Catherine Rider
A Summer Romance
Aus dem Englischen von Franka Reinhart
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With special thanks to James Noble
© 2020 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Englischen von Franka Reinhart
Lektorat: Catherine Beck
Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie, unter Verwendung von Gettyimages (wundervisuals (2x), Westend61, Clara Ciszynski), Shutterstock (bbernhard)
he · Herstellung: aj
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-25572-5
V002
www.cbj-verlag.de
1
»You gotta jump in the saddle,
grab hold of the reins,
hang on real tight,
don’t have to stay in one lane.
The open road is yours,
and you can set your own course.
Can ride fast, can ride slow, just as long as
you ride your own horse.«
Hoffentlich fallen diese Nervensägen bald von ihrem Scheißpferd und brechen sich dabei die Ohren.« Die Kassiererin bei Dunkin’ Donuts ist auf hundertachtzig. Missmutig äugt sie hinüber zu den vier Mädchen in Jeans-Shorts und kurzärmeligen Karohemden an Gate 17. Ihre Outfits wären eigentlich nicht besonders auffällig, wenn sie dazu nicht auch noch mit Strass verzierte Cowboyhüte in den verschiedensten Farben auf den Köpfen hätten – und obendrein nicht ununterbrochen singen und tanzen würden.
Obwohl ich unsicher bin, ob man ihre Performance ernsthaft als Tanz bezeichnen kann. Sie besteht aus dem angedeuteten Sprung in einen unsichtbaren Sattel, von dem sie beinahe wieder herunterfallen, sich jedoch gerade noch an imaginären Zügeln festhalten können, um anschließend die Augen gegen die nicht vorhandene Sonne abzuschirmen und den Blick durch die Abflughalle mit lauter genervten, leicht reizbaren Bostonern schweifen zu lassen.
Normalerweise würde mich diese Bemerkung einer erwachsenen Frau, die ein paar harmlosen Teenagern schwere Verletzungen wünscht, sehr irritieren. Aber im Moment löst sie bei mir vor allem Begeisterung darüber aus, wie gut sich dieser O-Ton als Einstieg für meinen Beitrag eignen würde, den ich gerade für das Magazin The Hunt schreibe.
»Flamingo Rose ist wohl nicht so ganz Ihr Ding, oder?«, frage ich daher, obwohl kein Zweifel daran besteht, dass die Dame solche Countrypop-Hymnen zutiefst verabscheut.
»Definitiv nicht.« Sie reicht mir mein Wechselgeld und hantiert dann an der Kaffeemaschine herum. Normalerweise trinke ich gar keinen Kaffee, aber so früh am Morgen, nach nur knapp vier Stunden Schlaf, halte ich ein bisschen Koffein für eine ziemlich gute Idee.
Während sie meinen Kaffee zubereitet, werfe ich erneut einen Blick in Richtung Gate, wo die »Flamingoheads« (so nennen sich die Hardcore-Fans tatsächlich) gerade ihre imaginären Rösser synchron zu einem Kreis formieren. Also zumindest drei von ihnen: Die vierte, ein auffallend großes Mädchen mit welligen dunklen Haaren und einer riesigen Katzenaugen-Brille, die ihr blasses Gesicht mehr als zur Hälfte bedeckt, merkt erst nach dieser Drehung ihrer Freundinnen, dass es der nächste Move ist. Wahrscheinlich leidet sie von allen in der Gruppe am meisten unter Müdigkeit oder Jetlag.
»Nicht zu fassen, dass dieser Schrott ernsthaft Headliner beim Scorchella-Festival in Palm Springs ist«, merkt die Kassiererin an und stellt meinen Kaffee auf den Tresen.
»Dort will ich übrigens auch hin«, antworte ich.
