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Buch

Anna Flores kann den Tag nicht vergessen, an dem ihre Schwester Gabriella verschwand. Auch nach dreißig Jahren nicht. Zu groß war der Verlust, die furchtbare Lücke, die sie hinterließ. Die Familie brach auseinander, und Anna floh so weit fort, wie es nur ging. Nun aber muss sie in ihre englische Heimat zurückkehren, um nach dem Tod ihrer Mutter deren Angelegenheiten zu regeln. Doch je länger sie dort ist, desto größer wird ihre Obsession herauszufinden, was damals mit Gabriella geschah. Bis Anna an einen Punkt kommt, an dem sie sich endgültig der Frage stellen muss, was schwerer zu ertragen ist – die Ungewissheit oder die Wahrheit …

Autorin

Aufgewachsen in Essex und Berkshire ging Jenny Quintana für ihr Studium der englischen Literaturwissenschaft nach London. Dort und später auch in Athen und Sevilla arbeitete sie als Englischlehrerin, bevor sie mit ihrer Familie zurück nach Berkshire zog. »Lost Sister« ist ihr erster Roman.

JENNY QUINTANA

LOST SISTER

Nichts ist schlimmer als die Wahrheit

Roman

Aus dem Englischen
von Nikolaus Stingl

Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Missing Girl« bei Mantle, einem Imprint von Pan Macmillan, London.

Der Kaufmann von Venedig und Hamlet von William Shakespeare werden aus der Übersetzung von Schlegel/Tieck zitiert.

Der Abdruck von Auszügen aus »Des Himmels bestickte Kleider« und »Leda und der Schwan« aus William Butler Yeats, Die Gedichte, hrsg. von Norbert Hummelt, neu übersetzt von Marcel Beyer, Mirko Bonné, Gerhard Falkner, Norbert Hummelt, Christa Schuenke, © Luchterhand Verlag, 2005, geschieht mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

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Deutsche Erstveröffentlichung April 2020

Copyright © der Originalausgabe Jenny Quintana 2017

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Chris Clor/getty images

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

KS · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-25584-8
V001

www.goldmann-verlag.de

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Zum Gedenken an meine Eltern
Joyce und Jack Quintana

Prolog

Du bist im Herbst 1982 verschwunden, als die Bäume ihr grünes Gewand gegen ein goldbraunes eintauschten und unsere Mutter aus den Früchten, die wir im Garten pflückten, große Mengen Marmelade kochte. Ich war zwölf, mit unförmigen Kleidern und einer Kassenbrille. Du warst fünfzehn, mit wildem Haar und gertenschlank.

Zunächst glaubte ich, du würdest wiederkommen. Ich musste nur warten, draußen im Wald, wo die Vögel genauso stumm waren wie ich, als vermissten sie dich ebenfalls. Ich gewöhnte mir an, deine Jacke zu tragen, die Hände tief in den Taschen vergraben, wo sie mit den Busfahrscheinen, dem Staub und den vertrockneten Süßigkeiten spielten, die ich dort fand. Manchmal meinte ich dich zu sehen, wie du vorneweg ranntest, dich zwischen den Bäumen hindurchschlängeltest, aber es war nur Sonnenlicht, das durch die Zweige schimmerte, oder der Wind, der mit seinen Fingern durchs Laub strich. Dann wieder hörte ich dich lachen, aber es war nur Wasser, das über die Steine im Bach floss, oder Vögel, die plötzlich ihre Stimme wiederfanden. Es war, als hättest du nie existiert oder als hättest du dich aufgelöst und wärst vom Wind verweht worden.

Das war eine meiner Theorien: Dass du von selbst in Flammen aufgegangen wärst. Dass du zu kleinen Teilchen verbrannt wärst, sodass keine Spur mehr von dir zu finden war. Oder dass du emporgehoben, an einen anderen Ort befördert worden wärst, in den Himmel, wie es in der Kirche immer hieß. Aber wenn ich zu dem riesigen, dunklen Himmel aufblickte, konnte ich mir dich ganz allein dort oben nicht vorstellen, deshalb verfiel ich auf ausgefallenere Ideen: Du wärst weggelaufen und in Russland Tänzerin geworden. Du hieltest dich in einem Kloster versteckt. Du wärst als Wissenschaftlerin in der Antarktis.

Ich klammerte mich an jede dieser Theorien, weil sie mir zurückzuweisen halfen, was die Leute sagten. Du wärst auf dem Nachhauseweg von der Schule entführt, vergewaltigt und tot liegen gelassen worden. Du wärst geköpft worden, verstümmelt, und Teile deines Körpers lägen überall in der Gegend verstreut. Jeder Tag brachte neue Schrecken für mich, von denen ich dann träumte. Aus jedem Traum wachte ich schweißgebadet auf und schrie deinen Namen. Ich wollte diesen Leuten sagen, sie sollten damit aufhören. Du würdest wiederkommen. Du würdest mich nicht für alle Ewigkeit alleinlassen.

Aber die Gerüchte in der Gemeinde hielten sich hartnäckig. Freunde verstummten, wenn ich vorbeiging, obwohl ich ihre nicht geäußerten Worte hörte. Ich trug den Kopf hoch und behielt meine Gedanken für mich, murmelte sie wie Beschwörungen: Du warst in Spanien, lerntest Flamenco, verliebtest dich in dunkeläugige Zigeunerjungen. Alles Mögliche, um diese schleichenden Ängste zu vermeiden. Denn wenn ich an deinen potenziellen Entführer dachte, stellte ich mir vor, ein gefallener Engel wäre vom Himmel herabgestürzt, hätte dich mit gleichgültigen Armen an sich gerissen und wäre mit dir, seiner schönen Beute, geradewegs in die Hölle hinabgefahren.

1

Der Zug hielt hundert Meter vor dem Bahnhof. Eine Stimme kündigte eine kurze Verzögerung an. Die Leute um mich herum murrten, reckten an den Fenstern die Hälse und fragten sich, wie lange wir wohl hier festsitzen würden. Ich schloss die Augen, atmete tief ein und wieder aus, bog und streckte die Finger und pustete mir auf die Handteller. Sie taten weh, und mir ging auf, dass ich die ganze Strecke von Paddington bis hierher die Fäuste geballt hatte, sodass die Fingernägel meine Haut gekerbt hatten.

Draußen die vertrauten Wahrzeichen: viktorianische Häuser mit chaotischen Anbauten; ein schmales Stück Ödland, das sich neben den Gleisen entlangzog. Früher hatten Jungs es für ihre Mutproben genutzt; Vandalen hatten auf der Böschung Feuer gelegt. Jetzt war die Strecke abgezäunt. An Hecken hingen Plastiktüten, das Gras war mit leeren Flaschen übersät. Es war Herbst, doch von den üblichen Anzeichen war nichts zu sehen: keine Bäume, kein kupferrotes Laub, keine blassen Goldtöne. Der Ort war schmucklos. Deprimierend und still.

