Über das Buch:
Über zwölf Jahre hinweg trifft sich die US-Amerikanerin Tory Bilski immer im Juni für eine Woche mit anderen Frauen auf einer Pferdefarm in Island. Als sie zum ersten Mal nach Thingeyrar kommen, sind sich diese Frauen fremd. Nur ihre große Leidenschaft für Islandpferde verbindet sie. Im Laufe der Jahre vertiefen sich ihre Beziehungen zueinander und es entstehen Freundschaften. Die Frauen trotzen gemeinsam Wind und Wetter und sie wachsen auf dem Pferderücken über sich und ihre Ängste hinaus. Dabei lassen sie die üblichen Probleme, wie kranke Eltern, schwierige Teenager oder finanzielle Sorgen, weit hinter sich und leben ihren Wunsch nach Abenteuer aus. Ein faszinierendes Porträt von Island und seinen einzigartigen Pferden und eine Reisebiografie voll frischem Humor.
Über die Autorin:
Tory Bilski gründete 2013 ihren preisgekrönten Blog Icelandica, auf dem sie von ihren jährlichen Reisen nach Island berichtet. Die US-Amerikanerin schreibt neben Reiseberichten auch erfolgreiche Kurzgeschichten und arbeitet an der Yale University. Sie lebt mit ihrer Familie in New Haven, Connecticut.
TORY BILSKI
Wilde Pferde, wilde Herzen
Eine Geschichte von Frauen, Freundschaft und Abenteuer auf Island
Aus dem Amerikanischen von Anja Lerz
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Wild Horses of the Summer Sun. A Memoir of Iceland« bei Pegasus Books NY Ltd., USA.
© 2019 by Tory Bilski
Deutsche Erstausgabe
© 2020 der deutschsprachigen Ausgabe Kailash Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Übersetzung: Anja Lerz
Lektorat: Werner Wahls Umschlaggestaltung: ki 36, Editorial Design, München, unter Verwendung eines Motivs von Diane Cook and Len Jenshel/getty images
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-25799-6
V001
www.kailash-verlag.de
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Für Matthew, wegen allem
Inhalt
Vorwort
Das wilde Pferd in uns
Buch I: Der Schritt (Fet)
2004
Irrfahrt
Auf der Suche nach der perfekten Pylsur (Wurst)
Das Land Oz
Pferdegeschichten
Ankunft in Thingeyrar
Die Gäste im Gästehaus
Wo ich sein möchte
2005
Bitte sprechen Sie mir nach: Hvammstangi
Eves Leben
Kommt ein Vogel geflogen
Die Herde
Schwellenort
2006
Der Wind an diesen Orten
Buch II: Der Tölt
2007
Eine Nacht in Reykjavík
Mütter und Töchter
Die Männer Ihrer Majestät
Das Königreich des Pferdes
Der Tag, an dem Lisa ihren Tölt fand
Die Bullen-Saga
Nächstes Jahr: Island
2008
Reiterinnen aller Welt
Buch III: Der Trab (Brokk)
2009
Die Umstände
Was wir mit uns tragen
Sylvie verliebt
Die Herde verändert sich
Von Hengsten und Stuten
Pferde zähmen leicht gemacht
2010
Annus horribilis
Zurück in Snæfellsnes
Herdeninstinkt
Futterneid
Nächstes Jahr: Island?
Buch IV: Der Galopp (Stökki)
2011
Galopphilfe
Was alles fehlt
Einem geschenkten Gaul …
Die Wahrheit über Elfen und Trolle
Nächstes Jahr: Island?
2012
Ja, aber die Réttir
Wir sind ganz schön herumgekommen
2013
Willkommen in Island
Lächerliche Frauen
Die Nächte des Magischen Denkens
Die Schwesternschaft der lächerlichen Frauen
In welchem wir bestellen, austeilen und gehen
Entrückt
Buch V: Der Pass (Skeið)
2014
Die Straße nach Thingeyrar
Der wilde Fluss
Um noch einmal auf diese Geister zurückzukommen
Mein Island-Ding
2015
Island verstehen
Fliegen lernen
»Thetta Reddast« (Das findet sich schon)
Wie wir unseren Weg finden
Das goldene Sommerland Thingeyrar
Epilog
Verschlossene Tore und verlorene Orte
Danksagung
Vorwort
Das wilde Pferd in uns
Man mag es tadeln oder loben, das wilde Pferd in uns lässt sich nicht verleugnen.
