DAS BUCH
In einer zerstörten Welt ist die Gabe zu träumen so selten wie gefährlich. Das muss der junge Frenchie schmerzvoll erfahren. Er und seine Freunde kämpfen in den undurchdringlichen Wäldern im Norden Kanadas ums Überleben. Und gegen ihre Verfolger, die ihre Träume verloren haben und sie nun den Ureinwohnern stehlen wollen. Sie schrecken vor nichts zurück. Doch Frenchie, die rebellische Rose, der weise Miigwans oder die kleine RiRi, sie alle haben ihren Verfolgern mehr als nur die Träume voraus: Freundschaft, die Weisheit ihrer Urahnen und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Als das Leben des Menschen, den Frenchie am meisten liebt, in Gefahr ist, trifft er eine Entscheidung, die alles verändert …
»Diese wunderbar geschriebene Geschichte geht einem so nahe, dass es schon wehtut – man muss sie einfach gelesen haben!« The Globe and Mail
»Eine dystopische Welt, die erschreckend realistisch gezeichnet ist und damit sehr viel über unsere jetzige Welt sagt.« Kirkus Review
DIE AUTORIN
Cherie Dimaline ist ein Mitglied der Georgian Bay Métis-Gemeinschaft in Ontario. Sie hat bereits sieben Bücher veröffentlicht. Ihr Roman »Die Traumdiebe« wurde in Kanada zum Bestseller und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Cherie Dimaline lebt derzeit in Vancouver, wo sie an einer Fortsetzung der »Traumdiebe« arbeitet und an einer Filmadaption des Stoffes.
CHERIE DIMALINE
DIE
TRAUMDIEBE
ROMAN
Aus dem kanadischen Englisch
von Stefanie Frida Lemke
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Copyright © 2017 by Cherie Dimaline
Copyright © 2020 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkterstr. 28, 81673 München
Alle Rechte sind vorbehalten.
Redaktion: Silvia Schröer
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,
unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock
Zitatnachweis: Cormac McCarthy, Die Straße.
Deutsche Übersetzung von Nikolaus Stingl.
Copyright © 2015 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Satz: Leingärtner, Nabburg
e-ISBN: 978-3-641-25674-6
V001
Den Großmüttern, die mir Kraft gaben.
Den Kindern, die mir Hoffnung geben.
»Wenn man einen Menschen
oder ein Volk töten will,
muss man nur seine Träume zerstören,
so wie die Weißen es mit den Indianern machen:
ihre Träume, ihre Magie, ihre Schutzgeister töten.«
William S. Burroughs
»Wenn du nichts anderes hast,
ersinne aus dem Nichts Zeremonien
und hauche ihnen Leben ein.«
Cormac McCarthy
1
Frenchies Geschichte
Mitch grinste breit, und seine Zähne leuchteten im schwachen Licht der Solarlampe, die wir bei einer unserer Suchaktionen in einem Schuppen gefunden hatten. »Jetzt pass auf.« Er hielt mir eine Tüte Doritos hin – eine große Tüte.
»Krass, Mitch! Wo hast du die denn her?« Ich berührte die mit Luft gefüllte Packung, um zu prüfen, ob sie echt war. Meine schmutzigen Finger glitten über das glänzende Material wie Schlittschuhe. Sie war echt. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, und das Loch in meinem faulenden Backenzahn protestierte laut.
»Im letzten Haus, auf dem Schrank versteckt, wie Ma es immer gemacht hat, wenn sie nicht wollte, dass wir irgendwo rangehen.«
Mom war erst seit ein paar Monaten nicht mehr da, und über sie zu reden tat immer noch weh. Mein Bruder öffnete mit einem Knall die Doritos-Tüte, um unseren Schmerz über ihren Verlust zu übertönen. Und wie ein nach Käse duftendes Feuerwerk vermochte das laute Entweichen von Luft und industriell verarbeitetem Maispulver uns aufzuheitern.
Wir befanden uns in einem Baumhaus irgendwo am äußeren Rand einer kleinen Stadt, die schon lange verlassen war wie ein vergessener Lebensmittelladen, ein paar Stunden entfernt von Southern Metropolitan City, früher Toronto – damals, als es noch so viele Städte gab, dass sie alle einen richtigen Namen hatten statt nur eine geografische Angabe. West City, Northeast Metropolis, Southern Township …
Es war ein tolles Baumhaus, irgendein glückliches Kind musste einen handwerklich begabten Vater gehabt haben. Vom nicht gemähten Rasen aus war es bestimmt zwei Stockwerke hoch, und es hatte ein Giebeldach mit richtigen Dachschindeln. Wir versteckten uns jetzt schon seit drei Tagen hier. Bevor Dad sich dem Rat anschloss und wir ihn nie wiedersahen, hatte er uns erklärt, die beste Art, sich zu verstecken, war, immer in Bewegung zu bleiben. Doch dieses Frühjahr war nass, es regnete schon seit einer Woche, und wir konnten dem trockenen Baumhaus mit den eingebauten Bänken einfach nicht widerstehen. Außerdem rechtfertigten wir unseren langen Aufenthalt damit, dass das Baumhaus so hoch wie ein Scharfschützenversteck war und wir es sofort sehen würden, wenn jemand kommen sollte.
Wahrscheinlich war der Knall der metallisch glänzenden Plastiktüte schuld, kaum lauter als ein Sektkorken. Ich stellte mir vor, wie die Schulverweigerer-Polizisten – wir nannten sie die Anwerber – uns auf der Spur waren, die Nasen im Wind; in ihren Sonnenbrillen spiegelte sich die Häuserreihe hinter unserem hölzernen Traumhaus, in dem wir uns eingenistet hatten. Und natürlich bogen sie in dem Moment, als wir gerade die ersten Hände voll wunderbar salziger Tortillachips aßen, ums Haus in den Garten.