Vor ein paar Tagen war ich noch in Athen gewesen und hatte in der Oktobersonne Kaffee getrunken. Mein Handy hatte geklingelt, eine Stimme hatte sich gemeldet, und ich hatte Rita erkannt – die beste Freundin meiner Mutter. Es war die Art, wie sie meinen Namen, Anna Flores, gesagt hatte; wie sie das »r« gerollt hatte; wie sie die Stimme gesenkt und erklärt hatte, woran meine Mutter gestorben war. Ein Schlaganfall. Wann ich nach Hause kommen könne?

Rita hatte über die Beerdigung gesprochen und mich um meine Meinung gebeten: Eier mit Kresse oder Lachs mit Gurke; »Herr aller Hoffnung« oder »Bleib bei mir, Herr«. Ihre Worte hatten überhaupt nicht zu dem Souvlaki-Duft gepasst, der aus einem Restaurant herüberwehte, und zum Klang der einsamen Stimme, die in einer Bar sang. Hinterher hatte ich eine Ewigkeit weinend dagesessen und das Gefühl gehabt, der traurigsten Musik der Welt zu lauschen.

Der Zug ruckte an und kroch vorwärts. Die Fahrgäste rührten sich unter erleichtertem Gemurmel. Ich zog meine Jeansjacke an, hantierte mit meiner Tasche, überprüfte, ob alles da war, wo es hingehörte: Portemonnaie, Handy, Lippenstift, Givenchy-Fläschchen, Foto von meiner Mutter, Foto von Gabriella. Ein Mann im Regenmantel griff nach seinem Koffer. Ich folgte seinem Beispiel und hob meinen herunter.

Ein paar Leute stiegen mit mir aus. Ich sah ihnen nach, wie sie die Treppe hinauf- und über die Fußgängerbrücke eilten, sich mit ihren Fahrkarten und ihrem Gepäck abmühten. Ich stellte meinen Koffer ab, zog den Griff heraus und hielt inne, um mich umzusehen. Es hatte sich nicht viel geändert. Der leere Warteraum. Die kaputte Sitzbank. Die Überwachungskameras. Wann waren sie angebracht worden? Zu spät, um Gabriellas Abfahrt festzuhalten oder klarzustellen, was wirklich beobachtet worden war.

Drei Jahre. So lange war das her. Ein Boxenstopp, bevor ich nach Griechenland gegangen war, obwohl ich meine Mutter seither noch einmal gesehen hatte, als sie am Tag vor meinem endgültigen Abflug nach London gefahren war. Wenn ich jetzt an diese letzte Begegnung in einem Café im Harrods dachte, wo meine Mutter an ihrem Scone herumgestochert hatte, drehte sich mir vor Schuldgefühlen der Magen um. Drei Jahre. Und dazwischen nur Telefonate. Warum war ich davon ausgegangen, dass sie nicht totzukriegen war? Ich hätte besser als jeder andere wissen müssen, wie abrupt sich alles ändern kann.

Auf der anderen Seite der Gleise trat ein Schaffner aus einer Tür. Er schaute zu mir herüber, taxierte mich mit seinem Blick. Ich deutete ein Lächeln an, bog und streckte die Finger, als wäre mein Koffer schwer und ich nur kurz stehen geblieben, um zu verschnaufen. Dann straffte ich mich und steuerte, den glänzenden violetten Koffer hinter mir herziehend, die Treppe an. Ich hatte den Mann erkannt, allerdings so getan, als wäre das nicht der Fall. Er arbeitete schon seit Jahren am Bahnhof. Damals hatte er enge Hosen getragen, die so kurz waren, dass man seine bunten Socken sah; inzwischen reichten seine Hosen mit bescheidener Präzision bis ganz nach unten auf die Oberseite seiner Schuhe. Das war das Charakteristische an diesem Dorf: Die Leute blieben – außer mir. Ich fragte mich, ob er noch wusste, wer ich war.

Draußen auf der Straße wirkte der Himmel wie beschädigt, mit dunklen Wolken bandagiert. Die Bäume trugen kahle Äste wie Waffen, und auf dem Pflaster häufte sich Laub. Bald würde es von Männern in gelben Jacken zusammengefegt werden. Männern wie Tom. Einen Moment lang hielt ich den Atem an und lauschte, rechnete halb damit, das Rollen seines Karrens zu hören. An einem solchen Tag war er bestimmt unterwegs, den Blick gesenkt, auf seine Aufgabe konzentriert. Für alles andere blind.

Ich blinzelte und schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn, an die Vergangenheit zu denken. Stattdessen konzentrierte ich mich auf meinen Gang durch die Nebenstraßen mit ihren Reihenhäusern und den davor geparkten Autos, bemerkte ein neues Take-away, einen Pub mit geändertem Namen, ein Gebäude, das gerade renoviert wurde.

Die Straßen wurden breiter, und da stand das Haus meiner Mutter, eine ausladende viktorianische Doppelhaushälfte. Ich widerstand dem Drang, stillzustehen und den Anblick in mich aufzunehmen, so zu tun, als wäre dieser Besuch ganz normal. Ich zwang mich weiterzugehen und bog auf den Fußweg ein, und beim Quietschen der Pforte wurde mir flau im Magen. Die Haustür war schwarz, mit abblätternder Farbe und einem haarfeinen Sprung in der Glasscheibe. An der Wand wucherte eine Pfingstrose, und einen Moment lang erinnerte ich mich an blutrote, aus ihren Knospen hervorbrechende Blüten; an Gabriella, wie sie mir eine Blume ins Haar steckte. Ich hielt den Schnappschuss vor meinem geistigen Auge fest, bis er von den Rändern her verschwamm und verblasste, als würde der Entwicklungsvorgang eines Fotos rückwärts ablaufen.

Die Tür ging auf, ehe ich meinen Schlüssel finden konnte, und Rita stand in der Öffnung. »Anna«, sagte sie herzlich. Aus irgendeinem Grund hatte ich gedacht, ihre Schönheit wäre verblasst und sie hätte sich meiner Mutter angeähnelt: spatzenhaft, mit flaumigem Haar, die Augen vom Star getrübt. Stattdessen war sie drall in ihrem blauen Wollkleid, mit hellem, zu einem Bubikopf geschnittenem Haar. Ihr Gesicht hatte Falten, aber sie sah immer noch gut aus, mit hohen Wangenknochen und einer grünen Cateye-Brille.