Sie sieht mich mitfühlend an. »Im gleichen Flieger? Na dann viel Spaß.«
Ich erwidere ihr Lächeln. Eigentlich könnte ich ihr jetzt erzählen, dass ich mich sogar darauf freue, fünf geschlagene Stunden inmitten von Flamingoheads zu verbringen, obwohl sie permanent viel zu laut sind und furchtbar falsch singen. Das ergibt einen großartigen ersten Akt für meinen Artikel, der zudem einen vernichtenden dritten Akt enthalten wird, wenn sich die Band nach einem garantiert grauenhaften Starauftritt am Sonntag auflösen wird (laut einer gut informierten Quelle). Aber im Moment zieht es mich zu sehr hinüber zum Gate, um sie ein wenig zu belauschen …
Unvermittelt hört das Singen auf.
Ich gehe auf einen Tisch am Donut-Stand zu – den letzten, der noch frei ist, denn anscheinend sucht gerade mindestens die Hälfte der Passagiere unseres Fluges bei Dunkin’ Donuts Zuflucht vor dem nervigen Geträller. Dort platziere ich Kaffee, Notizblock und Bordkarte auf dem Tisch, ehe ich mich hinsetze. In diesem Moment vibriert mein Handy in der Hosentasche dreifach. Schlagartig bin ich noch vor dem ersten Schluck Kaffee hellwach. Hoffentlich ist es Sarah, meine Redakteurin, die mir mitteilt, dass sie sich nach reiflicher Überlegung auf meinen Artikel freut, den ich über Scorchella schreiben will … und dass es ihr leidtut wegen ihrer verärgerten Nachricht von gestern, weshalb ich nicht im Büro sei. Offenbar hatte sie völlig vergessen, dass ich ein paar Tage frei genommen habe, um nach Palm Springs zu fliegen, wo ich die (hoffentlich dramatische) Trennung des meistverspotteten Musik-Acts in ganz Amerika dokumentieren will. Leider war ihr meine Abwesenheit wohl nur deshalb aufgefallen, weil Amber – die andere Ferienpraktikantin – die morgendliche Kaffeebestellung vermasselt hatte.
Doch das wird sich nach diesem Wochenende ändern. Sobald ich meinen Beitrag bei ihr abgegeben habe, wird Sarah bei meinem Namen nicht mehr nur an Latte macchiato denken, sondern mich in die Riege der freien Mitarbeiter von The Hunt aufnehmen. Und dann bin ich endlich ein richtiger Musikjournalist.
Doch als ich mein Handy hervorhole und den Namen auf dem Display sehe, bekomme ich ein flaues Gefühl im Magen und mir wird leicht schwindlig. Die Nachricht kommt nicht von Sarah, sondern von meiner Mutter …
Und die hat nicht die leiseste Ahnung, dass ich gerade unterwegs an die Westküste bin, sondern vermutet mich für ein paar Tage bei einem Freund. So hatte ich es meinen Eltern mitgeteilt – angeblich, weil wir lernen müssen. Außerdem weiß sie nicht (und wird es hoffentlich auch nie erfahren), dass ich für diesen Spontantrip einen nicht ganz unbeträchtlichen Betrag aus meinem für das Studium bestimmten Sparguthaben entnommen habe – eigentlich ist das vollkommen tabu. Das lag vor allem daran, dass so kurz vor Beginn des Festivals nur noch VIP-Tickets erhältlich waren, die derart teuer sind, dass ich mindestens fünf Artikel bei The Hunt unterbringen müsste – obwohl bislang nicht mal klar ist, ob auch nur ein einziger veröffentlicht wird. Ängstlich öffne ich die Nachricht, doch es ist nur ein weitergeleitetes Bild vom neugeborenen Baby meiner Cousine. Vorsichtshalber antworte ich nicht darauf, um nicht versehentlich irgendetwas preiszugeben, das mich hinsichtlich meiner Wochenendpläne der Lüge überführen könnte.
Ich versuche, mein schlechtes Gewissen abzuschütteln. Wenn ich erst einen publizierten und vergüteten Beitrag vorweisen kann, wird sich schon alles finden. Dann müssen meine Eltern zugeben, dass sie zwar nicht ganz nachvollziehen können, was mich am Thema Musik so begeistert, dass ich unbedingt Musikjournalist werden will, statt in unser Hotelunternehmen einzusteigen, wie meine ältere Schwester Natalie. Aber es ist halt total mein Ding. Und meine Eltern müssen eingestehen, dass sie stolz auf mich sind. Nun gut, so weit werden sie vermutlich nicht gehen (in unserer Familie geht es nicht so wahnsinnig herzlich, liebevoll und kommunikativ zu), aber vielleicht schaffen sie es zumindest, mich dafür zu respektieren, dass ich meine Interessen konsequent verfolge.