»Scheiße.«
»Was ist?«
Mitch legte die Tüte weg und blickte aus dem Fenster, das in die Wand an der Nordseite geschnitten war.
»Francis, du musst mir jetzt sehr gut zuhören.«
»Was?« Ich wusste, es war ernst. Er nannte mich sonst nie Francis, nur Mom und Dad hatten das getan und auch sie nur dann, wenn es Ärger gab. Ich war schon immer Frenchie gewesen.
»Pass jetzt gut auf.« Er drehte dem Fenster den Rücken zu und sah mir fest in die Augen. »Du wirst jetzt aus dem hinteren Fenster und aufs Dach klettern und dich dabei so klein wie möglich machen.«
»Aber Mitch! Ich kann nicht aus dem Fenster klettern.«
»Doch, das kannst du, und das wirst du. Du bist der beste Kletterer, den ich kenne. Wenn du auf dem Dach bist, hältst du dich an der Kiefer dahinter fest und kletterst hinein. Bleib so nah am Stamm wie möglich, aber rutsch auf die andere Seite, wo es dunkler ist.«
»Du gehst zuerst.«
»Zu spät, Kumpel. Sie wissen bereits, dass hier oben jemand ist, nur nicht wie viele.«
Mir schnürte sich der Hals zu. So presste man Stimmen zu hysterischem Kreischen.
»Nein, Mitch!«
Er drehte sich wieder um, sein Blick war entschlossen, beinah wütend. »Los, Francis! Beweg dich!«
Ich wollte nicht, dass er sauer auf mich ist, er war alles, was ich noch hatte. Also kletterte ich aus dem Fenster. Mich an die Dachschindeln klammernd zog ich mich hoch und drückte den Bauch fest aufs Holz. Kurz hob ich den Kopf, um über den Dachfirst zu spähen, gerade so weit, dass ich den ersten Anwerber sah. Er steckte sich unter seinem blonden Schnurrbart eine Trillerpfeife in den Mund und ließ den hohen, Angst und Schrecken verbreitenden Ton aus unseren Albträumen erklingen. Unterm Dach hörte ich Mitch gegen die Sperrholzwände schlagen. »Verdammte Scheißkerle!«, rief er. »Kommt doch, und holt mich, ihr Teufel!«
Voller Angst sprang ich in die Kiefer. Die schuppige Borke kratzte über meine Oberschenkel, die Nadeln stachen mir in die Arme. Schweißgebadet rutschte ich auf die andere Seite des Stammes. Die Kratzer auf meinen Schenkeln waren bereits rot und geschwollen. Aus dem Garten hörte ich Trillerpfeifen, zwei inzwischen.
»Holt mich doch, ihr Idioten!«
Jetzt sah ich die beiden Anwerber. Sie trugen blaue Shorts, bis zu den Knien hochgezogene Sportsocken mit roten Streifen, Sneaker aus Meshgewebe, die sie schnell und professionell wirken ließen, und über den Poloshirts Windjacken, die eine Nuance heller waren als die Shorts. Der Schriftzug auf der linken Seite ihrer Brust war aus der Ferne nicht zu entziffern, aber ich wusste, was da stand: »Regierung von Kanada: Ministerium für Traumforschung.« Um den Hals hing ihnen an einer weißen Kordel die silberne Trillerpfeife.
Im Baumhaus führte Mitch sich weiter wie ein Wahnsinniger auf. Brüllend ließ er sich von den Anwerbern die Leiter herunter und auf den Rasen zerren. Ich hörte einen Knochen knacken wie einen jungen Ast. Mitch schrie. Dann schleiften sie ihn an den Armen über den Rasen und ums Haus herum, durch den Vorgarten und in den Van, und die ganze Zeit übertönte sein Schreien die Geräusche meiner Flucht.
Dann glitt die Tür zu.
Und der Motor sprang an.
Und ich war allein.
Ich wollte einfach loslassen. Ich wollte die Arme vom Stamm nehmen und über meiner Brust falten wie eine Mumie, meine Beine aus der Umklammerung lösen und mich rückwärts herunterfallen lassen. Ich löste eine Hand und legte sie auf die gegenüberliegende Schulter. Tief atmen. Du kannst das. Die andere Hand zitterte, während sie langsam losließ. Die Haut an meinen Oberschenkeln brannte vom zusätzlichen Druck. Bald würden auch meine Beine nachgeben. Tief atmen …
Wenn ich den Fall überlebte, was möglich war, würde man mich mit Mitch zur Schule bringen. Der Gedanke war verlockend. Kurz stellte ich mir ein Wiedersehen wie im Fernsehen vor: Mitch, Mom, Dad und ich … Aber so würde es nicht laufen. Die Geschichten der wenigen Leute, die es aus den Schulen herausgeschafft hatten, waren alles andere als ermutigend.
»Gestern ist ein Mann namens Miigwans beim Rat vorbeigekommen«, hatte mein Vater eines Abends gesagt, als wir vier noch zusammen gewesen waren. »Er ist aus einer der Schulen oben am Lake Superior geflohen.« Wir saßen um den schweren Picknicktisch, den wir in den Hauptraum des kleinen Hauses gewuchtet hatten. Dad hatte dunkle Ringe unter den Augen und sprach zögerlich, als würde er eigentlich gar nicht mit uns reden wollen. »Er hat erzählt, was mit unseren Leuten passiert. War nicht leicht, das zu hören. Er war ziemlich verzweifelt und wollte sofort wieder los und nach jemandem namens Isaac suchen.«
»Jean, vielleicht sollten die Jungs ins andere Zimmer …«
»Miigwans sagt, die Schulen sind gar nicht neu. Er sagt, der Gouverneursausschuss nutzt das alte Internatssystem, mit dem sie früher schon versucht haben, uns zu brechen.« Er machte eine Pause und leerte sein Glas Schnaps zur Hälfte. Es war ein Selbstgebrannter, den er in einer alten Flasche auf der Hintertreppe aufbewahrte. Dann knallte er das schmierige Glas auf den Tisch. Das Geräusch hallte von den leeren Holzwänden wider, und ich zuckte zusammen. Vater hatte zu Ende gesprochen. Er war bedrückt, wie immer, wenn er davon erzählte, wie die Welt sich verändert hatte. Er sagte, wir könnten froh sein, dass wir nicht wussten, wie die Welt früher einmal gewesen war, so müssten wir ihr weniger nachtrauern. Ich glaubte ihm.
