BIRGIT SCHULER

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FRAU NABEL UND DIE SPURENSUCHER

Frau Nabel und die Schnecken – eine (un)gewöhnliche Frau stellt sich vor

Die zersägte Bank

Blattschuss im Gemüsebeet

Da ist was im Busch!

Sachverschönerung?

Der Weihnachtsdieb

Der Schatz von Friedenkirchen

Frau Nabel verreist

Zur Erinnerung an meine Urgroßtante Barbara Hirt Tante Bette – ich glaube, Frau Nabel würde dir gefallen.

Frau Nabel und die Schnecken – eine (un)gewöhnliche Frau stellt sich vor

An einem schönen Sommermorgen kniete Bernadette Nabel, 78 Jahre jung, um 6 Uhr in der Früh in ihrem Salatbeet und sammelte Schnecken in eine große Schüssel. Vorsichtig nahm sie jedes Tier hoch und setzte es genauso vorsichtig in dem Plastikgefäß ab. Dabei sprach sie leise und in beruhigendem Tonfall zu jeder einzelnen Schnecke. Merkwürdigerweise rollten sich die meisten Tiere nicht, wie gewöhnlich, in sich zusammen, sondern schienen die alte Dame mit ihren Stielaugen anzusehen und ihr aufmerksam zuzuhören. Es gab gar nicht so viele Schnecken in Frau Nabels Salatbeet. Und so stand die alte Dame schon recht bald auf, nahm die Schüssel und trug sie den Kiesweg entlang. Sie passierte Gemüsebeete, Kräutergarten, Blumengarten, Obstwiese, bis sie schließlich in eine vor sich hin wuchernde Wildnis, bestehend aus Büschen, Bäumen und Rasen, trat. Dort standen auch zwei Komposthaufen und bei einem davon setzte Frau Nabel die Schnecken wieder aus. Schnecken mögen Blätter, die nicht mehr ganz frisch sind.

„So, hier könnt ihr bleiben“, sagte sie mit warmer Stimme zu den Tieren, „hier ist euer Reich!“

Einen Moment sah sie zu, wie die Schnecken sich in ihrer neuen Umgebung orientierten, dann machte sie sich auf den Weg zurück zu ihrem kleinen Häuschen. Dabei rieb sie Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand aneinander, um den Schneckenschleim abzurubbeln. Nie wäre Bernadette Nabel in den Sinn gekommen, einem Tier etwas zuleide zu tun oder in ihrem Garten Gift zu spritzen. Seit vielen Jahren lebte sie in trauter Gemeinschaft mit all den winzigen und auch größeren Wesen ihrer Umgebung und es hatte sich so ein natürliches Gleichgewicht eingestellt. Auch die Schnecken hatten über Jahre auf geheimnisvolle Weise verstanden, wo ihr Platz war, und nur selten fanden sich, wie heute, einige davon in Frau Nabels Salat. Warum das so war, darüber machte sich die alte Dame wenige Gedanken – es schien einfach ganz normal!

Im Haus wusch Bernadette die Schüssel aus, kochte sich Wasser für ihren Kaffee und setzte sich dann gemütlich vor das Fenster, von dem sie einen Blick auf die Straße hatte. Eine ganze Weile blätterte sie in der Zeitung, dann sah sie aus dem Augenwinkel Toby, den zehnjährigen Nachbarssohn, mit seiner Schultasche zur Bushaltestelle laufen. Im Vorbeigehen hob er lässig die Hand in Frau Nabels Richtung und Frau Nabel winkte genauso freundlich zurück und fuhr sich dann unwillkürlich mit der Hand durch die Haare. Erst kürzlich war sie beim Friseur gewesen und hatte sich ihre lange füllige, aber etwas eigenwillige Pracht, die sie immer zu einem festen Knoten gesteckt hatte, abschneiden lassen. Das Ergebnis war nicht unbedingt das, was Frau Nabel angestrebt hatte: Etwas wirr und unbändig standen ihr die weißen Haare nun vom Kopf ab. So war sie in etwas gedrückter Stimmung vom Friseur gekommen und hatte prompt Toby, der eigentlich Tobias hieß, getroffen.