Und das kann ich eben nur machen, wenn ich Jobs auf diesem Gebiet habe. Von daher muss ich dringend mit den Flamingoheads reden, die alle anderen Passagiere am Gate gerade sehr froh machen, indem sie eine kleine Pause von ihrem schrägen Konzert eingelegt haben.
Jetzt steuern sie den Stand von Dunkin’ Donuts an. Die Kassiererin mustert sie skeptisch und fragt sich vermutlich, was sie in einem früheren Leben wohl Schlimmes getan haben mag, dass sie nun von ihnen heimgesucht wird. Als sie am Tresen ankommen, bestellen sie schwarzen Kaffee. Ihre Aussprache hört sich britisch an, was mich dann doch irgendwie beeindruckt. Wenn jemand extra eine so lange Anreise in Kauf nimmt, ist das schon bemerkenswert.
»Wir sind nämlich seit ungefähr sechsundzwanzig Stunden wach, wissen Sie?« Die große Rothaarige, die offenbar als eine Art Sprecherin der Vierergruppe fungiert, verzieht das Gesicht, als ob sie es selbst nicht ganz fassen könnte. »Zu Hause in Manchester ist jetzt gerade Mittag.«
»Ach so?« Die Kassiererin gibt sich große Mühe, besonders gelangweilt zu wirken. Sie kümmert sich um die Bestellung, während die Mädchen Ausschau nach Sitzplätzen halten. Die Rothaarige entdeckt meinen Tisch – es ist der einzige, an dem noch Stühle frei sind. Fragend sieht sie mich an: Könnten wir …?
Ich beiße mir von innen in die Wange, um nicht in breites Grinsen zu verfallen, und nicke: Klar doch.
Die vier setzen sich und türmen auf dem Tisch einen kleinen Wall aus Taschen auf. Dabei rutschen mehrere Pässe und Bordkarten heraus, die teilweise auf meinen Reiseunterlagen landen oder beinahe vom Tisch fallen, während die Mädchen sich aufgeregt versichern, wie unendlich sie sich auf Scorchella freuen.
Wenn ich ganz ehrlich sein soll, fällt es mir normalerweise nicht so leicht, mit Mädchen ins Gespräch zu kommen. Da bei mir immer Schule und Karriere im Vordergrund standen, sind meine Skills in Sachen Smalltalk und Dating leicht unterentwickelt, und ich muss mich zwingen, nicht verlegen den Blick abzuwenden, als die vier so unmittelbar neben mir sitzen. Doch wie soll ich jemals ein unerschrockener Reporter werden, wenn ich nicht lerne, mit fremden Leuten zu reden, ihr Vertrauen zu gewinnen und mir coole O-Töne von ihnen zu holen? Kontakte knüpfen und einen Draht zu Fremden finden ist so ziemlich der Kern dieses Berufs.
Also kann ich auch gleich damit anfangen.
»Freut ihr euch auf …?«
Die Rothaarige, die sich direkt neben mich gesetzt hat, fällt mir ins Wort und zeigt atemlos auf die Buchungsbestätigung, die aus meiner Tasche herausschaut. Darauf sind leuchtend pink die Vermerke »VIP« und »ALL INCLUSIVE« aufgedruckt.
»Wie viel hast du denn dafür investiert?«, erkundigt sie sich.
»Oh, tja, also …« Ich muss dringend besser lügen lernen. »Das hab nicht ich bezahlt …« Wenigstens das entspricht der Wahrheit.
»Jetzt bin ich echt neidisch«, kommentiert sie.
Die anderen nicken und murmeln etwas von Gemeinschaftszelten.