»Okay, Jungs, genug. Ab ins Bett.« Mom scheuchte uns von der Bank und schob uns zur Tür, bevor wir uns eine Ausrede überlegen konnten, warum wir bleiben mussten. Dad küsste mich noch auf den Kopf, und ich fühlte mich sicher, wenn auch nur für einen Moment.
Als wir an jenem Abend im Bett lagen, hörten wir Mom weinen. Und am nächsten Morgen packten wir unsere wenigen Habseligkeiten zusammen und verließen das kleine Haus, in dem wir gewohnt hatten, seit unser Apartment in der Stadt eines Tages vom Stromnetz abgeschnitten gewesen und die Lage immer gefährlicher geworden war. Wir hatten nicht mal ein Jahr hier verbracht, und keiner von uns wollte schon wieder weiter, am wenigsten Mitch und ich. Teile unserer Familie lebten hier, Blutsverwandte und selbst gewählte. Andere Familien wie unsere hatten sich hier niedergelassen. Und jetzt stopften wir Kleidung und in Decken gewickelte Gläser mit Eingemachtem in unsere Reisetaschen, um erneut aufzubrechen. Ich dachte an unseren Fußmarsch aus der Stadt in diese Siedlung.
»Wir gehen nach Norden«, hatte Dad damals gesagt. »Dahin gehen jetzt viele. Wir werden eine Weile in der Bay Zone bleiben und uns in einer der Ferienhütten da oben verstecken. Wir finden einen Weg, Frenchie. Der Norden wird unser neues Zuhause.«
»Sicher?«
»Ja, ganz sicher. Dafür werde ich sorgen.«
Ich hatte mich gefragt, was uns dort oben erwartete. Meine Befürchtung war, dass alles leer und nass sein und sich in unseren Fußabdrücken vom ständigen Regen sofort das Wasser sammeln würde.
Ich war müde und hungrig gewesen, und meine Schuhe waren dünn wie aus Pappe, aber ich ließ mir nichts anmerken. Wir waren alle müde und hungrig und schleppten uns auf dünnen Ledersohlen dahin. Ich verhielt mich wie ein Kind, das aus der Schule nach Hause kommt und schon am Geruch im Flur erahnt, dass es Streit gegeben hat, und daher beschließt, heute ohne Ermahnung die Mathehausaufgaben zu machen. Das ist wohl eine Überlebensstrategie.
Wir liefen den alten Highway 11 entlang und hatten den letzten Vorort der East City hinter uns gelassen. Anders als die kleineren Außenbezirke, wo ich später meinen Bruder verlieren würde, waren die Vororte hier weitläufig, ein Labyrinth aus verdunkelten Fenstern und ausgebrannten Autos in kaleidoskopartig angelegten Bezirken, die sich wie eine geometrische Blüte aus Asphalt und Bordsteinen, durchtrennt von Zufahrtswegen, verzweigten.
Ich fühlte mich damals irgendwie besonders, bevor ich erfuhr, wie gefährlich es war, besonders zu sein. Ich war stolz auf meine Familie mit unseren ausgelatschten Schuhen und strähnigen Haaren, wir waren noch immer Könige unter den Menschen. Ich hielt meinen dünnen Wanderstab wie ein Zepter, das Kinn hoch in den aschgrauen Himmel gereckt.
Und jetzt war es wieder einmal so weit, wir machten uns bereit für eine weitere Reise ins Ungewisse, getrieben von Angst. Doch wir sollten diese Reise nicht mehr gemeinsam antreten. Als mein Vater zum letzten Mal, bevor er seine Familie nach Norden führen wollte, zum Ratstreffen ging, wurde dort beschlossen, dass man einen allerletzten Versuch unternehmen wollte, mit den Gouverneuren in der Hauptstadt zu reden. Die Ratsmitglieder kehrten nie zurück.
Ich wusste, ich würde meine Familie nicht wiedersehen, wenn man mich gefangen nahm. Man würde uns in der Schule nicht wieder zusammenführen. Ich musste heil von diesem Baum hinunterkommen und weiterziehen. Mitch hatte sich geopfert, damit ich leben konnte, also musste ich leben. Es war das Einzige, was ich noch für ihn tun konnte.
Ich legte die Arme um den rauen Stamm und umklammerte ihn so fest, dass ich noch Stunden später Abdrücke der Rinde auf Wangen und Oberschenkeln hatte. Ich blieb dort, bis der Van weggefahren war, bis ich den Motor nicht mehr hörte, bis der Tag grau wurde und das Grau zu Indigoblau. Dann schüttelte ich meine eingeschlafenen Glieder und jeden schreienden Muskel wieder wach. Halb rutschte, halb kletterte ich den Baum hinab. Den letzten Meter sprang ich, und vom Aufprall vibrierten meine Schienbeine, und die Kniescheiben wackelten wie lose Babyzähne. Einen Moment lang saß ich einfach nur da, bis die Erinnerung an den schrillen Ton der Trillerpfeifen der Anwerber mich aufspringen ließ. Ich war schon fast beim nächsten Haus, als mir mein Rucksack und die noch halb volle Tüte Tortillachips einfiel und ich noch mal zurückging.