– Virginia Woolf1
Ich bin außer Kontrolle, wie ich es am liebsten mag. Ich sitze auf einem Pferderücken, meine liebste Art der Fortbewegung. Ich galoppiere, meine Lieblingsgangart. Als wir das Meer erreichen, kann ich trotz des langen, kalten Weges das Temperament meiner Stute kaum zügeln. Es ist, als würde sie jetzt erst so richtig aus sich herausgehen.
Die Pferde werden hier alle wilder. In ihrem Blut regen sich der Wind und die Wellen des arktischen Meeres. Ich kann die Stute jetzt sowieso nicht mehr aufhalten, also lasse ich sie, lasse sie nach Herzenslust laufen – nach ihrer und nach meiner. Ich bin Teil ihres Rhythmus’ und ihrer Geschwindigkeit, wie wir hier über den verdichteten Sand galoppieren, die Gischt spritzt mir ins Gesicht, und so durchbrechen wir eine unsichtbare Barriere. Die ganze Welt wird zu dem, was ich über ihrer vom Wind gescheitelten Mähne zwischen ihren Ohren sehen kann. Sie ist schnell und wendig; manövrierfähig und hervorragend ausbalanciert wie ein Schiff. Ich denke nicht daran, herunterzufallen oder anzuhalten, ich überlege nur, wer von uns beiden – Pferd oder Reiterin – zuerst müde werden wird. Ich bin auf eine wilde Art frei, bin regelrecht euphorisch. Das weckt lange vergessene Impulse meiner Jugend in mir und bringt mein Herz dazu, voll auf Empfang zu sein, wacher als wach. In meiner Heimatstadt bin ich als die Frau bekannt, die nach Island fliegt, um dort zu reiten. Bei Partys oder im Café um die Ecke werde ich vorgestellt als: »Tory, von der ich dir erzählt habe. Sie fliegt jedes Jahr zum Reiten nach Island.«
Wenn diese Reise, die ich einmal im Jahr antrete, Teil meiner Identität ist, dann nehme ich das gerne an. Identitäten, die nicht an Erbgut oder Geburtszufälle gekoppelt sind, sind mir sowieso die liebsten. Ich bin Amerikanerin, was auch immer das heißen mag; die polnische Herkunft meines Vaters steht mir ins Gesicht geschrieben, obwohl die Verbindung zu der Kultur schon lange verloren gegangen ist. Die Seite meiner Mutter hat einen durcheinandergewürfelten Mischmasch nordeuropäischer Gene dazu beigetragen, von schottisch bis estnisch.
Was die Identitäten angeht, die wir uns selbst schaffen, habe ich meine Häkchen an den üblichen Stellen gemacht: Mutter, Ehefrau, Arbeitsbienchen, Vorstadtbewohnerin. Aber die Frau, die auf Island reiten geht – das verleiht mir zumindest in meinem Denken ein bisschen mehr Stil als, sagen wir mal, Elternratsvorsitzende (das war ich auch mal). Immerhin würdigt man mich deshalb eines zweiten Blickes. Wenn jemand dabei ist, höflich an mir vorbeizugehen und mein Aussehen zur Kenntnis nimmt (Hallo!, sage ich) oder mein Alter (Hallöchen!) und nur beiläufiges Interesse für mich aufbringen kann, zögert derjenige dann doch kurz … Hä? Ich meine, es ist ja nicht gerade so, als würde ich in Grönland Eisbärfährten lesen (obwohl ich das gerne mal täte) oder beim Rentiertreiben in Lappland mitmachen (oh, bitte, bitte!), aber Reiten auf Island, das landet immerhin auf einem guten dritten Platz.
Wir sind, was wir wagen.
Warum Island, warum Pferde, warum ich? Weil ich mich in meinem Büro bei meinem Schreibtischjob langweilte – in der Langeweile beginnt das Abenteuer – und einen meiner ersten Streifzüge in »dieses Internet« unternahm, damals, etwa 1999, als Google noch neu war und es noch kein Verb dazu gab. Es war gerade erst ein paar Jahre her, dass ich meine Abschlussarbeit über die Invasionen der Wikinger in England geschrieben hatte, in der ich die kulturellen Einflüsse betrachtete, die diese Invasionen auf das Leben der Angelsachsen gehabt haben mochten. Ich hatte die nordischen Siedlungen in Yorkshire und Lincolnshire untersucht, jedoch kein einziges Mal über die Siedlungen auf Island nachgedacht. Aber dann führten mich die Klicks über die neuen Trittsteine im weltweiten Netz schließlich auf die offizielle Seite des Islandpferds. Ich hielt inne und starrte die Seite lange an. Ich hatte etwas gefunden, von dem ich gar nicht gewusst hatte, dass ich es suchte.
