Buch
Als ihre geliebte Tochter Amalie in einem norwegischen Badesee ertrinkt, bricht für Alison die Welt zusammen. Für eine andere Familie bedeutet das Unglück einen Neuanfang: Nach Jahren schwerer gesundheitlicher Probleme erhält die kleine Kaia am Morgen nach dem Unfall ein Spenderherz – Amalies Herz. Ihre Mutter Iselin ist überglücklich, endlich geht es aufwärts. Und dann findet sie auch noch eine neue Freundin, die sich besonders um sie und ihre Tochter kümmert: Alison. Iselin ahnt nicht, wer Alison in Wirklichkeit ist. Und deren Trauer wandelt sich zunehmend in Besessenheit …
Autorin
Alex Dahl ist halb Norwegerin, halb Amerikanerin und lebt in Norwegen und London. Sie ist eine entfernte Verwandte von Roald Dahl, spricht fließend Deutsch und Französisch und hat einen Master in Kreativem Schreiben. »Das fremde Herz« ist nach »Der Junge« ihr zweiter Roman.
Alex Dahl
Das fremde Herz
Roman
Aus dem Englischen
von Eva Kemper
Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Heart Keeper« bei Head of Zeus Ltd., London.
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Deutsche Erstveröffentlichung August 2021
Copyright © der Originalausgabe 2019 by Alex Dahl
Published by Arrangement with Alexandria Bockfeldt-Dahl.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München
Umschlagmotiv: Arcangel/Karina Vegas
Redaktion: Annekatrin Heuer
LS · Herstellung: ik
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-26093-4
V001
www.goldmann-verlag.de
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Für Oscar und Anastasia
»Tränen haben ihren Ursprung im Herzen, nicht im Gehirn.«
Leonardo da Vinci
Teil I
Kapitel 1
Alison
Immer wieder wache ich auf, wenn ich überhaupt schlafen kann. Auf Sindres Seite des Betts projiziert der Wecker die Zeit an die Wand, und ich liege da und starre auf die pulsierenden Punkte zwischen den Ziffern. Es ist kurz nach zwei Uhr morgens, und Sindre ist nicht hier. Er war hier, als ich eingeschlafen bin. Glaube ich wenigstens. Ich ziehe die Hand unter der warmen Decke hervor und streiche über die kalte, leere Stelle, auf der mein Mann liegen sollte.
Vor ein paar Nächten war es genauso. Ich schreckte in diesem dunklen, lautlosen Zimmer aus einem Traum auf, an den ich mich nicht erinnern konnte. Blinzelnd versuchte ich, im Dunkeln Sindres massige Gestalt auszumachen – ohne die Hand auszustrecken, weil er nicht denken sollte, dass ich etwas wollte; ich hätte seine warmen, zärtlichen Hände nicht auf meiner Haut ertragen. Erst nach einem Moment begriff ich, dass er nicht da war. Ich stand auf, setzte mich auf die Fensterbank und blickte auf den Wald und die Lichter der Stadt, die auf den Hügeln dahinter den Sternen entgegenstiegen. Für Anfang Oktober war die Nacht sehr kalt, und der rötliche Mond stand tief über Tryvann. Ich war froh, dass Sindre nicht da war – es tat gut, mich zur Abwechslung nicht schlafend stellen zu müssen.
Als ich wieder ins Bett gehen wollte, fiel mir zwischen den Bäumen gegenüber dem Haus, direkt am Kiesweg, eine Bewegung auf. Ich wich vom Fenster zurück und sah, wie Sindre den Wald verließ. Er trug seine teuren Lederslipper und ein hellblaues Hemd, das halb in der Hose steckte und auf der Brust mit Erde verschmiert war. Auf dem schmalen Weg zwischen Auto und Haus blieb er stehen, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er wieder hereinkommen oder wegfahren sollte. Erst als er sich wieder in meine Richtung drehte, konnte ich sein Gesicht deutlich ausmachen. Es war zu einer enthemmten, fremdartigen Grimasse verzogen. Hätte der Mann vor unserem Haus nicht Sindres Kleidung getragen, weiß ich nicht, ob ich ihn erkannt hätte.
Ist er heute Nacht wieder dorthin gegangen? Ich stehe auf und trete ans Fenster. Es ist windig und regnerisch, unter grauen Wolken raschelt eine kräftige Brise durch das Laub im Garten. Aus dem dichten Wald hinter unserem Grundstück steigt Nebel, der vom Wind verwirbelt wird. Es wäre schön, jetzt durch den Wald zu laufen, das Knacken der Zweige zu hören, mich von der Kälte der Nacht durchdringen zu lassen und die feuchte Luft tief einzuatmen. Vielleicht würde es das Brennen lindern, und sei es nur für einen Moment. Ich kneife die Augen zusammen und starre auf die Stelle, an der Sindre neulich nachts aus dem Wald kam, aber ohne das Mondlicht könnte ich den Umriss eines Mannes nicht von einem Baum unterscheiden, selbst wenn er dort wäre. Er könnte direkt vor mir stehen und mich anschauen, ich würde ihn nicht sehen.
Ich gehe zur Tür und horche, bevor ich sie einen Spaltbreit öffne. Dieses Haus ist selten still – als würde unablässig ein leises Summen aus seinen Wänden dringen, wie eine Bassbegleitung zu der Melodie, mit der meine Familie es jeden Tag erfüllt –, doch heute Nacht höre ich keinen Laut. Ich verharre auf dem Treppenabsatz im zu grellen Licht der Deckenstrahler und lausche auf dieses tröstliche Murmeln des Hauses oder ein beruhigendes Geräusch von einem seiner Bewohner, aber es ist vollkommen still. Als ich zu Amalies Tür hinüberblicke und daran denke, was dahinter ist, steigt plötzlich blanke Panik in mir auf. Wie ein Feuer lodert sie auf, als würden echte Flammen in jeden dunklen Winkel schlagen. Ich drücke die Hände auf den Bauch und reiße den Blick von Amalies Tür los. Ich suche etwas, das ich zählen kann, irgendetwas, und das Einzige, was mir einfällt, sind die Stufen. Siebzehn. Siebzehn Stufen, das schaffe ich. Ich kann nach unten gehen und ein Glas Wasser holen und nach oben zurückkehren, vorbei an Olivers und an Amalies Zimmer, das ist ganz einfach. Ich kann das, es ist ja nicht das erste Mal, nur eine schlimme Nacht, mehr nicht, und wenn ich wieder oben bin, kann ich eine Tablette aus dem Nachttisch nehmen, die vielleicht keinen richtigen Schlaf bringt, aber doch tiefe, traumlose Ruhe.
Im Dunkeln stehe ich vor der Küchenspüle. Jetzt höre ich das Summen. Meine Hände presse ich immer noch auf den Bauch, als würden sonst meine Gedärme herausfallen. Das Brennen lässt nach. Nun fühlt es sich eher so an, als würde sich mein Inneres zersetzen – als hätte ich an einer Batterie genagt.
