»Ich nehme wahr, dass Unruhe entsteht, nehme wahr, dass die CDU/CSUler Bemerkungen in Richtung Redepult schreien – ohne den Inhalt dieser Zwischenrufe akustisch verstehen zu können –, sehe, wie sich ein schmieriges Grinsen von Mund zu Mund weiter fortpflanzt, spüre meine eigene Stimme lauter, schriller werden, gegen diesen Lärm anschreien … Ich will meine Stimme hören, will wahrnehmen, was ich sage. Der Geräuschpegel im Saal in den Rängen der CDU/CSU nimmt traumatische Höhen an. […] Da sitzen diese beschlipsten Macht- und Würdenträger vor dir, benehmen sich wie pubertierende Jünglinge, schlagen sich auf die Schenkel, als die Rede auf Vergewaltigung in der Ehe kommt … Vor meinem geistigen Auge läuft ein anderer Film ab: Misshandelte Frauen mit kleinen Kindern an der Hand suchen Schutz in Frauenhäusern … Alltägliche Erfahrungen von Frauenhausfrauen … Und dann dieser Ansturm von Unverschämtheit und Aggression mir gegenüber […] Absurdes Theater – leider hatte ich selbst eine Rolle in diesem Stück.«
So erlebt Gaby Potthast, Abgeordnete der Grünen, ihre Rede vor dem Deutschen Bundestag am 30. März 1983, in der sie die Einrichtung eines Frauenausschusses forderte und das Ende der Diskriminierung von Frauen.
Tatsächlich sieht man – schaut man sich ihre Rede im Archiv an – grölende, feixende und dazwischenrufende Männer, die sich gegen den Auftritt dieser Frau wehren, einer Frau, deren Erscheinung, Stimme und Anklage sie nicht gewohnt sind. Gaby Potthast adressiert ihre Rede nicht nur an die »Damen und Herren« und die »Freundinnen und Freunde«, sondern sie schließt ihre Anrede mit »Liebe Frauen!« ab. Dabei sieht sie zur Besuchertribüne hoch, wo an diesem Tag vor allem Frauen sitzen. Mit dieser Anrede hat sie – überwiegend in den Augen der konservativen Abgeordneten von CDU/CSU – den ersten Fauxpas begangen. »Und die Männer?«, ruft einer von ihnen dazwischen.
Von diesem Augenblick an hört das Störfeuer der Männer, das Drangsalieren und Reviergeheul, nicht auf. Die Frau soll zum Schweigen gebracht werden. Die Frau soll nicht sagen dürfen, was sie zu sagen hat. Wenn Frau im Parlament spricht, soll sie sprechen, wie Männer sprechen. Sie soll nicht als Frau auffallen, sie soll sich einordnen, sie soll sprechend schweigen. Kein Wort soll fallen von Diskriminierung, Gewalt oder gar Vergewaltigung in der Ehe oder fehlender Chancengleichheit.
Der Einzug der Grünen, insbesondere der grünen Frauen, ins Parlament ist 1983 für viele Abgeordnete, aber auch für viele Bürger eine Provokation. Diese frauenbewegten Frauen fordern das Ende der Bescheidenheit, sie zeigen sich als Frauen, wollen aber nicht auf ihr Frausein reduziert werden. Sie wollen gehört, aber nicht verhört werden. Sie tragen keine Uniform der Macht, sind aber keineswegs machtlos. Ihre Kleidung stört die ritualisierte textile Einmütigkeit, ihre Jeans, ihre Röcke, die Blusen und Pullover erzählen nicht von Allmacht, sondern Alltag. Diese Frauen sprechen von sexueller Selbstbestimmung und Sexismus und wollen nicht als Sexobjekte behandelt werden. Sie tragen ihr Leben und das Leben der anderen ins Parlament und verstehen sich selbst als Stimme der Frauenmehrheit im Land. »Obwohl Frauen über 53 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen, sind sie in diesem politischen Entscheidungsgremium – sprich: Bundestag – mit knapp zehn Prozent vertreten«, so Gaby Potthast in ihrer Rede. Das Zischeln und akustische Zähnezeigen der Männer wird wieder stärker; Annemarie Renger, die Parlamentspräsidentin, mahnt mit der Glocke Ruhe an, die Grünen-Politikerin spricht weiter: »Das allerdings drastische Missverhältnis von insgesamt zehn Prozent Entscheidungsträgerinnen im Bundestag zu einem Frauenanteil von 53 Prozent in der Gesamtbevölkerung kann wohl kaum im Sinne der vier Mütter des Grundgesetzes gewesen sein.«
Zuruf von der CDU/CSU: »Frau Oberlehrer!«
Das antike Gemeinwesen, die Polis, kannte kein Wahl- oder Mitspracherecht der Frau. Eine Frau, die in der Öffentlichkeit ihre Stimme erhob, hätte als ehrlos oder wahnsinnig gegolten. Nur der freie Mann besaß die öffentliche Stimme, wurde durch sie erst zum Mann und freien Bürger, zum sozialen Wesen, das sich in den Chor der Demokratie einbrachte. Die Frau war unmündig, sie hatte ihre Zunge im Zaum zu halten und stand unter der Vormundschaft des Vaters oder ihres Mannes. Hannah Arendt schreibt über die politische Sphäre der Polis: »Der politisch-öffentliche Bereich ist dann der weltlich sichtbare Ort, an dem Freiheit sich manifestieren, in Worten, Taten, Ereignissen wirklich werden kann, die ihrerseits in das Gedächtnis der Menschen eingehen und geschichtlich werden.« Ohne so eine Sphäre, schreibt Arendt, könne sich Freiheit nicht zeigen, sich nicht herausbilden und in all ihren Manifestationen auch nicht erinnert werden. Übertragen wir das auf die Geschichte des Bundestages seit 1949, war das Parlament – der »Erscheinungsraum der Freiheit« – sicher ein Ort der Freiheit, ein Ort, wo sich politischer Wille manifestierte, wo frei gesprochen und gehandelt wurde, wo aber doch für lange Zeit die jahrtausendealte Unfreiheit der Frau erhalten und durch ihre überwiegende Abwesenheit, Unsichtbarkeit und Unhörbarkeit offenkundig blieb.
