Bedford Heart

Nika S. Daveron

© 2019 Amrûn Verlag
Jürgen Eglseer, Traunstein

Lektorat: Jessica Idczak | stilfeder.de

Covergestaltung:
Nika. S. Daveron

Alle Rechte vorbehalten

ISBN TB – 978-3-95869-370-8
Printed in the EU

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar


v1/19

Inhalt

Von Opahosen und Schicksalswahrern 7

Schicksal und Zufall 23

Der Schlüssel und die Tür 43

Die Sache mit der Teewurst 64

Eifersucht und Masterplan 79

Fortuna 90

Turfteufel 102

Obdachlose Seraphim 121

Eine Straße in Berlin 135

Die Abwesenheit des Todes 152

Das Archiv des Schicksals 165

Der Raum der Ausgelöschten 180

Opfer 195

Kapitel 1

Von Opahosen und Schicksalswahrern



Ich bin seelisch divergent, indem ich gewissen namenlosen Wirklichkeiten zu entfliehen versuche, die mein Leben hier plagen. Wenn ich aufhöre, dorthin zu fliehen, werde ich gesund sein. Sind Sie vielleicht auch divergent, mein Freund?

Aus »Twelve Monkeys«


Als ich erwachte, war es wie immer. Die Zimmerdecke mit den Spinnweben, das morsche Regalbrett, das halb über meine Schlafstätte ragte, und das Fenster ohne Ausblick. Ein milchiges Zwielicht, das weder hell noch dunkel, weder Tag noch Nacht kannte. Und ich war daran gewöhnt.

Das Schnarchen sagte mir, dass Nicanor immer noch schlief, und ich blieb ebenfalls untätig liegen. Mir fehlte jegliche Energie, um überhaupt etwas zu tun. An Aufstehen nicht zu denken. Mein Körper war schwach und wackelig. Zumindest bildete ich mir das ein. Ich wusste nicht, wann sich das je wieder ändern sollte. Ich hätte ja nicht einmal sagen können, wie lang es her war, dass Hattuscha Rivendell tötete. Den sterblichen Schicksalswahrer, der Nicanor auf die schiefe Bahn gebracht hatte.

Wann immer ich mir vornahm, mit ihm darüber zu sprechen, fehlte mir der Mut. Ich konnte einfach nicht mit Nicanor reden, egal wie oft ich es versuchte. Er war für mich seltsam fern. Distanziert und doch zu nah. Was hätte ich ihm erklären sollen? Dass ein Schicksalswahrer ihn geholt hatte? Widerrechtlich? Dass es auch für ihn die Chance gab rauszukommen? Und ich … was war mit mir? Wenn ich Amaranth Glauben schenken durfte, dann war ich ebenfalls zu Unrecht hier. Waren wir es beide? War nur ich es? Rivendell hatte uns betrogen. Uns alle. Die Frage war nur: Wer hatte mich betrogen? Jemand hatte mich geschubst. Und für diese Leute hier hatte es ausgesehen, als hätte ich Selbstmord begangen und wäre vor eine Metro gesprungen. Warum hätte ich das tun sollen? Ich wusste es nicht. Mir fiel kein Grund ein. Und wenn ich ehrlich war, fiel mir auch sonst nichts aus meinem Leben ein. Es war einfach weg. Mein Name, meine Eltern, meine Geschwister (sofern ich denn welche hatte) – nichts. Nicanor hingegen schien mehr Erinnerungen zu haben, wir hatten seine Ex-Freundin getroffen. Oder vielmehr: ich. Er kannte ihren Namen, ihr Gesicht und er wusste alles, was er getan hatte.

Und nun saß ich hier. Im Fegefeuer. Bedford. Mit mir: noch so ein Sünder wie ich. Und eine Horde Dämonen. Torwächterin, personifizierte Rache, Höllenschmied, rechte Hand des Teufels und Halbkind. Und vermutlich noch so andere Gestalten, die ich nicht zwingend sah. Ich kannte nur die, die sich in denselben Räumen aufhielten wie ich. Aber Bedford hatte weit mehr Räumlichkeiten, als auf den ersten Blick sichtbar waren. Und damit auch mehr Bewohner.

Mein Atem klang unnatürlich laut in meinen Ohren, als ich mich endlich dazu aufraffte aufzustehen. Der hölzerne Fußboden knarrte unter meinen Füßen und ich schlüpfte in ein Paar Springerstiefel, die vor meinem Bett standen. Nicht meine. Ich besaß keine Klamotten mehr. Ich nahm das, was im Schrank hing – und es war hässlich. Nicht dass ich einen gruftigen Modegeschmack nicht zu schätzen wusste, aber das war selbst mir zu muffig und kitschig.