„Oh“, hatte er nur gesagt und sie angestarrt.

„Ja, ich weiß“, hatte sie geanwortet. „Der Kopfgärtner hat mich wohl ziemlich verunstaltet, was?“

„Na ja“, hatte Toby zögerlich erwidert und nach Worten gesucht. Aber nachdem sie ihm aufmunternd zugenickt und ihn aufgefordert hatte, nur ehrlich seine Meinung zu sagen, hatte er ihr trocken zur Antwort gegeben: „Sieht aus wie ein geplatztes Sofakissen.“

Frau Nabel hatte es gelassen genommen und zu Hause einen alten Haarreif aus der Kommode rausgekramt und ihn in die wirren Locken geschoben. Dieser kleine Vorfall kam ihr nun in den Sinn und ließ sie ein wenig vor sich hin schmunzeln.

Frau Nabel und Toby verstanden sich gut. Auch wenn seine Freunde ihn manchmal fragten, warum er immer zu der Alten gehe. Er sagte dann, Frau Nabel sei nicht alt, nur zu früh geboren. Manchmal hatte er auch schon einen Freund zu ihr mitgenommen. Und danach hatte keiner von ihnen mehr Witze über sie gemacht, denn Frau Nabel konnte tolle Sachen erzählen und mit ihr konnte man jede Menge Spaß haben.

Tobias teilte auch Frau Nabels Liebe zu den Schnecken. Er verstand überhaupt nicht, dass so viele Leute sie nicht mochten. Sollten sie doch ihren Teil aus dem Garten haben, schließlich war das auch ihr Lebensraum und nicht nur der von den Menschen. Die Schnecken hatten doch genauso das Recht, hier zu sein, und ihren Platz auf dieser Welt. Und außerdem waren Schnecken unheimlich interessant. Und Tobias sagte das auch jedem, egal, ob er’s hören wollte oder nicht. Leider machten viele Leute Witze darüber oder reagierten mit Kopfschütteln. Aber Toby wusste es besser!

Eines Nachmittags war er bei Frau Nabel gewesen und hatte ihr ein wenig im Garten geholfen und sich so ein paar Euro verdient. Und damals hatte er dann so ganz nebenbei viel über die kriechenden Gartenbewohner erfahren. So wusste er jetzt zum Beispiel, dass es unheimlich viele verschiedene Arten von Schnecken auf der Erde gibt. Ganz, ganz winzige, die man kaum mit dem Auge sehen kann, und auch große, die sogar bis zu 75 cm lang sind, welche mit und welche ohne Häuser – aber das hatte er natürlich schon gewusst.

Schnecken sind alle langsam, aber das ist nicht unbedingt ein Nachteil. Das wusste Tobias aus eigener Erfahrung, war er doch im letzten Jahr zu schnell mit dem Fahrrad gefahren und in einen Bauzaun gerauscht. Danach hatte er ins Krankenhaus gemusst und der Arm war wochenlang in Gips gekommen. Das hatte ziemlich wehgetan – und an die dummen Bemerkungen seiner Schulkameraden wollte Tobias schon gar nicht denken. Und der unfreundliche Nachbar, der zwei Häuser weiter wohnte und der nach Tobias Meinung zum Lachen in den Keller ging, hatte ihm groß und breit die Verkehrsregeln erklärt. Als wüsste er das alles nicht selbst!