Sie nahm meine Hand – ihr Griff war kräftig, und ich war im Nu über die Schwelle und stellte meinen Koffer ab. Und dann führte sie mich unter Entschuldigungs- und Begrüßungsformeln durch den Flur und bot mir Tee an, als wäre ich die Fremde im Haus. Vor dem Wohnzimmer blieben wir stehen. »Mach dir keine Gedanken wegen der alten Ladys«, flüsterte sie, zu mir herangebeugt. »Sie sind extra deinetwegen heute Morgen aufgetaucht.«

»Danke«, sagte ich. »Für alles, was du getan hast. Ohne dich hätte ich es nicht geschafft.«

»Natürlich hättest du das«, sagte Rita und drückte meinen Arm. »Kopf hoch, und rein mit dir.«

Das Zimmer, bemerkte ich mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust, hatte sich kaum verändert. Der Nähkasten meiner Mutter mit dem Strickzeug obendrauf; das Kaminbesteck, mit dem mein Vater immer das Feuer geschürt hatte; der Stuhl mit der geraden Rückenlehne, auf dem Großmutter Grace immer gern gesessen hatte.

Die alten Ladys, gepudert und gebügelt, wandten sich mir in einer einzigen steifen Bewegung zu. Ich lächelte zurück, wusste, ich durfte nicht weinen. Ich wollte diese guten Menschen, die meiner Mutter wegen hierhergekommen waren, nicht in Verlegenheit bringen. Im Gefühl meiner Verantwortung straffte ich mich und ging durchs Zimmer. Mir war unwohl in dem schwarzen Kleid, dass ich aus meiner Garderobe herausgekramt hatte, und ich bedauerte meine Doc Martens. Zum Ausgleich zog ich, während ich mich auf die vordere Kante eines Lehnstuhls setzte, meine Jacke aus und versuchte sie zu verstecken, indem ich sie zusammengeknüllt hinter meine Füße legte.

Rita nahm den Stuhl mit der geraden Lehne; ihr Rücken ging in die Breite wie ein aufgegangener Kuchen und quoll über die Ränder. Sie verschränkte die Arme und machte Bemerkungen zum Wetter und zur Regenwahrscheinlichkeit. Die Ladys reagierten mit Nicken und Lächeln, genau wie ich. Als wir wieder in Schweigen verfielen, richtete ich den Blick auf die reglose Pendeluhr, den leeren Kaminrost, auf alles, nur nicht auf die mitfühlenden Gesichter der Menschen im Haus.

Es klingelte an der Tür, und Rita sprang auf, ehe ich eine Chance hatte, mich zu bewegen. Sie kam mit dem Vikar zurück. Nicholas – ein dünner junger Mann mit einem Rucksack und einem unter den Arm geklemmten Motorradhelm. »Sie müssen Anna sein«, sagte er, beugte sich vor und ergriff meine Hand. »Es tut mir so leid. Was für eine schwierige Zeit.« Ich bedankte mich, und mir war bewusst, dass meine Stimme erstickt klang. Er ließ sich am Ende des Sofas nieder, als wäre das sein angestammter Platz. Und dann fuhr er fort, mit aufrichtigen, offenen Worten: Er sei noch nicht lange in der Gemeinde, aber meine Mutter habe er noch kennengelernt. »Sie war freundlich, gesellig, ein sehr beliebtes Gemeindemitglied«, sagte er.

Stimmte das? Meine Mutter war still. In sich gekehrt. Vereinsamte im Lauf der Jahre immer mehr. Jedenfalls hatte ich es so gesehen. Ich dachte, sie habe schon vor Jahren aufgehört, in die Kirche zu gehen.

»Esther hatte einen starken Glauben«, schaltete sich Rita ein.

Bis sie zu dem Schluss kam, dass Gott sie im Stich gelassen hatte.

Nicholas sah mich ernst an. Hatte ich die Worte etwa laut gesagt? Wenn ja, so reagierte er nicht darauf. Stattdessen wühlte er in seinem Rucksack und holte eine Gottesdienstordnung hervor, die er sodann mit mir durchzusprechen begann.

Während er redete, servierte Rita Tee in Mums guten goldgeränderten Tassen. Ich nahm mir einen Zitronenkeks von dem Teller, den sie anbot, und schmeckte Kindheitstage. Klebrige Kekse und Limonadendosen. Zwischen Herbstlaub hindurchblitzendes Sonnenlicht. Und da war Gabriella, die mit fliegendem Haar im Wald vor mir herrannte, mit ihrem Schal hängen blieb, während sie sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelte, über abgebrochene Äste sprang und wie eine Katze landete.

»Möchten Sie noch etwas hinzufügen?«, fragte Nicholas und unterbrach damit meine Gedanken. »Zum Gottesdienst?«

Er beugte sich vor, das schmale Gesicht von Anteilnahme gefurcht. Ich schüttelte den Kopf und produzierte noch ein Lächeln. »Es ist alles perfekt. Vielen Dank.«

Rita räusperte sich und sah mich an. »Darf ich ein paar Worte sagen?«

»Natürlich«, erwiderte ich. Es trat ein kurzes Schweigen ein, das etwas Erwartungsvolles hatte. »Allerdings weiß ich nicht recht, ob ich …«

»Schon in Ordnung«, sagte Nicholas und tätschelte mir das Knie. »Die meisten Leute überfordert das.«

Nachdem sie gegangen waren, durchstreifte ich das Haus und gewöhnte mich daran, wieder da zu sein. Die Stille senkte sich um mich herab. Ich machte mich an dem Boiler in der Küche zu schaffen, und die Heizung sprang stotternd an. Ich ging nach oben und blieb vor der ersten geschlossenen Tür stehen. Gabriellas Zimmer. Als ich das Holz berührte, spürte ich den Puls der Erinnerung. Ich ging nicht hinein, aber ich wusste, das Zimmer war genau so, wie Gabriella es zurückgelassen hatte – bereit für sie, wenn sie nach Hause kam.

Mums Zimmer lag nebenan, und diesmal öffnete ich die Tür. Das Bett war nicht gemacht. Auf dem Nachtschränkchen lag eine Brille. Über einer Stuhllehne hing ein gesteppter Morgenmantel, darunter warteten zwei kastanienbraune Pantoffeln auf dem Teppich. Es sah so aus, als würde sie gleich zurückkommen, um ihr Bett zu machen, ihre Brille zu holen, in ihr Nachthemd zu schlüpfen. Ich setzte mich auf die Matratze. Das würde nicht geschehen. Es würde niemals geschehen. Meine Mutter war fort, zusammen mit dem Rest meiner Familie, und außer mir war niemand mehr da.

Ich atmete tief ein, um das Selbstmitleid zu unterdrücken, und griff nach dem Foto in meiner Tasche. Meine Mutter: Esther. Großmutter Grace hatte es vor vielen Jahren aufgenommen, an dem Tag, an dem meine Eltern sich kennenlernten. 1966, als ein Sommerunwetter Ziegel von Dächern gefegt und Äste abgerissen hatte; als Grace Button beim örtlichen Zeitschriftenhändler die Anzeigen durchgegangen war, den Finger über die Karten hatte gleiten lassen und bei Albert Flores stehen geblieben war.