»Und wehe, wenn deine Flossenfüße in meinem Gesicht landen!« Das hochgewachsene dunkelhäutige Mädchen gegenüber zeigt mit spitzem Zeigefinger auf die Rothaarige, die unschuldig die Hände hebt.
»Meine Füße sind gar nicht so groß!«
Ihre Freundinnen schütteln übertrieben die Köpfe. Gut gelaunt empört sie sich darüber. Dann sieht sie wieder zu mir und mustert mich von oben bis unten. »Wenn du auch zum Scorchella fährst, welche Konzerte hast du denn geplant? Bist du auch Flamingohead?«
Mist, schon die erste Stolperfalle. Ihre Frage macht mir mein Outfit sehr bewusst. Ich trage dunkle Jeans und ein seriöses Oberhemd – was nicht ansatzweise sommerlich oder Flamingo-mäßig daherkommt. Ehe ich mir eine Antwort überlegen kann, merkt ihre Freundin, die recht klein ist und südasiatisch aussieht, spöttisch an: »’türlich nicht, Hayley. Oder sieht er irgendwie nach ›rattle the world‹ aus?« Vermutlich eine Anspielung auf einen Song von Flamingo Rose.
Die angesprochene Hayley lacht auf, rückt ihren rosa Cowboyhut zurecht und fängt an, ein Lied zu summen, das möglicherweise von Flamingo Rose stammt. Das ist allerdings schwer zu sagen, da die Band weniger für einprägsame Musik bekannt ist, sondern eher für haarsträubende Bühnen-Outfits, die man vielleicht wohlwollend als »Interpretationen« klassischer Cowboy-Kleidung beschreiben würde. Weniger wohlwollend könnte man sie als heillos übertrieben und kitschig bezeichnen.
»Ich bin sozusagen ein Neu-Flamingohead«, antworte ich hastig, um eine erneute Gesangs- und Tanzeinlage zu verhindern, die ich weder der Kassiererin noch mir antun will. »Also, ich gehöre erst seit Kurzem zur Fangemeinde, wisst ihr?«
»Aha?«, erwidert die Kleine. »Und da machst du so ’ne weite Reise nach Kalifornien, um eine Band zu hören, auf die du noch gar nicht so lange stehst?«
Verdammt, damit ist meine Legende praktisch schon geplatzt. Meine gute Erziehung – mit dem Grundsatz, nicht zu lügen – ist für meine Karriere wohl ein echtes Hindernis.
Hayleys Blick fällt auf meinen Notizblock. »Schreibst du ein Buch oder so?«
»Einen Artikel«, berichtige ich sie. »Also, für ein Blog.« Ich nippe an meinem Kaffee, um meine Nervosität zu überspielen. Denn das ist nicht nur eine handfeste Lüge, obendrein verkaufe ich mich hier gerade auch noch als Reporter, obwohl das momentan allenfalls ein Wunschtraum ist.
»Oooh, das ist ja cool!« Hayley beugt sich nach vorn. »Heißt das, die Firma bezahlt dir dein Scorchella-Ticket?«
»Schön wär’s«, antworte ich und stelle meinen Becher in einer kleinen Lücke zwischen den Taschen und Reiseunterlagen ab. »Nee, das muss ich selbst zahlen, wie alle anderen auch.« Allerdings nicht von meinem eigenen Geld. Also, nicht so richtig.
Die Mädels bemitleiden mich ein bisschen dafür, dass ich die Kosten selbst tragen muss. Dann hole ich tief Luft und strecke die Hand aus. »Ich bin übrigens Jay.«
Allgemeines Händeschütteln. Das relativ kleine Mädchen heißt Aisha und die mit dem rosa Hut ist Jess. Und die Vierte im Bunde – die vorhin beim Tanzen aus dem Takt gekommen war und bisher noch kein Wort gesagt hat – rückt ihre riesige Brille zurecht und murmelt, ihr Name sei Sasha (glaube ich zumindest). Dann beginnt sie freiwillig, alle leeren Kaffeebecher einzusammeln. Als sie damit zum Tresen geht, blicke ich ihr nach. Sie hat etwas Besonderes an sich – was nicht nur damit zu tun hat, wie die Locken über ihre Schultern fallen, sondern auch, wie sie zuvor meinem Blick standhielt …
»Wie heißt dein Blog denn?«, will Hayley nun wissen und lenkt damit meine Aufmerksamkeit zurück zum Tisch.