Also, die Schnecken fand Tobias toll. Seitdem hatte er sich viel mit ihnen befasst und sie genau beobachtet. Er unterhielt sich gern mit Frau Nabel über die Tiere. Er wusste, dass man die Unterseite des Schneckenkörpers Sohle und den sichtbaren Körper, abgesehen vom Kopf, Fuß nennt – weil er eben ein bisschen wie ein Fuß aussieht und die Schnecke sich mit ihm fortbewegt. Schnecken bestehen also aus einem Kopf und einem Fuß. Die Augen einer Schnecke befinden sich vorne an den Stielen. Außerdem befinden sich vorn am Kopf noch zwei Fühler. Also insgesamt vier Fühler, zwei davon mit Augen. Das ist praktisch, sie können nämlich so die Augen viel besser bewegen als wir. Trotzdem können sie nicht so gut sehen. Sie verlassen sich vor allem auf ihre Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinne. Schnecken kriechen auf einem Schleimteppich, den sie selbst produzieren, deshalb sind sie auch so schleimig, das schützt sie vor Verletzungen. Der Schleim ist aber gar nicht so schlimm, wenn man sich mal getraut hat, ihn anzufassen. Man kann ihn zwischen den Fingern trocken rubbeln, dann geht er auch ganz leicht wieder ab. Mit Wasser funktioniert das nämlich nicht. Ganz toll sind die Zähne. Schnecken haben nämlich direkt an der Zunge unheimlich viele Zähne, mit denen sie ihre Nahrung raspeln. Wenn Schnecken Angst haben, dann ziehen sie sich in ihr Schneckenhaus zurück, falls sie eines haben. Ansonsten rollen sie sich zusammen. Die Schnecken können ihr Haus sogar verschließen – mit Schleim, na klar, mit was sonst. Viele Schnecken fressen Pflanzen, aber sie fressen oft auch Fleisch, Reste von toten Tieren zum Beispiel. Wenn Schnecken sich nicht wohlfühlen, wenn sie nicht genügend Nahrung finden oder das Wetter zu schlecht ist, dann schlafen sie sehr tief, so ähnlich wie in einem Winterschlaf. Dabei schlägt ihr Herz ganz langsam und sie verbrauchen nur wenig Sauerstoff. So können sie schlechte Zeiten überstehen. Das alles hatte Frau Nabel ihm erzählt.

„Die sind ganz schön anpassungsfähig“, hatte Toby gestaunt. „Ja, viel besser als wir Menschen“, hatte Frau Nabel geantwortet. Und sie hatten beide ein Gefühl von Hochachtung für die kleinen Kriechtiere verspürt.

Und seit Tobias so viel über Schnecken wusste, hatte er auch geholfen, sie zu beschützen. Zum Beispiel hob er immer Schnecken von der Straße auf, ganz vorsichtig, und setzte sie irgendwo aus, wo sie nicht in Gefahr waren, von einem Auto überfahren oder von einem Fußgänger zertreten zu werden. Außerdem bezeichnete er sich seit Neuestem als „Schneckenexperte“ und sammelte in den Gärten der Nachbarn Schnecken aus dem Gemüsegarten, trug sie dorthin, wo sie keinen Schaden anrichten konnten, und legte ihnen ein paar Blätter hin. Salatblätter, die seine Mutter aussortiert hatte, weil sie nicht mehr so schön waren zum Beispiel – natürlich nur von ungespritztem Salat –, solche essen Schnecken nämlich am liebsten, diese sind ihnen viel lieber als die ganz frischen. Manchmal brachte er ihnen auch ein Stück Champignon mit. Und beobachtete, wie die Schnecken erst daran rochen und sich dabei ihre Fühler aufgeregt in alle Richtungen bewegen.

Toby hatte natürlich noch andere Freunde in seinem Alter hier am Ort. Die Kinder lebten gern hier mitten in der Natur. Es gab jede Menge Abenteuerspielplätze in der Gegend: Große Gärten mit all ihren Bewohnern, Wildbäche, durch die man waten konnte, alte halbverfallene Scheunen, Wiesen mit Obstbäumen, auf die man klettern und wo man im Winter Schlitten fahren konnte, und dann noch die Umgebung der alten Burg mit dem sagenumwitterten Turm.

Friedenkirchen lag bzw. liegt in einer Senke zwischen Hügeln und Wäldern, es gab (und gibt immer noch) nur ein paar wenige Straßen, einen Tante-Emma-Laden, der aus einem Zimmer im Haus von Frau Wirth bestand. Hier konnte man das Allernötigste kaufen. Und was es nicht gab, konnte man fast immer bestellen. Der Laden diente den Bewohnern Friedenkirchens aber nicht nur dazu, ihre Vorräte aufzufüllen und ihre Brötchen zu kaufen, sondern vor allem dazu, Neuigkeiten aus der Umgebung auszutauschen. Und so etwas ist unglaublich wichtig für die Menschen in einem kleinen Dorf.

