Das Buch
Die ferne Zukunft: Die Menschheit ist ins All aufgebrochen und hat unzählige Welten kolonisiert. Dabei haben die Siedler immer wieder auf Genmanipulation und Cyber-Implantate zurückgegriffen, um sich den jeweiligen Gegebenheiten perfekt anpassen zu können. Vor hundert Jahren traten die Sturm in Erscheinung, Terroristen, die diese Veränderungen ablehnen und sich selbst als die »wahren Menschen« bezeichnen. Nach einem blutigen Krieg konnte der Sturm besiegt und ins Dunkel zwischen den Sternen verbannt werden. Doch der Feind war nicht geschlagen. Im Geheimen bereitete er seinen Gegenschlag vor, der die Völker der Galaxis völlig überraschte. Raumflotten und Verteidigungsanlagen werden mit einem Schlag vernichtet. Die Menschheit steht am Rande des Abgrunds, als Lucinda Hardy das Kommando über das letzte Schiff der Königlichen Raumflotte von Armadalen übernimmt. Mit einer bunt zusammengewürfelten Truppe aus Soldaten, Gaunern und Adeligen will sie sich den Sturm entgegenstellen. Wenn sie versagt, ist das Schicksal der Galaxis besiegelt …
Der Autor
John Birmingham wurde 1964 in Liverpool geboren und wuchs in Australien auf. Er arbeitete als Journalist und Berater für das australische Verteidigungsministerium, bevor er sich dem Schreiben von Romanen widmete. Heute ist er einer der populärsten australischen Autoren der Gegenwart.
Mehr über John Birmingham und seine Werke erfahren Sie auf:
JOHN BIRMINGHAM
Aus dem australischen Englisch von
Maike Hallmann
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der Originalausgabe
THE CRUEL STARS
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Deutsche Erstausgabe 03/2021
Redaktion: Catherine Beck
Copyright © 2019 by John Birmingham
Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe
und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Nele Schütz, München,
unter Verwendung eines Motivs von James Paick
Satz: Uhl + Massopust GmbH, Aalen
ISBN 978-3-641-25745-3
V001
www.diezukunft.de
Für meinen Vater
Lucinda wartete auf die Sterne. Wenn sie in der richtigen Stimmung dafür war und einen ihrer seltenen versonnenen Momente hatte, staunte sie manchmal darüber, wie sie sie einzuhüllen schienen, wie nah und zugleich unendlich fern sie ihr vorkamen.
Dämmerung floss über die kleine Gebirgskette im Osten heran, eine Flutwelle aus Schatten und sich streckenden Pfützen aus vollkommener Schwärze. Von ihrem Felsbrocken aus sah sie nicht, wie die Dunkelheit auch nach ihr griff, aber sie stellte sich vor, wie sie den Verteidigungsstützpunkt verschluckte und den klaffenden Schlund der Docks. Der Hafeneingang war immer beleuchtet, aber schon bald würden sich die Lichter gegen vollkommene Finsternis behaupten müssen.
Sie schwebte nicht, aber bei einem Zehntel Gravitation, dem Standardwert hier oben, fühlte sie sich sehr leicht, als würde sie kaum den Boden berühren. Im Panzerglas musterte sie ihr Spiegelbild.
Eine junge Frau erwiderte ernst ihren Blick. Die Uniform saß nicht richtig; zu eng an den Schultern, ein bisschen zu weit in der Taille. Etwas Besseres als diese schwarz-weiße Kluft von der Stange hatte sie sich nicht leisten können. Ihr Blick wurde noch kritischer. Sehr hübsch sei sie, so die Beteuerung mancher Männer, denen sie nicht recht traute. Abweisend und oft unnötig einschüchternd, so das Urteil einiger Freundinnen, denen sie vermutlich eher glauben konnte.
Wie auch immer. Es würde reichen müssen.
»Leutnant Hardy?«
Aus ihren Überlegungen gerissen, zuckte sie zusammen und hielt sich instinktiv an der nächstbesten Wand fest, damit sie nicht den Boden unter den Füßen verlor. Es war ihr peinlich, so ertappt worden zu sein. »Ja«, sagte sie mit fast normal klingender Stimme und wandte sich von dem Ausblick ab.
Der Transitraum war funktionell schlicht, die Leuchtstreifen an den gepanzerten Carbon-Wänden hatten ihre beste Zeit hinter sich und hätten schon vor Monaten ausgetauscht werden müssen. Die in mehreren Reihen angeordneten unbequemen Organiplast-Stühle wirkten selbst im schwachen Licht ausgeblichen und brüchig. Bis eben war sie die einzige Offizierin hier gewesen. Der einzige Mensch seit etwa einer Stunde. Zu diesem Teil der Anlage hatten nur wenige Leute Zutritt, und es kam selten mal jemand vorbei.
»Bitte entschuldigen Sie die Verspätung, Ma’am.« Der junge Mann salutierte. Er war ein Baby-Leutnant, ein Milchgesicht, dem Alter und Eifer nach frisch von der Akademie. Als er die Abzeichen an ihrer unangenehm schweren Jacke entdeckte, machte er große Augen. Er trug eine dunkelblaue Felduniform, und im Oberschenkelholster steckte eine Pistole. Lucinda in ihrer schwarz-weißen Galauniform fühlte sich trotz ihres höheren Rangs und der größeren Erfahrung eigenartig linkisch. Ihre Uniform war nicht maßgeschneidert, das sah man auf den ersten Blick. Im Gegensatz zu manch anderem Offizier hatte sie kein ansehnliches Familienvermögen im Rücken.
Sie salutierte ebenfalls. Ihr war schmerzlich bewusst, wie dabei ihre Uniformjacke hochrutschte, wie eng die Ärmel waren. Bei jeder Beförderung beschlich sie dieses unangenehme Gefühl, als würde sie sich nur als Offizierin verkleiden und könne jederzeit auffliegen. So gut es ging, schluckte sie das Unwohlsein hinunter.
»Und Sie sind Leutnant …?«
Ausdruckslos starrte er sie an, und das Gefühl, nicht am richtigen Platz zu sein und nur so zu tun, als ob, wurde schlimmer. Dann machte er »Ah!« und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Sie sind ja nicht mit Shipnet verbunden. Bannon, Ma’am. Unterleutnant Ian Bannon. Ich bin heute der diensthabende Offizier. Bitte entschuldigen Sie, dass Sie so lange warten mussten, das hätte nicht passieren dürfen.« Jetzt sah der junge Mann fast verzweifelt aus, und ihr wurde noch unbehaglicher zumute.
