»Wer seid ihr?« »Ich heiße Michail Jozefowitsch Niebieski.« »Wir haben eine Überraschung für Sie.«
»Was ist los mit euch, Alter? Was ist los?«
»Ich heiße Michail Jozefowitsch Niebieski.«
»Dem Leutnant gefällt euer Haus. Wir nehmen hier Quartier.«
»Das ist unsere Frau Besitzerin.«
»Gefallen.«
»Warum nicht?«
Ur ist ein Ort mitten im Weltall.
Um Ur zügig von Norden nach Süden zu durchqueren, würde man eine Stunde brauchen. Von Osten nach Westen ebenso. Wenn man gemächlich um ganz Ur herumgehen und sich dabei alles genau und bedachtsam ansehen wollte, würde man einen ganzen Tag dafür brauchen. Vom Morgen bis zum Abend.
Im Norden verläuft die Grenze von Ur an der Straße von Taszów nach Kielce entlang; die Straße ist befahren und gefährlich, denn sie weckt ein Gefühl der Unrast. Diese Grenze bewacht der Erzengel Rafael.
Die südliche Grenze bildet das Städtchen Jeszkotle mit Kirche, Altersheim und niedrigen Häuschen rund um den schlammigen Marktplatz. Auch im Städtchen droht Gefahr, denn es weckt das Verlangen danach, zu besitzen und besessen zu werden. Auf dieser Seite wacht der Erzengel Gabriel über Ur.
Von Süden nach Norden, von Jeszkotle bis zur Straße nach Kielce, verläuft die Landstraße, und Ur liegt links und rechts davon.
Die westliche Grenze von Ur bilden die feuchten Uferwiesen, ein kleines Waldstück und das Schloss. Zum Schloss gehört ein Pferdegestüt, wo ein einzelnes Pferd so viel kostet wie ganz Ur. Die Pferde gehören dem Freiherrn, die Wiesen dem Pfarrer. Wer in die Nähe der westlichen Grenze kommt, gerät in Gefahr, hochmütig zu werden. Diese Grenze bewacht der Erzengel Michael.
Die östliche Grenze von Ur bildet die Weiße. Sie teilt das Land zwischen Ur und Taszów. Dann biegt sie zur Mühle hin ab und verlässt den Lauf der Grenze. Zwischen Auwiesen und Erlenhainen läuft die Grenze alleine weiter. Auf dieser Seite lauert die Gefahr der Dummheit, die aus der Lust an neunmalklugem Gerede entsteht. Diese Grenze bewacht der Erzengel Uriel.
Mitten in Ur hat Gott einen Berg aufgeschüttet, auf dem sich jedes Jahr Schwärme von Maikäfern versammeln. Deshalb haben ihn die Menschen Maikäferhügel genannt. Gott schafft, und der Mensch benennt.
Von Nordwesten nach Süden strömt die Schwarze, die bei der Mühle mit der Weiße zusammenfließt. Die Schwarze ist tief und dunkel. Sie fließt durch den Wald, und er spiegelt sein zugewachsenes Gesicht in ihrem Lauf. Auf der Schwarze treiben trockene Blätter, und in ihren Strudeln ringen unvorsichtige Insekten um ihr Leben. Die Schwarze zerrt an den Baumwurzeln und unterspült den Wald. Manchmal entstehen Wirbel auf ihrer dunklen Oberfläche, denn der Fluss kann zornig und unbändig sein. Jedes Jahr im Frühling ergießt sie sich über die Wiesen des Pfarrers und sonnt sich dort. Mit ihrer Hilfe vermehren sich die Frösche tausendfach. Den ganzen Sommer hat der Pfarrer mit ihr zu kämpfen, und jedes Jahr lässt sie sich Ende Juli gnädig herab, wieder in ihr Bett zurückzukehren.
Die Weiße ist seicht und flink. Sie strömt in ihrem breiten, sandigen Flussbett dahin und hat nichts zu verbergen. Sie ist so klar, dass ihr sandiger Boden durch das Wasser hindurch in der Sonne glitzert. Sie erinnert an eine große schillernde Eidechse. Wendig und ausgelassen huscht sie zwischen den Pappeln hindurch. Man weiß nie, was sie im Schilde führt. In einem Jahr verwandelt sie ein Erlenwäldchen in eine Insel, dann hält sie sich zehn Jahre lang fern von jedem Baum. Die Weiße fließt durch Haine, Wiesen und Auen. Sie glitzert sandig und goldhell.
An der Mühle vereinen sich die Flüsse. Anfangs strömen sie ein wenig unentschlossen nebeneinander her, die ersehnte Nähe macht sie befangen, aber dann fließen sie zusammen und gehen ineinander auf. Der Fluss, der dabei an der Mühle entsteht, ist nicht mehr Weiße und nicht mehr Schwarze, aber dafür ist er voll Kraft und treibt mühelos das Mühlrad an, mit dem das Korn gemahlen wird.
Ur liegt an diesen beiden Flüssen und an jenem Dritten, der aus ihrem gegenseitigen Verlangen entsteht. Der Fluss, der der Vereinigung der Schwarze und der Weiße an der Mühle entspringt, heißt Fluss, und er strömt ruhig und zufrieden dahin.
Im Sommer neunzehnhundertvierzehn kamen zwei Soldaten des Zaren in hellen Uniformen angeritten, um Michał zu holen. Michał sah sie von Jeszkotle her kommen. Die heiße Luft trug ihr Lachen zu ihm hinüber. In seinem mehlbestäubten Kittel stand Michał auf der Schwelle seines Hauses und wartete, obwohl er wusste, was sie von ihm wollten.
»Kto vy?«, fragten sie.
»Menja zovut Michail Jozefowitsch Niebieski«, antwortete Michał wie es sich gehörte.
»Nu, est’ u nas sjurpris.«1
Er nahm das Dokument, das sie ihm gaben, und brachte es seiner Frau. Den ganzen Tag weinte sie und packte Michałs Sachen für den Krieg. Vom Weinen war sie so schwach und so schwer, dass sie nicht die Kraft aufbrachte, auf die Schwelle des Hauses zu treten, um ihren Mann mit den Blicken bis zur Brücke zu begleiten.
