Aber alle Veränderungen bringen Angst und Schmerz mit sich. Und Große Mutter gab sich viel Mühe, ihrer Familie Trost dadurch zu spenden, dass sie immer wieder das Gleiche tat. All die Jahre stellte sie ihre Werkzeuge aus demselben Stein her, aß dieselbe Nahrung etwa zur selben Zeit im Jahr und baute auf immer dieselbe Art und Weise ihre Hütten.
Jetzt sah Mädchen Er an und bewunderte sein glänzendes braunes Haupthaar. Dass es so schimmerte, war auch ein Zeichen für Gesundheit. Es war von seiner niedrigen Stirn über die Ohren zurückgestrichen und mit einem Riemen zusammengebunden. Sein Rücken war kräftig und ging von der Mitte aufwärts in die Breite. Auch er hatte eine Veränderung durchgemacht, obwohl diese später als bei anderen kam, da er die vergangenen Jahre noch schmal und mager gewesen war. Mit der Veränderung war auch sein Verhalten sprunghaft geworden, in gewisser Weise eine Warnung an Mädchen vor dem, was noch kommen würde. Da sie auf engstem Raum zusammenlebten, ertrug sie diese Launen ziemlich gleichmütig. Doch obwohl sie so tat, als wäre ihr das nicht klar, wusste sie, dass er in diesem Sommer beim Fischsprung die Aufmerksamkeit einer Frau erregen konnte.
Allein der Gedanke an die leuchtenden Farben beim Fischsprung ließ Mädchens Herz schneller pochen, und ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Ihr Hunger wurde drängender. Sie dachte an das Gefühl der weichen Fischeier zwischen ihren Fingern. Im Jahr zuvor hatte sie sie ganz genau betrachtet, und sie hatten ausgesehen, als wäre der Fluss darin gefangen. Dieser winzige Fluss enthielt die nächste Generation der Fische, deshalb wollte sie ihre Stärke in ihren Körper aufnehmen. Sie hatte die Eier zwischen die Backenzähne geschoben, sie zerquetscht und auf das Geräusch des Zerplatzens gelauscht. Jetzt stellte sie sich die schlüpfrige Haut der Fische in ihren Händen vor, das weiche orangefarbene Fleisch darunter, und mit einem Mal fühlte es sich an, als würde ihr das Blut unter der Haut kochen.
Wenn die Frühlingssonne hoch genug stieg, um den Felsvorsprung oberhalb ihrer Hütte zu küssen, würde sich die Familie auf den Weg zum Treffpunkt machen. Die anderen Familien, die an verschiedenen Verästelungen des Flusses lebten, würden sich ebenfalls in Bewegung setzen. An der Stelle, wo die Arme des breiten Flusses zusammenkamen, gab es eine Vielzahl von flachen Stromschnellen.
In dieser Jahreszeit diente jener Ort auch als Treffpunkt für die Fische. Wenn sie ihre Körper die Felsstufen hochschleuderten, wurden viele am Stein zerschmettert, einige gerieten in die wartenden Schilfnetze der Familie, und manche wurden von den Bären geschnappt. Nur ein paar Fische kamen durch. Jeder einzelne war so lang wie ein Arm und so dick und kräftig wie ein Oberschenkel. Aus ihrem Unterkiefer ragten zwei Fangzähne hervor. Die Fische waren so schlau wie Krähen und so schnell wie Schlangen. Ihre Schuppen leuchteten fleckig grau, aber die leckersten hatten flammendes Orange auf dem Rücken, das zeigte, dass sie reif waren. Diese hielt die Familie für die besten Fische. Es waren nicht immer die stärksten, aber ihre Eigenschaften – Klugheit, Stärke, Größe oder Sehvermögen – waren in diesem speziellen Jahr am besten an die Bedingungen angepasst. Es waren auch diejenigen, die ihre orangefarbenen Eier im flachen Wasser flussaufwärts ablegen konnten. Aus diesen kam die neue Generation der Fische.