Eine Angststörung, sagt der Arzt.
Hallo, Bärchen, flüstere ich. Ich wette, du kannst mich jetzt sehen, auch wenn ich dich nicht sehe. Wenn du mich hörst, gibst du mir bitte ein Zeichen, irgendeines, ein ganz kleines? Wirf einen Teller herunter, schalte eine Lampe ein, lass draußen ein Tier schreien. Ich würde dich in den Scherben erkennen, in dem hellen Licht, ich würde dich in dem Ruf hören … Ein Zeichen, Schätzchen, mein kleiner Engel – bitte, bitte sprich mit mir …
Irgendwo geht Licht an – es strömt durchs Fenster und zeichnet hinter mir ein Quadrat auf den Boden. Ich halte mich mit beiden Händen an der Spüle fest, mein Herz hämmert so heftig, dass ich kaum atmen kann. Ich will ihren Namen noch einmal sagen, aber ich bekomme keinen Ton heraus. Ich beuge mich zum Fenster vor und stelle fest, dass das Licht aus der Garage hinter dem schmalen Fußweg dringt.
Sindre steht vor der Werkbank, die eine ganze Wand der Garage einnimmt. An derselben Stelle steht er jeden Winter, um mit Engelsgeduld unsere Langlaufski für die Wochenenden zu wachsen – erst Olivers schmale schnelle, dann seine eigenen, gefolgt von meinen Anfängerski und schließlich Amalies kurzen, breiten Ski mit den glitzernden Schneeflocken und Königin Elsas Gesicht an den gebogenen Spitzen. Ich bleibe zwischen Haus und Garage, wo der Wind viel schärfer weht, als ich dachte. Gerade nah genug, um die kleinen Ski an einem Haken oben an der Wand auszumachen. Sindre hat mir den Rücken zugewandt, trotzdem kann ich das meiste vor ihm auf der Werkbank sehen. Seine Bewegungen wirken seltsam, manchmal rasch und ruckartig, dann wieder langsam und flüssig. Erst nach einer Weile erkenne ich, dass er Waffen poliert. Er nimmt das Teleskop von einem langen, matten Jagdgewehr ab, hält es gegen das Licht und poliert mit einem roten Tuch die Linsen. In ein paar Wochen geht er auf die Elchjagd. Das hatte ich vergessen. Er fährt jedes Jahr zu dieser Zeit – darauf muss er sich natürlich vorbereiten.
Der Regen wird von einem Windstoß um die Hausecke und auf den Pfad getrieben und kribbelt unangenehm auf meinem Gesicht und den Händen. Ich ziehe meine Jacke enger um mich, trotzdem friere ich schrecklich, und vielleicht schreie ich auch leise auf, denn Sindre kommt plötzlich an das schmale Fenster, um hinauszuspähen. Ohne recht zu wissen, warum, drücke ich mich neben dem Fenster an die Wand, damit er mich nicht bemerkt. Ich könnte einfach leise anklopfen, in die Garage schlüpfen und meinen Mann von hinten umarmen. Ich könnte ihn fragen, ob er einen Kaffee haben möchte – wir werden wohl beide sowieso nicht mehr in den Schlaf finden. Aber ich tue es nicht. Ich bleibe auf dem schmalen Weg stehen und beobachte Sindre dabei, wie er die beiden Gewehre sorgsam auseinandernimmt, wieder zusammenbaut und mit dem Tuch jede Stelle säubert. Als er fertig ist, holt er eine Pappschachtel von einem hohen Regal herunter. Sie sieht aus wie ein normaler Schuhkarton, ganz unauffällig. Er öffnet sie und nimmt ein paar Zeitungsseiten, ein Trockentuch und einen weiteren Gegenstand heraus.
Zuerst kann ich das Objekt nicht erkennen; es ist nicht groß, und weil Sindre mir den Rücken zugedreht hat, versperrt er mir teilweise die Sicht. Dann legt er das, was er in der Hand hielt, hin und geht ein paar Schritte nach rechts, wahrscheinlich, um etwas anderes zu holen. Jetzt habe ich freie Sicht – es ist ein stahlgrauer Revolver, den ich nicht kenne. Sindre öffnet einen zweiten, deutlich kleineren Karton und schüttet mehrere Patronen in seine Hand. Eine hält er ins Licht und dreht sie hin und her, bevor er sie und die anderen in die Kammern des Revolvers steckt.
Manchmal denke ich über Sindres früheres Leben nach, das Leben vor mir. Vor unserer Familie. Ich stelle mir vor, wie er damals gewesen sein muss, als er mit Helm und Tarnuniform im Hindukusch und den Bergen von Badachschan Jagd auf einige der meistgesuchten Kriegsverbrecher und Terroristen der Welt machte. Er schlief in Höhlen und Schäferhütten, trank aus kristallklaren Gebirgsbächen und arbeitete sich an ein Ziel heran, bis er es sauber ausschalten konnte. Ich sehe ihn vor mir, wie er mit einem Auge durch das Visier späht – im Fadenkreuz den Kopf eines Mannes, den Finger voller Überzeugung auf dem Abzug, dann der präzise, gedämpfte Schuss. Ich habe Sindre nie gefragt, wie viele Menschen er getötet hat. Oder neutralisiert, wie er es nennt. Vielleicht weiß er es selbst nicht. Würde er so etwas zählen? Ich würde es tun.
Das Leben, das Sindre vor mir und unserer Familie geführt hat, ist das genaue Gegenteil von meinem: Ich bin in der San Francisco Bay Area aufgewachsen und habe die ganze Welt bereist – erst zum Spaß, dann des Berufs wegen – und Artikel für Hochglanzmagazine und Zeitungsbeilagen verfasst. Ich habe weibliche Staatsoberhäupter von Neuseeland bis Island interviewt, im Drogenmilieu südamerikanischer Frauengefängnisse recherchiert und über den gestiegenen Weinkonsum der amerikanischen Mittelklasse geschrieben. Wenn Sindre gereist ist, dann in den Irak, nach Afghanistan und Pakistan – um zu töten.
Jetzt hebt er den Revolver wieder auf, wiegt ihn in der Hand und dreht ihn mit einem leichten Lächeln hin und her. Er könnte ihn jeden Moment benutzen, könnte ihn sich an die Schläfe halten und einfach abdrücken. Trotzdem gehe ich nicht hinein, sondern beobachte ihn weiter. Wofür sollte mein Mann einen Revolver brauchen? Bei den Jagdgewehren verstehe ich es ja, aber ich kann mir nicht vorstellen, was er mit einem Revolver anfangen könnte. Hatte er diese Waffe vielleicht schon immer und sie mir gegenüber nur nie erwähnt? Es gibt vieles, was ich über Sindre nicht weiß, und diese geheimnisvolle Aura, die ihn umgibt, ohne gewollt zu wirken, gehörte genau zu den Dingen, die ich so anziehend fand.