Als die Blüten von den Kartoffelpflanzen abfielen und an ihrer Stelle kleine grüne Früchte entstanden, stellte Genowefa fest, dass sie schwanger war. Sie zählte an den Fingern die Monate ab und kam bis zur ersten Heumahd Ende Mai. Da musste es geschehen sein. Jetzt war sie unglücklich, dass Michał noch nichts davon gewusst hatte. Vielleicht war ihr Bauch, der mit jedem Tag größer wurde, ein Zeichen dafür, dass Michał zurückkommen würde, dass er zurückkommen musste. Genowefa führte die Mühle wie es Michał getan hatte. Sie beaufsichtigte die Arbeiter und stellte den Bauern, die das Korn brachten, Quittungen aus. Sie lauschte auf das Rauschen des Wassers, das die Mühlsteine in Gang hielt, und auf den Lärm der Maschinen. Das Mehl setzte sich in ihre Haare und Wimpern, und wenn sie abends vor dem Spiegel stand, sah sie eine alte Frau. Dann zog sich die alte Frau vor dem Spiegel aus und untersuchte ihren Bauch. Sie legte sich ins Bett, doch trotz der Kissen und Wollstrümpfe wurde ihr nicht warm. Und weil man in den Schlaf steigt wie ins Wasser, nämlich mit den Füßen zuerst, konnte sie lange nicht einschlafen. Deshalb hatte sie viel Zeit zum Beten. Sie fing mit dem »Vaterunser« an, dann kam das »Gegrüßet seist du, Maria« und zum Schluss ihr einschläferndes Lieblingsgebet zum Schutzengel. Sie bat ihn darum, Michał zu beschützen, denn im Krieg brauchte man möglicherweise mehr als nur einen Schutzengel. Allmählich ging ihr Gebet über in Bilder vom Krieg, die einfach und schlicht waren, denn die einzige Welt, die Genowefa kannte, war Ur, und der einzige Krieg die samstäglichen Prügeleien auf dem Marktplatz, wenn die betrunkenen Männer aus Schlomos Kneipe kamen. Dann rissen sie sich gegenseitig an ihren Kitteln, fielen zu Boden und wälzten sich besudelt, schmutzig und erbärmlich im Matsch. Deshalb stellte sich Genowefa den Krieg als ein Gerangel in Pfützen, Matsch und Unrat vor, einen Kampf, in dem alles sofort erledigt wird. Und sie wunderte sich, dass der Krieg so lange dauerte.
Wenn sie im Städtchen ihre Einkäufe machte, hörte sie manchmal den Gesprächen der Leute zu.
»Der Zar ist stärker als der Deutsche«, sagten sie.
Oder:
»Bis Weihnachten ist der Krieg vorbei.«
Aber der Krieg war weder zu diesen noch zu den nächsten vier Weihnachten vorüber.
Vor den Feiertagen ging Genowefa zum Einkaufen nach Jeszkotle. Als sie über die Brücke kam, sah sie ein Mädchen, das am Fluss entlangging. Sie war ärmlich gekleidet und barfuß. Ihre nackten Füße stapften durch den Schnee und hinterließen kleine, tiefe Spuren. Genowefa zuckte zusammen und blieb stehen. Sie betrachtete das Mädchen von da oben und suchte in ihrer Tasche nach einer Kopeke für sie. Das Mädchen hob den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Die Münze fiel in den Schnee. Das Mädchen lächelte, aber in diesem Lächeln lag weder Dankbarkeit noch Sympathie. Ihre großen weißen Zähne wurden sichtbar, ihre Augen blitzten.
»Das ist für dich«, sagte Genowefa.
Das Mädchen bückte sich und zog die Münze behutsam aus dem Schnee, aber dann drehte sie sich um und ging ohne ein Wort davon.
Jeszkotle sah aus, als hätte es alle Farbe verloren. Alles war schwarz, weiß und grau. Auf dem Marktplatz standen Männer in Gruppen herum. Sie redeten über den Krieg. Die Städte seien zerstört, und Hab und Gut ihrer Bewohner lägen auf den Straßen herum. Die Menschen flüchteten vor den Kugeln. Ein Bruder suche den anderen. Es lasse sich nicht sagen, wer schlimmer sei – der Russ’ oder der Deutsche. Die Deutschen kämpften mit Giftgas, von dem die Augen platzen. Bis zur nächsten Ernte werde Hunger herrschen. Der Krieg sei die erste Plage, weitere folgten ihm auf dem Fuß.
Genowefa ging den Pferdeäpfeln aus dem Weg, die vor Szenberts Laden den Schnee zum Schmelzen brachten. Auf dem Schild an der Tür stand:
DROGERIE
Szenbert und Cie
hat nur erstklassige
Ware vorrätig
Kernseife
Waschblau
Weizen- und Reisstärke
Öl Kerzen Zündhölzer
Insektenpulver
Bei dem Wort »Insektenpulver« wurde ihr plötzlich schlecht. Sie dachte an das Gas, das die Deutschen benutzten und von dem die Augen platzten. Spürten Kakerlaken dasselbe, wenn man sie mit Szenberts Pulver bestreute? Sie musste ein paar Mal tief Luft holen, um sich nicht übergeben zu müssen.
»Bitte sehr, die Dame?«, sagte eine junge hochschwangere Frau mit melodischer Stimme. Sie warf einen Blick auf Genowefas Bauch und lächelte.
Genowefa bestellte Petroleum, Zündhölzer, Seife und einen neuen Schrubber. Mit dem Finger strich sie über die scharfen Borsten.
»Zu den Feiertagen will ich das Haus putzen. Ich will den Boden schrubben, die Vorhänge waschen und den Ofen putzen.«
»Bei uns stehen auch Feiertage bevor. Chanukka. Sie sind aus Ur, nicht wahr? Von der Mühle? Ich kenne Sie.«
»Dann kennen wir uns jetzt beide. Wann sind Sie so weit?«
»Im Februar.«
»Ich auch im Februar.«
Frau Szenbert legte Kernseifenwürfel auf die Theke.
»Haben Sie noch nie darüber nachgedacht, warum wir Dummköpfe Kinder zur Welt bringen, während ringsum Krieg ist?«
»Gott hat sicher …«
»Gott, Gott … Der ist ein guter Buchhalter und führt sorgfältig die Einträge zu Soll und Haben. Die Bilanz muss stimmen. Gott gibt’s und Gott nimmt’s … Sie sehen so hübsch aus, es wird bestimmt ein Junge.«
Genowefa hob ihren Korb hoch.