Mädchens Gedanken wanderten immer wieder zum Treffpunkt, dabei wusste sie doch, dass sie sich nicht ablenken lassen durfte. Also wandte sie sich abrupt der Gegenwart zu und betrachtete ihre Familie an der Feuerstelle: Große Mutter, Er, Krumm und Mickerling. Sie waren nur eine kleine Gruppe, und ein paar von ihnen wirkten schwächer als andere Tiere. Von früheren Besuchen des Treffpunkts wusste sie, dass sie vielleicht nicht die Attraktivsten der Horde sein würden. Aber sie ließ nicht zu, dass die Sorgen über ihre Chancen sie jetzt überfluteten. Wie das Lernen zu jagen, zu reparieren und zu bauen gehörte auch zum Erwachsenwerden, dass man seine Sorgen in Schach hielt. Sie musste sich auf die Jagd konzentrieren und durfte ihre Aufmerksamkeit jetzt nicht auf anderes lenken; das konnte sie alle in Gefahr bringen und ihr Ende bedeuten.
An diesem Morgen war Er als Erster den steilen Abhang zur Feuerstelle hinuntergestiegen. Zwar war das Gebiet der Familie immer noch von Eis überzogen, doch die Kälte machte ihm nichts aus. Er war getrieben vom Drang, sich zu paaren. Er wusste, das konnte er nur, wenn er am Treffpunkt gesund aussah, und seine Gesundheit hing von dem Essen ab, das er zu sich nahm. Im Frühjahr konnte nur Bisonfleisch die Bedürfnisse seiner großen Gestalt und seiner starken Muskeln befriedigen.
Er unterbrach seine Arbeit nicht, als Große Mutter lachte. Sein steifes Glied stand für den Drang, zu essen und sich zu paaren, und trieb ihn nur noch heftiger an. Er lächelte, trat das Feuer aus und schob mit einem Stock die Asche auseinander. Mit Hilfe einer Tierhaut schützte er die Hände und hob einen großen Stein mit einer deutlichen Vertiefung aus der Glut, der dafür benutzt wurde, klebriges Harz aus Birkenrinde herzustellen. Vor langer Zeit hatte jemand aus dieser Familie den Stein gefunden, und seitdem war er von einem Mitglied zum nächsten weitergereicht worden. Da sie oft umzogen, um Nahrung zu finden und Tiere zu verfolgen, war es unpraktisch, ihn mitzunehmen. Daher versteckten sie den großen Stein jedes Jahr dort, wo die Frühlingshütte erbaut werden sollte. Er behandelte ihn wie einen Schatz. Der Stein zählte zu den wenigen Dingen, die schon Generationen vor ihm benutzt hatten. So wurde etwas kostbar: weil es vor ihm bereits viele Hände aus der Familie berührt hatten. Die Arbeit, die er jetzt vor sich hatte, verband ihn durch die Zeit mit seiner Familie.
Am Tag zuvor hatte er mehrere Lagen Birkenrinde in die Mulde des Steins gelegt und dafür gesorgt, dass die Hitze des Feuers schwarze Flüssigkeit aus der Rinde austreten ließ. Nun fügte er heiße Asche hinzu und benutzte die entstehende klebrige Masse, um ein zugespitztes Stück Stein am Ende eines hölzernen Speers zu befestigen. Er arbeitete schnell, weil das Harz rasch hart wurde, und leckte sich oft die Finger. Er drückte und formte das Harz, damit die Steinspitze fest saß. Als er mit der Form zufrieden war, tauchte er die neue Spitze in kaltes Wasser.
Während er darauf wartete, dass sie abkühlte, beobachtete er seinen jüngeren Bruder Krumm, dessen einer Unterarm geformt war wie das Horn eines Bisons. Der Daumen zeigte von Krumms Körper weg, und sein Handgelenk war starr. Krumm versuchte gerade, zum Schutz bei der Jagd ein Stück gehärteter Tierhaut an seinem Schienbein zu befestigen. Mit seinem verkrüppelten Arm fiel ihm das schwer, da er seine Hand nur zusammen mit dem Ellbogen drehen konnte. Es sah auch so aus, als täte ihm der Arm weh, was bei Wetterumschwüngen oft der Fall war. Jetzt spuckte Krumm vor lauter Verdrossenheit aus.