»Ich verstehe, Leutnant«, sagte sie. »Vor dem Einsatz geht alles drunter und drüber, und alles will zugleich erledigt sein.«
»Trotzdem«, sagte er, »es tut mir leid.«
Sie reichte ihm die Hand. Wieder huschte sein Blick über ihre zahlreichen Orden, aber das nahm sie ihm nicht krumm. Er selbst hatte bis auf den aufgestickten halben Leutnantsstreifen am Uniformkragen keinerlei Auszeichnungen vorzuweisen.
»Tut mir leid«, sagte er erneut, als ihm klar wurde, dass sie ihn beim Starren erwischt hatte, aber er lächelte dabei. Ein jungenhaftes Grinsen, das ihn sicher schon von klein auf aus vielen Schwierigkeiten gerettet hatte. Es wirkte sehr geübt. »Ich habe gehört, Sie haben im Jawanenkrieg gekämpft«, sagte er, dann entdeckte er ihren Seesack unter der ersten Sitzreihe und griff danach, ehe sie es selbst tun konnte. Fast hätte Lucinda ihm gesagt, er solle ihn hergeben. Um ihr Zeug kümmerte sie sich am liebsten selbst. Aber Bannon war rangniedriger als sie, und es wäre ein Affront gegen sie gewesen, wenn er sich nicht erboten hätte, ihr Gepäck zu tragen.
Vorsichtig hob er den Seesack an, prüfte sein Gewicht in der geringen Schwerkraft. Dann nickte er. »Ich hab gehört, Sie sind mitten im Einsatz befördert worden«, sagte er und ging zum Ausgang. »Vom Fähnrich zum Leutnant. Ich selbst hab den ganzen Jawanenkrieg verpasst. Habe mich zwar eingeschrieben, aber als ich endlich mit der Ausbildung fertig gewesen bin, war alles schon wieder vorbei.«
Er achtete nicht darauf, wo er langlief, stieß sich das Knie an einem Stuhl und fluchte, dann entschuldigte er sich fürs Fluchen. Ihr Seesack entschwebte langsam nach oben wie ein eigenwilliger Nachrichtenballon.
»Oha«, sagte er und wäre bei dem Versuch, Seesack und sich selbst wieder in den Griff zu kriegen, fast umgefallen. »Verdammt.« Er grinste. »Ich hab mich zu sehr an die Schwerkraft auf dem Schiff gewöhnt.«
Mit einem Achselzucken tat er den peinlichen Moment ab – sie an seiner Stelle wäre knallrot geworden. Lucinda konnte nicht anders, als ihn zu mögen. Aber trotzdem konnte sie das, was er zuvor gesagt hatte, nicht so stehen lassen.
»Danke«, sagte sie und deutete mit einem Nicken auf den Seesack. »Aber was den Krieg betrifft – als ich einberufen wurde, war ich noch genauso grün wie Sie. Dass ich als Leutnant wieder zurückgekommen bin, liegt nur daran, dass er so lange gedauert hat, und irgendwann war es dann eben so weit.«
Bannon bedachte ihre Orden mit einem demonstrativ zweifelnden Blick, offenbar wenig überzeugt. Sie ließen den kargen Transitraum hinter sich. »Chief Higo hat mir erzählt, dass Sie in der Schlacht befördert worden sind. Und der Bootsmann irrt sich nie. Das weiß ich auch von ihm.«
Sie rang sich ein unsicheres Lächeln ab. »Ich widerspreche einem Bootsmann wirklich höchst ungern«, sagte sie – das war nicht geschwindelt –, »aber meine erste Beförderung fand nicht in der Schlacht statt. Im Feld, ja, aber wirklich nichts Bemerkenswertes. Nur ein kleiner Einsatz bei der Piraterie-Patrouille.«
»Okay.« Er grinste, als wüsste er genau, dass sie nicht die ganze Wahrheit sagte. »Wenn Sie es sagen.«
Sie gingen einen langen, breiten Gang entlang, der direkt in den Fels getrieben worden war und sich wand wie ein DNA-Strang. An der Neigung des Bodens unter ihren Füßen und der zunehmenden Gravitation durch die Drehung erkannte sie, dass sie immer tiefer ins Innere des Monds vordrangen. Hier unten gab es keine Bullaugen mehr, nur noch Monitore, auf denen die Feeds der G-Daten und Aufnahmen rings um die Basis zu sehen waren. Anfangs trafen sie keinen anderen Menschen, aber dafür waren mal mehr, mal weniger Automas und Bots unterwegs, und einmal schwebte ein Kampf-Intellekt der Flotten-Klasse an ihnen vorbei. Sie salutierten vor dem schwarzen Oval, das die Form eines Rhombus mit abgerundeten Ecken hatte. Zur Antwort pulsierte es und schimmerte kurz rötlich auf, ehe eine weibliche Stimme sagte: »Leutnant Hardy, Leutnant Bannon, Ihnen beiden einen angenehmen Tag.« Dann schwebte der Intellekt gleichmütig weiter.
Sie sahen ihm hinterher, bis er hinter der nächsten Biegung des Gangs verschwunden war. »Diese Typen«, sagte Bannon kopfschüttelnd. »Immer so unaufgeregt.«
Der Gang schraubte sich fünf weitere Minuten lang in die Tiefe. Lucindas Seesack wurde ihrem Kameraden sichtlich eine immer schwerere Last. Sie machte nicht richtig Konversation, sondern parierte nur. Bannon hingegen hatte keine Hemmungen, von sich selbst zu erzählen. Als sie schließlich in einer gut gesicherten Empfangshalle standen, in der dank der Rotation und dem Massegenerator der Basis Gravitation auf Erdstandard herrschte, wusste sie alles über Bannons Familie (wohlhabend, aber nicht adlig), seinen Militärdienst (gerade erst begonnen) und die Offiziere seines Schiffs (ziemlich lockere Truppe, bis auf …)
»Bannon! Wo im Namen des Dunkels haben Sie gesteckt?«
Hardy zuckte zusammen, nicht nur wegen Lautstärke und Schärfe der Stimme, sondern auch wegen des Akzents. Eindeutig die exaltierte Sprachmelodie von jemandem, der auf der Welt Armadale bei Hofe aufgewachsen war. Unverkennbar, zumal sich der Sprecher offenbar extra bemühte, jedes Wort mit einem Überzug aus Blattgold zu versehen.