Sindre verstaut den Revolver wieder und stellt den Karton auf das Regal. Mit gesenktem Kopf bleibt er vor der Werkbank stehen. Ich betrachte seine Hände – wie sanft und unschuldig sie im matten Licht wirken. Vielleicht kommt ihm derselbe Gedanke, denn er hebt die Hände und dreht sie ein paarmal hin und her. Dann krümmt er sie leicht, ein Stückchen voneinander entfernt, er hält sie genauso wie damals, als er zum ersten Mal unsere gerade geborene Tochter hielt – eine Hand unter ihrem Gesäß, die andere an ihr Köpfchen geschmiegt. Ich wende mich ab und beobachte das Laub, das über den Boden getrieben wird. Als ich wieder aufblicke, mustert Sindre seine Hände, als wollte er herausfinden, wozu sie fähig sind. Ich gehe zurück ins Haus.
Noch keine fünf Minuten liege ich im Bett, als die Tür leise geöffnet wird. Sollte mein Mann mein Gesicht oder meine Hände berühren, würde er die Kälte auf meiner Haut spüren und wissen, dass ich draußen war. Aber das tut er nicht. Er legt sich ins Bett und atmet tief, als wäre er schon eingeschlafen. Ein seltsamer Geruch nach Metall und nasser Erde strömt von ihm aus, wahrscheinlich von dem Öl, mit dem er die Waffen poliert hat. Mit einem Mal wünschte ich, Sindre würde mich berühren – ich will spüren, wie seine wunderbar sanften Hände langsam über meinen Haaransatz streichen, über meinen Hals, meine Brust, dann wieder über den Hals und den Rücken hinunter … Langsam drehe ich mich zu ihm um und lege eine Hand zwischen uns. Der Abstand, den sie überwinden muss, ist groß. Als ich seinen Rücken berühre, zuckt er. Ich lasse meine Hand unter sein T-Shirt gleiten und male sanft Kreise auf seine Haut, aber er reagiert nicht und rückt nicht näher heran. Nach einem Moment ziehe ich die Hand zurück und drücke sie an meine Brust, als hätte ich sie durch die Berührung verletzt.
Mommy, bist du manchmal traurig wegen Sachen, die noch nicht passiert sind, zum Beispiel, wenn ich groß werde?
Ja. Ja, bin ich.
Warum?
Weil du mich dann nicht mehr brauchst und unabhängig und übermütig und zu cool bist, um noch Zeit mit deiner alten Mom zu verbringen.
Das wird nie passieren, Mommy!
Komm mal her und drück deine Mommy ganz fest, mein Bärchen.
Beide Seiten!
Na gut, beide Seiten.
Mommy, was würdest du machen, wenn du mich nicht hättest?
Mir würde das Herz brechen.
Herzen können nicht brechen!
Doch, können sie.
Wie soll man mit einem gebrechten Herz leben?
Ich weiß es nicht.
Ich werde aus dem Traum gerissen und wache keuchend in unserem kühlen, vertrauten Schlafzimmer auf. Es ist Morgen, und Sindre ist fort. Er hat ein Fenster weit geöffnet, obwohl die Temperaturen nachts unter den Gefrierpunkt fallen. Ich setze mich auf und schließe die Augen. Meine Gedanken überschlagen sich. Ich versuche, mich von dem Traum zu lösen.
Wie soll man mit einem gebrechten Herz leben?
Ich stehe auf und ziehe meinen Bademantel über den Schlafanzug. Keine Ahnung, wann ich ihn zuletzt gewaschen habe. Nach dem Unwetter ist der Himmel strahlend blau, und ich bleibe auf dem Flur stehen und bewundere ihn. Die Tür zu Amalies Zimmer ist geschlossen. Ich könnte sie öffnen, einen Spaltbreit nur, und rufen: Zeit zum Aufstehen, Mills. Normalerweise wäre sie um diese Zeit schon wach und würde auf dem Fußboden mit ihren Sylvanians spielen oder an ihrem Tisch malen. Ich wende mich ab und gehe nach unten.
»Hallo«, sagt jemand. Ich zucke zusammen und lasse meinen Teebeutel fallen. Es war Oliver, der mit seinem iPad am Küchentisch sitzt, das Gesicht ernst, die Haut um die braunen Augen so dunkel bläulich, dass es aussieht, als hätte ihn jemand verprügelt.
»Oh. Oh, hallo, Oliver«, begrüße ich ihn, doch meine Stimme ist nur ein krächzendes Flüstern. Ich schalte den Wasserkocher ein und weiche dem Blick meines Stiefsohns aus. Ich wusste nicht, dass er hier ist, ehrlich gesagt kann ich es mir nicht merken, wann er zuletzt hier war und wann er bei seiner Mutter sein sollte.
»Ich sollte eigentlich gestern Abend zu Mama fahren.«
»Oh.«
»Aber ich bin lieber hiergeblieben. Bei euch.«
»Ist gut, Schätzchen«, sage ich. »Das … ist toll.« Ich suche umständlich den Süßstoff, meine Lieblingstasse und die Milch, als wüsste ich nicht, wo alles steht. Der arme Junge macht sich Sorgen; er glaubt, Sindre und ich sollten lieber nicht allein sein. Meine Gedanken springen zu letzter Nacht zurück, als Sindre um zwei Uhr mit seinen Waffen in der Garage stand. Vielleicht hat Oliver recht, vielleicht sollten wir wirklich nicht allein sein. Dieses Brennen in mir breitet sich immer weiter aus, und ich würde am liebsten die dampfende Tasse auf den Boden schmeißen und nur noch schreien. Wäre Oliver nicht hier, würde ich eine Beruhigungstablette nehmen. Vielleicht würde ich einen Schuss Wodka in den Tee gießen. Oder zwei. Ich will den Jungen nicht hier haben, ich will nicht, dass er mich beobachtet und auf seine unbeholfene Art versucht, mich zu trösten. Er soll zu seiner Mutter gehen und da bleiben, damit ich laut schreien und mit Tellern werfen und eingelullt von Alkohol am helllichten Tag aufs Sofa kippen kann, wenigstens für ein Weilchen.
»Ali?«
»Ja, was ist?« Jetzt klingt meine Stimme kräftiger, zu kräftig und schneidend dazu. Ich spüre, dass Oliver zurückweicht, und ringe mir ein mattes Lächeln ab, bevor ich mich umdrehe.
»Ich … ich wollte fragen, ob du mir bei den Hausaufgaben hilfst, bevor ich gehe. Ähm. Erdkunde.«
»Klar«, antworte ich und setze mich neben ihn.
Oliver zieht ein zerknittertes Blatt Papier aus seinem Rucksack. »Bestätige oder widerlege anhand von Beweisen folgende Aussage: Das Wetter in Skandinavien wird extremer«, liest er vor.
»Also gut«, sage ich, aber in diesem Moment tropft eine dicke Träne von Oliver auf das Papier und verschmiert das Wort »wird«. Eine zweite folgt, dann noch eine und noch eine.