Liselotte Funcke, die große Parlamentarierin der FDP, die 1961 in den Bundestag einzog, erklärte sich diese fortbestehende Unfreiheit durch das verloren gegangene Machtmonopol des Mannes, der über Jahrtausende mit der Waffe in der Hand den Hüter des Hauses und den Beschützer der Familie gegeben, aber diese Identitäts- und Existenzrolle durch zwei Weltkriege nun verloren habe. Die Massenvernichtungswaffen, die Bombenkriege hätten die Ohnmacht des Mannes als Schutzpatron der Familie offenkundig gemacht und ihn vor der Frau bloßgestellt. Funcke schreibt am 18. Februar 1970 an eine Studentin: »Heute erkennt der Mann, dass er den Schutz nicht mehr garantieren kann und dass die Frau beruflich Gleiches zu leisten vermag. Das macht ihn unsicher. Die Unsicherheit versucht er zu überspielen, indem er männliche Reservate wie z.B. die Politik retten will.«
Potthast und die anderen grünen Politikerinnen störten die Ordnung des Reservats, weil sie lauter, emotionaler und subjektiver waren als die Politikerinnen vor ihnen, weil sie die männliche Ordnung selbst als das Problem definierten. Das repräsentative Missverhältnis zwischen Frauenanteil in der Bevölkerung und dem im Parlament, das Gaby Potthast beklagte, zeugte aus ihrer Sicht von den geknebelten Zungen der Frauen, die sich erst frei machen, lösen und freisprechen mussten.
Insofern ist die Rede der Grünen-Abgeordneten auch eine Selbstentdeckung als Rednerin. In ihrer eingangs zitierten Erinnerung spricht Gaby Potthast davon, dass sie die eigene Stimme »spüren«, »wahrnehmen«, ja, überhaupt erst »hören« will, was ihr durch das überwiegend männliche Plenum bestritten wird. In diesem Wunsch, sich selbst, die eigene Stimme hören zu wollen, klingt die so lange erzwungene Einübung ins Schweigen mit, jene vormundschaftliche Tradition des Patriarchats, das den Frauen über Jahrtausende hinweg das öffentliche Sprechen verbot. Zugleich hört man in Potthasts Diktion den gefühlsreichen Singsang der Innerlichkeit der Siebzigerjahre, der sich aber hier expressiv nach außen wendet, um den Innenraum des Parlaments zu erobern.
Auch deshalb wehrten sich die Männer so sehr gegen die ich-sagende Frau, denn sie bedrohte die Arena der rhetorischen Maskulinität, in der Frauen bis dahin zwar zu Gast sein durften, aber am besten unauffällig zu agieren hatten. Denn was die Grünen-Politikerinnen von den Parlamentarierinnen der CDU/CSU, SPD oder FDP unterschied, war die fehlende »Ochsentour« zum Mandat, war die fehlende Einübung in die Rituale der Partei und ihrer Instanzen. Sie waren 1983 auf kürzestem Wege in dieses Parlament katapultiert worden, und so hingen an diesen Stimmen noch Reste von ungefiltertem Leben und Ich, von Beruf und parlamentarischem Dilettantismus, von Alltagssprache und lyrischer Provokation, von Selbstfindungssound und radikalem Feminismus. Diese neuen Frauenstimmen taten dem Parlament gut, taten auch den Frauen in den anderen Parteien gut, denn nun mussten die etablierten Parteien nachziehen, wenn sie nicht Wählerinnen und Parlamentarierinnen, wenn sie nicht Glaubwürdigkeit und Reformfähigkeit verlieren wollten. Erst jetzt dämmerte es vielen, innerhalb und außerhalb des Parlaments, dass man in einer Männerrepublik, einer halbierten Republik lebte, weil der demokratische Chor, der doch die Gesamtheit der Stimmen der Bevölkerung zu repräsentieren hatte, unausgewogen, verzerrt und letztlich auch unfrei klang. Bis 1987 lag der Frauenanteil im Deutschen Bundestag immer unter zehn Prozent, in der sozialliberalen Ära unter der Führung von Willy Brandt lag er bisweilen sogar unter sechs Prozent, obwohl Brandt nicht nur »mehr Demokratie«, sondern auch mehr Frauen im Parlament wagen wollte.