Es war eine kleine Empfangshalle, kaum größer als der Transitraum, in dem sie stundenlang gewartet hatte. Wände und Decke bestanden, abgesehen von den eingelassenen Leuchtstreifen mit ihrer schimmernden Beschichtung, aus nacktem Fels. Drei der vier Sicherheitskontrollen waren geschlossen, die vierte freundlicherweise für späte Neuankömmlinge geöffnet. Von dem Tarnzerstörer keine Spur. Dafür warteten zwei reglose Wachdroiden vor dem Durchgang, auf deren Glacis-Brustplatten das Wort Defiant eingeprägt war; zwischen ihnen stand ein junger Uniformierter. Er trug die Abzeichen eines Oberleutnants, und Bannon nahm Haltung an. Hardy nicht. Der Mann war nicht ranghöher als sie. Jedenfalls nicht im militärischen Sinne.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, ich will, dass die Lieferungen noch mal gründlich überprüft werden«, sagte der Leutnant unnötig laut. »Sie sind diensthabender Offizier, kein verdammter Hotelpage.«
»Sir, ich bitte um Verzeihung, aber Leutnant Hardy hat bereits stundenlang …«
»Leutnant Hardy wird erst um 1800 an Bord erwartet«, sagte der Oberleutnant. »Das hat keine Priorität.«
Zwar blaffte er Bannon an, aber Lucinda war klar, dass das ganze Theater eigentlich ihr galt. Sie bemühte sich um eine ausdruckslose Miene.
Als sie sich nicht verteidigte, nicht mal eine sichtbare Reaktion zeigte, umwölkte sich seine Stirn. »Und Sie sind dann wohl die berühmte Hardy, nehme ich an«, sagte er in einem Ton, als wäre es ausgesprochen lästig, überhaupt ihren Namen aussprechen zu müssen.
»Ich bin Leutnant Hardy, Leutnant …?«
Sie ließ die Frage offen. Fast hätte er ihr eben ein »Ja, Sir!« entlockt, fast hätten sich seine lebenslange Gewohnheit, vermeintliche Privilegien einzufordern, mit ihrem antrainierten Respekt vor der Befehlskette gegen sie verschworen und ihr einen Gehorsam abgerungen, den sie ihm nicht schuldete. Nicht, wenn sie einander im Militärdienst begegneten.
»Sie haben sich Zeit gelassen, Leutnant«, sagte der Offizier. Seinen Namen nannte er ihr nicht. Wahrscheinlich hätte sie ihn eigentlich kennen oder zumindest von ihm gehört haben sollen.
»Ich habe oben im Transitraum gewartet, ganz meiner Order entsprechend … Leutnant«, sagte sie und ärgerte sich darüber, dass er mit ihr sprach wie mit einer Untergebenen. Bannon neben ihr, bemerkte sie, stand noch immer in Habachtstellung.
Lucindas Vermutung nach war ihr Gegenüber irgendein geringeres Mitglied des Königlichen Hauses und leistete gerade seinen dreijährigen Militärdienst, ehe er das Kommando auf einem der Habs oder auf einem Mond oder Planeten übernahm, vielleicht sogar auf dem Planeten unter ihnen. Ganz offensichtlich war er Berufssoldat, so wie sie. So wie sie alle. Unteroffiziere waren fast immer Berufssoldaten. Warum sonst würde jemand dabeibleiben?
Der unbekannte Fürst oder kleine Graf, oder was auch immer er sein mochte, bekam einen glasigen Blick; offenbar zog er seine neurale Datenbank zurate. Ein Leutnant, ermahnte sie sich selbst, er war nur ein Leutnant, genau wie sie, wahrscheinlich sogar mit kürzerer Dienstzeit. Er starrte durch sie und Bannon hindurch. Bannon stand noch immer stramm und schwieg. Es war das erste Mal, seit sie Ian kennengelernt hatte, dass er den Mund hielt. Fast war sie in Versuchung, das Bild des namenlosen Offiziers durch die Personalsuche zu jagen, während er sie warten ließ. Vielleicht könnte sie etwas über ihn finden. Seine offizielle Militärakte. Vielleicht würde sie sogar herausfinden, dass er zu jener Sorte zweit- und drittrangiger Großkotze gehörte, die die Skandalserver und Gerüchte-Bots gut beschäftigt hielten, bis sie irgendwann aus dem Militärdienst flogen.
Aber sie griff nicht auf ihr Neuralnetz zurück, sondern wartete mit ausdrucksloser Miene. Diese Genugtuung gönnte sie ihm nicht.
Nach einer Weile klärte sich sein Blick, und seine Mundwinkel verzogen sich abfällig. »Ein Wohltätigkeitsfall also, was?«
Ihre Wangen schienen plötzlich in Flammen zu stehen. Genau zu wissen, dass sie errötete, machte es nur noch schlimmer. Bannon neben ihr blieb so stumm und reglos wie das Vakuum draußen.
»Oh, tut mir leid«, sagte der Offizier. »Habe ich den Eintrag etwa falsch verstanden?«
Demonstrativ machte er sich daran, es noch mal zu überprüfen, allerdings bezweifelte sie, dass er sich wirklich die Mühe machte. Er erfreute sich nur an der kleinen Grausamkeit, sie noch mal warten zu lassen.
»Laut Eintrag wurden Sie von der Wohlfahrt des Coriolis-Habs für die Offizierslaufbahn vorgeschlagen, weil …« Wieder diese Show, als würde er Informationen abrufen. »Weil, ach du liebe Zeit, Ihr Vater wegen seiner Schulden in eine Strafkolonie versetzt wurde. Oha.«
Die zweibeinigen Kampfdroiden neben ihm blieben vollkommen teilnahmslos. Aber mit einem Mal wurde ihr voller Grauen bewusst, dass sie so kurz vor dem Start womöglich von einem menschlichen Verstand gesteuert wurden, nicht vom Schiff.
O Gott, in dem Fall macht es quer durch alle Dienstgrade die Runde, noch bevor diese Schicht zu Ende ist.
Der noch immer namenlose Leutnant sog scharf Luft zwischen seine Zähne. »Der würde ich lieber kein Geld leihen, Bannon«, schnaubte er. »Sie etwa?«
Unterleutnant Bannon antwortete nicht gleich.
»Na?«, hakte der andere sofort nach, offenbar entschlossen, den Spaß bis zur Neige auszukosten. »Würden Sie?«
Bannon, noch immer in Habachtstellung, sah aus, als hätte er ein gewaltiges Gewicht zu stemmen, fast als hätte Lucindas Seesack, den er noch immer trug, soeben seine Masse verzehnfacht.
»Wenn Leutnant Hardy meine Hilfe bräuchte, Leutnant Chase«, sagte er endlich, »dann würde ich ihr mit Freuden helfen. So wie sie, da bin ich ganz sicher, auch mir.« Er klang so gequält, als müsste er sich gerade die eigenen Zehen abschneiden. »Jeder Flottenoffizier würde das tun.«
Lucinda lächelte. Jetzt wusste sie, wer dieser milchgesichtige Leuteschinder war. Oder zumindest, welcher Familie er entstammte. Und das war wirklich ein und dasselbe. Die Chase-Dynastie. »Natürlich würde ich das, Ian«, sagte sie.