»He«, sage ich und wende mich ihm zu, aber er sieht Amalie plötzlich so ähnlich, dass ich den Blick wieder auf den Tisch senke. Ich erkenne meine Kleine in Olivers weichen, niedrigen Augenbrauen, den gefühlvollen braunen Augen darunter, in der schmalen sommersprossigen Nase und den strubbeligen dunkelblonden Locken. Es kommt immer wieder vor, dass mich ein Gesichtsausdruck oder eine Geste von Sindre oder Oliver für einen flüchtigen Moment an sie erinnern. »He«, wiederhole ich, aber jetzt spreche ich nicht nur mit ihm, sondern auch mit ihr. »Komm her«, flüstere ich und drücke ihn an mich, weil ich es nicht ertrage, ihn anzusehen. Jetzt lässt er seinen Tränen freien Lauf und bebt am ganzen Körper, bevor sein Schluchzen irgendwann abebbt und er sich in meine Arme schmiegt wie ein erschöpftes, kleines Kind.
»Willst du heute mit mir zum See fahren? Oder zu Misty?«, frage ich. Misty ist Amalies Pony. Ich besuche die kleine Stute jede Woche ein paarmal und stehe einfach neben ihr, die Hände sanft auf ihren warmen, weichen Körper gelegt.
»Ich … ich muss zur Schule …«
»Nein, Schätzchen, das musst du nicht«, sage ich.
Wir drehen auf dem Kiesweg eine Runde um den See, bleiben hin und wieder stehen, beschatten unsere Augen vor der Sonne und blicken aufs Wasser. Olivers Augen sind gerötet, die Haut darunter wirkt fleckig. Seine aufeinandergepressten Lippen sind so rot, als hätte er fest auf sie gebissen. Von Sindre hat Oliver das Talent geerbt, sich auch bei längerem Schweigen nicht unwohl zu fühlen. Ich konzentriere mich aufs Atmen, darauf, das brennende Gefühl in meinem Bauch in den Griff zu bekommen, aber trotzdem muss ich zählen. Blätter, Bäume, Schritte, Tage, seit Amalie zuletzt hier war – nein, das nicht. Nein. Ein neuer Versuch. Die Steine, die Oliver ins Wasser wirft, die Anzahl der Ringe, die sie auf dem See ziehen, die letzten zerrupften Vögel auf ihrem Weg in den Süden. Wir setzen uns an den Kiesstrand.
»Meine Mutter sagt, für dich wäre es schlimmer als für Papa«, erzählt Oliver. Meine Hand schließt sich fest um einen glatten Kiesel. »Aber … Aber ich glaube, für ihn ist es vielleicht noch schlimmer.« Er spricht mit Bedacht und sieht mich aus seinen mandelförmigen Augen, die Amalies so ähneln, unverwandt an. Sein lockiger Pony berührt seine Wimpern. »Weil er mich hat, kann er nicht einfach, na ja, sterben. Oder weglaufen. Aber du könntest das. Wenn du wolltest. Du könntest einfach weggehen und nie in dieses Haus zurückkommen, in dem man sie in jeder Ecke sieht. Ich … Ich hoffe, du tust es nicht.«
Ich starre meinen Stiefsohn an, seine knubbeligen weißen Finger und die abgekauten Nägel, die Pickel, die sich von seinem Hemdkragen über den Hals bis zum Kiefer ziehen, sein blasses, noch kindliches Gesicht, obwohl er schon dreizehn ist. Ich nicke, und dann betrachten Oliver und ich den stahlgrauen See, dessen Oberfläche heute so ruhig ist, als wäre sie vereist. Weil mir die Worte fehlen, zähle ich wieder; ich zähle die Kiesel unter meinen Händen, bemühe mich, das Brennen in meinem Bauch nicht zu beachten, und blicke auf den ruhigen, weiten See. Aber eigentlich will ich ins Wasser laufen und den Jungen am Ufer zurücklassen.
Kapitel 2
Iselin, drei Monate zuvor
Heute ist der bisher heißeste Tag des Jahres. Seit vielen Jahren, hieß es vorhin in den Nachrichten. Kaia ist weder draußen seilgesprungen noch auf einem Trampolin gehüpft oder unter einem Sprinkler hindurchgerannt. Sie liegt schon den ganzen Tag auf dem Sofa, döst und drückt ihren abgegriffenen, alten Stoffkater an sich, während die Zeichentrickserie Dora läuft. Ich beobachte sie durch die offene Tür von der Terrasse aus, wo ich billigen, süßen Rosé trinke. Am Himmel ziehen dunkle Wolken näher, und es sollte mich nicht wundern, wenn es in der nächsten Stunde regnen würde. Kaia ist in letzter Zeit noch müder als sonst, und ich konnte sie zu nichts außer Zitroneneis überreden. Bei dieser Hitze wird es in der Wohnung unerträglich heiß, obwohl sie im Souterrain liegt und die Wände aus Beton sind. Im Winter tragen Kaia und ich oft auch drinnen unsere Daunenjacken.
Ich höre, wie die Jungen der Familie, die über uns wohnt, in ihrem Garten auf der anderen Seite des Hauses Fußball spielen. Die drei Kleinen sind ziemliche Rabauken, und Kaia schaut ihnen manchmal durch das hohe Fenster zu. Immer sind die Jungs in Bewegung, sie spielen, rennen, raufen sich, springen herum – alles Dinge, die Kaia nicht kennt. Sie sitzt meistens im Haus und malt oder sieht sich Trickfilme an. An guten Tagen spielt sie manchmal mit dem Baumhaus der Sylvanian Families, das ich ihr zu ihrem siebten Geburtstag besorgen konnte. Ich nippe an meinem Wein, meinem einzigen Luxus an diesem Tag, und blicke einem Rettungshubschrauber nach. Er fliegt so nah vorbei, dass ich mir kurz die Ohren zuhalte. Kaia rührt sich nicht. Es ist der Zweite an diesem Nachmittag; vorhin habe ich schon in einiger Entfernung das anhaltende Dröhnen von Rotorblättern gehört. Vielleicht ist in der Stadt etwas passiert – ich hätte es nicht mitbekommen.
Die Stille, nachdem der Hubschrauber weitergeflogen ist, wird von einem neuen Geräusch unterbrochen. Zuerst halte ich es für einen Teil des Trickfilms, weil es schrill und fröhlich klingt, Musik für Kinder, aber dann merke ich, dass es von meinem Handy kommt. Als ich es endlich in der Hand halte, klingelt es nicht mehr. Vier verpasste Anrufe vom Krankenhaus. Ich sehe Kaia an, deren blasses Gesichtchen an ein Kissen gedrückt ist. Mein Herz hämmert. Ich ziehe das Kissen weg, und Kaia rutscht sanft auf die Sitzfläche, ohne aufzuwachen. Auf ihrem weißen Baumwollhemdchen hat das Eis gelbe Flecken hinterlassen. Ihre dicken dunklen Haare trägt sie eng am Kopf geflochten, wie sie es mag, nur an den Schläfen haben sich ein paar Locken gelöst. Ohne dich kann ich nicht leben, flüstere ich. Ich rufe zurück und drücke fest Kaias schlaffe Hand.