»Ich brauche eine Tochter, denn mein Mann ist im Krieg, und ein Junge lässt sich ohne Vater schlecht großziehen.«
Frau Szenbert kam hinter der Theke hervor und begleitete Genowefa zur Tür.
»Wir brauchen eigentlich alle Töchter. Wenn auf einmal alle Töchter bekämen, wäre Ruhe auf der Welt.«
Da mussten sie beide lachen.
Der Engel sah Misias Geburt in einem ganz anderen Licht als die Hebamme Kucmerka. Ein Engel sieht die Dinge überhaupt immer anders. Engel sehen die Welt nicht in ihrer sichtbaren Gestalt, die immer wieder entsteht und sich selbst zerstört, sondern in ihrem Wesen und in ihrer Seele.
Der Engel, den Gott Misia zugewiesen hatte, sah einen von Schmerzen gequälten und in sich zusammengesunkenen Körper, der immer wieder von den auf- und abbrandenden Wehen erfasst wurde, hilflos wie ein Fetzen Stoff im mutwilligen Spiel der Wellen – das war Genowefas Körper während Misias Geburt.
Und Misia sah den Engel als einen frischen, hellen, leeren Raum, in dem bald eine benommene, halb wache Seele erscheinen würde. Als das Kind die Augen aufschlug, dankte der Schutzengel dem Höchsten. Dann trafen sich der Blick des Engels und der Blick des Menschen zum ersten Mal, und der Engel erschauderte, soweit ein Engel ohne Körper erschaudern kann.
Hinter dem Rücken der Hebamme nahm der Engel Misia auf der Welt in Empfang, machte Platz für ihr Leben, zeigte sie den anderen Engeln und dem Höchsten, und seine körperlosen Lippen flüsterten: »Schaut nur, schaut, diese kleine Seele steht unter meinem Schutz.« Eine außerordentliche, engelhafte Zärtlichkeit erfüllte ihn, ein liebevolles Mitgefühl – das ist die einzige Empfindung, die Engel kennen. Denn sie haben vom Schöpfer weder Instinkte noch eigene Gefühle oder Bedürfnisse bekommen. Sonst wären sie auch keine geistigen Wesen. Das Mitgefühl ist der einzige Instinkt, den Engel haben – ein grenzenloses Mitgefühl, schwer wie das ganze Firmament.
Der Engel sah jetzt, wie die Hebamme das Kind mit warmem Wasser wusch und es mit einem weichen Tuch abtrocknete. Dann schaute er in Genowefas Augen, die vor Anstrengung gerötet waren.
Er betrachtete die Ereignisse, als seien sie Wasser, das an ihm vorbeifloss. Eigentlich interessierten sie ihn nicht und weckten in ihm keine Neugier, denn er wusste, woher und wohin sie flossen, er kannte ihren Anfang und ihr Ende. Er sah den Strom der Ereignisse, ähnliche und ganz unterschiedliche, zeitlich nah aufeinander folgende und weit auseinander liegende, auseinander hervorgegangen und voneinander unabhängig. Aber das alles war für ihn ohne Bedeutung.
Für einen Engel sind die Ereignisse wie ein Traum oder wie ein Film ohne Anfang und Ende. Sie können keinen Anteil daran nehmen, und sie haben kein Bedürfnis danach. Der Mensch lernt von der Welt, er lernt aus Ereignissen, er erfährt daraus etwas über sich und die Welt, er spiegelt sich in den Ereignissen, zieht seine Grenzen, bestimmt seine Möglichkeiten, gibt sich einen Namen. Ein Engel muss nichts aus der Außenwelt schöpfen, er erkennt alles aus sich selbst heraus, alles Wissen von der Welt und von sich trägt er bereits in sich – so hat ihn Gott geschaffen.
Ein Engel hat keinen Verstand wie die Menschen, er zieht keine Schlüsse und fällt keine Urteile. Er denkt nicht logisch. Manchen Menschen käme ein Engel vielleicht dumm vor. Aber ein Engel trägt von Anfang an die Frucht des Baumes der Erkenntnis in sich, ein reines Wissen, das allein ein einfaches Vorgefühl noch bereichern kann. Es ist ein Wissen, das von allem Denken und deshalb auch von allen Irrtümern und den damit verbundenen Ängsten frei ist, ein Wissen ohne die Vorurteile, die aus falschen Wahrnehmungen entstehen. Doch wie alle von Gott erschaffenen Dinge sind auch die Engel unstet. Das erklärt auch, warum Misias Engel so oft nicht da war, wenn er gebraucht wurde.
Wenn Misias Engel nicht da war, hatte er seinen Blick von der irdischen Welt abgewandt und auf andere Engel und andere Welten gerichtet, niedere und höhere, wie sie jedem Ding auf der Welt, jedem Tier und jeder Pflanze, eigen sind. Er sah die riesige Treppe der Lebewesen, ein sonderbares Bauwerk, in dem die Acht Welten enthalten waren, und er sah den Schöpfer, der dabei war, zu erschaffen. Doch wer jetzt meint, Misias Engel sähe das Antlitz des Herrn, der hat sich geirrt. Ein Engel sieht mehr als ein Mensch, aber nicht alles.
Wenn er mit den Gedanken aus den anderen Welten zurückkehrt, kann sich der Engel kaum auf Misias Welt konzentrieren, denn wie bei den anderen Menschen und Tieren ist auch sie dunkel und voller Leiden, wie ein trüber, ganz von Wasserlinsen überzogener See.
Das barfüßige Mädchen, dem Genowefa eine Kopeke gegeben hatte, war Ähre.
Ähre war im Juli oder August in Ur aufgetaucht. Den Namen hatte man ihr deshalb gegeben, weil sie auf den Feldern die Ähren aufsammelte, die bei der Ernte übrig geblieben waren, und sie dann über dem Feuer röstete. Im Herbst stahl sie Kartoffeln und im November, wenn die Felder ganz leer waren, saß sie in der Schenke herum. Manchmal setzte ihr jemand ein Gläschen Wodka vor, manchmal bekam sie einen Kanten Brot mit Speck. Aber die Menschen geben nicht gern etwas umsonst und in der Schenke erst recht nicht, deshalb fing Ähre an zu huren. Vom Wodka leicht beschwipst und erhitzt, ging sie mit den Männern auf den Hof hinaus und gab sich ihnen für einen Ring Wurst hin. Und da sie die Einzige in der Gegend war, die so jung und so leicht zu haben war, streiften die Männer um sie herum wie die Hunde.