Auf meinem Bildschirm war ein Schwarzbrauner, der alleine auf einem grasbewachsenen Hügel im Nebel stand. Es ist schwer zu sagen, warum bestimmte Themen, Objekte oder Orte bei bestimmten Leuten besonderen Nachhall finden. Warum manche Leute wie magisch vom afrikanischen Kontinent angezogen werden oder, sagen wir mal, von allem, was irgendwie italienisch ist.
Aber von diesem ersten Blick auf das pixelige Islandpferd an war ich regelrecht besessen, war wieder ein verknalltes junges Mädchen. Es war ein muskulöses Pferd mit einem edlen Kopf, einem kompakten Körperbau, weiten Nüstern und einer wallenden schwarzen Mähne, die ihm der Wind aus dem Gesicht wehte. Ich wusste, dass es ein Hengst war; er hatte die Ausstrahlung eines harten Kerls. Das war ein Pferd, bei dem ich eine Botschaft aus vergangenen Zeiten spüren konnte, eine Erinnerung daran, eine Vertrautheit, was Ort und Zeit angeht (ich weiß, ich weiß …). Normalerweise glaube ich erst nach dem dritten Glas Wein an vergangene Leben, aber da war ich nun einmal, um die Mittagszeit beim Aufschieben meiner eigentlichen Aufgaben, und starrte dieses dunkle Pferd an, das mir wiederum unverwandt entgegenblickte. Lang war es her gewesen, Jahrhunderte, aber jetzt nahmen wir wieder Kontakt zueinander auf.
So fing der Traum also an. Dieser Ort: Island; dieses Pferd: das Islandpferd.
Als sich der Norden erst einmal in meiner Psyche festgesetzt hatte, ließ er mich nicht wieder los. Damals befand sich Island noch nicht auf dem Radar der Touristen. Es hing so an der Kante der Europakarte. Wenn Leute überhaupt irgendetwas wussten, dann, dass Erik der Rote absichtlich die Bezeichnungen vertauscht und den Leuten dadurch erfolgreich verschwiegen hatte, dass Island eigentlich grün und Grönland von Eis bedeckt war. Manche hatten vielleicht von Björk gehört. Oder wenn sie zum kleinen Kreis der Eingeweihten zählten, kannten sie Sigur Rós und die aufkeimende Musikszene Reykjavíks. Vielleicht wussten sie von den günstigeren Flügen nach Europa, die einen Zwischenstopp in Keflavík erforderten. Weitenteils kannte man Island eben als Streckenposten auf dem Weg nach London oder Paris.
Als ich von meiner Sehnsucht erzählte, dorthin zu reisen, lachte meine Cousine mich aus: »Wo willst du hin? Was willst du da? Hört sich an wie die Hölle.«
Sie war nicht die Einzige. Am Ende des letzten Jahrhunderts kannte ich niemanden, weder aus meiner Familie noch aus dem Freundeskreis, der auch nur das winzigste bisschen Interesse an Island hatte. Geschweige denn an Islandpferden.
Mein Ehemann versuchte mich auf seine Art davon abzuhalten. Wenn ich weg war, passierte immer irgendetwas: Der Keller lief voll, es regnete durchs Dach, der Hund wurde krank, die Kinder verpassten Unterricht. Als wäre ich der Glücksbringer des Haushalts. Er bekam seine Arbeit nicht erledigt. »Warum kannst du dich denn nicht in ein Pferd aus der Gegend hier verlieben?«, fragte er. »Was stimmt denn mit den Pferden in Connecticut nicht?« Er dachte wohl, ich wäre in Sachen Pferde so etwas wie eine Rassistin.