»Wie schnell können Sie hier sein?«, fragt die Stimme am anderen Ende.
Im Taxi beobachte ich, wie der Hubschrauber, vielleicht auch ein anderer als vorhin, in der Nähe der großen Sprungschanze rasch aufsteigt und unter den bauschigen dunklen Wolken in unsere Richtung fliegt. Bringt er etwa …? Kaia liegt auf meinem Schoß, lutscht an ihrem Daumen und dreht träge das verschlissene Ohr ihres Stoffkaters um den Finger. Mir kommen so plötzlich die Tränen, dass ich sie nicht zurückhalten kann, sie fallen auf Kaia und versickern in ihrem Haar. Mit jedem Atemzug bewegt sich ihr Rücken, und ich lege eine Hand auf die Stelle, an der ihr Herz schlägt. Ich kann es spüren, es pocht gleichmäßig unter meinen Fingerspitzen. Durch meine zusammengepressten Lippen drängt ein leiser Schrei, und ich fange im Rückspiegel den Blick des Taxifahrers auf. Er lächelt unsicher, aber ich wende mich ab. Langsam und mühselig dreht Kaia sich auf den Rücken, um mich anzusehen. Ihre Lippen sind fast so blass wie ihre Haut und bläulich unterlaufen, und auf ihrer bleichen Stirn zeichnen sich die Adern ab wie schwarze Wirbel in Marmor.
»Mach dir keine Sorgen, Mama«, flüstert sie. Ich nicke, drücke ihr einen Kuss auf den Scheitel und atme dabei ihren Duft ein. Ich weine immer noch, als das Taxi vor der Kinderklinik des Rikshospitals hält.
Kapitel 3
Alison
Ich lande um neun, hat er geschrieben, und ich muss durch seine Nachrichten scrollen, weil ich keine Ahnung habe, wohin er geflogen ist. Bin auf dem Charles de Gaulle angekommen, lautet eine von gestern Morgen. Paris, eine Konferenz. Jetzt erinnere ich mich. Ich erinnere mich auch wieder an letzte Nacht, daran, wie ich auf dem Boden neben Amalies Bett aufwachte und minutenlang an die Decke starrte. Ich wagte nicht, den Kopf auch nur leicht zu ihrem Bett zu drehen. In diesen Minuten war sie noch da, kuschelte sich in ihrem Fleece-Schlafanzug mit Königin Elsa darauf an ihren Dinky Bear, das Gesicht der Wand zugedreht, die Schultern zart wie die eines Vögelchens, und atmete ruhig in der sicheren, sanften Dunkelheit. Nach einer Weile legte ich eine Hand auf das leere, kühle Laken. Dann ging ich hinunter in die Küche und trank stundenlang Wodka und scrollte durch Instagram. Irgendwann wachte ich am Küchentisch auf, mit verschüttetem Wodka in den Haaren und dem Handy in der Hand, während die Herbstsonne mir in die Augen schien.
Jetzt ist es fast Mittag, und mein Mann landet um neun. Bis Oliver am Montag zurückkommt, sind wir allein. Ich sehe mich im Zimmer nach etwas um, das mir sagt, was ich jetzt tun soll. Bald muss ich zu meinem Termin mit Karen Fritz aufbrechen. Ich überlege, ihn ausfallen zu lassen. Sie würde ruhig warten, die Wolle durch ihre Finger gleiten lassen und die Uhr über der Tür beobachten. Würde sie sich meinetwegen Sorgen machen oder nur erleichtert aufatmen, weil sie nicht eine Stunde lang dem jämmerlichen Häufchen Elend gegenübersitzen muss, zu dem ich geworden bin? Ich überfliege die vielen ungelesenen Nachrichten auf meinem Handy. Eine neue stammt von Halvor Bringi, meinem alten Chef bei Speilet. Du bist immer in unseren Gedanken. Ruf mich an, wenn Du so weit bist. Alles Liebe, Halvor. Ich lösche die Nachricht. Die Nächste ist von Erica, meiner einzigen amerikanischen Freundin in Norwegen. Wir haben uns so entfremdet, dass ich mich nicht mehr richtig an ihr Gesicht erinnere. Bitte ruf mich an, Liebes. Löschen.
Ich öffne die Verandatür zum Vorgarten und setze mich auf die Steintreppe, obwohl sich der Himmel zugezogen hat und sich die Härchen auf meinen Armen in der kühlen Brise aufrichten. Ich stelle mir meinen Mann bei der Konferenz vor, wie er inmitten der vielen Teilnehmer dem Redner das müde, ausdruckslose Gesicht zuwendet, ohne zuzuhören, und seinen trüben Gedanken nachhängt. Oder wie er abends in der verwaisten Hotelbar einen Scotch nach dem anderen trinkt und die funkelnden Lichter von Paris betrachtet. Dann ein karges Hotelzimmer mit Kissen in Rosa und Limettengrün, in dem er dank Tabletten in den Schlaf findet. Wir sind uns jetzt so ähnlich und doch weiter voneinander entfernt als je zuvor.
Vor ein paar Wochen war ich wieder bei Doktor Bauer, weil ich oft verwirrt und desorientiert bin. Ich kenne ihn seit vielen Jahren, er war es auch, der mir Karen Fritz empfohlen hat. Dr. Bauer hörte ernst zu, während ich versuchte, ihm den Schrecken zu beschreiben, wenn man plötzlich nicht mehr weiß, wo man ist oder was man gerade macht. Vielleicht ist es vorzeitige Demenz, sagte ich. Meine Stimme zitterte bei der Vorstellung, ich könnte nach und nach den Verstand verlieren. Oder sogar Creutzfeld-Jacob, manche Menschen bekommen das ja. Oder ein Gehirntumor – könnten die dumpfen Kopfschmerzen und das Kribbeln in meinen Fingern zusammen mit meiner Vergesslichkeit und Verwirrtheit Symptome für etwas Bösartiges sein, das tief in meinem Gehirn wuchs? Ich gehe die Treppe rauf, erzählte ich, und weiß nicht mehr, warum, und das immer wieder. Vor ein paar Tagen habe ich mein MacBook in den Geschirrspüler gestellt, als wäre es ein Teller. Ich höre meinen Mann reden, verstehe aber nicht, was er sagt.
Der Arzt hörte sich alles geduldig an. Haben Sie Herzrasen? Leiden Sie unter Flashbacks? Können Sie schlafen?
Ständig. Ja. Nicht viel. Er gab mir ein blaues Faltblatt mit dem Titel Tipps zur Trauerbewältigung und stellte mir ein neues Rezept aus.
Ein Geräusch, schrill und hartnäckig. Bis ich begreife, dass mein Handy klingelt, ist es schon verstummt.
Zwei Nachrichten treffen ein.
Soll ich dir etwas aus Paris mitbringen, Schatz?