»Mickerling!«, rief Er laut und durchdringend. Da sein Kehlkopf klein war, klang seine Stimme schrill und dazu leicht nasal, weil die Luft durch seine breite Nasenhöhle schoss. Dabei hallte sie durch den mächtigen muskulösen Brustkorb nach. Wenn Er sprach, brach seine Stimme laut hervor und ermüdete seine Kehle.
Allerdings musste Er seine Kehle nicht besonders oft mit Wörtern strapazieren. Große Mutter hatte für einen leisen Umgangston gesorgt, und da sie in einer so kleinen Gruppe lebten, musste vieles gar nicht erst ausgesprochen werden. Weil Große Mutter ebenfalls schnell ihre Kehle anstrengte, missbilligte sie allzu viel Gerede, obwohl diejenigen, die Zeugen eines ihrer seltenen Wutanfälle geworden waren, ihre Vorliebe für Stille in Frage stellen würden. Jemanden, der zu viel redete, nannte sie Krähenkehle; dann streckte sie die Hand aus und ließ ihre Finger gegen den Daumen schnappen, um den Schnabel des Vogels zu imitieren, den sie am meisten hasste. Die Krähen krächzten und kackten ohne Rücksicht auf ihre Umgebung.
Als Mickerling seinen Namen hörte, folgte er Ers Blick und sah, wie Krumm sich abmühte. Mickerling lebte bereits sechs oder sieben Winter bei ihnen, aber niemand wusste, wie alt er wirklich war. Wegen seiner zarten Statur konnte man das schwer sagen. Er war nur froh, dass der Junge langsam versuchte, sich nützlich zu machen. Jetzt kam Mickerling zu ihnen geflitzt, drückte seinen mageren Zeigefinger auf Krumms Knoten und zog mit der anderen Hand einen Riemen hindurch. Gemeinsam befestigten sie den Schienbeinschutz an Krumms Bein.
Für Er war Mickerlings Position in der Familie immer noch unklar. Kurz vor dem Fischsprung war er am Fluss gefunden worden. Eine andere Familie hatte ihn mit zum Treffpunkt gebracht, ihn aber schlecht behandelt und kaum gefüttert. Schon bald war er aus ihrer Hütte vertrieben worden und musste wie eine streunende Wildkatze umherlaufen und um Reste betteln. Schließlich hatte Große Mutter Mitleid mit ihm bekommen und ihm ein schönes Stück Fisch gegeben. Seitdem war er ihr nicht mehr von der Seite gewichen und hatte es geschafft, seinen Platz bei ihnen zu behalten.
Aber Mickerling wuchs nicht so, wie er eigentlich sollte. Deswegen hegte Er den Verdacht, dass Mickerling krank war. Am Morgen zuvor hatte Er ihm befohlen, sich vor Große Mutter hinzustellen, damit sie dessen Atem riechen konnte. Er hatte Angst, der Junge könnte Sonnenbiss haben. Die Familie wusste, dass diese Krankheit mit einem ganz besonderen Mundgeruch anfing. Bald darauf folgten dann tiefe Erschöpfung, Schmerzen im Rücken und in den Gelenken und Erbrechen. Die nächsten und oft tödlichen Anzeichen waren flache rote Pusteln, die sich zu Blasen entwickelten. Der Sonnenbiss brannte im Körper und zehrte ihn auf: Der Körper war der Sonne zu nahe gekommen. Aber Große Mutter entdeckte an Mickerling keinerlei Symptome. Offensichtlich war mit ihm alles in Ordnung.