Ähre war groß und schön gewachsen. Sie hatte helle Haare und eine helle Haut, der auch die Sonne nichts anhaben konnte. Sie schaute jedem dreist ins Gesicht, sogar dem Pfarrer. Ihre Augen waren grün, und eines schielte leicht. Die Männer, die mit Ähre in die Büsche gingen, fühlten sich hinterher immer etwas unwohl. Sie knöpften sich die Hose zu und kehrten mit gerötetem Gesicht in den Dunst der Schenke zurück. Ähre wollte sich nie so hinlegen, wie es sich für gottesfürchtige Leute gehört.
»Warum soll ich denn unter dir liegen?«, sagte sie. »Ich bin doch nicht schlechter als du.«
Lieber lehnte sie sich an einen Baum oder die Holzwand der Schenke und schlug sich den Rock über die Schultern. Ihr Hintern leuchtete im Dunkeln wie der Mond.
So lernte Ähre die Welt kennen.
Man kann auf zweierlei Weise lernen. Von außen und von innen. Die erste Methode gilt als die beste oder sogar einzige. Danach lernt man durch lange Reisen, Betrachtungen, Lektüre, akademische Vorträge – man lernt durch das, was sich außerhalb der eigenen Person ereignet. Der Mensch ist von Natur aus unwissend und muss sich deshalb Wissen aneignen. Er sammelt es wie eine Biene den Nektar und besitzt immer mehr davon, er nutzt und gestaltet es für seine Bedürfnisse. Aber die tiefe Unwissenheit des Menschen ändert sich dadurch nicht wirklich. Ähre lernte, indem sie sich die Dinge von außen nach innen aneignete. Das Wissen, mit dem man sich nur umhüllt, erzeugt im Menschen gar keine Veränderung oder höchstens eine scheinbare, äußerliche, so wie Kleidung, die man anlegt. Wer aber lernt, indem er in sich aufnimmt, macht einen unaufhörlichen Wandel durch, weil er das Gelernte zu seinem Wesen macht.
Dadurch, dass Ähre nun die stinkenden, schmutzigen Bauern aus Ur und Umgebung in sich aufnahm, wurde sie zu ihnen, sie war genauso betrunken wie sie, hatte dieselbe Angst vor dem Krieg wie sie und war genauso erregt wie sie. Und nicht nur das – wenn sie sie in den Büschen hinter der Schenke in sich aufnahm, nahm sie gleichzeitig ihre Frauen, ihre Kinder und ihre stickigen, stinkenden Holzhäuschen rings um den Maikäferhügel in sich auf. In gewissem Sinne nahm sie damit das ganze Dorf und jeden Schmerz und jede Hoffnung im Dorf in sich auf.
Das waren Ähres Universitäten. Und ihr Diplom war der Bauch, der immer größer wurde.
Die Freifrau Popielska erfuhr von Ähres Schicksal und ließ sie ins Schloss kommen. Sie warf einen Blick auf den großen Bauch.
»Dein Kind kann jeden Moment zur Welt kommen. Wie willst du dich ernähren? Ich bringe dir Nähen und Kochen bei. Du kannst sogar in der Wäscherei arbeiten. Wer weiß, wenn alles gut geht, kannst du das Kind vielleicht behalten.«
Als die Freifrau den fremden und schamlosen Blick des Mädchens sah, der dreist über die Bilder, Möbel und Wandbehänge wanderte, zögerte sie. Doch als dieser Blick die unschuldigen Gesichter ihrer Söhne und Tochter streifte, schlug sie einen anderen Ton an.
»Es ist unsere Pflicht, unseren Nächsten in der Not zu helfen. Aber sie müssen sich auch helfen lassen. Ich leiste solche Hilfe. Ich unterhalte ein Heim in Jeszkotle. Es ist sauber dort und sehr nett.«
Bei dem Wort »Heim« hatte Ähre aufgehorcht. Sie sah die Freifrau an. Frau Popielska wurde wieder selbstsicherer.
»Vor der Erntezeit verteile ich Kleidung und Lebensmittel. Die Leute wollen dich hier nicht haben. Du bringst Verwirrung und Sittenlosigkeit in den Ort. Dein Lebenswandel ist übel. Du musst fort von hier.«
»Ich darf also nicht da sein, wo ich will?«
»Das alles hier gehört mir. Es sind meine Ländereien und meine Wälder.«
Ähre lachte breit und entblößte dabei ihre weißen Zähne.
»Das alles gehört dir? Du armer, kleiner, magerer Köter …«
Das Gesicht der Freifrau Popielska erstarrte.
»Raus«, sagte sie ruhig.
Ähre drehte sich um, und dann hörte man ihre nackten Füße über den Steinboden klatschen.
»Du Hure«, sagte die Putzfrau im Schloss zu ihr, deren Mann ganz verrückt nach Ähre war, und dann schlug sie ihr ins Gesicht.
Als Ähre schwerfällig, aber mit wiegenden Hüften über den groben Schotter der Einfahrt ging, pfiffen ihr die Zimmerleute vom Dach nach. Da hob sie ihren Rock und zeigte ihnen ihren nackten Hintern.
Als der Park hinter ihr lag, blieb sie stehen und überlegte, wohin sie gehen sollte.