Die erste Nacht lief ich durch, ich rannte, wann immer es möglich war, und nutzte dafür alles, was Schatten bot. Ich pinkelte sogar im Laufen und tropfte dabei auf meine mit Klebeband zusammengehaltenen Stiefel. Am nächsten Morgen, als ich mich im hellen Tageslicht wirklich ganz allein wiederfand, war ich voller Panik und Adrenalin. Hinter einem kleinen Bungalow am Ende einer Sackgasse irgendwo bei einem Outlet-Center entdeckte ich eine Regentonne und trank so viel Wasser, wie ich konnte, nur um das meiste davon gleich wieder zu erbrechen. Wenigstens waren meine Stiefel jetzt wieder sauber.
Die Bürgersteige hier waren von Rissen wie Arterien durchzogen und von bedrohlichem Unkraut überwuchert, das sich durch den sintflutartigen Regen auch ohne Bestäubung weiterverbreitete. Die Tierwelt bestand aus Bussarden, Waschbären so groß wie Huskys, Haustieren, die der Wildnis überlassen worden waren, und Horden von Kakerlaken, die die Fähigkeit wiedererlangt hatten, wie ihre Verwandten im Süden zu fliegen. Als ich noch mit meinem Bruder unterwegs gewesen war, hatte ich vor ihnen allen Angst gehabt. Doch jetzt, nachdem man mir meinen Bruder genommen hatte, waren sie nichts. Ich stapfte über reihenweise Kakerlaken wie über nassen Kies und warf mit Steinen nach dem Rudel Meerschweinchen, das unter der schützenden Markise eines Supermarkts an der Ecke hockte und mich mit spitzen Zähnen anfauchte.
»Ihr interessiert niemanden, ihr kleinen Scheißer!«, schrie ich das größte Männchen an, das am äußeren Rand der Markise die Stellung hielt und mit erstaunlich muskulösen Vorderbeinen wie die Karikatur einer alten Bulldogge seinen Bereich verteidigte. Hinter ihm kauerte seine Kernfamilie, ein Kreis von zwei kleineren Weibchen und etwa achtzehn Jungen mit vorstehenden Zähnen.
»Wir sind sowieso alle so gut wie tot. Ich sollte Schaschlik aus deinen Kindern machen.«
Natürlich meinte ich es nicht so. Die Jungen sahen mich mit ihren runden, glänzenden Augen nervös an, nahmen mich aber offenbar nicht als ernsthafte Bedrohung wahr. Schließlich war ihr Dad da, sie waren in Sicherheit. Ich fühlte, wie sich in meinen Augen die Tränen sammelten wie Sand in einem Wirbelsturm. Ich öffnete den Mund, um … was? Mich bei einem Haufen wilder Meerschweinchen zu entschuldigen? Um ihnen zu erklären, dass ich es nicht so gemeint hatte? Um ihnen zu sagen, wie sehr ich meine Familie vermisste? Stattdessen entwich mir ein leises Schluchzen. Ich legte mir eine Hand über den Mund, doch das Männchen hatte meine Angst bereits gerochen und drehte mir den Rücken zu. Ich war keine Gefahr für sie. Ich war für niemanden eine Gefahr. Im besten Fall war ich die Beute.
Am frühen Abend erreichte ich den Waldrand. Laut dem kleinen Plastikkompass am Reißverschluss meines Rucksacks lief ich nach Nordost. Dad hatte nach Norden in Richtung der alten Länder ziehen wollen. Mit Mom hatten wir besprochen, nach Osten zu gehen, bevor wir sie beim Seniorenheim verloren. Nordost war wohl die sicherste Wahl.
Jetzt war ich allein und ließ die kleineren Städte, die schon lange erloschen waren wie Lampen an einer kaputten Lichterkette, hinter mir. Die Bäume hier waren noch immer hoch, also konnte ich nicht besonders weit im Norden sein, aber sie standen dicht, also war ich auch nicht mehr zu weit im Süden.
Nachdem ich eine ganze Nacht und einen ganzen Tag gelaufen war, taten mir die Beine weh. Unter einer Kiefer brach ich zusammen. Es war noch Frühling, und ich wusste, es war zu kalt, um die Nacht einfach so alleine draußen zu verbringen. Ich hatte nichts weiter als eine Rettungsdecke und ein paar Kapuzenpullis. Die Feuchtigkeit würde viel zu schnell eindringen, und ich konnte es mir nicht leisten, krank zu werden. Also machte ich ein kleines Feuer, um mich zu wärmen, legte mich auf den Rücken und schob mir meinen Rucksack unter den Kopf.
Ich betrachtete die Sterne, die winzigen Löcher, durch die das ausgeblichene Skelett des Universums sichtbar wurde. Und umgeben von diesen stillen Bäumen, neben einem tröstlichen Feuer, sah ich dem Skelett beim Tanzen zu. Das war unsere Medizin, und ich öffnete mich und nahm alles in mich auf. Und träumte vom Norden.
Kälte ist ein äußerst wirksamer Wecker, und so wachte ich kurz vor Sonnenaufgang auf. Das Feuer konnte aber noch nicht lange aus sein, denn die Reste qualmten noch. Der Husten, den ich seit ein paar Tagen hatte, war jetzt hartnäckiger. Jedes Mal, wenn ich hustete, fuhr mir neuer Schmerz in Rücken und Beine. Der Sprung mit steifen Gliedern vom Baum und das viele Laufen hatten ihre Spuren hinterlassen. Trotzdem stand ich auf und machte meine Hampelmänner, befolgte Mitchs morgendliche Aufwärmroutine, auch wenn er nicht mehr hier war, um mich zu motivieren.