Dennoch hatte Er weiterhin Zweifel. Selbst in diesem Frühjahr wurde der Junge einfach nicht muskulöser. Die Knie und Ellbogen ragten wie Knollen aus seinen Gliedmaßen, seine Augen quollen leicht hervor, und seine Haut war dunkler als üblich. Er wusste nicht, wieso Mickerling so schwächlich war oder ob ihm mehr Fleisch beim Wachsen helfen würde. Er wusste nur, dass es ein Risiko war, diesen Jungen zu füttern. Denn jedes Stück Nahrung, das sie ihm zukommen ließen, konnte verschwendet sein. Das Leben bestand aus einer Reihe sich immer wieder verändernder Entscheidungen. Selbst wenn man den Arm ausstreckte, um einen Floh zu zerquetschen, musste sich das wegen des gesparten Bluts lohnen.
Er spürte, dass die Familie irgendwie aus dem Gleichgewicht geraten war. Vielleicht lag es an seinem starken Paarungsdrang, dass er dies deutlicher wahrnahm als die anderen, seine Haut schien ständig zum Zerreißen gespannt.
Als Mädchen fertig war, kraxelte sie den schmalen Pfad zur Feuerstelle hinunter und kam gerade in dem Augenblick an, als Er ihren neuen Speer bewunderte. Sie alle hatten ihre Aufgabe bei dem, was sie herstellten, und das galt auch bei diesem Speer. Krumm hatte den Schaft gefunden und in die richtige Form geschnitzt, Mickerling hatte die Sehne vorbereitet, mit der die Speerspitze vor der Versiegelung am Stock befestigt wurde, Mädchen hatte die Spitze selbst behauen, und Er hatte alle Teile zu einer Waffe zusammengefügt. Keiner von ihnen konnte sich getrennt von den anderen betrachten.
Mädchen streckte die Hand aus und berührte Ers Schulter. Er schaute sich nicht um; das war auch nicht nötig, da ihm Mädchens Geruch so vertraut war. Sie spürte das Pochen seines Herzens. Jeder von ihnen konnte die körperlichen Reaktionen der anderen spüren, und zwar dort, wo ihre Haut besonders dünn war: an den Handgelenken, an der Wange oder an der Kehle. Mädchen bemerkte, dass sich Ers Glied wieder aufrichtete. Dazu musste er nur ganz kurz ihren Geruch aufnehmen. Sie wusste, wie sie aussah: Für die Jagd hatte sie gehärtete Tierhäute ganz eng um ihre Schienbeine und Unterarme gewickelt. Die schwarze Erdfarbe in ihrem Gesicht zeigte die beiden Familienstreifen auf jeder Wange. Ihr dichter roter Haarschopf leuchtete auf ihrem Kopf. Sie hatte eine Muschel an einem dünnen Riemen um ihren Hals gebunden. Ihre Haut spannte sich über ihren Muskeln und glänzte vom Haselnussöl. Sie spürte, welche Wirkung ihre Stärke auf ihn hatte. Am liebsten hätte sie ihre Zähne in sein Fleisch gebohrt. Doch sie hielt den Blick gesenkt und wandte sich in eine andere Richtung. Wenn Große Mutter sie dabei ertappte, wie sie Er ansah, würde es Ärger geben.
In den Jahren zuvor hatten sie die Abende nach der Jagd mit Essen und Verdauen im Schutz einer Höhle verbracht, die in die Felswand in der Nähe ihrer Frühlingshütte hineinragte. Zuerst machten sie Feuer, und die Flammen erhellten das Dunkel. Dann baute sich Große Mutter davor auf, sodass sie mit ihrem Körper Schatten an die Wand werfen und mit diesen Schatten und einer Mischung aus Lauten und Singsang Geschichten erzählen konnte. Sie fand, dies wäre die Anstrengung ihrer Kehle wert.
Die Geschichte, die sie am häufigsten erzählte und die sie alle sehr gerne sahen, war von Große Mutter als Warnung gemeint. Es ging um einen Bruder und eine Schwester, die eine Schwäche füreinander hatten. Es war zu einer Zeit, als sich viele Familien am Treffpunkt begegneten. Als die beiden Geschwister nicht voneinander lassen konnten, wurde ein Mann in der Familie auserwählt, der sie töten sollte. Zwar gelang es ihnen zu fliehen, aber nur, indem sie den Fischen folgten.