Chase lächelte nicht. Er trat viel zu nah an Bannon heran und sagte so sanft, als wäre dies ein Gespräch unter Liebenden: »Sie vergessen, wo Ihr Platz ist.« Er machte eine Pause, ehe er mit schärferer Stimme weitersprach, als würde er seinen aristokratischen Akzent wie eine scharf geschliffene Klinge führen: »Und der Ihrer Familie.«
Lucinda konnte nicht mehr tun, als weiterhin eine gleichmütige Miene zu bewahren. Sie spürte, wie Bannons Widerstand bei der angedeuteten Drohung gegen seine Familie in sich zusammenbrach.
»Und Sie … Leutnant«, fuhr Chase fort und betrachtete sie, als würde er sich über irgendeinen geheimen Witz amüsieren. »Sie haben nicht mal einen Platz. Sie sind keine von uns. Sie werden niemals dazugehören.«
Schwindelgefühl und plötzlich in ihr aufschießende Wut drohten, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, und Chase spürte das genau. Jetzt wurde sein Grinsen wirklich unangenehm.
»Ihnen ist sicher klar, dass Sie mit Betreten des Schiffs einer Durchsuchung Ihrer Person und Ihres Gepäcks zustimmen. Öffnen Sie die Tasche und ziehen Sie sich bis auf die Unterwäsche aus. Ist ohnehin besser für Sie, wenn Sie diese eilig zusammengeschusterte Uniform loswerden. Was für erbärmliche Lumpen. Ich nehme an, auch die hat die Wohlfahrt für Sie bereitgestellt?«
»Wie bitte?«, keuchte Bannon.
Chase schwenkte sein Grinsen zu ihm herum wie den Lauf eines Geschützturms. »Auch Sie haben übrigens das Schiff verlassen, Bannon. So kurz vor dem Start bin ich angehalten, strengste Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen. Also ziehen Sie diesen Overall aus, oder ich gebe den Wachdroiden den Befehl, Ihnen die Kleidung vom Leib zu schneiden.«
»Sie können nicht einfach …«, setzte Bannon zum Protest an.
»Er kann«, unterbrach ihn Lucinda. Ihre Miene war undurchdringlich, die Stimme bar jeden Gefühls. Sie knöpfte bereits die Uniformjacke auf. Die Knöpfe allerdings waren ein bisschen zu groß für die Knöpflöcher, und sie tat sich schwer.
Bei ihren Worten funkelten Chases Augen vor Vergnügen, aber noch mehr schien er sich daran zu erfreuen, wie sie mit ihrer billigen Uniformjacke von der Stange zu kämpfen hatte. Er schien drauf und dran, noch eins draufzusetzen, da nahm er plötzlich so straff Haltung an wie Bannon. Irgendetwas oder irgendjemand hinter ihr hatte der gehässigen Inszenierung des jungen Mannes ein Ende bereitet. Stampfend salutierten die Wachdroiden.
»Ah. Ausgezeichnet«, sagte eine schroffe Männerstimme. Sie klang ein wenig mürrisch, aber freundlich, wie ein Comic-Bär oder ein Montanblancischer Waldrumpler in einer Kindergeschichte.
Leutnant Chase salutierte mustergültig. »Defiant!«, sagte er.
Lucinda und Bannon taten es ihm gleich, und das gespenstisch leuchtende runde Juwel des autonomen Kampf-Intellekts schwebte auf Brusthöhe auf sie zu. »Defiant«, sagten sie im fast perfekten Stereo.
Dieser Intellekt war kleiner als der, dem sie oben begegnet waren. Der erste war länglich und mindestens einen Meter hoch gewesen. Dieser als männlich definierte Intellekt war deutlich kleiner, eher ein Schiffsintellekt als ein Flottenintellekt. Er war etwa so groß und rund wie ein Baseball. Bei seinem Anblick hätte man meinen können, ein waberndes schwarzes Loch hätte ein Bewusstsein entwickelt und würde frei umherschweben.
»Ist das unsere neue Taktische Offizierin?«, erkundigte sich die gespenstische schwarze Kugel, obwohl sie die Antwort bereits kannte. Intellekte wussten alles. »Leutnant Hardy? Willkommen an Bord. Ich habe von der Admiralität nur das Allerbeste über Sie gehört, ebenso wie von dem terranischen Intellekt von der No Place for Good Losers, der im Bectel-System mit Ihnen gemeinsam gegen diese üblen Piraten gekämpft hat. Kommen Sie schon, Chase!«, tadelte der Intellekt. »Wir nehmen gerade eine echte Heldin an Bord. Schließlich können wir nicht jeden Tag eine Gewinnerin des Tapferkeitssterns in unseren Reihen begrüßen. Helfen Sie mir doch mal, Chase, haben Sie ebenfalls einen Tapferkeitsstern? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Ihnen mal einer verliehen wurde, was eigenartig ist, denn wie Sie wissen, ist mein Erinnerungsspeicher praktisch unendlich und außerdem unfehlbar.«
Majestätisch schwebte der Intellekt wieder los und summte dabei eine Melodie aus einem Musical, das Lucinda an einem ihrer wenigen freien Wochenenden auf Armadale gesehen hatte.
»Von der Medaille haben Sie mir ja gar nichts erzählt«, flüsterte Bannon absichtlich laut, als sie dem summenden Intellekt folgten. Leutnant Chase lief vor ihnen, aber hinter dem Intellekt. Das undurchdringlich dunkle Transferfeld verschluckte Defiant und schnitt sein Lied abrupt ab.
»Die Akte zu diesem Vorfall ist eigentlich vertraulich«, sagte sie.
Der Intellekt hätte von der Medaille nichts wissen dürfen, und selbst wenn, hätte er sein Wissen für sich behalten müssen.
Aber so waren Intellekte eben.
Man wusste nie genau, was sie sich so dachten.
Vor ihr trat Leutnant Chase durch das Transferfeld. Er hatte die Schultern hochgezogen wie ein ungezogener Junge, der ins Büro des Direktors zitiert wird. Das dunkel schimmernde Feld verschluckte auch ihn.
Bannon gönnte sich ein kurzes Schnauben und ein Grinsen, ehe er seine Gesichtszüge wieder ordnete und vor der Nanofalte stehen blieb. »Willkommen auf der Defiant«, sagte er und machte eine einladende Handbewegung, um ihr zu bedeuten, sie solle vorausgehen. Lucinda nickte, holte kurz Luft und trat auf den ölig schwarzen Durchgang zu. Wie immer erinnerte der Anblick sie an das Auge eines Hais: obsidianschwarz, bodenlos und … hungrig. Aber auf der anderen Seite wartete ein neues Schiff auf sie. Eine neue Mannschaft. Eine neue Chance, ihrem Leben einen neuen Kurs zu geben und eines Tages irgendwann ihren Vater zu retten.