»Ähm, also …« Notiz an mich: Legenden künftig vor der nächsten Recherchereise zu Ende denken. »Es gibt noch keinen richtigen Namen. Mein ›Scorchella-Tagebuch‹ wird so was wie der Eröffnungseintrag.«
Ich wappne mich gegen die Reaktionen, wobei ich nicht so genau weiß, was mir lieber wäre: mitleidige Blicke oder allzu offensichtlich gespielter Zuspruch. Doch verblüffenderweise tun die Britinnen weder das eine noch das andere.
»Find ich ja toll«, sagt Aisha, »dass du so was ganz allein startest.«
Ihre Freundinnen nicken.
»Kaffee ist fertig!«
Als Sasha am Tresen ankommt, wendet die Kassiererin ihr den Rücken zu. Trotzdem bedankt sie sich bei der schlecht gelaunten Dame und kommt zurück an den Tisch, wo ihre Freundinnen schon nach den Bechern greifen, ehe sie das Tablett abstellen kann.
Hayley nimmt den Deckel ab und pustet den heißen Dampf weg. »Den brauch ich jetzt ganz dringend. Wer hatte noch mal die geniale Idee, im Flughafen zu übernachten?«
»Du!«, rufen die anderen drei im Chor, diesmal einschließlich Sasha, deren grüne Augen plötzlich durch die Katzenaugenbrille leuchten. Hayley macht ein betroffenes Gesicht und ihre Freundinnen kichern.
»Ihr habt die ganze Nacht hier zugebracht?«, frage ich an Sasha gewandt.
Doch sie macht keinerlei Anstalten zu antworten. Nach einer Weile verdreht Aisha theatralisch die Augen.
»Eigentlich war das anders geplant«, erklärt sie. »Wir hatten ein Hotel gebucht und alles. Aber dann war unser Flug total verspätet, sodass wir erst nach Mitternacht in Boston gelandet sind. Deshalb fanden wir es sicherer, gleich hierzubleiben. Ansonsten hätten wir um fünf Uhr morgens wieder aufstehen müssen, um den Anschlussflug nach Kalifornien zu schaffen. Das war uns einfach zu riskant, falls eine von uns so früh nicht aus dem Bett kommt.«
»Eine von uns?« Diesmal sprechen nur Hayley und Jess gleichzeitig und sehen dabei Sasha streng von der Seite an.
»So schlimm ist es bei mir doch gar nicht«, murmelt sie.
Jess prustet los. »Nee, überhaupt nicht! Abgesehen von dem einen Mal, als du ’nen Feueralarm verschlafen hast!«
Entrüstet verschränkt Sasha die Arme. »Am Ende bin ich doch aufgewacht!«
»Ja genau, nachdem wir noch mal zurückgerannt sind und dich geweckt haben!«
So sticheln sie noch ein bisschen hin und her, bis mich Jess irgendwann ansieht und sich erkundigt, warum ich so erfreut vor mich hin grinse.
Ich entscheide mich (weitestgehend) für die Wahrheit: »Tut mir leid, aber als Autor muss ich die ganze Zeit nur denken, was das alles für meinen Artikel hergeben würde.« Ich zeige auf meinen Block. »Wär es okay, wenn ich …? Also, ihr könnt natürlich auch Nein sagen, aber …«
Drei von ihnen sind sofort einverstanden, dass ich mir Notizen zu unserem Gespräch mache, und berichten obendrein ganz aufgeregt, wie »vier kleine Außenseiterinnen« (laut Jess) durch Flamingo Rose zueinander gefunden haben – und wie »FR« ihnen gezeigt habe, dass das Leben auch dann Sinn haben kann, wenn es nicht immer nur todernst zugeht.