Lediglich meine Schlafhose mochte ich. Eine waschechte Jogginghose. In hässlichen Pastellfarben. Aber wunderbar flauschig von innen.

Ich war also eine alberne Erscheinung, als ich mit meinen weißen Haaren, einem Tank-Top, einer pastellrosanen Jogginghose und Springerstiefeln die Treppe hinunterpolterte. Aber das Haus war so verlassen und leer, dass man beinahe annehmen konnte, es habe hier nie Dämonen gegeben, nur einen sehr schlampigen Hausbesitzer.

In der Küche jedoch erblickte ich Hattuscha, die vor einer Tasse am Tisch saß und in einer alten Zeitung blätterte.

»Guten Morgen«, sagte sie leise.

Ich hatte ein paar Belanglosigkeiten mit ihr ausgetauscht seit dieser Sache. Nicht mehr. Obwohl sie mir das Leben gerettet hatte. Dafür schämte ich mich, wie ich so in der Tür stand und sie ansah. Ihre Widderhörner und die grauen Haare gaben ihr ein sphärisches Aussehen, aber davon durfte man sich nicht täuschen lassen. Sie war ein gefährliches Wesen, die manifestierte Rache, ein Dämon durch und durch. Das war mir nie aufgefallen, denn ich hatte Hattuscha bisher nur als Meckerziege im Dauerzank mit Linfai erlebt. Seit der Sache mit Rivendell sah ich sie ein wenig anders.

»Setz dich doch«, unterbrach sie meine Gedanken. »Willst du Kaffee?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich mache mir einen Tee.«

»Ach, ja, du trinkst nicht so gern Kaffee, stimmt’s?«

Schweigen. Ich ging hinüber zum Wasserkocher und dann zur Spüle. Wie unangenehm, dachte ich. Richtig unangenehmes Schweigen. Was sagte man zu jemandem, der sonst immer nur blöde Parolen und Halbwahrheiten für einen übrig hatte, aber einem dann plötzlich das Leben rettete?

»Danke«, sagte ich abrupt.

Hattuscha drehte sich auf ihrem Stuhl um und sah mich an. »Hm?«

»Danke. Für die Sache mit Rivendell. Ich glaube, ich habe mich noch nicht wirklich bedankt.«

Hattuschas Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Das war ja wohl selbstverständlich, Schätzchen. Ich lasse doch nicht zu, dass ein wildgewordener Schicksalswahrer unsere Vollstrecker abmurkst. Außerdem hast du dich bedankt. Direkt danach. Das reicht mir völlig. Du musst jetzt nicht zu Kreuze kriechen und sagen: Oh, heilige Hattuscha, ich preise dich.«

»Ich …«

»Es ist okay. Wirklich. Das war selbstverständlich.« Hattuschas Blick wanderte zu dem Zeichen auf meiner Hand, das ich instinktiv zu verbergen versuchte, während ich mich auf der Eckbank niederließ.

»Jeder weiß, dass du es hast«, sagte sie. »Also versuch nicht es zu verstecken. Trag es mit Stolz bis zu dem Tag, an dem es dir zum Verhängnis wird. Deine Tage sind damit eh gezählt.«

In diesem Punkt irrte sie sich. Amaranth hatte es mir gegeben, um mich zu finden. Um mit mir allein zu sein. Rivendell hatte es gewusst. Ob er anderen davon erzählt hatte, war mir allerdings nicht klar. Vermutlich nicht. Denn er hatte eigene Pläne verfolgt, auch wenn ich sie nicht wirklich kannte.

Der Rest der Insassen von Bedford hielt es immer noch für einen Fluch und ich ließ sie in dem Glauben. Schon weil Hattuscha vermutlich Amaranths wichtigstes Ziel als Dämonenjäger war.

»Hast du gut geschlafen?«, wechselte Hattuscha das Thema.

»Wie immer. Es ist furchtbar, wenn es weder Tag noch Nacht ist.«

»Daran gewöhnt man sich«, meinte Hattuscha. »Ich kenne es zum Beispiel gar nicht anders. Ist es nicht nervig, wenn dir die Sonne diktiert, wann du schlafen musst? Ich würde dabei verrückt werden. Ich gehe schlafen, wenn ich müde bin. Nicht, weil es mir ein Himmelskörper sagt.«

Von der Warte hatte ich es nie betrachtet, aber als Mensch war das irgendwie normal. Außerdem machte es krank, wenn man seinen Schlafrhythmus so wenig im Griff hatte.