Sie ging an Bord.
Direkt von einem bestimmten Punkt der Raumzeit zu einem anderen überzugehen, ohne die Distanz dazwischen überwinden zu müssen, war immer eine unheimliche Erfahrung. Ganz gleich, ob der Sprung durch die Falte sie von einem Bereich einer kleinen Orbitalstation in einen anderen brachte oder über einen ganzen Kontinent hinweg, Lucinda fand es immer verstörend. Das ging jedem so. In einem Schiff, das sich quer durch den Raum faltete, befand man sich in einem abgeschlossenen kleinen Universum, das ersparte einem dieses eigenartige Unbehagen. Aber sich ganz unmittelbar der Quantenverschiebung auszusetzen und den eigenen Körper durch eine deformierte Realität zu bewegen … dafür waren der menschliche Körper, die menschliche Psyche, vielleicht sogar die menschliche Seele nicht beschaffen.
Als Lucinda auf der anderen Seite der Nanofalte, die die Station mit der Defiant verband, wieder herauskam, befiel sie sofort das unvermeidliche Déjà-vu. Sie war ganz sicher, dass dies alles schon mal geschehen war … ebenso sicher wusste sie jedoch, dass dieses Gefühl eine Auswirkung der Nanofalte war.
Sie hatte noch Glück. Vielen Leuten wurde beim Durchqueren selbst der allerkleinsten Falte schon entsetzlich übel. Und noch nie hatte jemand den direkten Übergang über eine Distanz überlebt, wie Schiffe sie jeden Tag bewältigten.
Ohne auf das beunruhigende Gefühl einer Vorahnung zu achten, trat sie aufs Deck des Kriegsschiffs. Der Ankunftsraum war eine schlichte, funktionelle Kammer mit weltraumgrauen Carbonwänden. Dahinter lag ein breiter Niedergang, der sich über die gesamte Schiffslänge erstreckte. Defiants Intellekt war bereits davongeschwebt oder hatte sich sogar von dannen gefaltet, und in der Ferne sah sie Leutnant Chase wegstampfen. Unhöflich. Aber Lucinda sagte nichts dazu, sondern wandte sich zackig nach rechts, um vor der Armadalen-Flagge zu salutieren, die an einem zeremoniellen Fahnenmast aus poliertem Jarraholz hing. Dann drehte sie sich wieder um und salutierte vor der jungen Offizierin, die während des Ablegens hier Dienst schob.
Bannon hinter ihr vermeldete dem Schiff und der Wachoffizierin ihre Ankunft: »Leutnant Lucinda Hardy, ehemals Besatzungsmitglied der Resolute, meldet sich auf Geheiß Ihrer Majestät zum Dienst auf der Defiant.«
Die wachhabende Unteroffizierin war biotisch noch jung und befand sich, dem diskreten lila Zeichen auf ihrem Uniformkragen zufolge, gerade im Übergang vom männlichen zum weiblichen Geschlecht. Auf ihrem Namensschild stand HAN.
»Die Defiant ist sehr erfreut, Ihrer Majestät einen Dienst erweisen zu können, und heißt den Leutnant an Bord willkommen«, antwortete Han.
Lucinda wusste, was jetzt kam, und hatte noch eine halbe Sekunde Zeit, um sich zu wappnen, ehe sich ihr Neuralnetz mit dem unverwechselbaren mentalen Ruck mit dem Schiff verband.
Defiant sprach zu ihr, unhörbar für die anderen und mit derselben etwas schroffen, aber freundlichen Stimme, die sie bereits von ihrer ersten Begegnung kannte.
»Willkommen an Bord, Leutnant Hardy. Wir schätzen uns sehr glücklich, Sie bei uns zu haben.«
»Defiant«, sagte sie rasch und nahm Haltung an. »Erbitte Erlaubnis, meine Empfehlungen und Unterlagen zu übertragen.«
Sie bereitete sich darauf vor, ihre Echttod-Versicherungsunterlagen, eine Kopie ihrer Flottenbefehle und die beglaubigte Aufzeichnung ihrer Notfallbelebungsdaten zu transferieren.
»Vielen Dank, Leutnant«, antwortete der Schiffsintellekt, »aber Ihre Unterlagen liegen uns bereits vor, sie wurden uns in einem beschleunigten Verfahren zur Verfügung gestellt. Ich weiß, dass Sie erst in zwei Stunden Dienstbeginn haben, aber wenn Sie sich bitte den leitenden Offizieren vorstellen möchten: Kapitän Torvaldt erwartet Sie in der Offiziersmesse.«
Lucindas Puls beschleunigte sich sachte. Der Intellekt bemerkte ihre Überraschung und sprach direkt über ihr Neuralnetz. »Kein Grund zur Beunruhigung, Leutnant, Sie stecken nicht in Schwierigkeiten. Es ist nur ein Briefing.« Zu Leutnant Bannon sagte er: »Wenn ich einen Gefallen von Ihnen erbitten dürfte, Leutnant - der Captain wünscht Miss Hardy zu sehen. Würden Sie den Seesack in ihre Kabine bringen?«
»Natürlich, Defiant«, antwortete Bannon. Er lächelte Hardy an und schüttelte den Kopf. »Ein Tapferkeitsstern«, sagte er im Weggehen, immer noch kopfschüttelnd. »Mann, davon hatte der Chief keine Ahnung.«
Lucinda sah, wie sich Unterleutnant Hans’ Augen weiteten, und sie krümmte sich innerlich. Noch vor acht Glasen würde es auf dem ganzen Schiff die Runde gemacht haben. Verlegen lächelte sie dem Unterleutnant zu.
Auf ihren Netzhautdisplays leuchteten Navigationshilfen auf: eine Reihe schwach glimmender blauer Punkte, die aus dem Ankunftsraum hinaus Richtung Offiziersmesse führten. Lucinda setzte sich in Bewegung, und gleich darauf verschwanden die Punkte wieder, weil sie sich jetzt an den Weg »erinnerte«. Gedächtnis und Bewusstsein füllten sich zusehends mit Informationen über das Schiff und seine Besatzung: Dienstakten von Offizieren und Mannschaft, Ladung und Bewaffnung für die bevorstehende Mission – holla, schweres Geschütz an Bord – und ein kurzes Briefing für selbige, das allerdings wenig verriet. Es fühlte sich nicht an, als hätte sie das alles gerade erst erfahren. Eher so, als wüsste sie es schon ewig und hätte nur soeben zum ersten Mal seit langer Zeit wieder daran gedacht.
Lucinda erschauerte, verbarg es aber sorgsam. Nur vor Defiant nicht, denn vor ihm konnte sie nichts verbergen. Das Schiff schwieg jedoch.