Das Foto zeigte meine Mutter im Freien. Blonde Haarsträhnen wehten ihr übers Gesicht. Sie war von fragiler Schönheit, wie Gabriella, aber da war noch etwas schwerer zu Erkennendes, etwas Verlorenes in diesen großen grauen Augen. Ich starrte geraume Zeit auf das Foto, suchte das körnige Bild ab, fragte mich, was es war, was meiner Mutter schon damals fehlte.

Auf dem Nachtschränkchen stand eine Uhr. Sie war aus Gold, mit Einlegearbeiten aus Perlmutt, die Zeiger waren um Mitternacht stehen geblieben. Ich zog sie vorsichtig auf, stellte die Zeit zurück, ließ die Finger über das Kirschholz des Schränkchens und hinunter zu der einzigen Schublade gleiten. Ich zog sie sanft auf. Leer bis auf ein Buch. Es war ein Sammelalbum, wie diejenigen, die ich während der Ferien in Wales mit Postkarten gefüllt hatte. Von der Erinnerung noch lächelnd, schlug ich es auf, und ein Mädchen starrte mich an. Ich holte Atem, und die nicht ausgeatmete Luft in mir wurde kalt. Gabriella in ihrer Schuluniform, ein unterdrücktes Lachen in den Augen. Ich nahm jede Einzelheit in mich auf, das heimliche Lächeln, das Grübchen an ihrem Kinn. Mit dem Finger zeichnete ich ihr Haar und ihre Wangen nach, die Linie ihres Halses. Es war ein Zeitungsartikel: die Geschichte des verschwundenen Mädchens.

Kummer stieg in mir auf und schnürte mir die Kehle zu. Ich schloss das Buch und legte mich auf das Bett, vergrub das Gesicht im Kissen. Maiglöckchen. Der Duft meiner Mutter. Ich stellte mir vor, wie sie Bilder und Artikel ausgeschnitten hatte, um ein Sammelalbum über Gabriella zusammenzustellen. Wie die Schere um die Ränder wanderte. Wie Mum den Klebstoff auftrug. Das Papier glatt strich. Ich versuchte, die Bilder zu vertreiben, aber sie wollten nicht verschwinden. Und die Geschichte kehrte wieder, wie ich es vorausgesehen hatte. Wie sie es immer tat. Und der Schmerz und der Verlust durchliefen mein Bewusstsein in Wellen.

2

1982

Als ich hörte, dass ein Mann aus Spanien hierher, in unser Dorf, ziehen würde, zusammen mit seiner verrückten Frau, zerriss es mich schier vor Neugier. Sie hatten das Lemon Tree Cottage gekauft, ein Haus am Waldrand, das jahrelang leer gestanden hatte. Dass seine Frau verrückt war, war nur ein Gerücht, aber die Vorstellung gefiel mir. Verrückte Ehefrauen kamen normalerweise nur in Büchern vor, und nun würde es ganz in meiner Nähe eine echte geben.

Am Samstag sollten sie einziehen, und ich hatte vor, mich hinauszuschleichen und zu spionieren. Aber Mum hatte anderes im Sinn. Als ich aufwachte, hörte ich sie lautstark Gabriella antreiben. Es würde ein heißer Tag werden – perfekt für Gartenarbeit. Rasch schnappte ich mir meine Brille und lief zu Gabriellas Tür, gerade rechtzeitig, um sie protestieren zu hören. »Müssen wir?«, sagte sie und zog sich die Decke über den Kopf.

»Ja, Gabriella«, sagte Mum und riss energisch die Vorhänge zur Seite. »Und dann kannst du dein Zimmer aufräumen. Hier sieht es aus, als wäre ein Bulldozer durchgerast.«

»Aber ich muss noch Hausaufgaben machen«, ächzte Gabriella. »Und mich auf die O-Levels vorbereiten.« Sie betonte das »O« mit einem lang gezogenen Stöhnen.

»Die sind nächstes Jahr«, sagte Mum. »Nächstes Jahr bist du befreit. Aber dieses Jahr arbeitest du im Garten. Du auch, Anna.« Sie verließ das Zimmer, und wir hörten sie die Treppe hinunterpoltern.

»Himmelherrgott nochmal«, sagte Gabriella, die sich in letzter Zeit so einige blasphemische Kraftausdrücke angewöhnt hatte. »Womit habe ich das nur verdient?«

Ich ließ mich aufs Bett plumpsen, sodass meine verschränkten Arme mir unsanft gegen den Oberkörper schlugen. Unter Spaß stellte ich mir auch etwas anderes vor als Gartenarbeit, und außerdem passte es mir so gar nicht in den Kram. Ich ließ meinen Blick durch das vom Bulldozer heimgesuchte Zimmer wandern. Der Boden war ein einziges Durcheinander aus Kleidungsstücken, Schminkutensilien, kaputten Kassetten und Schallplatten ohne Hülle. Ich pflückte einen dunkelroten Lippenstift heraus, drehte am Gehäuse und schmierte mir etwas davon auf die Hand. Mit einem Blick aufs Bett schloss ich die Augen und stellte mir vor, ich trüge den Lippenstift. Ich war Kate Bush. Wirbelte in einem von Gabriellas Kleidern herum, führte auf der Bühne einen Windmühlen-Tanz auf.

»Ich weiß, was du da machst«, sagte Gabriella durch die Decke hindurch. Sie setzte sich auf, die Augen dunkel vom Make-up des Vortags, das Haar zu elektrischen Wellen aufgefächert. Ich grinste verlegen zurück und hielt ihr den Lippenstift hin. »Kannst du haben«, sagte sie mit übertrieben schwungvoller Geste. »Er gehört dir.«

»Wirklich?«

»Ja. Wenn du die nächste Hausarbeit übernimmst.«

»Mädels!« Mums Stimme drang die Treppe herauf. »Das Frühstück macht sich nicht von selbst.«

Gabriella kniff ein Auge zu, griff nach ihrem Walkman und kuschelte sich wieder unter die Decke, während ich, den Lippenstift in der Hand, aus dem Zimmer huschte.

Wir verbrachten den Vormittag an der Sonne und rupften Unkraut heraus, während Mum den Rasen mähte. Dafür trug sie ein rosa Hauskleid und ein Paar von Dads braunen Stiefeln. »Man muss ja keine Zehen riskieren«, sagte sie. Ich sah zu, wie sie mit ihrem zarten Körperbau das schwere Gerät hin und her schob und Grasschwaden hinter ihr zurückblieben. Im Schuppen stand der Luftkissenrasenmäher, den Dad vor sechs Monaten gekauft hatte. Er hatte ihn im Garten in Betrieb genommen, und wir hatten zugesehen, wie Mum naserümpfend herumgelaufen war und gesagt hatte, der, den sie habe, sei ihr lieber.