Es gab (und gibt immer noch) sogar einen winzigen Dorfplatz mit einer alten Eiche, einem Dorfbrunnen, einer Bushaltestelle mit Bank und einer alten, zugegebenermaßen sehr kleinen Kirche, nebst Pfarrhaus und dem kleinen alten Friedhof, die etwas höher lagen.

Und dann gab es, und gibt es wohl noch, die alte Burg. Sie liegt etwas abseits vom Dorf auf einem Hügel in einer kleinen Waldlichtung. Nur ein Feldweg führt hinauf. Die Bewohner, eine reiche Unternehmerfamilie – Zugezogene –, hielten sich genauso abseits vom Dorfleben wie ihre Burg. Natürlich führte das immer wieder zu wilden Spekulationen und zu reichlich Nahrung für Erzählungen, Mutmaßungen und Gerüchten. Wie es halt so ist!

Auch Bernadette Nabel war eigentlich eine Zugezogene. Allerdings wohnte sie schon sehr lange im Dorf, sodass sie inzwischen dazugehörte und sich selbst zu den Einheimischen zählte. Früher hatte sie in einem Antiquitätenladen ihren Lebensunterhalt verdient und dort alte Möbel, Bücher, Gemälde und auch manchmal Schmuck verkauft. Sie hatte diese Arbeit in dem kleinen Laden in der Nähe der Bad Emser Promenade geliebt. Liebevoll hatte sie jedes einzelne Stück verwaltet und gepflegt – abgestaubt, zurechtgerückt und die Kunden, oft Kurgäste, mit Fachverstand und noch mehr Herz bedient und beraten.

Ebenfalls zugezogen war Herr Singer, der weiter unten an der Hauptstraße wohnte. Herr Singer war früher Lehrer gewesen und stammte aus dem Schwabenland. Aber von dort war er, damals mit seiner jungen Ehefrau, schon zu Beginn seiner schulischen Laufbahn fortgezogen, ebenfalls in die Bad Emser Gegend. Als seine Frau Elisabeth jedoch unerwartet gestorben war, hatte er sich nach Friedenkirchen zurückgezogen. Und erst dort hatten sich der stille Witwer und die quirlige unverheiratete Frau Nabel kennengelernt und mit der Zeit angefreundet. Nun war Herr Singer – mit Vornamen Albert – längst pensioniert, und so hatte er sein einstiges Hobby ausgebaut: Er fertigte Holzarbeiten mit Verzierungen und schnitzte wundervolle Holzfiguren, die er manchmal sogar an Feriengäste verkaufte.

Darüber hinaus verschönerte er das Dorf mit seinen Werken: hier eine Gartenfigur, dort ein Zierstück für ein Haus, eine Gartenbank oder ein verziertes Gartentor.

Sein größter Auftrag war die Herstellung einer Krippe mit Figuren für die Kirche gewesen, die an jedem Weihnachtsfest neben dem Altar aufgestellt wurde. Und die alte Bank an der Bushaltestelle hatte er erst kürzlich mit vielen Schnitzereien versehen, sodass diese eine Zierde war, die jedem Besucher von Friedenkirchen sogleich ins Auge fiel, wenn er aus dem Bus ausstieg. Und in der Mitte prangte, für immer in der oberen Leiste der Rückenlehne verewigt, das Antlitz einer wunderschönen Frau: Elisabeth.

Natürlich gab und gibt es noch viele andere Menschen in und um Friedenkirchen. Und im Sommer kamen und kommen auch noch die Touristen dazu. Sie kommen hierher, weil die Gegend so schön und die Luft so gut ist, und so hatte sich im Laufe der Zeit eine kleine Feriensiedlung am Rande des Orts erschlossen. Es ist ein ruhiger und etwas abgelegener Ort – aber langweilig ist es in Friedenkirchen nicht …