Rechts von ihr lag Jeszkotle, links der Wald. Es zog sie in den Wald. Sobald sie zwischen den Bäumen war, spürte sie, dass alles anders roch – stärker und deutlicher. Sie schlug den Weg zu dem verlassenen Haus auf dem Wydymacz ein, wo sie manchmal übernachtete. Das Haus war das einzige Überbleibsel einer abgebrannten Siedlung und war inzwischen ganz vom Wald überwuchert. Von der Schwangerschaft und der Hitze waren ihre Beine geschwollen, und sie fühlte die harten Tannenzapfen gar nicht unter den Füßen. Am Fluss spürte sie zum ersten Mal einen durchdringenden, ihrem Körper fremden Schmerz. Allmählich stieg Panik in ihr auf. ›Ich sterbe, gleich sterbe ich, denn keiner ist da, der mir helfen kann‹, dachte sie verzweifelt. Sie blieb mitten in der Schwarze stehen und wollte keinen Schritt mehr tun. Das kalte Wasser umspülte ihre Beine und ihren Unterleib. Vom Wasser aus sah sie einen Hasen, der sich schnell hinter einem Farn versteckte. Sie beneidete ihn. Sie sah einen Fisch, der zwischen die Baumwurzeln schlüpfte. Sie beneidete ihn. Sie sah eine Eidechse, die sich unter einem Stein verkroch. Sie beneidete auch sie. Wieder fühlte sie den Schmerz, diesmal war er stärker und noch durchdringender. ›Ich sterbe‹, dachte sie. ›Jetzt sterbe ich einfach. Die Wehen kommen, und keiner hilft mir.‹ Sie wollte sich in den Farn am Ufer legen, denn sie hatte das Bedürfnis nach Dunkel und Kühle, aber ihrem ganzen Körper zum Trotz ging sie weiter. Der Schmerz kam zum dritten Mal, und Ähre wusste, dass ihr jetzt nicht mehr viel Zeit blieb.
Das eingestürzte Haus auf dem Wydymacz bestand aus vier Wänden und einem Stück Dach. Drinnen lag Schutt, auf dem Brennnesseln wuchsen. Es roch feucht. Über die Wände krochen blinde Schnecken. Ähre riss große Klettenblätter ab und machte sich daraus ein Lager. Der Schmerz kam in immer ungeduldigeren Wellen. Als er unerträglich wurde, begriff Ähre, dass sie etwas tun musste, um den Schmerz aus sich herauszupressen und auf die Nessel- und Klettenblätter zu werfen. Sie biss die Zähne zusammen und begann zu pressen. ›Der Schmerz kommt da raus, wo er reingegangen ist‹, dachte Ähre und hockte sich auf den Boden. Sie hob den Rock. Sie sah nichts Besonderes – ihren Bauch und ihre Schenkel. Der Körper war immer noch ganz geschlossen. Ähre versuchte, in sich hineinzusehen, aber ihr Bauch war im Weg. Mit vor Schmerz zitternden Fingern versuchte sie die Stelle zu ertasten, durch die das Kind aus ihr herauskommen sollte. Mit den Fingerspitzen fühlte sie ihre geschwollene Scham, ihre spröden Schamhaare, aber ihr Damm spürte die Berührung ihrer Finger nicht. Ähre betastete sich wie etwas Fremdes, wie ein Ding.
Der Schmerz wurde stärker und machte sie benommen. Die Gedanken in ihrem Kopf rissen wie brüchige Leinwand. Die Worte und Begriffe zerfielen und versickerten in der Erde. Ihr vom Gebären aufgeblähter Körper übernahm jetzt die Macht. Und weil der menschliche Körper von Bildern lebt, überschwemmten sie Ähres Denken, das nur noch halb bei Bewusstsein war.
Es kam ihr vor, als gebäre sie in einer Kirche, auf dem kalten Steinboden, direkt vor dem Altar. Sie hörte das besänftigende Summen der Orgel. Dann hatte sie das Gefühl, sie selbst sei eine Orgel und spiele, sie sei voller Klänge, die sie alle zugleich hervorbringen könnte, wenn sie es wollte. Sie fühlte sich stark und allmächtig. Doch gleich darauf machte eine Fliege dieses Allmachtsgefühl zunichte, das gewöhnliche Brummen einer großen bläulichen Fliege dicht an ihrem Ohr. Der Schmerz überfiel Ähre mit neuer Wucht. »Ich sterbe, ich sterbe«, stöhnte sie. »Nein, ich sterbe nicht, ich sterbe nicht«, stöhnte sie gleich darauf. Der Schweiß verklebte ihre Lider und brannte in ihren Augen. Sie begann zu schluchzen. Sie stützte sich auf ihre Ellbogen und fing an, verzweifelt zu pressen. Und nach dieser Anstrengung verspürte sie Erleichterung. Etwas spritzte und glitt aus ihr heraus. Jetzt war sie offen. Sie fiel zurück auf die Blätter und tastete mit den Händen nach dem Kind, aber da war nur warmes Wasser. Ähre nahm alle Kraft zusammen und begann wieder zu pressen. Sie kniff ihre Augen zusammen und presste. Sie holte Luft und presste. Sie weinte und blickte nach oben. Zwischen den morschen Balken sah sie den wolkenlosen Himmel. Und dort erblickte sie ihr Kind. Das Kind rappelte sich unsicher auf und stellte sich auf die Beine. Es sah sie an wie noch nie jemand sie angesehen hatte: mit einer unermesslichen, unaussprechlichen Liebe. Es war ein Junge. Er hob einen Zweig vom Boden auf, der sich in eine kleine Ringelnatter verwandelte. Ähre war glücklich. Sie legte sich zurück auf die Blätter und sank in einen dunklen Brunnen. Ihre Gedanken kehrten wieder und zogen langsam und leichtfüßig durch ihren Kopf.
»Das Haus hat ja einen Brunnen. Und im Brunnen ist Wasser. Ich will im Brunnen wohnen, denn da ist es kühl und feucht. In dem Brunnen spielen die Kinder, die Schnecken können wieder sehen, und das Getreide reift. Damit kann ich das Kind ernähren. Wo ist das Kind?«
Sie öffnete die Augen und spürte erschrocken, dass die Zeit stehen geblieben war. Sie hatte kein Kind.
Der Schmerz kam wieder, und Ähre begann zu schreien. Sie schrie so laut, dass die Mauern des eingestürzten Hauses erzitterten, die Vögel aufflogen und die Leute, die auf den Wiesen Heu machten, die Köpfe hoben und sich bekreuzigten. Ähre musste husten und schluckte den Schrei herunter. Jetzt schrie sie nach innen, in sich hinein. Ihr Schrei war so mächtig, dass ihr Bauch sich bewegte. Ähre spürte etwas Neues und Fremdes zwischen den Beinen. Sie stützte sich auf die Hände und schaute ihrem Kind ins Gesicht. Es hatte die Augen krampfhaft zusammengekniffen. Ähre presste noch einmal, und dann war das Kind geboren. Zitternd vor Anstrengung versuchte sie, es auf den Arm zu nehmen, aber ihre Hände bekamen das Bild, das ihre Augen sahen, nicht zu fassen. Trotzdem atmete sie erleichtert auf und ließ sich ins Dunkel gleiten.