Und dann: Bin auf dem Weg zum Flughafen.
Früher hätte ich mir eine ganze Reihe von Sachen aus Paris gewünscht. Eine Handtasche aus weichem Leder, Jahrgangschampagner, handgegossene Bio-Kerzen mit ätherischen Ölen von Merci, eine Bleistiftzeichnung der Pont Alexandre III, direkt vom Künstler gekauft. Ich lache leise darüber, dass es solche Dinge überhaupt gibt. Dass sie mir wichtig waren. Kostspieliges für einen kurzen Kick, das früher funktioniert hat und es nie wieder tun wird. Ich wende mein Gesicht der Sonne zu, die zwischen zwei großen, düsteren Wolkenwirbeln aufgetaucht ist. Nein, Schatz, danke. Sei einfach bald wieder hier, schreibe ich schließlich, ohne es so zu meinen; ich will nicht, dass mein Mann bald wieder hier ist, dass wir uns in diesem Haus wie höfliche Fremde aus dem Weg gehen.
Als ich mit Verspätung bei Karen ankomme, hält sie mir die Tür auf, und ich schlüpfe an ihr vorbei in das spärlich möblierte, kleine Zimmer. Ich setze mich in einen tiefen weißen Sessel und rechne damit, dass sie mich fragt, wie ich mich fühle, aber das tut sie nicht. Sie beginnt zu stricken und wartet darauf, dass ich ohne Aufforderung erzähle.
»Ich träume von ihr.« Mein Blick hängt an Karens schnellen Händen, die den Faden Masche um Masche auf die Nadeln nehmen.
»Was empfinden Sie dabei?«
»In einem Traum hat sie mich gefragt, was ich machen würde, wenn ich sie nicht mehr hätte. Das hat sie mich wirklich mal gefragt.«
»Das klingt nach einem sehr schmerzlichen Traum, Alison.« Als ich nicht antworte, hakt Karen nicht nach. Sie strickt und wartet. Würde ich nicht weitersprechen, könnten wir bis zum Ende der Sitzung schweigen, es wäre nicht das erste Mal.
»Ich war wieder am See.« Die Nadeln halten inne, es kommt kein Kommentar. »Wollen Sie mich nicht fragen, warum, oder mir sagen, ich sollte nicht hinfahren?«
»Möchten Sie, dass ich das tue?«
»Nein … Ich habe keine Ahnung, was ich will. Oder ob ich überhaupt irgendwas will.«
»Empfinden Sie das als etwas Schlechtes?«
Früher fand ich eine Therapie so hilfreich und notwendig wie die Luft zum Atmen, wie die meisten gut verdienenden Amerikaner, die ich damals kannte. Ich habe unzählige Stunden auf der Couch verbracht, meine verworrenen Gedanken bei Fremden abgeladen und bin mit dem Gefühl gegangen, mir wäre einiges klarer geworden. Es half mir dabei, all die Geschichten zu verarbeiten, die ich gehört hatte. Wenn man als Journalistin um die Welt reist, sammelt man zwangsläufig Stoff für eine Therapie. Aber jetzt wirkt die Situation unübersehbar ironisch, wie ein Pflaster für eine Schusswunde. Ich beobachte Karen Fritz und zähle die Reihen flauschigen ockergelben Gestricks mit, die unter ihren emsigen Händen entstehen. Zwanzig, einundzwanzig.
»Mein Mann hat einen Revolver«, sage ich und bemerke mit Genugtuung ihren erschrockenen Blick.
Um acht Uhr ist es längst dunkel, und ich gehe ins Bett. Ich habe nichts eingenommen und auch nicht getrunken. Ich könnte aufstehen und Temazepam nehmen; meine Glieder würden wunderbar bleiern werden, und ich könnte richtig schlafen. Aber ich verwende es nicht gerne, wenn ich allein bin – mich beunruhigt die Vorstellung, dass Sindre nach Hause zurückkehrt, wenn ich von den Tabletten völlig weggetreten bin, als könnte er dann mein unverfälschtes Ich erkennen und abgestoßen sein.
Ich male mir Sindre im Flugzeug aus, die breiten Füße fest auf dem Teppichboden, die großen Knie gegen den Vordersitz gedrückt, in der Hand einen Drink. Er lehnt am Fenster und betrachtet auf seinem Weg nach Norden die winzigen Lichter unter sich, wie Goldperlen auf schwarzem Stoff. Nach einer Weile, wenn die Lichter vereinzelter scheinen, kommen seine Gedanken zur Ruhe, und der Alltagsstress aus Rechnungen, Reisen, Beziehungen, Kochen, Vatersein und alten Gewohnheiten fällt von ihm ab. Die Maschine brummt sanft auf Reiseflughöhe, das Licht in der Kabine ist gedämpft, und Sindre drückt das Gesicht gegen das Kunststofffenster. Die Sterne sind so hell und nah wie in den Bergen. Ich stelle mir vor, dass ihn das Fliegen beruhigt, dass es ihm hilft, seinen Geist zu leeren, bis nur das Wesentliche bleibt. Aber in Wahrheit habe ich keine Ahnung mehr, was meinen Mann beruhigt oder was er denkt oder fühlt.
Es dauert noch Stunden, bis ich seinen Schlüssel in der Haustür höre. Stunden, in denen ich zähle und flüsternd mit Amalie spreche. Ich habe die Zeit gezählt, zweihundertneun Minuten, und die Schlaftabletten, die ich diese Woche schon genommen habe, neun, und die fremden Geräusche, die von draußen durch das offene Schlafzimmerfenster gedrungen sind, elf. Dann habe ich gezählt, wie oft ich im letzten Monat Amalies geliebtes kleines Pony Misty besucht habe: zweimal.
Ich habe die Geburtstagskuchen gezählt, die ich für meine Tochter gebacken habe, fünf, und mir jeden ins Gedächtnis gerufen. Das Piepsen meines Handys habe ich gezählt und dann die Male, die ich mit Amalie geflogen bin – mindestens zweiunddreißig Mal. Sie hat es geliebt und mit den Lippen immer ein kleines o geformt, wenn das Flugzeug über die Wolken gestiegen ist.
Ich zähle die Sekunden, seit Sindre den Schlüssel ins Schloss gesteckt hat, und warte auf seine Schritte auf der Treppe, aber bei vierhundert ist er immer noch nicht im Zimmer. Was macht er da unten? Hellwach warte ich im Dunkeln, aber wenn er sich neben mich legt, werde ich mich schlafend stellen. Er kommt nicht. Ich stehe auf, schleiche zur Tür und lausche. Von unten dringen gedämpft Stimmen herauf; er sitzt bestimmt auf dem Sofa und sieht fern oder ist vor dem flackernden Licht eingedöst. Vor ihm auf dem Boden werden ein, zwei leere Weinflaschen stehen. Ich gehe zur Treppe und starre auf die Stelle, an der früher die riesige Leinwand mit Amalies Foto hing. Jetzt zeichnet sich dort ein etwas dunkleres, gräuliches Rechteck ab, ein Geisterrahmen. Olivers Tür steht weit offen, aber der Raum ist leer, ebenso wie Amalies Zimmer hinter der geschlossenen Tür. Ich horche wieder und merke, dass ich nicht den Fernseher höre, sondern Sindre.
