Zum Buch
Ein ungewöhnlich warmer Sommer erhitzt die Gemüter in Marrakesch. In der quirligen Metropole, in der Araber, Berber, Auswanderer aus dem Westen und Touristen aus aller Welt durch die verwinkelten Gassen der Altstadt strömen, hat der Ramadan begonnen. Dem 24-jährigen Karim Belkacem fällt es schwer, sich auf die tägliche Arbeit im Kommissariat zu konzentrieren. In Gedanken schon bei den Speisen, die seine Mutter und seine Schwestern für das Fastenbrechen nach Sonnenuntergang vorbereiten, ahnt er nicht, dass ihn noch am selben Abend sein erster Mordfall erwartet.
Auf einem Handkarren nahe der Moschee Sidi bel Abbès liegt eine tote junge Frau, versehen mit einem Schild, auf dem »Hure« steht. Karim ist schockiert, denn bei der Toten handelt es sich um Amina Talal, die Tochter des einst besten Freundes seines Vaters. Doch schnell wird ihm klar: Nichts ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Auf der Suche nach der Wahrheit muss sich Karim durch ein Dickicht aus zwielichtigen Immobiliengeschäften, skrupellosen Investoren und gutgehüteten Familiengeheimnissen kämpfen. Dabei ist er dem Täter bereits näher, als er denkt.
Zum Autor
James von Leyden wuchs in Durham auf und studierte Philosophie und Moderne Sprachen in Oxford. Er arbeitete dreißig Jahre lang als Werbetexter. 1985 reiste er zum ersten Mal nach Marokko und verliebte sich sofort in das Land – eine Liebe, die bis heute anhält. Mit seiner Familie lebt er abwechselnd in Lewes, East Sussex und im marokkanischen Qualidia.
JAMES VON LEYDEN
Schatten über
Marrakesch
EIN MAROKKO-KRIMI
Aus dem Englischen
von Jens Plassmann
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe A Death in the Medina erschien erstmals 2019 bei Constable, an imprint of Little, Brown Group, London.
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Deutsche Erstausgabe 06/2020
Copyright © 2019 by James von Leyden
Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarker Str. 28, 81673 München
Redaktion: Thomas Brill
Umschlaggestaltung: Anke Koopmann|Designomicon
unter Verwendung von Motiven
von © Josephine Pugh/Arcangel
und © Craig Hastings/shutterstock
Abbildung Innenklappen: © dory aling/shutterstock,
© Werner Spremberg/shutterstock,
© Georgios Tsichlis/shutterstock
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-26127-6
V003
www.heyne.de
Für meine Mutter
Prolog
Der Mann ließ die Griffe los und richtete sich auf, um zu Atem zu kommen. Ungeachtet der sengenden Mittagshitze trug er eine schwarze djellaba, deren Kapuze er über den Kopf gezogen hatte. Schweiß tropfte ihm vom Kinn. Wütend starrte er den Handkarren an. Die beiden Räder waren verschieden groß, und der permanente Zwang, links stärker zu drücken, verursachte ihm Blasen an dieser Hand. Er spielte mit dem Gedanken, den Karren einfach an Ort und Stelle stehen zu lassen, aber dann packte er doch mit einem Seufzen wieder zu und setzte seinen Weg fort. Ein paar Schritte weiter rammte er einen Laternenpfosten. Prompt verrutschte die gestapelte Kartonpappe, und die obersten Lagen glitten herunter. Laut fluchend trat er vor den Karren und türmte die platt gefalteten Kartons wieder auf, bevor es weiterging.
An der Avenue Mohammed Cinq hielt direkt neben ihm an der Ampel ein Bus, und er senkte den Kopf tief zu Boden. Doch die dicht an die Fenster gepressten Fahrgäste waren viel zu hungrig und erschöpft, um ihn eines zweiten Blickes zu würdigen. Vorsichtig überquerte er die Straße. Am Bordstein musste er den Karren dreimal mit aller Kraft nach vorn stoßen, bis die Räder endlich auf den Bürgersteig sprangen.
Als er am Bab Moussoufa die Stadtmauer erreichte, hatte der Berufsverkehr bereits nachgelassen. Nur noch eine halbe Stunde bis Sonnenuntergang, und der Polizist mit dem weißen Schultergurt, der hier normalerweise den Verkehr regelte, war bereits nach Hause gegangen. Der Mann schob den Karren durch eine Gasse mit hohen, fensterlosen Gebäuden. Inzwischen hatte er sich so weit an die verschieden großen Räder gewöhnt, dass er bloß einmal gegen eine Häuserwand schrammte. Unmittelbar vor ihm rannten zwei Jungs lachend aus einem Haus, versuchten sich gegenseitig an ihren T-Shirts festzuhalten und verschwanden in einem Eingang ein paar Türen weiter. Im Vorbeigehen hörte der Mann das Klappern von Geschirr und eine Frauenstimme, die »Ara al-kubhz a Yasmina u al-qahwa!« rief. »Hol das Brot, Yasmina! Und den Kaffee!« Der Duft von frisch gebackenem Brot rief ihm in Erinnerung, dass er seit Sonnenaufgang nichts gegessen hatte.
Als er den Bab Taghzout erreichte, war der Platz menschenleer. Keine Motorroller, keine Straßenhändler, keine Esel – nichts, was die Stille durchbrochen hätte. Alle Lebensmittelgeschäfte, alle Haushaltswarenläden waren geschlossen. Ein Händler hatte quer vor seinen Eingang einen Besen geklemmt, um anzuzeigen, dass er gleich wieder zurück sein würde. Der Mann beschleunigte seinen Schritt, schob den Karren durch das große Tor am Ende des Platzes, bog dann nach links in einen schmalen, von zugesperrten Werkstätten gesäumten Durchgang und kam schließlich durch einen zweiten kleinen, mit Stuck und Holzarbeiten verzierten Torbogen. Hier, nur ein paar Meter entfernt von der Moschee, blieb er stehen. Er fuhr sich über die Stirn und wischte nach kurzem Zögern mit dem Ärmel seiner djellaba auch die Griffe des Karrens ab. Anschließend untersuchte er kurz die aufgeplatzte Blase an seiner Innenhand und fluchte.
Ein plötzliches Knacken ließ ihn zusammenfahren. Der Muezzin begann, zum Gebet zu rufen. Wenig später nahmen die anderen Moscheen der Stadt den Gebetsruf auf.