Als sie aufwachte, sah sie das Kind zusammengekrümmt und tot neben sich liegen. Sie versuchte, es sich an die Brust zu legen. Ihre Brust war größer als das Kind und so voll Leben, dass es schmerzte. Die Fliegen kreisten darum.
Den ganzen Nachmittag über versuchte Ähre, das tote Kind zum Saugen zu bewegen. Gegen Abend kam der Schmerz noch einmal wieder, und Ähre schied die Nachgeburt aus. Dann schlief sie wieder ein. Im Schlaf stillte sie ihr Kind nicht mit Milch, sondern mit Wasser aus der Schwarze. Das Kind war ein Alb, der sich auf die Brust setzt und dem Menschen das Leben aussaugt. Es wollte Blut. Ähres Traum wurde immer unruhiger und schwerer, aber sie konnte sich nicht dazu bringen aufzuwachen. Eine Frau erschien darin, sie war groß wie ein Baum. Ähre sah sie genau vor sich – jede Einzelheit ihres Gesichts, ihrer Frisur, ihrer Kleidung. Es war eine mächtige Frau. Sie hatte krauses schwarzes Haar wie eine Jüdin und ein wunderbares ausdrucksvolles Gesicht. Ähre fand sie schön. Sie begehrte sie mit ihrem ganzen schmerzenden Körper, aber es war nicht ein Begehren, wie sie es kannte, das unten aus ihrem Bauch, zwischen den Beinen aufstieg, sondern es strömte aus der Mitte ihres Körpers, aus einer Stelle über dem Bauch und nah an ihrem Herzen. Die mächtige Frau beugte sich über Ähre und streichelte ihre Wange. Ähre sah ihr aus der Nähe in die Augen und sah darin etwas, das ihr bisher ganz unbekannt gewesen war, ja sie hatte noch nicht einmal gewusst, dass es überhaupt existierte. »Du bist mein«, sagte die riesige Frau und streichelte Ähre über den Hals und die geschwollenen Brüste. Wo ihre Finger Ähre berührten, wurde ihr Körper heil und unsterblich. Ähre gab sich der Berührung Stück für Stück hin. Dann nahm die große Frau Ähre auf den Arm und drückte sie an ihre Brust. Ähres rissige Lippen fanden die Brustwarze. Sie roch nach Tierfell, Kamille und Raute. Ähre trank lange.
Dann schlug ein Blitz in ihren Traum, und plötzlich sah sie, dass sie immer noch in dem eingefallenen Haus auf den Klettenblättern lag. Ringsum war alles grau. Sie wusste nicht, ob der Morgen oder der Abend dämmerte. Zum zweiten Mal schlug ganz in der Nähe der Blitz ein, und im nächsten Moment brach ein Regenguss los, der die folgenden Donnerschläge übertönte. Das Wasser rann durch die undichten Dachbalken und wusch Blut und Schweiß von Ähre ab, kühlte ihren erhitzten Körper, tränkte und nährte sie. Ähre trank das Wasser direkt vom Himmel.
Als die Sonne wieder hervorkam, schleppte sie sich nach draußen und machte sich daran, eine Grube zu graben. Dann zog sie die verschlungenen Wurzeln aus der Erde. Die Erde war weich und gab leicht nach, als wollte sie ihr bei dem Begräbnis helfen. In die Grube legte sie die Leiche des Säuglings.
Lange glättete sie die Erde auf dem Grab, und als sie aufsah und sich umschaute, war alles anders. Das war nicht mehr die Welt, die aus Gegenständen bestand, aus Dingen, aus Erscheinungen, die nebeneinander existieren. Was Ähre jetzt sah, war zu einer unförmigen Masse geworden, einem großen Tier oder einem großen Menschen, der eine Vielzahl von Gestalten annahm, um zu knospen, zu sterben und wieder geboren zu werden. Alles um Ähre herum war ein Körper, und ihr Körper war Teil dieses großen Körpers, der riesig, allgewaltig und unvorstellbar mächtig war. In jeder Bewegung, in jedem Klang trat seine Macht hervor, die durch bloßen Willen etwas aus dem Nichts erschafft und etwas in Nichts verwandelt.
Ähre wurde es schwindlig, und sie lehnte sich mit dem Rücken an die brüchige Mauer. Allein das Schauen machte betrunken wie Wodka, verwirrte ihr die Gedanken und ließ in ihrem Bauch ein Lachen aufsteigen. Dabei schien alles so wie immer: Hinter der kleinen grünen Wiese, durch die ein Sandweg führte, erhob sich der von Haselbüschen gesäumte Kiefernwald. Ein leichter Wind bewegte die Gräser und Blätter, irgendwo zirpte eine Grille, und die Fliegen summten. Sonst nichts. Doch Ähre sah jetzt, wie die Grille mit dem Himmel verknüpft war, und was die Haselbüsche an den Waldpfad band. Aber das war nicht alles. Sie sah die Kraft, die alles durchdringt, sie verstand ihr Wirken. Sie sah die Schatten anderer Welten und anderer Zeiten, die über und unter der unseren ausgebreitet sind. Sie sah auch Dinge, die man nicht mit Worten benennen kann.
Der Böse Mann war bereits vor dem Krieg in den Wäldern von Ur aufgetaucht, doch jemand wie er hätte eigentlich schon immer dort im Wald hausen können.
Zuerst wurde im Frühling in Wodenicy der halb verweste Körper von Bronek Malak gefunden, von dem alle dachten, er sei nach Amerika gefahren. Aus Taszów kam die Polizei, untersuchte die Stelle und nahm die Leiche auf einem Karren mit. Die Polizisten kehrten noch einmal nach Ur zurück, aber sie kamen zu keinem Ergebnis. Der Mörder wurde nicht gefunden. Dann faselte einer etwas davon, dass er im Wald einen Fremden gesehen hatte. Nackt und behaart wie ein Affe. Zwischen den Bäumen sei er davongehuscht. Da fiel auch anderen ein, dass sie im Wald auf sonderbare Spuren gestoßen waren – eine offene Grube, Fußspuren auf einem Sandpfad, Tierleichen, die herumlagen. Jemand hatte im Wald ein schreckliches Heulen gehört, ein halb menschliches, halb tierisches Jaulen.