Hardy war nicht mit Neuralnetz aufgewachsen. Das war Leuten wie Chase oder vielleicht auch Bannon vorbehalten, deren Familien sich solche Modifikationen hatten leisten können. Sie hingegen hatte ihr erstes Implantat an dem Tag bekommen, als die Hab-Wohlfahrt sie der Obhut der Militärbasis überantwortet hatte. Eine ganze Woche lang hatte sie danach auf der Krankenstation gelegen und sich die Seele aus dem Leib gekotzt. Sie drängte die Erinnerung beiseite und nahm ihre neue Umgebung in Augenschein.
Wie alle interstellaren Kriegsschiffe der Königlich-Armadalischen Marine war die Defiant innen größer als außen. Nicht übermäßig; der Innenraum war nur viermal größer als die äußeren Dimensionen des Tarnzerstörers, und ein Drittel davon entfiel auf die Hyperspace-Dämpfung unter der Außenhülle – eine dicke Schutzschicht aus exotischer dunkler Materie – und das abgeschlossene kleine Universum aus Mannschaftsquartieren und dazugehörigen Einrichtungen. Dazu kamen Maschinenräume, Kommandobrücke, Kampfdecks und Stauraum.
Während des Jawanenkriegs hatte Hardy auf der HMAS Resolute gedient, einem älteren Schiff derselben Klasse, und sie freute sich still über die Verbesserungen, die es seither gegeben hatte. Dank der übertragenen Daten wusste sie, dass sie eine Einzelkabine für sich haben würde, was während des Kriegs ein unerhörter Luxus gewesen wäre, selbst auf den Hauptschiffen: gewaltigen Schlacht- und Titankreuzern, die die Speerspitze des armadalischen Angriffs gebildet und sich bis zum Herzen des Jawanischen Imperiums gekämpft hatten.
Während Hardy nach achtern unterwegs war, herrschte ringsum an Bord rege Betriebsamkeit. Die gesamte Crew ging ihren jeweiligen Aufgaben nach, zügig, aber mit jener ruhigen Zielstrebigkeit, wie sie nur unbarmherziges Training und die ebenso unbarmherzige Auslese der Schlacht hervorbrachte. Dies war ein höchst diszipliniertes Schiff. Kriegsbereit. Sie sah es deutlich daran, wie die Mannschaft ihre Aufgaben erledigte, aber zudem wusste Lucinda auch, dass ungewöhnlich viele Mannschaftsmitglieder Kampfveteranen waren – 96 Prozent. Die Defiant hatte ihr diese Information ins Hirn geworfen. Oder vielmehr in ihr Neuralnetz, das semiorganische, synaptische Gewebe aus monomolekularem Carbon, das sich durch ihren Neokortex zog und dann tief ins Hinterhirn abtauchte.
»Wir sind mit voller Besatzung unterwegs, Defiant?«, fragte sie laut, es war auch eine Feststellung. Eine volle Besatzung war in Friedenszeiten recht ungewöhnlich, ganz besonders auf einer einfachen Patrouillenfahrt wie dieser.
Das Schiff antwortete leise, nur für sie hörbar: »Die Königlich-armadalische Marine hält nichts von Nachlässigkeit, junge Lady. Das macht sie zur KAM und unterscheidet sie von der gewöhnlichen Marineinfanterie.«
Lucinda glaubte, leise Belustigung in Defiants Stimme zu hören. Ein Transportbot machte ihr Platz, und eine kleine Gruppe Soldaten trabte an ihr vorbei. Sah nach schwerer Infanterie aus. Ein Sergeant führte sie an, hundertprozentig ganz neu inkarniert. Äußerlich ein militärisch wirkender Kaukasier in den Zwanzigern, vermutlich bis obenhin vollgestopft mit den üblichen Genmodifikationen und Implantaten. Die gebräunte, auffallend unverbrauchte Haut leuchtete und hatte den typischen Frisch-aus-dem-Tank-Schimmer; sie saß ein wenig zu stramm um seine kräftige Gestalt. Aber auch wenn sein Tankalter möglicherweise weniger als eine Woche betrug, seine Singstimme donnerte laut und rau, als wäre seine Kehle jahrzehntelang von hochprozentigem Rum und ungefiltertem Jujakrautrauch verätzt worden. Die dröhnende Antwort seiner Truppe spülte über Lucinda hinweg und hallte durch den langen Niedergang.
»Damals, 2295 …«
Damals, 2295 …
»Gründete man meine Marine-Einheit.«
Gründete man meine Marineeinheit.
Das Zusammenspiel aus Ruf und Antwort folgte ihr noch weit durchs Schiff, selbst als die Soldaten dank der Krümmung der Außenhülle schon längst außer Sicht waren.
»Defiant, wir scheinen eine ganze Menge Marinesoldaten an Bord zu haben«, subvokalisierte sie stumm. »Eine ganze Kompanie, um genau zu sein. Das ist ein bisschen übertrieben, oder nicht? Es sei denn, wir haben vor, ein paar Planeten in Trümmer zu legen.«
In ihrem Kopf lachte das Schiff leise. »Aber es sind nun mal Marinesoldaten, Leutnant. Sie sind nicht spezialisiert genug, um eigene Schiffe zu bekommen, also müssen sie bei uns mitfahren.«
»Und die Sache mit Leutnant Chase?«
»Hmm?«
»Concord war eine Geheimmission«, sagte sie sehr leise. »Unter allerstrengstem Verschluss. Diese Medaille darf ich niemals tragen. In meiner Akte wird Concord nirgendwo erwähnt. Aber Sie haben Chase davon erzählt.«
»Bitte verzeihen Sie mir, Leutnant«, sagte Defiant, »aber anscheinend wurden Sie falsch informiert, oder Sie wurden noch nicht über die neuesten Entwicklungen unterrichtet: Die Admiralität hat die Geheimhaltung dieser Mission aufgehoben.«
Fast stolperte sie über ihre eigenen Füße. »Moment! Wie bitte? Warum?«
»Ich bin nicht ganz sicher. Ein einfacher Schiffsintellekt bekommt häufig keine allzu umfangreichen Erklärungen. Aber wenn Sie Ihre persönliche Akte durchsehen, werden Sie jetzt alle relevanten Informationen darin vermerkt finden. Einschließlich Ihrer Auszeichnung und Ihrer Belobigung.«
»Aber das ist … das ist …«
Sie war völlig durcheinander.