»Komm schon, French. Das geht doch schneller!«
Ich rollte Pullover und Rettungsdecke zusammen und stopfte sie in den Rucksack, bevor ich meinen Hunger mit der vorletzten Dose flüssigem Mahlzeitenersatz und einem halben Müsliriegel zu stillen versuchte. Als ich fertig war, knurrte mein Magen unverändert, aber ich hatte nur noch für anderthalb Tage Essen dabei, und ich ging in die Wildnis. Dort würde es keine verlassenen Supermärkte oder Häuser geben, die ich nach Lebensmitteln durchsuchen konnte. Ich wusste nicht, wovon ich mich ernähren sollte. Mom hatte gesagt, dass ihre Onkel und ihr Grandpa Jäger gewesen waren und dass es uns im Blut läge. Vielleicht würde es mir ja einfach zufallen, wie eine Art Erinnerung. Doch womit sollte ich ein Tier überhaupt töten, mit einem Stock?
Ich lief wieder nach Norden und hielt den Blick auf den Boden gerichtet, um nach Fährten zu suchen, obwohl ich keine Ahnung hatte, was ich tun sollte, wenn ich tatsächlich welche sehen würde, oder ob ich überhaupt erkennen würde, von welchem Tier sie stammten.
Als die Sonne im Zenit stand, ein Punkt am bewölkten Himmel, war ich bereits mehrere Kilometer tief im Wald. Die Bäume standen dichter, der Boden wurde unwegsamer, und die Tierwelt hatte sich – nach den Geräuschen und Gerüchen um mich herum zu urteilen – verändert. Auf einer kleinen Lichtung mit hohem Gras und niedrigem Gebüsch blieb ich stehen. Das Klopfen meines Herzens gegen die Leere in meinem Magen ließ mich eine Handvoll hüfthoch gewachsener Löwenzahnblätter essen. Sie waren gar nicht mal so schlecht. Ich notierte sie auf meiner »Verfügbar und essbar«-Liste und stapfte weiter, den Plastikkompass jetzt wie einen Glücksbringer in der Faust. Ich ging weiter nach Norden.
»Ihr müsst euer Ziel im Kopf behalten. Ihr dürft nicht zulassen, dass das, was nicht da ist, was fehlt, euch runterzieht.« An unserem letzten Abend zu dritt hatte Mom sich auf dem Dach des Kleinstadt-Seniorenheims große Mühe gegeben, uns irgendwie aufzubauen. Doch seit Dad mit dem Rat verschwunden war, hatte sie eine ganz monotone Stimme und einen abwesenden Blick, und es war schwierig, ihren Worten zu folgen. Sie fielen zwischen die Regengüsse wie abstürzende Flugzeuge: besiegt, nutzlos.
»Mom, hier.« Mitch hielt ihr eine offene Dose Artischockenherzen hin, die er mit dem Feuerzeug gegrillt hatte. »Du musst was essen.«
Sie ignorierte ihn. »Unsere Familie hat über mehrere Generationen nichts anderes gemacht, als immer weiterzuziehen. Erst aus eigener Entscheidung, dann jedes Mal, wenn die schwarzen Autos aus der Stadt kamen und unsere Hütten neben den Straßen niederbrannten. Jetzt sind die Autos wieder da. Nur sind es diesmal weiße Vans. Und ich kann nicht mehr so schnell laufen. Nicht schnell genug. Nie schnell genug.«
»Mom«, sagte Mitch lauter, aber immer noch sanft. Ich saß an die Wand des Pavillons gelehnt, spähte durch die Holzbretter hinaus und hielt Ausschau nach Anwerbern. »Du hast den ganzen Tag noch nichts gegessen. Du musst essen.«
Ihr Blick blieb starr, von ihrem Ältesten abgewandt. Vom See her stank es Übelkeit erregend. Diese Stadt war wegen ihrer Lage direkt am Wasser früher sehr beliebt gewesen. Inzwischen war der See, wie alle der Großen Seen, die von der Industrie ausgebeutet worden waren, vergiftet, und ein hoher Zaun schirmte ihn von den überwucherten Straßen ab. Wir waren erst seit einem Tag hier und hatten uns an den beißenden Gestank noch nicht gewöhnt. Wir atmeten durch Tücher und hatten uns aus Sperrholz und Abdeckplane eine Schutzwand gebaut.
Mitch versuchte eine andere Taktik bei Mom. »Wenn du nichts isst, hast du nicht genug Kraft, heute Nacht die zweite Schicht zu übernehmen.«
Etwas in ihrem Gesicht flackerte auf, und sie griff nach der Dose, nahm ein blasses Herz heraus und steckte es sich in den Mund, als wäre es eine lästige Pflicht. Es dauerte mehrere Minuten, bis sie wieder etwas sagte.
»Wir müssen weiterziehen, meine Jungs. Morgen, sobald ich vom alten Begegnungszentrum wieder da bin. Ich will dort noch ein letztes Mal nach Essen suchen.«
»Nein, Mom! Der Ort ist nicht sicher! Die Anwerber wissen, dass er ein Magnet für Leute wie uns ist.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Ach, die haben das Zentrum doch längst abgehakt. In diesem Teil der Stadt ist eh keiner mehr. Ich hole uns noch ein paar Sachen, die wir brauchen werden, wenn wir die Stadt erst mal hinter uns lassen und in den Wald gehen. Es wird nicht lange dauern.« Sie nahm unsere Hände und drückte sie, während sie tief atmete wie im Gebet und auf der Unterlippe kaute, als würde sie Buße tun.
Am nächsten Tag brach sie auf, noch ehe wir die Artischocken fürs Frühstück aufgewärmt hatten. Und dann waren Mitch und ich auf uns allein gestellt.