Langsam steige ich die Stufen hinunter und achte darauf, nicht mittig auf die vierte von unten zu treten, weil sie knarrt. Im Flur stoppe ich. Es ist wirklich Sindre, seine Stimme dringt aus seinem Büro. Unter der geschlossenen Tür hindurch fällt ein sanfter Lichtschein auf die Fliesen. Mein Mann spricht so leise, dass ich ihn nicht verstehe, aber sein Lachen höre ich. Meine Hand schmerzt, und ich merke, dass ich meine Nägel so fest in die blasse Haut gedrückt habe, dass sie tiefe halbmondförmige Abdrücke hinterlassen. Ich gehe wieder hinauf. Im Bad schlucke ich trocken eine Temazepam und vermeide bewusst, in den Spiegel zu sehen. Ich lege mich hin und balle im Dunkeln immer wieder meine pochende Hand zur Faust, bis die schmerzliche Anspannung in meinem Körper nachlässt und mir die Augen zufallen und
Papa saß vor mir auf dem matschigen Sand und hielt sich die Ohren zu wegen des Geschreis und meines Schluchzens und des dröhnenden Hubschraubers, der im Landeanflug braune Wellenkämme über den See trieb. Erst als wir eingestiegen waren, trafen sich unsere Blicke. Komm schon, komm schon, komm schon, beschwor ich die gezackte Linie, die Lebenslinie, die darüber entschied, ob du bleibst oder gehst. Ich konnte dich nicht ansehen, aber ich hielt deine Hand. Hast du es gespürt? Wusstest du, dass ich da war? Ich konnte nur diese Linie anstarren.
Komm schon, komm schon, komm schon, Bärchen, sagte ich. Dann flachten die steilen Spitzen der Linie zu sanften Kurven ab, und ich dachte, das könne nur gut sein – die Lebenslinie sollte doch ruhig und gleichmäßig sein. Doch die Kurven wurden noch kleiner, die Spitzen winzig, und ich schrie: Komm schon, komm schon, komm schon, aber sie schwächten sich immer weiter ab und waren schließlich nur noch eine unerbittlich gerade Linie, ein anhaltender Ton, der das Dröhnen der Rotorblätter übertönte und tief ins Mark schnitt.
Kapitel 4
Iselin, drei Monate zuvor
»Bitte«, flüstere ich immer wieder. Bitte, bitte. Ich sitze nicht zum ersten Mal auf diesem Stuhl in diesem Zimmer. Und ich bete nicht zum ersten Mal für sie. Ich habe schon für ihr Leben gebetet, als ich noch nicht wusste, dass es einmal nötig sein würde. Ich starre auf den polierten Boden, auf die künstlichen Lilien auf dem Tisch, dann auf meine Hände, deren Nägel abgesehen von den Daumen abgekaut sind.
Ich bin erstaunlich ruhig.
Gegen ihren Tod habe ich mich innerlich schon so oft gewappnet, dass ich ihm jetzt ins Auge blicken kann. Das musste ich, weil mir klar war, dass sie wahrscheinlich vor mir gehen würde.
Trotzdem bete ich.
Meine Schwester Noa rät mir oft, ich solle mir bildlich vorstellen, was ich nicht kontrollieren kann, und das tue ich jetzt: Kaia auf dem OP-Tisch, genau in diesem Moment, die Augen geschlossen, das Gesicht bleich, aber friedvoll, ein paar dunkle Haarsträhnen, die unter der engen grünen Haube hervorspähen, die Handflächen nach oben gedreht, verletzlich, wartend. Ich würde alles dafür geben, wenn Noa jetzt hier wäre und meine Hand halten würde.
Irgendwo in diesem Gebäude ist jemand, dessen Gebete verstummt sind. Sie wurden plötzlich vom Tod verschlungen, der an Kaias Schatten zerrte, seit sie geboren wurde. Schon vor ihrer Geburt. Dieser Tod ist ein strahlendes Licht, so hell, dass er alles verbrennt, was ihm zu nahe kommt, wie ein böser Stern. Jetzt gerade schickt er sein kaltes, durchdringendes Licht meiner Kleinen entgegen, aber sie geht nicht auf ihn zu, sie eilt schneller als das Licht zu mir zurück. Sie wird die Augen öffnen und mich ansehen, es kann gar nicht anders sein. Ihr Herz, ihr neues Herz, ihre letzte Chance, ihre einzige Chance, wird in ihrer Brust weiterschlagen, das muss es.
Es ist mitten in der Nacht, und ich bin immer wieder aufgestanden und auf und ab gelaufen und habe Stunde um Stunde gewartet.
»Kommen Sie«, sagt Doktor Harari und führt mich durch einen Gang in ein großes Zimmer mit zischenden und piependen Maschinen. »Da drüben.« Ich nicke und starre auf mein Kind, das halb bedeckt von Schläuchen und Geräten im Bett liegt. Ich kann nur ein bisschen dunkles Haar auf dem Kissen und ihre Nasenspitze unter der Sauerstoffmaske erkennen. Dr. Harari zeigt auf einen Monitor, auf dem eine neongrüne Linie Spitzen und Täler bildet. »Es schlägt gleichmäßig«, sagt sie.
Kapitel 5
Alison
Es ist noch vor sechs und trotzdem dunkel wie um Mitternacht. Ich wünschte, ich wäre im Wald, wo nur der Mond und die Sterne Licht spenden und der Schnee, der seit heute Morgen fällt, sanft schimmert. Stattdessen stehe ich in der Schuhabteilung von Steen & Strøm, starre die Regale an und versuche, mich für ein Paar zu entscheiden. Irgendeines. Sindre hat gesagt, wir müssten an dem Dinner nicht teilnehmen, aber ich fand, wir sollten es probieren. Irgendwann müssen wir das. Oder? Trotzdem könnte ich bei dem Gedanken daran, dass ich mit Sindres Kollegen und ihren Frauen höflich plaudern soll, beinahe heulen.