»So ist die Admiralität«, sagte Defiant. »Macht immer das, was ihr gerade in den Kram passt. Ich bin sicher, dass es gute Gründe für die Aufhebung der Geheimhaltung gab, genau wie für die vorige Geheimhaltung. Die Erklärung dafür lautet womöglich ganz schlicht, dass die Akte noch einmal neu geprüft wurde.«
Verwirrt schüttelte sie den Kopf, aber sie fragte nicht weiter nach. Ein weiterer Transportbot rollte summend an ihr vorüber, und zwei Techniker salutierten ihr unsicher. Lucinda setzte sich wieder Richtung Offiziersmesse in Bewegung. Defiant hatte offenbar nicht vor, sie in irgendetwas einzuweihen. Vielleicht sah sie ja auch nur Gespenster, und es war überhaupt nichts Außergewöhnliches im Gange. Es wäre nicht das erste Mal. Lucinda griff auf ihre Akte zu, stellte sich das Gesuchte vor, und da war es. Schwebte direkt vor ihr.
Ihre Belobigung.
Leutnant Lucinda Jane Hardy wird für ihren herausragenden Kampfesmut gewürdigt. Ihre höchste Tapferkeit im Kampf unter allergrößter Gefahr während einer Spezialmission im Jawanischen Imperium …
Rasch schloss sie die Akte wieder, auch wenn niemand außer ihr und Defiant die Anzeige sehen konnte. Dieses Geheimnis zu wahren war ihr inzwischen unauslöschlich zur Gewohnheit geworden, und außerdem hatte sie soeben ihr Ziel erreicht: die Offiziersmesse.
Man erwartete sie bereits.
Es war eine überschaubare Offiziersgruppe. Sie hatte noch nie zuvor einen von ihnen persönlich getroffen, aber dennoch kannte sie die anderen, und die anderen kannten sie. Als die Flotte vor einer Woche ihre Versetzung genehmigt hatte, war Lucindas Akte in ihre Neuralnetze kopiert worden. Sie selbst hatte die Akten der anderen erhalten, sobald sie sich mit dem Schiff verbunden hatte. Sie erkannte Kapitän Torvaldt und seine Stellvertreterin, Kommandantin Claire Connelly, die sich beide entspannt in ihren Stühlen zurückgelehnt hatten und sich leise miteinander unterhielten. Infanteriekommandant Captain Hayes fiel durch seine Statur sofort ins Auge: Er war einen guten Kopf größer als alle anderen, und seine Schultern sahen aus wie Granitfelsen, an denen man mühelos andere, weniger harte Steinbrocken zerschmettern konnte. Der Oberingenieur der Defiant, Leutnant Kommandant Baryon Timuz, lächelte Lucinda zu, seine Augen waren zugleich freundlich und ein wenig traurig. Neben ihm stand Leutnant Thanh Koh, der Leiter der Nachrichtenabteilung; er nickte ihr zu, als wäre ihre Ankunft die Lösung eines schwierigen mathematischen Problems, an dem er bis zu diesem Moment gearbeitet hatte. Und natürlich war auch Defiant selbst anwesend. Der Schiffsintellekt schwebte über einem lang gestreckten, polierten Holztisch, auf dem Wasserkrüge und Gläser standen, zwei Kaffeekannen und ein kleiner Teller mit warmen Brötchen aus der Bordküche. Torvaldt, Connelly und Timuz saßen bereits, Thanh Koh rückte sich gerade einen Stuhl zurecht.
Sobald sie sie bemerkt hatten, nahmen alle Haltung an und salutierten. Fast wäre Lucinda zurückgeprallt, aber da empfing sie Defiants nur für sie hörbares Flüstern in ihrem Kopf: »Der Stern, Leutnant. Sie salutieren dem Stern.«
Wie betäubt salutierte sie ebenfalls, sah verwirrt an sich hinunter und entdeckte zu ihrer Verblüffung zwischen den anderen Orden eine neue Auszeichnung an ihrer Brust. In Mitternachtsblau und Weißgold prangte dort die höchste Auszeichnung, die der Weltenbund für Tapferkeit verlieh. Sie hatte diesen Orden noch nie zuvor getragen. Sie hatte es nicht gedurft, und eine volle Sekunde lang zweifelte sie an ihrem Verstand, als sie ihn dort erblickte, direkt über ihrem Herzen.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Defiant über ihren privaten Kanal. »Ich habe mir erlaubt, den Orden hinzuzufügen, sobald Sie an Bord gekommen sind.«
»Willkommen an Bord, Leutnant Hardy, bitte kommen Sie doch herein«, sagte Kapitän Torvaldt und lächelte übers ganze Gesicht. »Die restlichen Formalitäten sparen wir uns mal. Heute Morgen ist einiges zu tun.«
Sobald sie eingetreten war, ein bisschen unsicher auf den plötzlich taub gewordenen Füßen, schloss sich ein Störfeld um die Offiziersmesse, das sie vom Rest des Schiffs abschirmte. Infanteriekommandant Captain Hayes zwinkerte ihr zu und beugte sich vor, um ihr die Hand zu schütteln. »Gute Arbeit auf Concord«, sagte er. Seine Hände waren riesig und voller Schwielen, aber sanft.
Alles kam ihr ganz leicht surreal vor. Auch weil sie um eine ganze Lebensspanne die Jüngste hier war – selbst Koh war ein Zweitinkarnierter, und Timuz, bei Gott, befand sich in seinem vierten Lebenszyklus. Lucinda in ihrer schlecht sitzenden Uniform war zumute wie einem Kind, das Verkleiden spielt. Wieder einmal kämpfte sie gegen die ach so vertraute Furcht an, dass die Erwachsenen sie jede Sekunde erwischen und aus dem Zimmer werfen würden.
Sie setzte sich neben Hayes, der den Teller mit den warmen Brötchen heranzog und eines davon mit seinen gewaltigen Pranken entzweiriss. »Die sind ganz wunderbar«, sagte er.
Sie war peinlich berührt. Kapitän Torvaldt hatte sich noch nicht mal einen Kaffee eingeschenkt. Aber der Kapitän der Defiant schien sich nicht am Betragen seines Infanteriekommandanten zu stören, er lächelte ihm sogar zu. »Die sind wirklich gut, oder? Cooky vollbringt wahre Wunder an der Rührschüssel. Macht alles von Hand. Also … sind wir dann jetzt so weit? Defiant?«
Der Intellekt, der gleichmütig am anderen Ende des Tischs schwebte, wippte einmal kurz in der Luft. Seine Art zu nicken. »Danke, Kapitän.«
Über dem Tisch erschien ein Hologramm, eine Projektion des lokalen Volumens. Im Zentrum befand sich Station Deschaneaux, die im Orbit der blaugrünen Kugel namens A3-T-3019 kreiste, der erdähnlichen Welt, die der Anlass für den Krieg zwischen Armadale und dem Jawanischen Imperium gewesen war. In dreieinhalb Lichtjahren Entfernung – oder eine Armeslänge entfernt nach den Maßstäben des Holodecks – schwebte der äußerste Außenposten dieses Imperiums über den warmen Brötchen, ein Felsbrocken-Planet namens J4-S-2989. J4, bekannter unter dem Namen Batavia, war jene Strafkolonie-Welt, auf die die Yulin-Irrawaddy ihren Vater geschickt hatte, damit er »seine Schulden abarbeitete«.