Als Mum fertig war, verschwand sie im Haus und überließ es uns, das Gras zusammenzurechen. Wir sprangen auf, froh, von dem Unkraut und den Würmern wegzukommen, bewarfen einander mit Gras und kreischten vor Lachen, ehe wir das Ganze zum Gartenfeuer-Haufen transportierten. Beide hatten wir uns nicht entsprechend angezogen: Gabriella in ihren Stiefeln und dem schwarzen Kleid mit Ärmeln aus Netzstoff, das die Hitze einfing und mit dem sie ständig an den Brombeerranken hängen blieb, ich in Jeans und einem dicken gelben Sweatshirt, das Mum auf dem Flohmarkt gekauft hatte. Bald war sogar das Lachen zu anstrengend. Wir kratzten die letzten Grashalme zusammen und schoben den Mäher in den Schuppen, wobei wir hofften, dass niemand bemerken würde, dass er nicht gereinigt worden war.

Wir lagen auf dem kurzgeschorenen Gras unter dem Zwetschgenbaum, die Augen geschlossen und die Hände auf der Brust überkreuzt, als wären wir tot. Der Duft von gemähtem Gras und Lavendel hing schwer in der Luft. Irgendwo weit weg dröhnte ein kleines Flugzeug, und ein Insekt ließ sich auf meinem Gesicht nieder. Ich spürte seinen trägen Flügelschlag, machte mir aber nicht die Mühe, es wegzuwischen.

Als ich die Augen öffnete, kreiste über mir ein Rotmilan; mit ausgebreiteten Schwingen glitt er durch den endlosen Himmel. Ich sah ihm zu, bis er ganz plötzlich herabstürzte und aus meinem Blickfeld verschwand. Arme Maus. Oder war die Maus schon vorher tot? Waren Milane Aasfresser, oder jagten sie lebende Tiere? Ich verdrängte den Gedanken daran, wie der Vogel mit seinen Krallen ein Lebewesen zerriss, und wandte mich Gabriella zu.

Sie lag vollkommen still, die Haut im Kontrast zu ihrem Make-up und ihrem Kleid ganz blass. Wie eine blonde Morticia (oder eine Vampirin, wie Dad scherzte). Bewegte sich ihre Brust eigentlich noch?

»Gabriella«, sagte ich. Keine Antwort. »Gabriella.« Ich sprach laut, meine Stimme klang drängend, während ich sie mit dem Zeh anstieß.

Es folgte längeres Schweigen. »Ja?«

Mein Herzschlag verlangsamte sich wieder. »Nichts«, sagte ich, um einen normalen Ton bemüht.

Sie öffnete ein Auge. »Hast du etwa gedacht, ich wäre tot?«

»Quatsch.«

Ich wandte den Blick ab, damit sie mir die Wahrheit nicht am Gesicht ansah. Ich war überzeugt davon, dass bestimmte schreckliche Dinge nicht passieren würden, wenn man sie sich nur ganz genau ausmalte. Sie konnten nicht passieren, weil das hieße, dass man die Zukunft voraussagen konnte, und das konnte niemand. Jetzt versuchte ich, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Ein Bild des Lemon Tree Cottage erschien vor meinem geistigen Auge und verschwand gleich wieder. Gabriella wäre niemals damit einverstanden, dorthin zu gehen. Spionieren war nicht ihr Ding. Ich schlug stattdessen vor, Dad zu besuchen.

Sie stöhnte. »Schon wieder? Es gibt doch bestimmt was Besseres zu tun.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Platten hören, fernsehen …«

»Dein Zimmer aufräumen.«

Ich zählte im Kopf. Als ich bei fünf angelangt war, erklärte sie sich bereit mitzukommen.

Das House of Flores war schmal und stand wie zusammengekauert zwischen den anderen Geschäften in der High Street. Ich fand immer, es wirkte wie ein alter Mann, der sich mühsam aufrecht hielt, und drinnen befanden sich die wirren Gedanken des alten Mannes: die wackeligen Tische und Stühle, das gesprungene Geschirr und der Nippes, das bunte Durcheinander der Bilder an der Wand. Einer der Drucke sah aus wie Gabriella – nur mit ordentlicheren Haaren. Es war das Porträt eines Mädchens mit schmalem Gesicht und mandelförmigen Augen. Ein Modigliani.

An den meisten Tagen stand Dad am Ladentisch, über das jeweilige Stück gebeugt, das er gerade bewertete, auf seine Aufgabe konzentriert. Er beschrieb es uns: Alter, Zweck, Material. Manchmal ließ er uns auch raten. (»Das ist das Porträt einer Königin. Das sind Perlen für eine Fürstin.« »Nein, nein. Das ist eine Herzogin, und das sind keine Perlen, sondern Similisteine.«) Dann wieder probierten wir Kleider an – Samtkleider, Capes, Seidentücher und Hüte – und stolzierten, als Leute aus der Vergangenheit verkleidet, auf und ab.

Als wir jetzt die Tür aufstießen und die Glocke ertönte, um unsere Ankunft anzukündigen, war Dad nirgendwo zu sehen. Wir lauschten in der staubigen Stille, bis wir Geräusche vernahmen, ein Rücken und Ächzen aus dem Hinterzimmer, Möbelstücke, die über den Holzboden schurrten, ein plötzlicher Bums, mit dem etwas herunterfiel. »Madre mia«, kam seine Stimme.

»Haushaltsauflösung«, formte Gabriella unhörbar mit den Lippen.

Wir wussten beide, was das hieß – Dad würde Stunden damit zubringen, das Leben eines Verstorbenen durchzugehen. Er würde spät nach Hause kommen, Geschenke mitbringen und uns mit Geschichten darüber bombardieren, was er alles gefunden hatte: eine ledergebundene Ausgabe von Das verlorene Paradies; einen mit einem Drachen bemalten Porzellanteller; einen Packen Fotos, jemandes Leben von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter, von einem verblassten Band zusammengehalten. Eine Haushaltsauflösung war ein Glücksspiel. Das sagte er immer. Die vielen Stunden, die man damit zubrachte, ganze Stockwerke zu entrümpeln. Normalerweise waren die Dinge, die er fand, für jeden außer ihm wertlos. Dann wieder fand er, wenn er tief grub, ein Fossil. Etwas Wertvolles. Und wenn wir Pech hatten, wurden wir zum Ausgraben zwangsverpflichtet.

Gabriella legte einen Finger auf die Lippen, und wir zogen uns zurück, die Blicke ineinander verhakt, inständig darauf hoffend, dass das Läuten der Glocke mit dem Lärm zusammenfiel, den Dad machte. »Mädels. Seid ihr das?«, drang seine Stimme durch. Die Tür knallte zu, und weg waren wir, rannten die High Street entlang und den Chestnut Hill wieder hinauf, während Gelächter in mir aufsprudelte und mich ein Stechen an der Seite packte.