»Wie geht es Nicanor?«

Eine seltsame Frage dafür, dass wir das Haus nicht mehr verlassen hatten seit dem Vorfall und Nicanor, genau wie ich, jeden Tag in Bedford herumlungerte.

»Ich glaube, gut. Gerade eben hat er geschnarcht.«

»Nein, ich meine, wie verkraftet er das mit seiner Freundin?«

Ich hatte nicht gewusst, dass sie darüber informiert war. Aber wenn man eins in Bedford lernte, dann war es die Tatsache, dass man permanent bespitzelt wurde. Oder hatte er mit jemandem darüber gesprochen, als ich irgendwo anders war? Ich konnte ihn, seit wir uns kannten, schon immer schlecht einschätzen, aber jetzt noch viel weniger. Und das, obwohl er mir gegenüber ein bisschen auftaute. Am Anfang war es viel schlimmer gewesen. Wie lange wir uns tatsächlich kannten, vermochte ich allerdings nicht sagen.

Ein Rumpeln, ein Krachen, ein Fluch – dann stand Linfai im Türrahmen. Ihr zerschlissener roter Mantel mit dem Pelzkragen verbreitete den Geruch von Lavendel. Ich wusste nicht, wo sie schlief und was sie tat, wenn man sie nicht sah, aber sie roch immer so.

»Oh, schon jemand wach«, war ihre Begrüßung. »Dabei schlafen doch sonst immer alle so lange.«

Ich streckte meine Füße in Richtung Heizung, die in Bedford immer lief. Als wollte uns das Haus daran erinnern, dass wir uns immer noch im Fegefeuer befanden. Allerdings war es dafür in den meisten Räumen viel zu kalt. Und lüften konnte man auch nicht.

»Dein Wasser«, erinnerte mich Hattuscha an meinen Tee und ich sprang auf und hastete zur Anrichte.

»Wo ist denn der Tee?«, fragte ich mit Blick in die leere Teebox.

Tee war immerhin etwas, das es in Bedford für alle gab. Man musste seine anderen Wünsche auf eine Liste schreiben. Wer tatsächlich Bedford verließ und für uns Lebensmittel beschaffte oder warum wir sie überhaupt brauchten, wo wir nicht mal lebten, wusste ich nicht. Eine der vielen unbeantworteten Fragen, die ich hatte. Aber wem hätte ich sie stellen sollen? Meine Mitbewohner waren dahingehend nicht kooperativ und deswegen war ich komplett aufgeschmissen, wann immer ich etwas wissen wollte.

»Oh«, kicherte Linfai. »Ich glaube, Kupferberg hat sich einen Aufguss mit Kamillentee gemacht.«

Klar. Klang auch gar nicht absurd. »Wieso denn das?«

»Ach, vielleicht, weil er ein blaues Auge hat«, nuschelte Hattuscha undeutlich.

»Und wieso hat er das?«, wollte ich wissen.

»Ach, sagen wir, das ist nichts mit uns. Sie wollen alle irgendwann mit mir zusammen sein. Aber sich von mir zu trennen – das trauen sich nicht zu viele. Ich bin die Rache. Schon vergessen? Das könnte fürchterlich enden.«

»Klar«, meinte ich, obwohl mir nichts klar war.

Linfai lachte und öffnete einen der Hängeschränke. »Hier, ich habe noch Pfefferminz.«

Dankend nahm ich den Teebeutel entgegen und hängte ihn in mein heißes Wasser.

»Bekommen wir eigentlich einen neuen Schicksalswahrer?«, fragte ich, während ich mich wieder auf die Eckbank setzte.

Hattuscha zuckte mit den Schultern. »Kann schon sein. Aber es ist ja immer eine persönliche Präferenz, wo derjenige rumhängt. Vielleicht in Partridge, vielleicht hier, vielleicht möchte er auch in der Menschenwelt bleiben. Kann ich nicht sagen.«

»Befördert haben müssen sie jemanden«, schaltete sich Linfai ein. »Es geht nicht anders. Du weißt schon – die Waage.«

Die Waage war ein Thema, mit dem sich in Bedford so ziemlich alles erklären ließ. Toter Seraphim? Waage. Toter Dämon? Waage. Alles drehte sich um das Gleichgewicht der Instanzen, die den Weltuntergang verhinderte. Schon verrückt. Und alles, was uns trieb, waren die vermaledeiten Schicksalswahrer, die offenbar irgendwie wussten, wie die Waage gerade stand.

Linfai schob sich neben mich auf die knarzende Eckbank, die ein ziemlich zwielichtiges Geräusch von sich gab.