Und dann begannen die Leute zu erzählen, woher der Böse Mann kam. Bevor der Böse Mann nämlich zum Bösen Mann wurde, war er ein ganz gewöhnlicher Bauer, der ein schreckliches Verbrechen beging. Was für ein Verbrechen es war, wusste allerdings niemand genau.
Ganz gleich, was er sich hatte zu Schulden kommen lassen, ihn plagte das schlechte Gewissen und ließ ihn nicht mehr schlafen. Die Stimme des Gewissens setzte ihm so zu, dass er vor sich selbst davonlief, bis er im Wald Zuflucht und Ruhe fand. Er trieb sich im Wald herum, und schließlich verirrte er sich. Er hatte das Gefühl, die Sonne tanze am Himmel, und dadurch verlor er jede Orientierung. Er dachte, der Weg nach Norden würde ihn bestimmt irgendwohin führen. Aber dann bekam er Zweifel an dem Weg nach Norden und wandte sich nach Osten, weil er glaubte, im Osten komme er ans Ende des Waldes. Aber als er nach Osten ging, überkamen ihn wieder Zweifel. Verwirrt und orientierungslos blieb er stehen. Er änderte seinen Plan und beschloss, nach Süden zu gehen, aber auch an diesem Weg zweifelte er bald und machte sich stattdessen in Richtung Westen auf. Da stellte er fest, dass er wieder an der Stelle angelangt war, wo er losgegangen war – mitten in dem großen Wald. Am vierten Tag nun zweifelte er an seiner Fähigkeit, die Himmelsrichtungen zu bestimmen. Am fünften Tag hörte er auf, seinem Verstand zu trauen. Am sechsten Tag vergaß er, woher er stammte und warum er in den Wald gekommen war, und am siebten Tag vergaß er seinen Namen.
Von dieser Zeit an wurde er den Tieren im Wald immer ähnlicher. Er ernährte sich von Beeren und Pilzen, dann begann er kleine Tiere zu erjagen. Mit jedem neuen Tag trübte sich ein weiterer Teil seiner Erinnerung, und der Verstand des Bösen Mannes wurde immer flacher. Er vergaß die Worte, weil er sie nicht mehr benutzte. Er vergaß, wie man abends betet. Er vergaß, wie man ein Feuer anzündet und wozu man es nutzt. Wie man den Überrock zuknöpft und die Schuhe schnürt. Er vergaß alle Lieder, die er aus seiner Kindheit kannte, und seine ganze Kindheit. Er vergaß die Gesichter seiner Angehörigen, seiner Mutter, seiner Frau und seiner Kinder, er vergaß, wie Käse schmeckt und gebratenes Fleisch, Kartoffeln und saure Mehlsuppe.
Dieses Vergessen zog sich über viele Jahre hin, und schließlich hatte der Böse Mann keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem Mann, der in den Wald gekommen war. Der Böse Mann war nicht er selbst, und er vergaß, was es hieß, man selbst zu sein. Am ganzen Körper wuchsen ihm dichte, borstige Haare, und von dem rohen Fleisch, das er aß, wurden seine Zähne stark und weiß wie Tierzähne. Seine Kehle brachte jetzt heisere Laute und Krächzen hervor.
Eines Tages erblickte der Böse Mann im Wald einen Alten, der Reisig sammelte, und er fühlte, dass das menschliche Wesen ihm fremd und sogar zuwider war, deshalb rannte er zu dem Alten und schlug ihn tot. Ein anderes Mal stürzte er sich auf einen Bauern, der auf einem Fuhrwerk daherkam. Er erschlug ihn und das Pferd. Das Pferd verschlang er, aber den Menschen rührte er nicht an – ein toter Mensch war noch Ekel erregender als ein lebender. Dann tötete er Bronek Malak.
Einmal geriet der Böse Mann zufällig an den Waldrand und warf einen Blick auf Ur. Der Anblick der Häuser weckte ein unbestimmtes Gefühl in ihm, in dem sich Kummer und Zorn mischten. Damals hörte man im Dorf sein schreckliches Aufjaulen, das wie Wolfsgeheul klang. Der Böse Mann blieb eine Weile am Waldrand stehen, dann wandte er sich um und ließ sich unsicher auf alle viere nieder. Verblüfft stellte er fest, dass er sich so nicht nur bequemer, sondern auch schneller fortbewegen konnte. Seine Augen waren jetzt näher am Erdboden, und er konnte mehr und schärfer sehen. Sein Geruchssinn, der noch schwach ausgebildet war, nahm jetzt die Gerüche der Erde besser auf. Ein einziger Wald war besser als alle Dörfer, als alle Wege und Stege, Städte und Türme, und der Böse Mann kehrte für immer in den Wald zurück.
Der Krieg brachte die Welt ganz aus den Fugen. In Przyjmy brannte der Wald ab, die Kosaken erschossen den Sohn der Cherubins, es fehlten die Männer, niemand war da, um die Ernte einzuholen, und es gab nichts zu essen.
Der Freiherr Popielski aus Jeszkotle packte seine Habe auf ein Fuhrwerk und verschwand für ein paar Monate. Dann kam er wieder. Die Kosaken hatten ihm Haus und Keller geplündert. Sie hatten die hundertjährigen Weine auf getrunken. Der alte Boski, der sie dabei gesehen hatte, erzählte, ein Wein sei so alt gewesen, dass sie ihn wie Gelee mit den Bajonetten geschnitten hätten.
Genowefa hielt die Mühle in Betrieb, solange noch etwas zum Mahlen da war. Sie stand im Morgengrauen auf und sah überall nach dem Rechten. Sie passte auf, dass keiner zu spät zur Arbeit kam. Wenn dann alles im üblichen lärmenden Rhythmus lief, fühlte Genowefa eine plötzliche Woge der Erleichterung, die warm wie Milch in ihr aufstieg. Sie ging ins Haus zurück und bereitete das Frühstück für Misia, die noch schlief.