Der Bruder und die Schwester ließen sich Richtung Meer treiben, bis in ein Gebiet, das die Familie nie aufsuchte. Dort gab es aber weder Bisons, noch war das Wasser frisch. Sie tranken nur Salzwasser und aßen nur Tiere mit Scheren statt Tatzen oder Hufen. Das Salz vergiftete ihren Geist, und sie wurden verrückt. All dies zeigte sich auch an den Kindern, die sie bekamen. Deren Augen blieben stets geöffnet wie bei den Fischen im Meer. Ihre Lippen waren verkrustet vom Salzwasser, das sie tranken. Statt Händen wuchsen ihnen Scheren, und sie sahen immer mehr aus wie die Tiere, die sie aßen. Große Mutter hockte sich an dieser Stelle stets hin und kniff Daumen und Zeigefinger zusammen, um mit Hilfe der Schatten ihre gespenstischen Formen zu zeigen. Es war eine Geschichte, die sie alle liebten, denn sie rief sowohl Entzücken als auch Entsetzen hervor.
Um ihrer Botschaft Nachdruck zu verleihen, hatte Große Mutter Mädchen eine Muschel in der Größe einer Walnuss geschenkt. Mädchen zog einen Riemen hindurch und hängte sie sich um den Hals. Doch die Geschichte, die bereits seit Generationen weitergegeben wurde, veränderte sich mit der Zeit. Mit Hilfe von Lauten und Schatten ließ sich eine Botschaft nicht so genau vermitteln, wie Große Mutter sich das gewünscht hätte.
Mädchen verstand den Zusammenhang der Geschichte mit dem Zeitpunkt, zu dem sie erzählt wurde. Das war nach der Jagd, wenn ihr Bauch voll war. Außerdem nahm Mädchen die Geschichte vor dem Hintergrund der Veränderungen in sich auf, die zu dieser Zeit an ihrem Körper sichtbar wurden. Die Erzählung von Große Mutter entwickelte sich in Mädchens Geist zu etwas Neuem. Für Mädchen war es eine Geschichte, die ihre Art zu leben bestätigte. Sie erinnerte Mädchen daran, warum sie die Jahre im immer gleichen Rhythmus lebten und warum ihre Fähigkeit, Bisons zu jagen, sie zum stärksten Tier an Land machte. Wenn sie sich dicht bei ihrem Bruder hielten, konnten sie die schwersten Zeiten durchstehen, Deshalb trug sie immer die Muschel, die sie Das Meer nannte, um ihren Hals.
»Mädchen«, rief Große Mutter jetzt, als sie sich umdrehte und entdeckte, dass Mädchen aus der Hütte auftauchte. Große Mutter hatte jedem von ihnen einen Namen gegeben, der nur für sie eine Bedeutung hatte. So konnte man einen vom anderen unterscheiden, ohne sie zu sehr zu trennen. Sie glaubte, besser zu den Einzelnen passende Namen würden nur die Kehle unnötig beanspruchen. Das Muster ihres Lebens war eher durch Rituale statt durch Worte geprägt, und jetzt war es Zeit für die Morgenmahlzeit vor der Jagd. Der Ruf bedeutete, dass Große Mutter von Mädchen gefüttert werden wollte. Dazu waren keine weiteren Worte nötig.
Allerdings zeigte Große Mutter damit auch ihre Vorliebe für Mädchen. Es war selten und etwas ganz Besonderes, dass zwei erwachsene Generationen gleichzeitig lebten. Die meisten von ihnen wussten, dass sie wahrscheinlich nicht lange genug leben würden, um noch eine dritte aufwachsen zu sehen. Mädchen hatte nur selten mit mehr als acht Familienmitgliedern zusammengelebt. Und für Große Mutter war sie die letzte Tochter. Es war eine so kostbare Stellung, dass sie gegenüber Mädchen besondere Beschützerinstinkte hegte. Aus dem alten Leib von Große Mutter würde nie wieder ein fruchtbares Weibchen kommen. Ihr eigener Bauch war mittlerweile wie eine glatte Kuhle mit Sand. Daraus konnte nichts mehr erwachsen. Aber in Mädchen konnte neues Leben seinen Anfang nehmen.