»Wenn die auch noch zusammenkracht, dann bringe ich Cortez um«, murmelte sie. »Das Sofa ist schon hinüber.«

»Ist es? Seit wann?«, fragte Hattuscha.

»Ah, sprechen wir nicht mehr darüber«, antwortete Linfai ein wenig zu schnell und sah dann zu mir. »Du siehst echt mies aus.«

»Hm«, machte ich.

Seitdem ich untot war, sah ich öfter mal scheiße aus. Klamottentechnisch, frisurentechnisch und ansonsten war es vermutlich auch der Sache nicht so zuträglich, keinerlei Pflegeprodukte außer Shampoo zu besitzen. Meine Haare sahen aus wie Filz. Obwohl ich sie kämmte. Vielleicht sollte ich sie abschneiden?

»Ist Nicanor noch oben?«

Was für eine Frage, wo sollte er denn hingegangen sein? »Klar. Der läuft wohl kaum weg.«

»Ich weiß, ich weiß«, antwortete Linfai beschwichtigend. »Du bist aber heute schlecht gelaunt.«

»Stimmt doch gar nicht.«

War ich wirklich nicht. Ich fühlte mich nur sehr kraftlos. Müde. Ständig müde. Aber schlecht gelaunt war ich nicht. Meine Unruhe hatte sich zumindest in eine gewisse Art von Akzeptanz gewandelt. Nur wenn ich Amaranth sah, dann keimte noch so etwas wie Hoffnung auf. Hoffnung darauf, dass ich diesen Ort noch einmal verlassen konnte. Dass ich doch nicht verdammt war.

»Ich wäre sehr für einen neuen Schicksalswahrer.« Hattuscha sah mich an und zwinkerte mir zu.

Sie schien zu merken, dass ich nicht darüber reden wollte, wie es mir ging oder was ich empfand. Das mochte vielleicht für Linfai spannend sein, doch für mich war es das nicht. Und es ging sie eigentlich auch nichts an.

»Ich finde die interessant«, fuhr Hattuscha fort. »Es ist manchmal gar nicht so verkehrt, einen von denen auf unserer Seite zu haben. Erinnerst du dich noch an die eine … wie hieß die noch?«

»Halinea«, schob Linfai ein. »Die war witzig.«

»Was ist mit ihr?«, fragte ich.

»Die bleiben nicht ewig Schicksalswahrer. Fünf Jahre – dann ist es vorbei damit. Dafür bekommst du deinen ewigen Frieden oder eine Wiedergeburt. Was du dir eben wünschst. Keine Hölle, kein Himmel. Sondern die Ewigkeit und das, was danach kommt. Himmel und Hölle sind doch alles nur Verwahrungsräume. Für die guten und die schlechten Menschen. Bis der Tod sie zurückholt. Die Tod. Tschuldigung, Gewohnheit. Zum Glück hat sie das nicht gehört. Da ist sie ja sehr empfindlich. Waschechte Feministin.«

»Man darf sich dann vom Tod etwas wünschen?«, fragte ich nach.

»Ja. Quasi. Schicksalswahrer ist ein anstrengender Job.«

»Rivendell hat ihn aber nicht sonderlich ernst genommen.«

»Das denkst du«, meinte Hattuscha und schlürfte den Rest ihres Kaffees. »Bevor er so wurde, hat er sehr wohl das gemacht, was von ihm verlangt wird. Ich frage mich, was ihn wohl sterblich gemacht hat.«

»Ich hab da zumindest eine Vermutung«, gab ich zurück und bereute es im selben Moment wieder.

Die beiden waren die größten Klatschtanten in Bedford und ich fand es irgendwie schäbig, die beiden einzuweihen, aber nicht mit Nicanor selbst gesprochen zu haben. Wie kindisch wäre das?

»Spuck’s aus!«, rief Linfai begeistert.

»Ein anderes Mal«, antwortete ich abwehrend. »Wenn ich mehr weiß.«

»Woher hast du deine Infos?«, fragte Hattuscha misstrauisch.

»Ich weiß, dass ihr mich gerne für dumm haltet, aber blöd bin ich eben auch nicht«, erwiderte ich verärgert.

»Ach, hab dich nicht so«, meinte Hattuscha. »Wir halten dich nicht für dumm. Es ist nur … na, du bist eben neu.«

»Und neuen Leuten muss man nichts erklären? Oder ist es vielleicht andersrum – neue Leute wissen nichts und benötigen deswegen eine Anleitung? Schon, damit sie nicht draufgehen?«

Immerhin hatte sie den Anstand, darauf nichts zu antworten, sondern auf den Boden zu starren.