»Bleib stehen! Bleib stehen!«, sagte ich beim Einbiegen in die Devil’s Lane und warf mich auf den Boden. Gabriella setzte sich neben mich und lehnte sich an meine Schulter. Ich lauschte dem Geräusch ihres Atems und der uns umgebenden Stille. Die Devil’s Lane war eine Abkürzung zum Dorfanger. Dunkel und steinig, von hohen Hecken eingefasst, mit ein paar Häusern, die hinten an die Felder grenzten. Niemand wusste genau, woher sie ihren Namen hatte, obwohl eine Geschichte von einem Jungen berichtete, dessen Liebste an einem Fieber gestorben war. Er hatte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen: seine Seele gegen einen weiteren Tag mit ihr.

Manchmal, wenn wir nicht in der Lane Schatten jagten, spielten wir Was würdest du tun, wenn du nur noch einen Tag leben würdest? Gabriella redete davon, in der Musikecke im Our Price rumzuhängen und den Jungen mit dem schläfrigen Blick, der dort arbeitete, um einen Kuss zu bitten. Ich fand das schwieriger zu entscheiden. Am Ende dachte ich, ich würde dorthin gehen, wo Gabriella hinging. Was Besseres gab es nicht.

Jetzt wühlte sie in ihrer Tasche und zog ein Päckchen Old Holborn hervor. Ich beäugte es argwöhnisch. »Ist das Dads?«, fragte ich.

Sie grinste, während sie Tabak in ein Rizla legte, das Papier zu einer Rolle drehte und mit der Zungenspitze den Rand anleckte. »Ist das ein Problem?« Ich zuckte die Achseln. Ich hatte sie schon oft rauchen sehen, deshalb überraschte es mich nicht. »Keine Sorge«, sagte sie. »Es ist nicht seiner.«

»Woher hast du ihn dann?«

»Gekauft, natürlich.« Sie zündete die schlanke Selbstgedrehte mit einem silbernen Zippo an, das eindeutig Dads war. »Ausgeborgt«, sagte sie, die Stimme heiser vom Rauch.

Ich sah zu, wie sie inhalierte und sich Tabakkrümel von den Lippen zupfte. Sie trug roten Lippenstift. Er färbte die Zigarette, sodass es aussah, als wäre sie an beiden Enden angezündet. Ich stellte mir vor, wie die beiden Enden brannten, knisterten, in der Mitte aufeinandertrafen und wie ein Feuerwerkskörper vor Gabriellas Nase explodierten. »Du sollst nicht rauchen«, sagte ich.

»Du hast leicht reden, Kleine. Warte, bis du in mein Alter kommst. Ich wette, dann probierst du’s auch.«

»Nein, tu ich nicht, und außerdem sollst du mich nicht dazu ermutigen.«

Sie legte den Kopf schräg. »Kleine Spießerin.«

Ich wandte mich ab. Ich hasste es, wenn sie mich so nannte. Sie zerzauste mir die Haare. »War nur Spaß. Ich find’s ja gut, dass es dir nicht egal ist. Mir wär’s auch nicht egal. Wenn ich dich je beim Rauchen erwische, schlage ich dir die Zigarette aus der Hand.« Wie um es zu demonstrieren, drückte sie ihren Zigarettenstummel kräftig gegen den Boden und trat mit ihrem Stiefel darauf.

Am Ende der Lane hüpften wir über den wackeligen Zauntritt und schlenderten über den Anger, vorbei an dem mit Graffiti übersäten Spielplatz. Ein paar Jungs mit Igelfrisur hingen dort herum, rauchten und tranken aus Dosen. Sie sahen zu, wie wir vorbeigingen, die Blicke auf Gabriella geheftet. Ich warf ihr einen Seitenblick zu und erkannte an ihrem Lächeln, dass sie wusste, dass die Jungs hersahen. Sie saugte ihre Bewunderung auf, wie ich dosenweise Lilt aufsaugte, und ich hatte plötzlich das schwindelerregende Gefühl, dass sie mir entglitt. Ich legte ihr die Hand auf den Arm und zog sie an mich. Sie sträubte sich nicht. Die Jungs waren hinter uns, und ich spürte Gabriellas Körperwärme an meiner Seite.

Bis wir den Rand des Dorfangers erreichten, war die Idee mit dem Lemon Tree Cottage wieder aufgetaucht, und diesmal schlug ich vor, dorthin zu gehen.

»Wieso?«, fragte Gabriella.

»Weil da jemand Neues eingezogen ist.«

»Und?«

Ich zuckte die Achseln und versuchte, mir eine Antwort einfallen zu lassen, die ihr zusagen würde. »Es gibt sonst nichts zu tun, außer Dad bei der Haushaltsauflösung oder Mum beim Abendessen zu helfen.«

»Das kannst du ja tun, wenn du willst.«

»Ich habe schon Frühstück gemacht.«

Sie machte schmale Augen. »Ich habe dir den Lippenstift geschenkt.«

Ich machte meinerseits schmale Augen. »Das war für eine Hausarbeit. Und außerdem lässt Mum dir das sowieso nicht durchgehen.« Wir wussten beide, dass Mum es nicht nur mit unserer Vorbereitung auf ein häusliches Leben, sondern auch mit einer gerechten Verteilung der anfallenden Arbeiten sehr genau nahm.

Ich musste grinsen, als Gabriella sich geschlagen gab, und ging ihr voran aus dem Dorfanger hinaus und weiter die Chestnut Hill entlang.

Die Straße war zunächst kaum mehr als ein Fahrweg, der sich an Reihen von Cottages entlang durchs Dorf arbeitete und an der Kirche vorbeiwand. Dann wurde sie breiter und auch schneller, als sie das Dorf hinter sich ließ, und Autos vorbeisausten, die Schottersteine wegspringen ließen. Hier verliefen die Hecken wie ein ungepflegter Fransenbesatz zu beiden Seiten des Asphalts, der ausgefahren war, voller Schlaglöcher und Mulden. Auf einer einsamen Wiese drückten die Kühe ihre mächtigen Köpfe gegen ein Gatter mit fünf Querstangen. Daneben eine Masse aufgewühlter Erde, auf der sich die Rohbauten von Häusern drängten – Teil der neuen Siedlung.

Auf der Hügelkuppe bogen wir auf einen steinigen Fahrweg ab, der in Richtung Wald führte, vorbei an einem Cottage, dessen Dachstroh teilweise abgetragen und an den schadhaften Stellen vergilbt war. Von Dohlen weggepickt. Das Seltsamste, was seit Jahren im Dorf passiert sei, hieß es in der Zeitung. Jetzt kam trotz der Hitze Rauch aus dem Schornstein. Seitlich neben dem Haus hängte eine Frau Wäsche auf, während zu ihren Füßen ein kleines Kind herumkrabbelte. Sie starrte herüber, während wir vorbeigingen. Und dann kam ein Mann in einer Latzhose heraus und lehnte rauchend im Türrahmen.