Eine Freundin ermutigte mich dann doch und überlegte laut, ob das meine Art Midlifecrisis sei. Ob ich mich jetzt eben anstatt in einen anderen Menschen in etwas ganz anderes verliebt hätte; ein Pferd, eine bestimmte Art Pferd. Nach weiterem Nachdenken sagte sie: »Oh Tory, du musst unbedingt los«, was sämtliches Abwägen und Debattieren beendete. Sie war Sozialarbeiterin, ausgebildet nach C. G. Jung, die sich hier und da mit Expeditionen in die Wüste zur Visionsfindung beschäftigte. Sie packte mich mit einer Dringlichkeit am Arm, die ich nicht einfach abtun konnte: »Dein Krafttier ruft dich. Dein Totem. Dir bleibt gar nichts anderes übrig – du musst ihm begegnen, es begrüßen.«
Mein digitales, mythisches, totemhaftes Pferd rief, und ich musste reagieren. Ich richtete meinen Kompass gen Norden, zu diesem entfernten eisigen Felsen von einer Insel im nördlichsten Meer, wo ich mich auf einen Pferderücken werfen und bis ans Ende der Welt galoppieren wollte. Um mir im Rhythmus des Hufschlags die Eintönigkeit aus Leib und Seele zu trommeln und das schlummernde Begehren nach (und die Ehrfurcht vor) einem schnellen Pferd zu wecken.
Das war nicht meine erste Liebe, was Pferde anging. Als junges Mädchen war ich bereits einmal pferdenärrisch gewesen. Ich habe alles mitgemacht: Reitstunden, Reiterferien und Pferdepflege, bei der ich um die Mähne eines 1 000 Pfund schweren Tiers so viel Aufhebens gemacht habe wie andere Mädchen um ihre Puppen. Aber mit etwa elf Jahren verflog mein Eifer.
An der Schwelle zur Pubertät wurde mir meine Mädchenbande wichtiger als die Liebe zu den Pferden. Der in uns wohnende Wunsch, zu einem Stamm dazuzugehören, gewann die Oberhand, doch in der Clique gab es keinen einzigen Pferdefan. Wir Mädchen wohnten alle im selben Viertel, fuhren mit demselben Bus nach Hause. Unsere Häuser lagen am Rand eines 400 Hektar großen Waldes, den wir jeden Tag nach der Schule durchstreiften. Wir stellten unseren Wagemut auf Bahnschienen auf die Probe oder mit improvisierten Hockeyspielen auf zugefrorenen Flüssen, aus deren Oberfläche Wurzeln und Steine ragten, oder spielten mit Streichhölzern, die wir gegen vertrocknete Grashalme schnippsten, die (ach du Scheiße) viel zu schnell Feuer fingen. In den Überresten einer alten Kaserne schlossen wir einen Pakt, dass wir zurückkehren würden, wenn wir älter wären. Wir schworen, wir würden ihn auf jeden Fall einhalten, aber der Gedanke schwand immer mehr, je größer wir wurden. Wir redeten die ganze Zeit. Wir aßen Lakritzstangen und tranken Kakao. Wir probierten Zigaretten aus, testeten verschiedene Arten zu paffen und zu inhalieren und taten oft, als hielten wir bei einer todschicken Party ein Cocktailglas in der Hand.
Ach, die guten alten Zeiten.
Manchmal dreht das Leben eine Extrarunde und gibt uns die Chance, uns neu zu erfinden, eine frühere Inkarnation noch einmal aufzusuchen. Und so saß ich dreißig Jahre später in Island mit einer Horde Frauen in einem Van, mit neuen Freundinnen. Nur war das, was uns verband, dieses Mal die Sehnsucht nach den Islandpferden. Und wir hatten nicht vor, einen Pakt zu schließen, der uns dazu verpflichtete, jedes Jahr wiederzukommen. Trotzdem taten wir genau das. Jeden Juni ließen wir unser normales Leben, vollgestopft mit Arbeit und Alltag und den Sorgen und Pflichten des Erwachsenenlebens, hinter uns. Unsere Zeit in Island war kein Urlaub, sondern unsere Berufung auf Zeit. Wir ritten durch Lupinenfelder und über Sandbänke aus schwarzem Vulkansand. Wir durchquerten Flüsse und Seen und kamen schlammüberzogen zurück in unser Gästehaus nach Thingeyrar. Wir redeten die ganze Zeit. Wir aßen Kuchen und tranken Bier. Wir wurden gemeinsam älter, hielten einander jung.
Ach, die guten, guten alten Zeiten.
1 Woolf, Virginia: Jacobs Zimmer. Übersetzt von Heidi Zerning, herausgegeben und kommentiert von Klaus Reichert. München: Luchterhand, 2006.
Buch I
Der Schritt (Fet)
Eine langsame und natürliche Gangart im Viertakt, bei der immer zwei Hufe den Boden berühren und bei der sich alle Hufe in gleichmäßigem Tempo vorwärtsbewegen.