»Weil es totalen Spaß macht, einfach mal nur rumzualbern«, ergänzt Aisha zusammenfassend – ehe Hayley anfängt zu schildern, wie die gesamte Gruppe gespart und geknausert habe, um genügend Geld für Scorchella zusammenzukratzen.
»Kann sein, dass ich jetzt für den Rest meines Lebens pleite bin«, fügt sie hinzu, »aber das ist mir egal!«
Ich komme beim Mitschreiben kaum hinterher und habe schon beinahe einen Krampf in der Hand, als die Durchsage ertönt, dass in Kürze das Boarding für unseren Flug beginnt. Ich bedanke mich bei den Mädchen. Sie antworten, dass es ihnen eine Freude gewesen sei, weil sie Flamingo Rose gern noch bekannter machen wollten. Außerdem seien sie sehr gespannt auf mein Blog, da dieses Wochenende garantiert so unvergesslich wird, dass sie alles gern noch mal nachlesen wollen.
Da bin ich mir allerdings nicht so sicher.
Ich stehe auf und greife nach meinen Sachen. Drei der Mädchen kündigen an, dass sie auf dem Festival nach mir Ausschau halten wollten. Sasha ist immer noch wie abwesend. Sie hat die Brille hochgeschoben und kritzelt etwas in ein kleines Notizbuch. Ich ertappe mich dabei, wie ich sie länger ansehe als nötig. Als ich ihr Gesicht genauer betrachte, kommt sie mir plötzlich irgendwie … bekannt vor.
Oder vielleicht fällt mir auch nur jetzt erst richtig auf, dass sie wirklich auffallend gut aussieht.
Natürlich muss sie ausgerechnet in dem Moment, als ich sie regelrecht anstarre, den Kopf heben und mir direkt in die Augen sehen. Dabei wird mir wieder mal bewusst, dass ich schon neunzehn bin und noch nie eine richtige Freundin hatte. Hastig wende ich den Blick ab und halte in dem Durcheinander auf dem Tisch Ausschau nach meiner Bordkarte. Zum Glück entdecke ich rasch meinen Familiennamen, Quinn. Ich ziehe meine Unterlagen aus dem Stapel, nehme sie an mich und wünsche den Mädels einen guten Flug – in der Hoffnung, dass keine von ihnen mitbekommt, dass ich die erste Klasse gebucht habe.
Auch wenn die Quinns aus Boston äußerst wohlhabend sind, zeigen wir das im Normalfall nicht.
So höflich wie möglich schlängele ich mich durch die verschlafenen Fluggäste. Auf keinen Fall möchte ich »einer von denen« sein, die andere Leute anrempeln, um zu ihrem Platz in der ersten Klasse zu gelangen. Im Gegensatz zu meiner Schwester Nat war ich noch nicht mit Fotografen konfrontiert, die Fotos von mir schießen wollten, wenn ich abends in der Stadt unterwegs war (vermutlich weil das bei mir ohnehin selten vorkommt). Allerdings erkennen mich in Boston die meisten Leute aufgrund meines Aussehens – blonde Haare, hellblaue Augen, markante Gesichtszüge – auf Anhieb als Spross der Quinns und fangen dann immer an zu tuscheln, ob ich wohl genauso viel feiern gehe wie meine Schwester Nat in meinem Alter … und warum die Zimmer in unseren Hotels eigentlich so unverschämt teuer sind.
»You can run,
you can fly
you can soar through the sky.
Put your hands out, girl
You’re gonna rattle the world.«
Eine weitere Gruppe Flamingoheads fängt an zu singen, wobei die Mitglieder mindestens zehn Jahre älter sind als die jungen Britinnen von gerade. Ich trete ein Stück beiseite, um ihnen zuzuhören, ohne dass man es mir ansieht. Und frage mich, ob ich den Artikel stilistisch vielleicht als »disaster piece« anlegen sollte. Das würde definitiv für Aufmerksamkeit sorgen. Was auch immer man von der Zeitschrift The Hunt hielt – ob man sie mochte oder zu bösartig fand –, die meisten Leute würden sicher zugeben, dass sie ziemlich witzig ist.