Ich trank meinen Tee aus und ging wortlos nach oben. Als ich das gemeinsame Zimmer von Nicanor und mir betrat, war er bereits wach und kämpfte mit einem Bein seiner eingelaufenen Jeans.

»Dieses … verdammte … Haus … Du legst was ab und nachher ist nichts, wie es mal war.«

Ich lachte leise. Das Problem kannte ich nur zu gut. Letztens erst war eine Bluse von mir auf bauchfrei zusammengeschrumpft, und als ich die Arme gehoben hatte, riss sie am Rücken. Sehr zur Erheiterung von Linfai und Hattuscha. Aber wie von Zauberhand füllte sich der grässliche Schrank mit immer neuen hässlichen Klamotten, die aus modisch sehr geschmacksverirrten Jahrzehnten stammten. Nur meine Jogginghose ließ mich nicht im Stich. Allerdings war es auch noch nicht so lang her, dass sie aufgetaucht war. Ob das wohl irgendeine Regel hatte? X Tage und dann verschwand das Kleidungsstück? Es hätte mich jedenfalls nicht gewundert, denn das Badezimmer hatte ja auch seine ganz eigenen Regeln. Vorzugsweise bei der Schwerkraft.

»Da ist noch eine Herrenhose drin«, meinte ich und deutete auf den Schrank. »Allerdings ist es eine fürchterliche Hose mit Bügelfalte und opagrau ist sie auch.«

Nicanor schälte sich seufzend aus dem Hosenbein und griff nach der Schranktür.

»Hör mal … ich muss mit dir reden«, sagte ich leise.

»Ja. Mach doch. Ich kann dich auch hören, während ich Hosen in opagrau anziehe.«

»Na, ja … ich finde, wir sollten uns über das mit Rivendell unterhalten. Wir haben nur kurz darüber gesprochen und …«

»Ehrlich gesagt will ich das nicht wissen«, gab er zurück und hielt triumphierend die Opahose hoch.

»Wieso nicht?«, fragte ich verwundert.

»Sagte ich dir bereits beim letzten Mal. Jetzt bin ich eh schon hier.«

»Aber … denkst du nicht manchmal darüber nach, dass es unfair war? Dass du nicht hier sein müsstest? Vielleicht könnten wir beide mit den Seraphim sprechen. Wir sind unschuldig. Du und ich.«

»Du?«, fragte er mich.

Verdammt. Es war mir einfach herausgerutscht. Ich hatte niemandem anvertraut, was Amaranth mir offenbart hatte. Schon weil ich definitiv niemandem sagen wollte, dass ich mich heimlich mit ihm traf. Dass ich ihn mochte … Aber nun war es zu spät, um zurück zu rudern.

»Ja. Ich auch.«

»Hat er dich auch reingelegt?«, fragte Nicanor und sah mich nun das erste Mal an.

»Weiß ich nicht.«

»Wie kommst du dann darauf, dass du unschuldig bist?«

»Der Seraphim hat es mir gesagt«, gestand ich.

»Welcher?«

»Der aus Baden-Baden. Amaranth. Der Dämonenjäger.«

»Wie zum Teufel hast du dich mit dem unterhalten?«, fragte er verwirrt.

Ich versuchte, seinem Blick standzuhalten. Denn es lag Misstrauen in ihm. Wie er so dastand, mit freiem Oberkörper, barfuß und in seiner opagrauen Hose, fiel mir zum ersten Mal auf, wie viele Narben er hatte. Und eigentlich wollte ich gar nicht so genau wissen, woher die stammten.

»Guck nur«, durchschaute er mich. »Ritzen und ein paar unkluge Entscheidungen. Zum Beispiel ohne Messer zur Messerstecherei zu gehen.«

»Ah«, machte ich.

Gott, was sollte man darauf antworten?

»Ich dachte, du hättest das schon gesehen«, erwiderte er schulterzuckend und warf sich ein T-Shirt in Grün über, das so gar nicht zu seiner Opahose passte. Socken gab es auch nur noch zwei verschiedene, die er fluchend anzog.

»Glaubst du ihm das? Dem Dämonenjäger? Ich meine, hat er dir das mit Rivendell auch erzählt? Falls ja, bezweifle ich es.«

»Nein, das hat Rivendell selbst zugegeben«, entgegnete ich. »Und außerdem hast du gesagt, er käme dir bekannt vor.«

»Ja, aber ich habe ein miserables Gedächtnis und bin eher nicht so der verlässliche Typ. Auf meine Erinnerung würde ich jedenfalls einen Scheiß geben. Und der Seraph hat dir gesagt, dass du auch unschuldig sein sollst?«

»Ja.«

»Und du glaubst ihm das?«

»Wieso sollte ich nicht? Er hat keine Anstalten gemacht, mich umzubringen. Es wäre ihm ein Leichtes, weißt du?« Dabei hob ich die Hand, um ihn an das Zeichen zu erinnern.