Ich strauchelte. Wieder hatte ich im Freien geschlafen. Ich hatte nicht genug Kraft gehabt, das Feuer erneut zu entfachen, nachdem der Regen es während meines unruhigen Schlafs gelöscht hatte. Meine Muskeln brannten, mein Magen knurrte, das Herz tat mir weh. Ich war über eine Wurzel gestolpert, die wie ein arthritisch gekrümmter Finger aus der Erde ragte, und seitdem humpelte ich. Kurz nach Mittag fing es wieder an zu regnen, und ich setzte mich unter eine dichte Kiefer und aß meine letzte Dose Mahlzeitenersatz, die Notfalldose mit einem Ablaufdatum von vor einem Jahr. Sie hatte einen säuerlichen Beigeschmack, aber es gab nichts anderes. Noch nicht einmal Löwenzahn hatte ich gesehen. Mein Backenzahn meldete sich jedes Mal, wenn ein Schluck Flüssigkeit ihn umspülte. Gerade erst heute Morgen hatte ich darüber nachgedacht, ihn mir mit einem Stein auszuschlagen. Oder vielleicht könnte ich auch einfach von einem Baum fallen und mit der Wange zuerst aufkommen. Ich lehnte mich gegen die Kiefer, und während ich auf einem Stück Schnürsenkel herumbiss und mir wünschte, Mom würde mich finden, schlief ich ein.
Als ich zitternd aufwachte, war es fast dunkel. Mein Zahn quälte mich, mein Knöchel schmerzte pulsierend, und dann war auch noch die Dose mit dem letzten Rest Mahlzeitenersatz umgekippt.
»Oh nein.« Ich nahm die Dose und schüttelte sie. Kein einziger Schluck war mehr darin. »Verdammt!«
Ich wollte sie in hohem Bogen in den Wald schleudern, wie um sie für meinen Leichtsinn zu bestrafen. Doch sie prallte gegen das Dach aus Kiefernzweigen und landete nicht mal einen halben Meter vor mir auf dem Boden. Ich stand auf und trat nach ihr.
»Himmel!« Mein Knöchel sang ein schreckliches Lied, als wären meine Zahnschmerzen in den Fuß gewandert. Nässe, Moder und Hunger setzten mir immer mehr zu, und die Kombination aus Angst, Wut und Verzweiflung brachte mich fast um den Verstand.
Ich setzte mich wieder, nahm die Dose und rollte sie mir über die schmutzige Stirn, hin und her. Niemand kümmerte sich mehr um mich. Niemand trieb mich an weiterzuziehen. Wohin sollte ich auch gehen? Wo war nur meine Mom? Warum hatte sie unbedingt zum Begegnungszentrum gehen müssen? Ihr Blick an jenem letzten Abend: leer wie ein hohler Baumstumpf – wie das Loch in meinem Backenzahn, echter Schmerz.
»Ich werde sterben.«
Es laut auszusprechen war, als würde ich es aus dem Mund von jemand anderem hören. Mir schossen die Tränen in die Augen, aber ich hielt sie zurück, sie waren wertvolles Wasser. In dem Moment beschloss ich, wenn ich schon sterben musste, würde ich nicht einfach hier sitzen und darauf warten, dass diese Arschlöcher von Anwerbern mich holen kamen. Ich würde sterben, indem ich mit wilden Tieren kämpfte oder mich kopfüber von einer dieser Kiefern stürzte, oder verhungern und mich vom Regen mit Erde überspülen lassen wie eine dieser halb verbrannten Leichen, die früher den alten Ganges hinuntertrieben, bevor sein ausgetrocknetes Flussbett zum Wanderweg untröstlicher Pilger wurde.
Ich stand auf, ließ die Dose fallen und nahm meinen Rucksack.
Weiter.
Ich stolperte und stürzte mehrmals über Wurzeln, die aus dem aschfahlen, vom endlosen Regen ausgewaschenen Boden ragten. Bei einem Sturz schlug ich mir die Lippe auf und schmeckte nasse Kupfermünzen und schweres Parfüm. Ich hätte den Kopf drehen und auf den Zahn fallen sollen, dachte ich. Ich lachte laut auf, ein Geräusch, so verzweifelt, dass ich noch heftiger lachen und stehen bleiben musste, die Hände auf den zitternden Knien, bis das Kichern verebbte und ich weiterstapfen konnte.
Der Husten war inzwischen mein ständiger Begleiter, zäh und verschleimt, wie ein Sack Ziegelsteine, der von innen gegen meinen Brustkorb schlug, bis ich mich krümmte. Einmal musste ich so heftig husten, dass mir eine Ader im rechten Auge platzte. Krank und humpelnd kam ich nicht besonders schnell voran. Ich merkte noch nicht einmal, dass mein Magen sich zu einer Faust zusammengezogen hatte, bis sie mich boxte, kalt und Übelkeit erregend. Und jetzt kam auch noch die Nacht.
»Neeeiiin.« Ich konnte mich vor der Nacht nicht schützen, und so jammerte ich. »Verdammt, nein.«
Ich lehnte mich gegen eine knorrige Kiefer, deren Stamm so klebrig war, dass meine Haare sich an der Rinde verfingen, und blickte in den gleichgültigen dunkelblauen Himmel. Ich rutschte am Stamm hinab, langsam und schmerzhaft, wobei ich mir eine Haarsträhne ausriss, die als Nistmaterial für tief fliegende Bussarde an der Rinde hängen blieb. Die ersten Sterne stachen durch die Dunkelheit wie spitze Silbernadeln durch Samt. Ich sah zu, wie sie erstrahlten, blinkten und verblassten, und auf einmal lächelte ich. Es würde gar nicht so schlimm werden. Vielleicht war das Ende nur ein Traum. Einen Moment taten mir die anderen leid, die ohne Träume. Was passierte mit ihnen, wenn sie starben? Ich stellte mir vor, wie sie einfach abgeschaltet wurden wie Maschinen in einer Fabrik am Ende der Schicht: Sie funktionierten gemäß ihrer Bestimmung, und dann legte sich einfach der Schalter um.