Im Frühling neunzehnhundertsiebzehn blieb die Mühle stehen. Es gab nichts mehr zu mahlen – die Leute hatten alle Kornvorräte aufgegessen. In Ur vermisste man das vertraute Geräusch. Die Mühle war der Motor, der die Welt antrieb, die Maschinerie, die alles in Bewegung hielt. Jetzt hörte man nur noch das Rauschen des Flusses, dessen Kraft nun verschwendet war. Genowefa ging durch die leere Mühle und weinte. Wie ein Geist wanderte sie umher, eine weiße, mehlbestäubte Dame. Abends saß sie auf den Stufen vor dem Haus und betrachtete die Mühle. Nachts träumte sie von ihr. In ihren Träumen war die Mühle ein Schiff mit weißen Segeln, wie sie es in Büchern gesehen hatte. In seinem hölzernen Bauch hatte es riesige, mit Schmieröl gefettete Kolben, die auf- und niedergingen. Es schnaubte und keuchte. Aus dem Inneren des Schiffsleibs schlug die Hitze. Genowefa spürte ein körperliches Verlangen. Schweißgebadet und unruhig wachte sie aus solchen Träumen auf. Sie stand auf, wenn es schon hell war, setzte sich an den Tisch und stickte an ihrem Wandbehang.
Während der Choleraepidemie im Jahr neunzehnhundertachtzehn, als die Grenzen der Dörfer aufgepflügt wurden, kam Ähre in die Mühle. Genowefa sah sie umherstreifen und in die Fenster blicken. Sie sah ausgemergelt aus. Sie war mager und wirkte sehr groß. Ihre hellen Haare waren grau geworden und bedeckten ihre Schultern wie ein schmutziges Tuch. Ihre Kleidung war zerrissen.
Genowefa beobachtete sie aus dem Fenster, doch als Ähre hineinsah, trat sie beiseite. Sie hatte Angst vor Ähre. Alle hatten Angst vor ihr. Sie war verrückt, vielleicht auch krank. Sie redete wirres Zeug und fluchte. Als sie jetzt so um die Mühle herumschlich, sah sie aus wie eine hungrige Hündin.
Genowefa warf einen Blick auf das Bild von der Muttergottes von Jeszkotle, bekreuzigte sich und ging hinaus.
Ähre wandte sich zu ihr, und Genowefa überlief ein Schauder. Ähre hatte einen Furcht erregenden Blick.
»Lass mich in die Mühle«, sagte sie.
Genowefa ging ins Haus zurück und holte den Schlüssel. Wortlos öffnete sie die Tür.
Ähre trat vor ihr in den kühlen Schatten, sie ließ sich sofort auf die Knie fallen, um die einzelnen verstreuten Körner und die Staubhäufchen aufzusammeln, die einst Mehl gewesen waren. Mit ihren mageren Fingern las sie die Körner auf und steckte sie sich in den Mund.
Genowefa folgte ihr auf dem Fuß. Ähres gebückter Körper sah von oben aus wie ein Haufen Lumpen. Als sie sich an den Körnern satt gegessen hatte, setzte sie sich auf den Boden und begann zu weinen. Die Tränen strömten ihr über das schmutzige Gesicht. Sie hatte die Augen geschlossen und lächelte. Genowefa schnürte es die Kehle zu. Wo wohnte sie? Hatte sie irgendwelche Angehörigen? Was machte sie an Weihnachten? Wie ernährte sie sich? Sie sah, wie zerbrechlich ihr Körper geworden war, und sie erinnerte sich daran, wie Ähre vor dem Krieg ausgesehen hatte. Sie war ein schönes, gut gebautes Mädchen gewesen. Dann fiel Genowefas Blick auf Ähres bloße, zerkratzte Füße, deren Zehennägel stark wie Tierkrallen waren. Sie streckte die Hand nach den grauen Haaren aus. Da hob Ähre den Blick und sah Genowefa direkt in die Augen, oder besser gesagt direkt in ihre Seele, mitten hinein. Genowefa zog die Hand zurück. Das waren nicht die Augen eines Menschen. Sie lief auf den Hof hinaus und sah erleichtert ihr Haus, die Malven, Misias Kleidchen zwischen den Stachelbeerbüschen, die Gardinen. Sie holte einen Laib Brot aus dem Haus und ging zur Mühle zurück.
Ähre trat aus der Dunkelheit des offenen Tores, ihr Bündel hatte sie mit Körnern gefüllt. Ihr Blick fiel auf etwas, das sich hinter Genowefas Rücken befand, und ihr Gesicht hellte sich auf.
»Mein Herzchen«, sagte sie zu Misia, die an den Zaun gekommen war.
»Was ist aus deinem Kind geworden?«
»Gestorben.«
Genowefa hielt ihr das Brot auf der ausgestreckten Hand hin, aber Ähre trat ganz dicht heran, und als sie das Brot nahm, drückte sie ihre Lippen auf Genowefas Mund. Genowefa fuhr zurück und machte einen Satz zur Seite. Ähre lachte. Sie steckte das Brot in ihr Bündel. Misia begann zu weinen.
»Weine nicht, mein Herzchen, dein Papa ist schon auf dem Weg zu dir«, murmelte Ähre und ging in Richtung Dorf davon.
Genowefa rieb sich mit der Schürze die Lippen, bis sie ganz dunkelrot waren.
An diesem Abend konnte sie kaum einschlafen. Ähre konnte sich nicht irren. Sie sah die Zukunft voraus, das wusste jeder.
Vom nächsten Tag an wartete Genowefa. Aber nicht so wie bisher. Jetzt wartete sie stündlich auf ihn. Sie steckte die Kartoffeln unter das Federbett, damit sie länger warm blieben. Sie bezog das Bett. Sie goss Wasser in die Rasierschüssel. Sie legte Michałs Kleider auf dem Stuhl bereit. Sie wartete auf ihn, als sei er nach Jeszkotle gegangen, um Tabak zu holen, und komme gleich zurück.
So wartete sie den ganzen Sommer, den Herbst und den Winter. Sie entfernte sich nicht vom Haus, sie ging nicht in die Kirche. Im Februar kam der Freiherr Popielski zurück, und es gab wieder Arbeit für die Mühle. Woher er das Korn nahm, wusste sie nicht. Er gab den Bauern auch Saatkörner auf Kredit. Bei den Serafins wurde ein Kind geboren, ein Mädchen, was alle als ein Zeichen dafür ansahen, dass das Ende des Krieges nahe war.