Es wurde langsam Zeit für die Nachfolge. Große Mutters Lebenszweck war, den Fortbestand der Familie zu sichern, und ihre Überlebensstrategie drehte sich um den Fischsprung am Treffpunkt: Dort würde das älteste Männchen, also Er, versuchen, eine neue Frau in die Familie zu locken, die dann die nächste Große Mutter werden würde. Das älteste Weibchen hingegen, also Mädchen, musste versuchen, sich einen Platz als Große Mutter in einer neuen Familie zu ergattern. Wenn beides gelang, war die Familie stark wie die Fische in einem guten Jahr. Dann würden sie weiterhin zum Treffpunkt zurückkehren.
Mädchen steckte sich ein Stück Trockenfleisch in den Mund und begann zu kauen. Das Fleisch musste gerade so lange bearbeitet werden, dass es von ihrer fast zahnlosen Mutter gegessen werden konnte. Wenn sie zu lange kaute, würde es zu trocken werden, es musste noch so saftig sein, dass es durch den Mund die Kehle hinuntergleiten konnte. Also kaute Mädchen so lange darauf herum, bis es sich weich anfühlte, dann nahm sie den breiigen Bissen aus dem Mund. Sie kniete sich neben ihre Mutter und hielt ihr das Stück Fleisch vor die Nase, damit sie es begutachten konnte.
Große Mutter starrte auf den durchgekauten Bissen und holte schnüffelnd Luft. Die drahtigen Haare auf ihrem Kinn leuchteten in der Sonne. Dann nickte sie und öffnete den Mund. Ihr Atem drang in stark riechenden Dunstwolken heraus. Sie zog die Lippen zurück und schnappte sich das Fleisch mit dem Zahnfleisch.
»Hom«, sagte sie.
Sie saugte daran und schluckte es herunter.
Nachdem die alte Frau gegessen hatte, gab Krumm jedem von ihnen eine Handvoll geröstete Nüsse und einen Streifen Trockenfleisch aus dem Vorrat. Hungrig nagte Mädchen an ihrem Streifen Fleisch. Da sie wichtig war für die Jagd, war er etwas größer als sonst, allerdings in ihren Augen längst nicht groß genug. Ihre Portionen kamen ihr immer zu klein vor. Sie hatte unentwegt Hunger.
Auch Mädchen bemerkte ein besonderes Gefühl unter ihrer Haut, so als nagte etwas an ihr. Sie versuchte, sich zu beruhigen, indem sie sich vorstellte, wie es nach der Jagd sein würde – mit einem warmen Stück Fleisch in der Hand, an dem sie, erfüllt vom Geruch des frischen Bluts, saugte; ihre Füße mit dem leichten Haarflaum würden vor Zufriedenheit zucken, während sie kaute und saugte und ihr das Blut vom Kinn tropfte. Der Gedanke an frisches Fleisch erfüllte sie mit Hoffnung. Nicht all ihre Erinnerungen waren notwendigerweise etwas, was sie selbst erlebt hatte; es konnten auch Erfahrungen von einem anderen Familienmitglied sein, die durch Träume weitergegeben wurden oder durch etwas, das sie gemeinsam aßen. Diese Erinnerungen trugen dazu bei, dass der Körper in seinem gegenwärtigen Zustand in Sicherheit blieb, dass man Nahrung fand oder etwas Neues, Ungewöhnliches deuten konnte. Also schloss Mädchen die Augen und ließ die guten Gefühle von frischem Fleisch durch ihren Körper strömen. Sie dachte an die vielen Jagden, die sowohl für sie als auch für ihre Vorfahren erfolgreich verlaufen waren. Die vor ihr liegende Jagd würde ihrem Hunger vielleicht ein Ende setzen.