Ich schloss die Augen. Nur für eine Minute. Der Traum kam sofort. Später konnte ich nicht mehr sagen, was für ein Traum es gewesen war oder wie lange ich geschlafen hatte. Doch als ich aufwachte, geschah es widerwillig.
»Legt ihn hierhin, nah ans Feuer.«
»Er atmet ganz komisch.«
»Leg ihm was unter den Kopf. Wab, hol meine Decke. Zheegwon, mach du Wasser warm. Wir müssen ihm Flüssigkeit einflößen.«
Stimmen. Stimmen mit den lang gezogenen Vokalen und dem abgehackten, flotten Sprechrhythmus meines Vaters. Stimmen mit der tiefen Melodie meiner Mutter. Ich konnte die Augen nicht öffnen. Noch nicht. Dieser Traum war einfach zu schön, selbst wenn er keine Bilder hatte.
»Okay, zieht ihm die Schuhe aus und legt seine Füße näher ans Feuer.«
Ich fühlte, dass an mir gezogen wurde, dann die Erleichterung, als die beträchtliche Schwellung an meinem Knöchel endlich genug Platz hatte, und dann Hitze.
»Hey, Junge, kannst du mich hören? Du musst was von diesem Wasser trinken.« Eine Metallkante drängte sich zwischen meine aufgeplatzten Lippen, und klares, warmes Wasser floss mir in den Mund. Zuerst spuckte ich es wieder aus, eine reflexhafte Reaktion auf das plötzliche Eindringen, doch dann verlangte die Faust in meinem Magen geradezu danach, und ich öffnete gierig meine Kehle. Ich hatte solchen Durst, dass ich nach dem Gefäß griff, aus Angst, es könnte mir wieder weggenommen werden.
»Langsam, langsam.«
Ich schaffte es, ein Auge zu öffnen.
Der Mann, der vor mir hockte und die Dose hielt, hatte die gleichen Falten um die Augen wie mein Vater. Seine Haare waren in der Mitte lang und an den Seiten abrasiert. Hinter ihm stand ein Mädchen, das über einem Auge eine Klappe trug und in dessen anderem runden, dunklen Auge sich das Flackern des Feuers spiegelte. Lange Haare fielen ihr ins Gesicht. Sie reichte dem Mann eine Decke, und er legte sie über mich und steckte sie um mich herum fest.
»Zheegwon, bring mir etwas Suppe. Der Junge ist halb verhungert.«
Der Mann fütterte mich mit einer Brühe aus Mais, bis die Faust in meinem Magen sich gerade genug öffnete, dass ich mich entspannen konnte. Dann stellte er die Schüssel neben mich auf einen flachen Stein. »Sobald du sie selbst halten kannst, weißt du, dass du mehr essen kannst, ohne dich übergeben zu müssen.«
Da waren noch mehr Menschen. Ich blickte mich um. Ich sah den Mann und das ältere Mädchen, das die Decke gebracht hatte. Unter ihrer Augenklappe zog sich ein entzündeter roter Schnitt über ihre Wange. Ich sah ein Kind, kaum älter als ein Baby, das wie ein Welpe in einem Nest aus Decken neben einer alten Frau schlief, die in ein Tuch gewickelt döste. Dann waren da noch ein kleiner, rundlicher Junge und zwei größere, vielleicht Zwillinge, und noch ein weiterer großer Junge, dessen Gesicht unter einer Kapuze verborgen war. Sie alle saßen auf Decken und Schlafsäcken um ein prasselndes Feuer und schienen wie ich von den Ureinwohnern abzustammen. Hinter ihnen standen zwei gegen Kälte und Insekten fest verschlossene Zelte.
»Wer seid ihr?«, flüsterte ich.
Der Mann, der jetzt am Feuer stand und darin herumstocherte, antwortete. »Ich bin Miigwans, und das hier ist meine Familie. Aber dafür ist morgen Zeit. Du musst noch mehr Suppe essen und dann schlafen. Morgen ziehen wir weiter. Wir haben wahrscheinlich ein paar Anwerber in der Nähe, bei dem Lärm, den du da draußen gemacht hast.«
Miigwans. Den Namen hatte ich schon mal gehört. Ich sah vor mir, wie mein Vater ihn voller Ehrfurcht ausgesprochen hatte, so wie alles, was mit früher zu tun hatte, so wie die Wörter unserer alten Sprache, so wie ein Gebet.
»Nach Norden«, sagte ich.
Er sah mich an, und die Flammen warfen tanzende Schatten auf die Wangenknochen unter seinen Augen. »Ja, nach Norden. Wir scheinen in dieselbe Richtung unterwegs zu sein. Dann können wir auch zusammen gehen, oder?«
Ich antwortete nicht. Die Tränen wuschen mir den Dreck aus den Augen und brannten auf meiner kaputten Lippe. Ich wurde von Schluchzen geschüttelt und krümmte mich, bis ich dalag wie ein Baby. Ich schämte mich, vor diesen mir fremden Menschen so zusammenzubrechen. Falls sie sich für mich schämten, ließen sie es sich nicht anmerken. Denn sie wussten, schon bald würde es mir besser gehen. Und ich war auch nicht mehr allein. Vielleicht würde ich morgen aufwachen und feststellen, dass ich meinem Zuhause ein Stück näher gekommen war.
2
Das Feuer
Miig erklärte es eines Abends am Feuer.