Das zweite Haus war das Lemon Tree Cottage. Abgesehen davon, dass es leer stand und neben dem Haus mit den Dohlen lag, gab es zu dem Haus keine Geschichte. Aber beim Gedanken an eine Wahnsinnige auf dem Dachboden betrachtete ich es mit neuem Interesse.

Das Gebäude zeichnete sich wie ein Schatten hinter einem dunkelgrünen Geflecht ab. Vom Tor aus kämpfte sich ein mit Kies bestreuter Weg durch den Garten und zwängte sich an einer Reihe kaputter Terrakotta-Töpfe vorbei. Eine Pflanze mit violetten sternförmigen Blüten überwucherte den Türsturz und fiel in Kaskaden seitlich davon die Wände hinab. Es war kein Lebenszeichen wahrzunehmen, weder Menschen noch Geräusche, nur eine brütende Stille, die auf die Luft drückte, als nähme sie ihr den Atem.

Ich betrachtete die rautenförmigen Glasscheiben, als plötzlich eine Gestalt an einem Fenster im Erdgeschoss vorbeiflitzte. Wie hypnotisiert starrte ich hin. Sie bewegte sich leicht, tauchte in Schatten ein und war rasch verschwunden.

»Oben«, zischte Gabriella und stieß mich an.

Ein Mädchen. Von einem Fenster gerahmt. Blondes Haar, das ihr Gesicht umfloss.

Schritte knirschten auf Kies. Ein Mann, etwa so alt wie Dad, kam ums Haus herum. Ich erstarrte wie ein von Licht festgehaltenes Lebewesen. Er war blass – Gesicht und Haare, sogar seine Kleider – und sah Gabriella geradewegs an. »Gehen wir«, flüsterte ich und packte sie am Arm. Einen Moment lang sträubte sie sich. Ich zog kräftiger, bis sie nachgab, und scheuchte sie den Fahrweg entlang. Als ich mich kurz umdrehte, sah ich, wie der Mann uns vom Gartentor aus nachstarrte.

3

Am Tag der Beerdigung erwachte ich mit einem Gefühl der Angst und mit traumwirren Gedanken. Das Wetter entsprach meinen Empfindungen: Ein einziger Donnerschlag, und dann kam der Regen und strömte über die Fensterscheiben. Ich lauschte den Geräuschen, spürte die Last dessen, was mir bevorstand.

Unten machte ich Kaffee. Während ich in der altmodischen Küche mit ihrem abgenutzten Linoleum und dem Tisch, den angeschlagenen Schränken und der bestoßenen Spüle am Tresen lehnte und aus der Tasse meiner Mutter trank, kam mir der Gedanke, dass ich mich für jemanden ausgab, der hierhergehörte, die verlorene Tochter, die zurückgekehrt war. Doch da war niemand, der mich willkommen hieß.

Im Wohnzimmer nahm das Gefühl zu, während ich aufs Geratewohl Schubladen aufzog. Sie waren voller Papiere, Briefe und alter Adressbücher, die meinen Eltern gehört hatten. Fotos gab es auch. Ich fand eines von Gabriella auf dem Trafalgar Square, auf ihrem Arm aufgereiht Tauben. Meine Gedanken kehrten zu dem Sammelalbum zurück. Wie viele Bilder von Gabriella hatte meine Mutter hineingeklebt? Wie viele Artikel und Interviews hatte sie aufgehoben?

Später kamen, angeführt von Rita, im Gänsemarsch die Damen ins Haus. Alle trugen die gleichen schwarzen Röcke und Umschlagtücher. Nur Rita war anders angezogen. Unter ihrem Kunstpelzmantel sah ich flüchtig ein graues Seidenkleid. Sie war schon immer elegant gewesen. Und selbstsicher. Anders als meine Mutter, die immerzu gehetzt gewirkt hatte.

Gemeinsam warteten wir auf den Trauerzug, und als er kam, gingen wir stumm zu den Autos, und beim Anblick des fahlen Sargs und der respektvollen Anzugträger wurde mir schwer ums Herz. Beim Einsteigen wahrte ich die Fassung, doch als die Türen zuklappten und der Wagen anfuhr, war mir, als glitte meine ganze Welt mit mir davon, als hätte ich die Kontrolle verloren.

Wir fuhren die Chestnut Hill hinunter und die High Street entlang. Ein Kind zeigte auf uns und zupfte seine Mutter am Ärmel; ein alter Mann lüftete den Hut; eine Frau in einem Regenmantel mit geschlossenem Gürtel eilte in eine Einfahrt. Ich reckte den Hals, als wir am House of Flores vorbeifuhren, aber der Laden war geschlossen, wie nicht anders zu erwarten, und das alte Ladenschild schaukelte im Wind.

Die Kirche war brechend voll. Ich blickte mich um, und mir kam alles vertraut vor: die Buntglasfenster und die Mahagonibänke; sogar die bestickten Sitzkissen mit ihren Kreuzen und Tauben sahen so aus, als wären es noch die von damals, obwohl sie das nicht sein konnten, nicht nach so langer Zeit.

Rita drückte meinen Arm, während die Sargträger den Sarg abstellten und wir vorne Platz nahmen. Nicholas wirkte in seinem gestärkten Chorhemd noch jünger. Er hieß uns willkommen, sagte, warum wir hier seien, nämlich zu Ehren einer liebevollen Ehefrau, Mutter und Freundin. Rita trat vor, um ihre Rede zu halten. Sie sprach von der Loyalität meiner Mutter, ihrem Bekenntnis zu Gott und ihrem Gleichmut angesichts einer Tragödie. Sie sprach laut und selbstbewusst, und ihre Stimme zitterte nur einmal, als sie Esthers Töchter erwähnte.

Es folgten weitere Würdigungen. Dann noch ein Gebet. Ein Lied. Hinten in der Kirche schrie ein Baby. Ich hörte das Knarren der Tür und das leiser werdende Geschrei, als die Mutter mit dem Baby hinausging. Die Orgel spielte, und ich spürte Gabriella neben mir, die mit dem Fuß in einem ganz anderen Rhythmus klopfte; dem in ihrem Kopf.

Hinterher wurde der Sarg weggebracht, und wir traten hinaus auf den Kirchhof. Einer nach dem anderen kam auf mich zu, ergriff meine Hand und sprach mir in gedämpftem Ton sein Beileid aus. Gesichter mit Falten, Runzeln und vertrauten Augen, geschwächt und durch dicke Brillengläser spähend. Am liebsten hätte ich meine Sonnenbrille hervorgeholt, um mich vor all den guten Absichten zu schützen, aber der Himmel war grau, und es regnete wieder, ein leichtes Nieseln, das sich zum Guss steigerte. Ich versteckte mich stattdessen hinter dem Pilz aus schwarzen Schirmen, die mit einem einzigen, synchronen Klicken aufgingen, sobald der Sarg herabgesenkt wurde.