Na, immerhin war jetzt die Katze aus dem Sack. Wenn auch nur die halbe Katze. Dass ich Amaranth heimlich traf und nachts ständig an ihn dachte, das verschwieg ich Nicanor. Schon weil ich es selbst nicht so richtig wahrhaben wollte und mir auch irgendwie dämlich vorkam. Wie hätte ich es betiteln sollen? »Weil ich ihn liebe?« Lächerlich. Ich kannte Amaranth kaum. Aber irgendwie so fühlte es sich schon an. Und das war mir unangenehm. Ja, es war unangenehm, darüber nachzudenken, und noch unangenehmer, es auszusprechen oder gar zuzulassen. Es mir einzugestehen. Dafür war ich so gar nicht der Typ. In gewisser Weise war ich damit etwa auf demselben Level wie Nicanor. Allerdings hatte der sehr wohl eine Beziehung geführt, als er noch gelebt hatte. Bestimmt hatte er seiner Freundin mal Blumen mitgebracht. Ihr gesagt, dass er sie liebte. Ohne so etwas konnte doch eine Beziehung gar nicht existieren. Vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein. Und von einer Beziehung konnte man ja auch wahrlich nicht sprechen. Da war dieser Seraph, der mir sagte, er sei in mich vernarrt. Weil ich etwas Besonderes sei. Und da war ich – ein Vollstrecker, eine Art Dämon, der das Böse in die Welt brachte. Grundverschieden. Räumlich und zeitlich voneinander getrennt. Mit einem Mal fühlte es sich deprimierend an.

»Schön, dann glauben wir das jetzt mal. Und was nützt es uns?«, fuhr Nicanor fort, als ihm die Stille zu lange dauerte. »Ich sag’s dir – nichts. Es bringt uns gar nichts. Jetzt haben wir eh schon zu viel angestellt, als dass die Seraphim uns noch einmal helfen werden. Weder dir noch mir.«

So hatte ich es noch gar nicht betrachtet. Was, wenn ich mich mit jedem Tag weiter von einer Rehabilitation entfernte, weil ich Schlechtes tat? Galt das für Nicanor auch? Trotzdem fragte ich: »Macht dich das nicht wütend? Mich schon.«

Er zuckte mit den Schultern. »Weißt du, dass ich hier bin, klingt ganz nach mir. Nach dem, wie ich eben bin. Ich kann mir nicht mal vorstellen, dass es hätte anders enden können. Und deswegen glaube ich auch nicht, dass Rivendell mich irgendwie falsch geleitet hat.«

»Er muss. Sonst hätte er nicht seine Unsterblichkeit verloren.«

Nicanor ging aus der Tür und blieb dann im Flur einen Moment stehen, bevor er wieder zurück ins Zimmer kam. Sein Gesicht war eine starre Maske, als er sagte: »Hör auf damit.«

Ich sah ihn erstaunt an. »Womit?«

»Mir Hoffnung zu machen. Das ist so mies. Ich kann das nicht …«

»Was?«, fragte ich verständnislos.

»Die ganze Zeit nur hoffen und dann enttäuscht werden. Damit kann ich nicht mehr leben.«

»Du lebst ja auch gar nicht«, erwiderte ich böse.

»Hast du dich mit Hoffnung durch die letzten … Monate, Wochen, Jahre … was auch immer geschleppt? Schön für dich. Aber bei mir ist es mit Hoffnung vorbei. Ich will das nicht hören.«

Wieso verstand er das nicht? Warum konnte er nicht mehr hoffen? Nicanor musste meinen Blick bemerkt haben, denn er kam ein wenig näher und seine Gesichtszüge entspannten sich.

»Ich will es nur einfach nicht mehr. Es wird alles nur noch schlimmer, wenn ich mir Hoffnungen mache, verstehst du das? Ich kann nicht daran glauben, dass ich unverschuldet hier bin. Denn ich bin hier. Das sind höhere Mächte. Warum sollten sie sich irren? Die machen das schon seit … seit es die Welt gibt.«

»Weil sich jeder irren kann. Selbst Engel und Dämonen«, erwiderte ich tonlos.