»Die Träume verfangen sich in Netzen, die in eure Knochen gesponnen sind. Da leben sie, im Mark.« Er stocherte mit einem spitzen Stock im knisternden Feuerholz, bis die Schatten ausgelassen über sein gebräuntes Gesicht tanzten und sich in den längeren vorderen Strähnen seines Irokesenschnitts verfingen, die er mit der Sorgfalt einer Schönheitskönigin immer wieder zurück über die kurzen Stoppeln strich. Er sah uns nicht an, die bunte Truppe, die unter den Bäumen in einem losen Halbkreis ums Feuer saß.Ich stellte mir Spinnweben in meinen Knochen vor, drehte eine Handfläche zum Mond und sah zu, wie die Knochen zwischen meinem Ellbogen und dem Handgelenk sich dabei verdrehten. Ich sah Spinnweben, in denen Träume hingen wie fette Fliegen. Ob die Pferde, mit denen ich heute in den Morgen geritten war, immer noch wiehernd darin verfangen waren?
Miig stupste mit dem Fuß gegen die runden, ums Feuer liegenden Steine. Die Löcher in den Sohlen seiner Stiefel waren mit Lederflicken und Pflanzensaft geklebt.
»Wie kommen sie da rein?« RiRi, inzwischen sieben, war immer neugierig und hielt sich mit Fragen nicht zurück.
»Du wirst damit geboren. Deine DNA spinnt sie dir ins Mark«, antwortete Miig. Die Flammen wurden ruhiger, und er stach wieder hinein, bis sie tanzten. Dann sagte er: »Da holen sie sie heraus.«
Ich krümmte jeden Finger einzeln und ballte die Hand zu einer Faust, eine Silhouette gegen das Feuer, die Flammen leckten um den festen Ball aus brauner Haut und Knochen. Ich stellte mir meinen Bruder vor, in der Schule an einen Stuhl gefesselt, und eine Schar finsterer Gestalten in grauen Kutten zog die Ketten fester, während sie im Gleichklang das Ave Maria rezitierten.
Zufrieden, unsere ungeteilte Aufmerksamkeit zu haben, lehnte Miig sich neben Minerva an den Stamm eines gefällten Baums, und Minerva wachte auf. Miig drehte sich aus seinem kostbaren Tabak eine Zigarette und zündete sie mit einem an der Spitze glühenden Zweig an. Die alte Minerva, die so kurzsichtig war, dass sie ständig die Augen zusammenkneifen musste, hob schnuppernd die Nase. Ihre Miene entspannte sich, und sie seufzte. Miigs erste Züge waren groß und verschwenderisch, als er versuchte, das feuchte Papier zum Brennen zu bringen, und über der Lichtung breiteten sich Schwaden aus wie Rauchzeichen. Alle unsere Sachen waren immer feucht, und wir waren darin geübt, Schimmel zu erschnüffeln, was wichtig war, um Krankheiten fernzuhalten. Minerva formte die Hände zu Schalen und goss sich die Luft über Kopf und Gesicht, Gebete aus Asche und Rauch. Richtig traditionell, die alte Minerva.
Miig und Minerva waren die einzigen Erwachsenen in unserer Gruppe. Miig trug die Haare bis auf den Schädel kurz rasiert, mit Ausnahme der paar Zentimeter in der Mitte, und hatte einen Schnurrbart, der nur auf der linken Seite der Oberlippe wuchs. Miig war groß, aber von gekrümmter Haltung wie ein wandelndes Fragezeichen, und er war meistens sehr sparsam mit Worten. Er besaß zwei identische Armeehosen, die er abwechselnd mit mehreren Lagen brauner und grüner Sweatshirts kombinierte. Unter den Sweatshirts trug er an einem Schnürsenkel um den Hals einen kleinen Beutel. Als ich ihn einmal danach fragte, sagte er, darin bewahre er sein Herz auf, weil es zu gefährlich sei, es in der Brust zu tragen, inmitten der scharfen Kanten von Knochen, die so leicht brechen. Ich fragte nicht weiter. Zu viele Metaphern und in Geschichten verpackte Geschichten. Mit Miig zu reden konnte anstrengend sein.
Minerva war dunkel, klein und rund wie ein Baumstumpf. Sie trug die langen grauen Haare wie ein Mädchen in zwei Zöpfen und ein geblümtes Kopftuch, das sie unter dem runden Kinn zusammenband. Sie war sehr traditionsbewusst, aber auch von ihr erfuhr man nur wenig. Sie redete nicht, und wenn doch, dann waren es von Lachen und Schreien begleitete Ausbrüche. Meistens beobachtete sie … einfach alles: uns Kinder, die wir im Fluss spielten. Wie die Bäume sich nach Norden neigten, zu der natürlichen Landschaft hin, die nach den Kahlschlägen noch übrig geblieben war. Sie beobachtete die Vögel auf ihrer ewigen Wanderung, das Feuer am Ende des Tages und wie wir uns freudig gegenseitig auf den Rücken schlugen, wenn uns Beute in die Fallen gegangen war.
Geschichte
Taumelnd stand Slopper auf und ging zu seinem Zelt. Die Jüngsten durften bei Geschichte nicht dabei sein, jedenfalls noch nicht. RiRi verzog das Gesicht wie immer, wenn sie etwas wollte, wie ein extra Stück Brot oder in meinem Zelt schlafen, damit ich ihr Geschichten erzählen konnte, um die Albträume fernzuhalten.
Miig sah sie nur mit hochgezogener Augenbraue an.
»Ohh, Miig. Kann ich nicht noch ein bisschen bleiben?«
Sie erhielt keine Antwort, und auf dem Weg zu ihrem Zelt trat sie nach Steinen.
Der Wald wurde jetzt stiller, sogar die Käfer hörten auf, ihre glatten Panzer an der Rinde zu reiben, selbst der Wind fuhr nur noch um die Zweige herum statt durch sie hindurch.
Miig beugte sich vor, und das Feuer beleuchtete sein Gesicht von unten wie flackerndes Bühnenlicht. Er öffnete eine Hand, die Handfläche nach unten, um auf den Boden zu weisen, diesen Boden, und begann mit Geschichte.