Wieder ertönt eine Durchsage, mit der nun alle Passagiere zum Einsteigen aufgefordert werden, was mich daran erinnert, dass ich schon längst im Flieger sein sollte. Also reihe ich mich erneut in die Warteschlange ein und zeige dem Flugbegleiter am Gate meine Bordkarte. Er sieht aus, als hätte er von allen Anwesenden am wenigsten geschlafen – oder er ist einfach nur schwer genervt von der ständigen Singerei.
»Da sind Sie aber eigentlich noch gar nicht dran mit Einsteigen«, murmelt er. Doch dann winkt er mich seufzend durch. »Gehen Sie durch. Je früher wir den Flieger vollkriegen, desto besser.«
»Danke.«
Hinter mir höre ich, wie Hayley die nächste Gesangseinlage ankündigt: »Lasso Your Heart«. Das ist einer der wenigen Songs von Flamingo Rose, von denen ich tatsächlich den Text kenne – es ist ein echter Ohrwurm, obwohl manche Zeilen reichlich skurril sind, z. B. »You won’t catch me with a loose noose, sweetheart«. Insofern bin ich ziemlich froh, dass ich in der ersten Klasse jetzt fünf Stunden meine Ruhe davor habe …
Allerdings lotst mich eine Flugbegleiterin nicht nach rechts, sondern nach links. In die Touristenklasse. Das kann gar nicht richtig sein, denn als ich gebucht habe, gab es nur noch Plätze in der ersten Klasse, weshalb ich auf jeden Fall einen davon gebucht habe. Das weiß ich ganz genau, denn wenn man mal eben drei Riesen (die noch nicht mal hundertprozentig einem selbst gehören) investiert, vergisst man das nicht so schnell. Deshalb brauchte ich auch fünf Anläufe, bis ich genügend Mut hatte, auf der Website der Fluggesellschaft tatsächlich auf »Kaufen« zu klicken. Ich versuche die Flugbegleiterin anzusprechen, doch sie ist gerade mit anderen Passagieren beschäftigt, die offenbar ihren Platz nicht finden.
»Meine Güte, geht’s noch?«
Ich entschuldige mich bei dem Geschäftsmann im schicken Anzug hinter mir und stelle mich seitlich in den Gang, um ihn vorbeizulassen.
»Nein, ich meine nicht Sie, sondern die da«, murmelt er und blickt in Richtung der beiden Flamingoheads, die ganz hinten vor einer der letzten Sitzreihen stehen und sämtliche Gepäckfächer um sie herum mit ihren Taschen vollstopfen, die zweifelsohne allerlei wild glitzernde Accessoires enthalten. »Ich musste mir schon ein Stunde lang ihr Gesinge anhören … Warum können sich diese Kids denn nicht für richtige Musik interessieren?«
»Weil Musik nicht dazu führen soll, dass man seinen Kopf gegen die Wand schlagen will.« Ein weiteres Fangirl sitzt direkt neben mir und blättert in einer Scorchella-Hochglanzbroschüre.
»Aber genauso geht’s mir bei eurer Musik«, kontert der Typ und will eilig weitergehen, doch das Mädchen lässt die Broschüre sinken, beugt sich in den Gang und ruft ihm hinterher: »Nur weil Sie keine Freude in Ihrem Leben haben, müssen Sie noch lange nicht alle Leute beleidigen, bei denen das anders ist.«
Der Typ denkt zwar nicht daran, sich umzudrehen, hebt aber missbilligend die Hand. Das Mädchen lehnt sich zurück und blickt wieder in ihre Broschüre, ist aber offensichtlich zu aufgebracht, um sich noch darauf zu konzentrieren. Flamingo Rose scheinen ihr wirklich sehr am Herzen zu liegen.
Nach diesem Erlebnis komme ich zu dem Schluss, dass ich es vielleicht doch ein Weilchen in der Touristenklasse aushalten kann, da sie möglicherweise eine wahre Fundgrube an Material für mich ist.
Die Verwechslung meiner eigentlichen Buchung kann ich immer noch klären, nachdem wir gestartet sind.