Sie hörte Große Mutter hinter sich schnüffeln. Dann umfasste diese mit ihrer alten, klauengleichen Hand ihre Schulter und hielt sie fest. Das Schnüffeln kam näher, die alte Frau hatte eindeutig etwas an ihr gerochen. »Hom.«
Mädchen erzitterte wie ein Blatt, das zu schwer für den Zweig geworden war. Große Mutter schnüffelte an ihr, als wollte sie prüfen, ob sie den Sonnenbiss hatte. Mädchen drückte sich die Hand an die Stirn. Sie kam ihr etwas wärmer vor als üblich, aber sonst bemerkte sie keinerlei Anzeichen an sich. Sie fühlte sich nicht krank – eher im Gegenteil. Ihre Muskeln zuckten vor Verlangen. Vielleicht hatte sie noch mehr Hunger als sonst, wenn das denn möglich war. Sie spürte noch nicht, was Große Mutter bereits erschnüffelt hatte.
Mädchen selbst fand es heraus, als sie sich hinter einen Busch hockte: der letzte Schritt der Jagdvorbereitungen. Da entdeckte sie eine Art Schleim auf ihrem Oberschenkel. Sie musste kichern, da es eher aussah wie Eiweiß und nicht wie etwas, das von ihr kommen konnte. Als sie es mit einem Blatt abwischte, stellte es sich als überraschend glitschig heraus. Nicht wie das Blut, das im Jahr zuvor gekommen war. Schmerzen hatte sie nicht, nur einen leichten Krampf im Becken. Ein kalter Schauer rann ihr über den Rücken, als sie erkannte, dass dies die Hitze war. Die bekam sie zum ersten Mal. Durch die Hitze verströmte sie einen Geruch, der anderen signalisierte, dass sie sich paaren wollte.
Mädchen wusste, dass sie dafür bis zum Treffpunkt warten musste. Große Mutter hatte ihr den Winter über mehr Fleisch als sonst gegeben und angedeutet, Mädchen könnte dieses Jahr fett genug sein, sodass die Hitze rechtzeitig zum Fischsprung käme. Dann wäre sie alt genug, um sich eine eigene Familie zu ergattern. Große Mutter wollte, dass ihre Tochter sie stolz machte. Genau wie zuvor Mädchens Schwester, Großes Mädchen.
Doch obwohl Mädchen diesen Winter das zusätzliche Fleisch genossen hatte, war sie unruhig gewesen. Sie wollte nicht die Familie verlassen wie ihre Schwester. Großes Mädchen war immer fröhlich gewesen. Sie hatten miteinander gespielt, geflüstert und sich die Flöhe vom Rücken entfernt. Die meisten fanden, dass sie mit ihren roten Haaren und den breiten Nasen vollkommen gleich ausgesehen hatten. Und doch gab es einen Unterschied zwischen ihnen. Wenn Große Mutter nicht wusste, wer von ihnen wer war, befahl sie ihnen zu lächeln. Denn Großes Mädchen hatte einen besonders heftigen Zusammenstoß mit einem Felsen gehabt und es nicht geschafft, ihren Frontzahn zu behalten. Mit der Lücke grinste sie nur noch breiter. Wenn Großes Mädchen ihre Schwester zum Lachen bringen wollte, hatte sie ihre Zunge durch die Zahnlücke gedrückt und gezischt wie eine Schlange. Mädchen hatte Angst vor Schlangen. Beide liefen geduckt durchs Lager und kreischten vor Lachen, bis eine hinfiel. Dann ließ sich die andere auf die am Boden fallen und kitzelte sie. Manchmal beendete aber auch der Riesenfuß von Große Mutter das Spiel. Die Zahnlücke von Große Schwester war ein steter Quell der Heiterkeit.