Und dann sah ich sie. Mrs Ellis. Sie war gerade am Gehen und trippelte auf dem Kiesweg in Richtung Friedhofstor. Sie war es, kein Zweifel, dünn und gebeugt, diese Vorwärtsneigung, diese raschen, kurzen Schritte, sogar die Einkaufstasche, der Regenmantel, die fleischfarbene Strumpfhose und die altmodischen Schnürschuhe.

Der Regen wurde kräftiger, während ich der sich entfernenden Gestalt hinterherstarrte. Der Wind frischte auf und griff nach meinen Kleidern. In der Ferne war leises Donnergrollen zu hören. Die Trauergäste vergaßen jede Etikette und wogten um mich herum und weiter in Richtung Tor. Ich beschleunigte meine Schritte, passte mich ihrem Tempo an. Ich musste Mrs Ellis’ Gesicht sehen, obwohl ich es mir auch so vorstellen konnte: schmale Lippen, selbstzufriedenes Lächeln, die Haut straff über ihre Wangenknochen, den Kiefer, die Stirn gespannt. Auch ihre knochigen Hände sah ich vor mir, wie sie sie rang, während sie mit dem Reporter sprach und die Geschichte von Gabriella erzählte, dem verschwundenen Mädchen. Und wieder dachte ich an Tom, wie er seinen Straßenkehrerkarren schob, während seine Lippen sich im Selbstgespräch bewegten. Mrs Ellis hatte sie erspäht: Tom und Gabriella. Sie war eine Zeugin gewesen, einer der letzten Menschen, die meine Schwester gesehen hatten. Und Tom – arm, verwirrt, unschuldig – war verhört worden. Dabei war allerdings nichts herausgekommen.

Mein Herz donnerte so rasch, dass ich mich ganz schwach fühlte. Aber ich wollte sie trotzdem sehen. Ich wollte wissen, wie sie sich verändert hatte. Erst als sie durchs Tor ging, als ich mich vordrängte und sie zurückblickte, begriff ich. Es war nicht Mrs Ellis. Diese Frau war zu jung, Mitte vierzig, womöglich waren wir zusammen zur Schule gegangen, und dann ging mir auf, dass dem tatsächlich so war. Es war Martha. Aber ich hatte gar nicht so weit danebengelegen: Sie war Mrs Ellis’ Tochter.

Einen Moment lang sahen wir beide einander an, und der Rest der Welt rückte aus dem Fokus. Da war nur Martha, wie im Scheinwerferlicht. Martha Ellis, die niemand mochte, die von allen drangsaliert und ignoriert worden war – außer von Gabriella.

Ich hielt Marthas Blick stand, aber dann schaute sie weg, und ihre Stirn furchte sich, als wüsste sie nicht, wer ich war. Dabei musste sie es wissen. Ihre Wangen waren teigig und eingefallen, ihre Lippen schmale Streifen. Ihre Augen huschten umher, als hätte sie Mühe mit dem Sehen, bis sie ganz plötzlich auf mir verharrten und ihr trüber Blick von Wiedererkennen und noch etwas anderem abgelöst wurde. Angst. Und das freute mich. Ich wollte, dass sie sich erinnerte. Ich wollte, dass sie den Schmerz und den Verlust empfand, genau wie ich.

Sie drehte sich um und eilte den Weg entlang, und der Regen troff mir übers Gesicht und vermischte sich mit meinen Tränen. Rita zog mich am Arm, bot mir ein Taschentuch an und drängte mich, meine Jacke anzuziehen. Sie lotste mich zurück zum Haus und sprach dabei in solch einem Tempo auf mich ein, dass meine Gedanken nicht mitkamen. Als wir dort eintrafen, kamen die Dorfbewohner mit ihren Gaben hereingestolpert: Platten mit dreieckigen Sandwiches und Kuchenstücken, feucht vom Regen.

Ich bewegte mich durchs Zimmer, begrüßte Leute, bedankte mich für ihr Kommen. Von Zeit zu Zeit musste ich an Martha denken und beschwor Bilder herauf: Martha, wie sie auf einer Türschwelle hockte; im Wald herumschlich; wie sie mir auf dem Dorfanger hinterherlief und mit ihrer wimmernden Stimme Geschichten erzählte.

Ich konzentrierte mich auf die Leute um mich herum und wappnete mich gegen ihr Mitgefühl. Immer wieder rückten Gesichter näher, drangen Worte durch. Ich stützte mich an harten Oberflächen ab, um mich aufrecht zu halten. Ich richtete den Blick auf Rita und sah zu, wie sie Tee machte, Sandwiches anbot, sich herabbeugte, um einer alten Dame das Umschlagtuch zurechtzuziehen.

»Du siehst aus wie Esther«, sagte ein Mann mit silbergrauem Haar, der neben mir stehen geblieben war. Ich lächelte höflich, dabei wusste ich, dass das nicht stimmte. Ich war dunkelhaarig, nicht blond; hochgewachsen, aber nicht so elegant wie meine Mutter. Der Mann blieb einen Moment lang stehen, starrte mich an, musterte mein Gesicht. Er war ebenfalls hochgewachsen und sah mir genau in die Augen. »Nicht körperlich, meine ich«, sagte er, als könnte er meine Gedanken lesen. Unbehaglich trat ich von einem Fuß auf den anderen. Was meinte er dann? Er sagte es nicht.

Als der Mann weiterging, trottete ich ihm nach und steuerte die Küche an. Rita und ein, zwei andere waren mit dem Abwasch beschäftigt, doch als ich mir ein Geschirrtuch griff, um ihnen zu helfen, schob Rita mich weg. Sie gab mir eine Tasse Tee, die heiß und süß war. Ich trank sie rasch, weil ich unbedingt helfen wollte. Ich nahm ein Messer aus der Schublade und schnitt ein Früchtebrot in dicke Brocken. »Die solltest du vielleicht dünner schneiden«, sagte Rita über meine Schulter. Ich lächelte, schnitt die Scheiben aber weiterhin genauso dick wie vorher. Sie hatte sich immer in unseren Küchenbetrieb eingemischt. Allerdings hatte Mum sie für unverzichtbar gehalten. Ich weiß nicht, was ich ohne Rita täte, hatte sie immer gesagt.

Irgendwann, als alles aufgegessen und das Geschirr abgeräumt war, brachen die Leute wie auf ein Stichwort in kleinen Grüppchen auf. Rita ging als Letzte. Sie verharrte an der Tür, knöpfte ihren Mantel zu. Früher hatte ich immer gedacht, sie gliche mit ihren schicken Kleidern und ihrer modischen Frisur einem Filmstar. Jetzt bot sie an, zu bleiben und mir Gesellschaft zu leisten.

»Ich komme schon zurecht«, erwiderte ich. »Wirklich.«