Ich wähle schlichte schwarze Stilettos und ziehe meine Schaffellstiefel aus. Mit bestrumpften Füßen will ich in die Schuhe schlüpfen, komme aber nicht richtig hinein. Als ich die Fersen fester nach unten presse, schmerzen meine Zehen, und das treibt mir Tränen in die Augen. Wenigstens tue ich so, als wäre das der Grund. Eine Frau beobachtet mich. Ich blinzele die Tränen weg, mit einem Mal fühle ich mich so erschöpft, dass ich nicht aufstehen kann. Ich zähle bis vierundneunzig. Dann kämpfe ich mich hoch und reiche die Schuhe an der Kasse einer jungen Frau, die einen Hexenhut mit Spinnwebschleier trägt. Sindre hatte recht. Ein echtes Leben vorzutäuschen, sich zum Abendessen zu verabreden, auszugehen, Schuhe anzuprobieren – das ist alles falsch. Ich verlasse das Geschäft, obwohl die junge Frau den Preis schon eingegeben hat. Sie sagt etwas, aber ich laufe die Rolltreppe hinauf und bin draußen auf der Nedre Slottsgate an der eisigen Luft. Meine Tränen fließen und lassen die Weihnachtsbeleuchtung über der Straße vor meinen Augen verschwimmen. An einer roten Ampel neben mir hält ein Taxi I, ich steige ein und sacke zusammen. Erst hier auf dem Rücksitz merke ich, dass ich meine Uggs im Schuhgeschäft vergessen habe. Meine Socken sind völlig durchnässt, die Kälte beißt mir in die Füße.
»Fahren Sie los«, flüstere ich. »Bitte fahren Sie einfach.« Ich zähle die Laternen, die roten Ampeln und kahlen Bäume, zähle die Menschen, den Takt des Songs im Radio, und trotzdem entgleiten meine Gedanken in die Dunkelheit.
Vierundneunzig Tage ohne dich, Mills. Vierundneunzig durchwachte Nächte. 2256 Stunden, seit ich einen Moment lang die Augen schloss und dich für immer verlor. Ich habe dich nie um Vergebung gebeten, obwohl ich weiß, dass ich es tun sollte. Alles, was verloren ist, alles, was du warst, alles, was du geworden wärst, ist meinetwegen verloren. Ich werde es tun. Ich nehme Dinky Bear mit und setze mich mit ihm unter den Baum an der ruhigen, schattigen Stelle, die wir für dich ausgesucht haben, neben deinen Großeltern. Oder ich gehe zum See; dort spüre ich deine Nähe. Oder ich verbringe den Rest meines Lebens so wie jetzt und wiederhole in meinem Herzen immer wieder dieselben Worte.
Es tut mir leid.
Es tut mir leid.
Es tut mir leid.
Als ich barfuß die verschneite Einfahrt hinauflaufe, spüre ich den ungläubigen Blick des Taxifahrers, der auf die Straße zurücksetzt. Das Haus ist hell erleuchtet, aber als ich die Tür öffne, empfängt mich Stille. Dabei ist unser Haus nie still. Früher dachte ich, das Haus selbst würde einen Ton erzeugen, doch als Sindre in Paris war, begriff ich, dass die Laute von ihm stammen mussten, von seinem unermüdlichen Versuch, die Stille fernzuhalten. Sogar nachts. Er wirft spätabends seine Turnschuhe in die Waschmaschine, und dann lausche ich im Dunkeln auf ihr Rumpeln in der Trommel. Oder er vergisst angeblich, das Radio in seinem Büro auszuschalten, und das Raunen der fernen Stimmen erreicht mich in dieser eigenartigen Schwebe zwischen Wachsein und Schlaf. An manchen Abenden, wenn alle Arbeiten erledigt und wir allein im Haus sind, lässt er im Wohnzimmer den Fernseher, in der Küche Musik und in seinem Arbeitszimmer das Radio laufen, als würde ich dadurch nicht merken, was fehlt.
Und doch ist es jetzt still. Vor lauter Angst krampft sich mein Magen zusammen. Was, wenn Sindre es nicht mehr aushalten konnte, wenn er dieses kaputte Leben einfach abgestreift und mich zurückgelassen hat? Er könnte sich oben erhängt haben, vielleicht ist sein Körper noch warm. Und was, wenn er sich den Kopf weggeschossen hat? Langsam steige ich die Treppe hinauf und hinterlasse mit jedem Schritt Matsch und schmelzenden Schnee. Ich lausche. Ohne die gewohnten Hintergrundgeräusche herrscht eine beklemmende Atmosphäre, trotzdem rufe ich Sindre nicht. Ich könnte es nicht ertragen, keine Antwort zu bekommen. Aus unserem Schlafzimmer am Ende des Flurs dringt ein leises Rascheln.
Sindre kniet vor dem wandhohen Spiegel im angrenzenden Bad und versucht, sich die Krawatte zu binden, was er schon unzählige Male in seinem Leben getan hat, aber seine Hände zittern zu sehr. Als er mich bemerkt, reißt er sie mit einem Ruck vom Hals und wirft sie Richtung Badewanne. Ich hocke mich neben ihn, und für eine Weile bleiben wir einfach dort sitzen. Ich pule die Fugenmassen zwischen zwei Fliesen heraus, er lehnt den Kopf gegen die Wand und schließt die Augen. Seiner Kehle entsteigt ein leises Summen, seine Hand zittert in meiner.
An diesem Abend bin ich es, die den Fernseher unten laufen lässt. Bis weit in die Nacht hinein liegen wir im Bett und halten einander fest, zum ersten Mal seit Langem.
»Es kommt mir vor, als hätte ich dich auch verloren«, flüstert Sindre.
»Das hast du auch«, antworte ich, und dann weinen wir. »Ich bin nicht mehr ich selbst.«
»Ich auch nicht.«
»Nein.«
»Es ist verrückt, aber … Manchmal gebe ich ihr die Schuld. Mir ist klar, wie irre das klingt. Aber es ist so.«
Ich würde gerne sagen, dass es mir genauso geht; in manchen Momenten gebe ich ihr auch die Schuld. Einmal habe ich ihre Zimmertür mit voller Wucht zugeknallt, weil ich unfassbar wütend darüber war, dass sie mich verlassen hatte. Ich habe das Kind, das ich verloren hatte, wütend angeschrien. Oberhalb der Treppe hing ein großes Foto von Amalie an ihrem letzten Tag in der Kita, und ich habe es von der Wand genommen und die Treppe hinuntergeworfen. Aber wie kann ich laut aussprechen, dass ich einem kleinen Kind die Schuld für seinen Tod gebe, wenn ich hätte aufpassen müssen? Jeder weiß, dass ich schuld bin.
Es tut mir leid.
Es tut mir leid.
Es tut mir leid.
Die Stille ist so lang und drückend, dass ich schon glaube, Sindre wäre endlich eingeschlafen. Ich höre dem künstlichen Gelächter alter Komödien zu, die unten im Fernseher laufen, und streichle sanft Sindres Rücken. Plötzlich zuckt er, nimmt meine Hand und dreht sich zu mir um.
»Ich muss dir was sagen«, beginnt er. »Einmal habe ich ein Kind erschossen … ich … ich habe mir immer wieder eingeredet, dass es ein Versehen war, ein Kollateralschaden, natürlich, aber …« Er verstummt und versucht, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen.
»Schscht«, mache ich und lege ihm einen Zeigefinger an die Lippen. Er küsst ihn zärtlich, aber dabei strömen Tränen über sein Gesicht. Ich ziehe Sindre eng an mich, bis mich sein ganzer Körper berührt.
Du hast mir solche Angst eingejagt, Bärchen.