»Nein. Nicht in meinem Fall. So viel Glück habe ich nicht. Also hör bitte damit auf.«

Damit verließ er das Zimmer und ich blieb allein zurück. Was sollte ich nun tun? Ich hatte so darauf gehofft, dass Nicanor mir helfen würde. Wenn er nur selbst davon überzeugt gewesen wäre, dass wir beide unschuldig sein könnten, dann hätte vielleicht alles gut werden können. Und dennoch wollte ich nicht aufhören meinem Herzen zu folgen. Denn das sagte mir: Du bist unschuldig.

Als ich Kupferberg zum ersten Mal seit einer Ewigkeit sah, musste ich ein Lachen unterdrücken. Er trug drei dicke rote Kratzer im Gesicht und sah auch sonst irgendwie mitgenommen aus.

»So ist das also, wenn man mit der Rache Schluss machen möchte«, kicherte Linfai in ihren Kakao, die am Türrahmen lehnte, als der Schmied den Flur betrat.

»Sehr witzig«, knurrte er und setzte sich mir gegenüber auf einen Stuhl in der Küche.

Niemand saß je im Wohnzimmer. Nicht erst seit der Sache mit Rivendell, das lag einfach daran, dass man einen Asthmaanfall bekam, falls man es wagte, sich auf das hässliche grüne Sofa zu setzen, in dem eine uralte Milbenkolonie auf ihren Auftritt wartete.

Nicanor saß neben mir und blätterte lustlos in einer Rennsportzeitung, die jemand dort liegengelassen hatte. Wir hatten kein Wort mehr seit unserem Streit gesprochen und Kupferberg sah auch nicht so aus, als wolle er reden. Da waren wir also nun drei schweigende Gestalten in dieser Küche und taten nichts so richtig. Und Kupferberg war auch nicht eben mein liebster Gesprächspartner, da er über die Sache mit Amaranth Bescheid wusste. Wieso auch immer. Zwar hatte er mir zu verstehen gegeben, dass er mich nicht verriet, allerdings wusste ich nicht, warum.

»Was ist denn hier für eine Stimmung?«, fragte Linfai.

Die Türklingel ließ sie verschwinden. Ich versuchte, nicht zu neugierig zu erscheinen, während Linfai die Haustür und damit die Pforte zum Fegefeuer öffnete.

Eine Frauenstimme war zu hören. Und Linfais überraschtes: »Dich habe ich ja ewig nicht mehr gesehen.«

»Nicht wahr?«, antwortete die Fremde. »Aber heute bin ich tatsächlich einmal geschäftlich hier. Wo ist denn mein verlotterter Bruder?«

Kupferberg zuckte merklich zusammen.

»Wer ist das?«, fragte ich, während die beiden im Flur lauthals lachten und schwatzten.

»Meine Schwester.«

»Ach?«, machte Nicanor. »Du hast eine Schwester?«

»Natürlich. Kupferrose. Ich habe noch mehr Geschwister. Sie sind Flammengeborene. Wir kommen aus den Feuern der Hölle und wählen die eine oder die andere Seite, wenn wir erwachen. Kupferrose war mal auf unserer Seite, bevor sie sich zur Schicksalswahrerin hat machen lassen.«

»Oh«, meinte Nicanor. »Dann hast du wohl was Blödes getan. Wenn sie mit dir sprechen möchte.«

»Das geht dich gar nichts an, Grünschnabel«, knurrte der Schmied und sah zur Tür, durch die gerade das perfekte Ebenbild seiner selbst trat.

Nur eben in weiblich. Die dunkle Haut. Der goldene Schimmer in den Augen. Das lockige Haar. Die stolze Haltung. Die Größe.

»Guten Tag«, sagte sie mit tiefer, wohlklingender Stimme. »Ihr müsst die Neuen sein. Wir kennen uns noch gar nicht.«

Ich für meinen Teil hatte erst mal genug von Schicksalswahrern und war eigentlich ganz zufrieden, nicht noch mehr von denen zu kennen.

»Ich bin Kupferrose. Die Schwester von diesem Halodri hier. Und von Kupferseele. Und Kupferrauch.«

»Die kenne ich alle nicht. Aber ich bin Hadriane.«

Für einen winzigen Moment stockte ich. Als wolle mein alter Name noch einmal heraus. Doch ich kannte ihn nicht mehr. Was also hätte ich ihr sagen sollen?

Nachdem Nicanor sich vorgestellt hatte, fragte die Schicksalswahrerin: »Wo ist denn Hattuscha? Ich wollte auch sie sprechen.«

»Nicht das …«, stöhnte Kupferberg.