Aus Mädchens Sicht war Großes Mädchen eine starke Frau, denn sie hatte beim Fischsprung eine Familie für sich gewonnen. Aber jetzt war sie fort. Vielleicht lebte sie zufrieden mit ganz viel Fleisch, aber das konnte Mädchen nicht in Erfahrung bringen. Mädchen hatte das Gebiet der Familie bisher nur verlassen, wenn sie sich auf den Weg zum Treffpunkt machten. Also wusste sie nicht, wie das Leben woanders war. Wenn sie versuchte, sich das Leben ihrer Schwester vorzustellen, spürte Mädchen nur die Bisse der Flöhe, die sie ihr nicht abpflückte. Genau so stellte sich Mädchen das Weggehen vor: wie einen Floh, an den man nicht heranreichte. Und jetzt war die Hitze gekommen, und Mädchen würde sich ebenfalls verändern. Was vor ihr lag, war so dunkel und schattig wie der hintere Teil einer Höhle.
Mädchen wusste, dass dieses Gefühl der Familie keinen Nutzen brachte. An die Zukunft zu denken lenkte einen nur ab und machte den Körper in der Gegenwart angreifbar. Am liebsten hätte sie es einfach weggeschoben. Aber alle in der Familie würden es merken. Mit der Hitze würden alle Tiere im Umland ihre schneeweiße Haut neu betrachten. Wenn auch vielleicht noch nicht sofort, dann doch bald. Auch ihre Haare würden mehr glänzen, um die Hitze anzuzeigen, die zwischen ihren Beinen hervordrang.
Mädchen hoffte nur, es vorerst verbergen zu können. Rasch suchte sie etwas Moos, um sich damit abzuwischen und den Geruch zu mindern. Sie hielt den Kopf gesenkt und ließ den Blick zu beiden Seiten huschen, weil eine neue Furcht vor Fleischfressern sie überkam. Dann richtete sie sich auf und ging zu den anderen zurück. Wie immer nahm sie ihren Platz am Anfang der Reihe ein. Wie so viele vorher in ihrer Familie tat sie so, als hätte sich nichts verändert. Sie konzentrierte sich auf das, was gleich geblieben war.
Warum gibt es Leben? Lange plagte mich die Frage nach dem Zweck meines Daseins. Doch davon wurde ich an dem Tag erlöst, als ich sie fand: eine Neandertalerin, die schon lange in der Erde ruhte. Als Archäologin wusste ich, dass der wesentliche Unterschied zwischen etwas Lebendigem und etwas Totem die Wärme ist. Nur Lebendiges ist in der Lage, Energie aus der Erde zu gewinnen und umzusetzen, aber diese Neandertalerin war – über vierzigtausend Jahre nach ihrem Tod – irgendwie in der Lage, mich zu gewinnen. Ich hatte das Gefühl, sie hätte mit ihrer großen Hand durch die Zeit gegriffen, um mich an meinem schmuddeligen T-Shirt zu packen und zu der Stelle zu ziehen, wo sie lag. Als ich sie fand, war mir der Grund meines Daseins endlich klar: Ich wollte ihre Geheimnisse erfahren.
Zu der Zeit hatte ich bereits ein männliches Skelett in der Höhle entdeckt. Es waren die sterblichen Überreste eines anatomisch modernen Menschen, eines Homo sapiens (lateinisch für »vernunftbegabter Mensch«), aus der einzig überlebenden Spezies der Gattung Homo. Einer von uns. Geologische Aktivitäten hatten zur Fossilation seiner Knochen geführt. Da sein Zustand makellos war, griff ich bereitwillig auf meine Ersparnisse zurück, um mein Forschungssemester zu verlängern und zu untersuchen, was die Ausgrabungsstätte noch zu bieten hatte.
Mein Assistent Andy und ich bauten ein Lager an der Höhle auf, steckten sorgfältig den Innenbereich ab und begannen mit dem langwierigen Prozess, eine dünne Schicht nach der anderen abzutragen. Bereits innerhalb kurzer Zeit fegte ich eine Sedimentschicht beiseite und legte dabei das Fragment einer Schädelwölbung frei.
»Andy?«
Andy zwängte sich durch die dicke Plastikplane, die wir vor den Eingang gehängt hatten, um Kontaminierungen zu vermeiden. »Rose?«
»Ich hab sie gefunden«, verkündete ich mit zitternder Stimme.
»Wen?«