Niemand arbeitete jemals in seinem Leben diese Schulden ab. Keine Chance.
Sie zwang sich, den Blick abzuwenden, und betrachtete den Rest des Quadranten. Die Heimatwelt der Königlichen Montanblanc-Korporation bildete den dritten Punkt eines fast gleichseitigen Dreiecks, gemeinsam mit den Welten Jawan und Armadale. Die drei Planeten wurden von ihren Monden umkreist und von mehr als einem Dutzend Habs unterschiedlicher Bauart, alle an unterschiedlichen Lagrange-Punkten. Und über allem türmte sich unheilvoll … das Dunkel: ein ausgedehnter Streifen aus vollkommener Leere, der sich hinter den äußersten Randsiedlungen der menschlichen Zivilisation erstreckte. Was dahinter lag … wer wusste das schon?
Irgendwo dort draußen waren die Sturm, vorausgesetzt, es gab noch welche. Aber wenn der Große Krieg die Menschheit eines gelehrt hatte, dann, dass die Sturm zwar primitiv waren und barbarisch, dass sie moderne Technologie und die damit verbundenen Vorteile ablehnten … aber trotzdem alles andere als einfach zu töten waren. Ganz sicher waren sie noch irgendwo dort draußen im Dunkel, wo die Albträume lebten.
»Die Admiralität hat uns mit einer längeren Patrouille als üblich beauftragt«, sagte Defiant. »Normalerweise ist die KAM zuständig für einen Bogen von etwa vierzig Grad zwischen Station Deschaneaux und der entmilitarisierten Zone, die an die Hoheitsgebiete von Jawan, SanYong und das Unabhängige Unternehmen Zaitsev im System Heugens 77U grenzt. Unser Patrouillenbereich endet am Saum des Dunkels, eine Grenze, die sowohl durch die Leistungsfähigkeit unseres FTL-Antriebs als auch durch politische Vereinbarungen definiert wird.« Defiant machte eine Kunstpause, ganz wie ein menschlicher Redner, der einen dramatischen Effekt erzielen will.
»Auf dieser Mission legen wir eine doppelt so weite Strecke zurück.«
»Wow!«, entfuhr es Lucinda, und dann errötete sie ein wenig, weil sie die Einzige war, die ihrer Überraschung hörbar Ausdruck verlieh.
Connelly sah mit hochgezogener Augenbraue Torvaldt an, der wenig überrascht und ganz gelassen wirkte. Leutnant Koh nickte, als hätte er eine Wette mit sich selbst gewonnen.
»Ihr Staunen ist ein bisschen verfrüht, Leutnant Hardy.« Defiant klang amüsiert. »Denn wir werden nicht nur sechzig Lichtjahre weit ins Dunkel vordringen, sondern wir decken zudem einen Bogen im Winkel von sechzig Grad zu Station Deschaneaux ab.«
»Boah!«, murmelte Hayes, den Mund voll mit warmem, gebuttertem süßen Brötchen.
»Ja«, sagte Defiant. »Tief hinein in die Hoheitsgebiete aller drei Parteien im Heugens-System.«
Lucinda kam es plötzlich vor, als würden in ihrem Körper sämtliche Nervenenden summen und kribbeln. Sie standen im Begriff, eine Kriegshandlung zu begehen.
»Machen Sie sich keine Sorgen, wir ziehen nicht in den Krieg«, sagte Defiant, als hätte er ihre Gedanken gehört. »Diese erweiterte Patrouille findet auf direktes Ersuchen der Erde statt, und es wurden entsprechende Vereinbarungen mit allen drei Parteien des Heugens-Systems getroffen. Man duldet diese Patrouille und wird uns nicht in die Quere kommen.«
Neben Lucinda schnaubte Hayes, immer noch mit vollem Mund. »Ha. Mussten sie dafür jemanden umlegen?«
»Nein«, sagte Defiant. »Aber die Erde hat angekündigt, dass es Tote geben wird, falls es auch nur den leisesten Hinweis darauf gibt, dass jemand die Vereinbarung bricht. Bitte gestatten Sie mir, dass ich Ihnen ein Datenpaket übertrage. Kapitän Torvaldt weiß bereits Bescheid, aber alle anderen bereiten sich bitte auf die Datenübertragung vor, ich beginne in wenigen Augenblicken.«
Lucinda und die anderen nickten, und im nächsten Moment spürte sie, wie Daten in ihr Bewusstsein sickerten. Sie nahm sich kurz Zeit, um die neuen Informationen durchzusehen, sich damit vertraut zu machen und, ebenso wichtig, sich ihre Bedeutung klarzumachen.
Ihr Puls beschleunigte sich, und sie hörte den einen oder anderen unterdrückt aufkeuchen, als allen bewusst wurde, welche Tragweite die neuen Informationen hatten.
Defiant musste es ihnen nicht erklären, sie wussten alle Bescheid. Fast ein halbes Jahrtausend lang hatte weit draußen im All, wohin sich die Sturm nach dem Großen Krieg zurückgezogen hatten, vollkommene Stille geherrscht. Aber jetzt war etwas geschehen. Kein Signal, aber ein Warnzeichen: Drei Ultralangstreckensonden waren plötzlich verstummt. 342 Jahre lang hatten diese Sonden alle Sterne abgesucht, von denen man annahm, sie könnten den Sturm als neue Heimat dienen, und hatten ihre Ergebnisse über eine Wurmloch-Verbindung in Echtzeit ans Großvolumen übermittelt. Sie hatten nie etwas gefunden, aber vor zwei Standardmonaten war bei allen dreien im Abstand von wenigen Stunden die Datenübertragung ausgefallen.
»Das ist wahrscheinlich kein Zufall«, dachte die Stellvertretende Kommandantin laut.
»Sehr unwahrscheinlich«, sagte Timuz. »Sie müssen wissen, ich habe mit diesen Sonden bereits selbst gearbeitet. Sie hätten ohne jedes Problem noch tausend Jahre lang funktionieren müssen.«
»Das stimmt«, sagte Koh, der Nachrichtendienstoffizier. »Wenn es nur eine wäre – nun, das könnte auch dem Zusammenstoß mit einem Asteroiden oder einem Gamma-Puls oder meinetwegen sogar schlicht einem Systemfehler geschuldet sein. Aber alle drei, und das innerhalb genau dieser Koordinaten? Nein. Irgendetwas hat sie gezielt ausgeschaltet.«
»Und wir werden herausfinden, was genau das war«, verkündete Kapitän Torvaldt.