»Pah«, machte sie. »Ich muss dich wohl nicht dran erinnern, was ich bin. Und wenn ich zu dir und zu ihr will – was könnte ich wohl wollen?«

»Offensichtlich, dass ich diesen Unsinn weiterführe«, grollte er.

Ehrlich gesagt, verstand ich heute zum ersten Mal, wieso Linfai stets Popcorn parat hatte und neugierig jede Konfrontation verfolgte: Wenn es einen selbst nämlich gar nicht betraf, war das hier besser als Kino. Oder sagen wir: besser als alles, was man sonst so in Bedford machen konnte.

»Ich will aber nicht.«

Kupferrose stemmte die Handflächen in die Hüften und sah ihren Bruder streng an. »Du bist doch wirklich ein bockiges Kind. Willst du, dass ich dich an dein Schicksal binde, du Riesenrindvieh?«

»Nein«, murmelte er und rieb sich die Striemen auf der Wange. »Aber du siehst ja, es ist etwas kompliziert.«

»Nun, Schicksal ist nie einfach. Hat ja auch keiner behauptet, ›ne?«

»Wie lang musst du eigentlich noch?«, fragte Linfai aus dem Flur.

»Noch etwa ein Jahr. Dann habt ihr mich wieder.«

»Schön. Du fehlst definitiv hier. Ich mag es, wenn Bedford voll ist. Das ist viel mehr wie zu Hause.« Zufrieden grinste sie in meine Richtung. »Ihr seid ja ständig draußen. Da wird es hier ganz schön langweilig.«

»Ständig«, schnaubte Nicanor neben mir.

»Wo ist sie?«, fragte Kupferrose den Schmied.

»Oh, irgendwo im Obergeschoss. Du findest sie schon«, gab Linfai Auskunft.

Die Schicksalswahrerin nickte zufrieden und winkte uns zu. »Dann amüsiert euch schön, Kinder. Eventuell kommt der Neue mal zu euch. Als sie ihn ernannt haben, dachte ich mir gleich, dass er besser nach Bedford statt nach Partridge passt.«

»Wer ist es denn?«, fragte ihr Bruder.

Aber sie war bereits auf dem Weg nach oben, ich konnte ihre schweren Schritte auf den knarzenden Treppen hören.

»Die sind schnell dieses Mal«, meinte Linfai und setzte sich vor Kopf an den Tisch. »Bevor sie Kupferrose gewählt haben, hat es ewig gedauert.«

Ich erinnerte mich da an eine vage Erklärung, aber etwas ganz anderes interessierte mich: War dieser Schicksalswahrer jemand, mit dem man sprechen konnte? Oder wollte? Schließlich konnte er genau wie Rivendell sein. Oder ganz anders. Jemand, der neu war, der war vielleicht noch an der Wahrheit interessiert. Daran, meinen Fall aufzuklären. Ich musste dringend mit Amaranth darüber reden. Und wenn derjenige eher auf unserer Seite stand, war er vielleicht geneigt, mir und Nicanor zuzuhören. Ich war natürlich nicht sicher, ob ein neuer Schicksalswahrer mir helfen konnte oder wollte. Aber die Gestalten hier konnten es sicher nicht. Außerdem hätte ich dann preisgeben müssen, was zwischen mir und Amaranth vorgefallen war, und ich bezweifelte, dass irgendeiner von ihnen Verständnis dafür hatte.

Nicanor schien jedoch genau zu ahnen, was ich dachte, denn als ich zu ihm herübersah, schüttelte er lediglich den Kopf. War ich so leicht zu durchschauen? Oder kannte er mich nur mittlerweile so gut?

Erneut Schritte auf der Treppe, dann war Kupferrose wieder da. Hinter ihr stand Hattuscha, die überhaupt nicht zufrieden aussah. Eher genervt. Nun, wäre ich auch gewesen, wenn jemand Fremdes reinschneit, um mir vorzuschreiben, mit wem ich zusammen sein soll.

Und als wäre ich an diesem Tag ein offenes Buch, sah Kupferrose mich an. Ihre Augen funkelten und sie schien etwas sagen zu wollen. Sie tat es aber nicht. Wie ich das interpretieren sollte, wusste ich nicht. Scheinbar war ich noch auf meinem Weg. Und es war kein Schicksalswahrer notwendig, um mich irgendwohin zu zerren.

»Ich mach mich dann mal vom Acker. So viel zu tun.« Sie zog einen Stapel Papiere aus ihrem Mantel. »Die muss ich alle noch vor dem Mittagessen heimsuchen. Der Job ist wahnsinnig stressig.«

»Wiedersehen«, rief Linfai. »Komm uns mal wieder besuchen.«