Die klang- und stimmliche Vervielfältigung des demokratischen Chors durch die neuen Frauenstimmen kommentierte die Schriftstellerin Barbara Sichtermann 1987 folgendermaßen: »Vorerst jedenfalls klingt der Chor voller, auch lauter und weniger homogen. Oberstimmen werden deutlich erkennbar, dem sympathischen Ohr klingen sie hell und jung, nur dem abgeneigten gellend. Es spricht für sich, dass der Massengeschmack immer noch die dunkle Frauenstimme bevorzugt, die, welche die Illusion erzeugt, es spräche doch vielleicht ein Mann, und den köstlichen Klang der weiblich-hohen und zarten Stimme als für die Öffentlichkeit ungeeignet abwehrt. Im Zeitalter des Mikrofons verrät diese Abwehr ihren wahren Grund nur zu direkt. Das Männliche als das Maß alles Menschlichen schleicht sich halt nur allmählich.«
Dass die Männer und ihr Maß sich nur langsam »schlichen«, hatte natürlich wie alles im Leben viele Gründe: Dazu zählen die parteiübergreifende Verteidigung des Reservats durch die Männer, fehlende Bemühungen, Frauen für die Parteien zu gewinnen, die frauen- weil familienfeindlichen Arbeitszeiten und Arbeitsweisen der Politik, kulturelle Stereotype, die Politik als »unweiblich« oder »schmutzig« kennzeichneten, die Doppelbelastung der Frauen, fehlende Frauenvorbilder und aggressive Kommunikations- und Machttechniken der Männer, die Frauen zunächst abschreckten.
Wer als Frau nach 1949 in die Politik ging und einen Sitz im Bundestag erringen wollte, musste, sofern sie nicht als »Alibi«- und Vorzeigefrau galt und von Männern auf ihre Position geschoben wurde, viele Hindernisse und Hürden überwinden. Eines der größten Hemmnisse war, das basale Schweigen in der Öffentlichkeit, in dem die Frau durch alle Gesellschaften und Zeitläufte so lange gefangen war, zu überwinden.
Die Gefangenschaft in dieser Wortlosigkeit illustriert eine Szene, die nahezu 3.000 Jahre alt ist und am Beginn der abendländischen Literaturgeschichte steht. Homers Epos »Odyssee« erzählt die Geschichte eines listenreichen Mannes – es gibt feministische Lesarten, die ihn als lügenreichen Vagabunden und betrügerischen Ehemann deuten –, der auf dem Rückweg vom Trojanischen Krieg von den Göttern in die Irre geführt wird und erst nach zehn Jahren wieder seine Heimat Ithaka erreicht. Dort hat seine Frau Penelope treu und ergeben auf ihn gewartet, obwohl sie von zudringlichen Freiern Jahr um Jahr belagert wird. In dieser Zeit wächst auch ihr Sohn Telemachos heran, der bei der Abfahrt seines Vaters noch ein Kind war.
Eines Tages verlässt Penelope ihre privaten Gemächer und erscheint in der prunkvollen Palasthalle, wo die Freier herumlungern und den Besitz des Odysseus verprassen. Die ungebetenen Gäste lauschen einem Barden, der mit klagender Stimme von den Irrwegen der griechischen Helden singt und ihr episches Leiden detailreich ausmalt. Penelope bedrückt dieser Gesang, der ihr wenig Hoffnung auf die Rückkehr ihres Mannes macht, und bittet den Barden, ein fröhlicheres Lied anzustimmen. In diesem Augenblick mischt sich der junge Telemachos als Stellvertreter seines Vaters ein und befehligt barsch: »Du aber gehe ins Haus und besorge die eigenen Geschäfte/Spindel und Webstuhl […] die Rede ist Sache der Männer/Aller, vor allem die meine! Denn mein ist die Macht hier im Hause.«
»Die Rede ist Sache der Männer« – es war dieser mächtige kulturelle Imperativ, der Penelope und ihre Schwestern über Jahrtausende zu Bewohnerinnen des Schweigens machte; man erlaubte ihnen zwar das Plaudern und Plappern, aber bitte schön in den engen Grenzen des eigenen Haushalts, denn die Sphäre der Macht, die öffentlichen Angelegenheiten konnten unmöglich vom ahnungslosen Weib begriffen werden.
Das vorliegende Buch möchte von Frauen erzählen, die nicht nur aus dem Schweigen herausgetreten sind und den ihnen zugewiesenen Platz verlassen haben, sondern die Politikerinnen wurden, um sich und ihren Stimmen Gehör zu verschaffen.
Als der Publizist Rolf Zundel 1988 für die »Zeit« einen Aufsatz über die Emanzipation der Frau schrieb, stellte er eingangs fest: »Über die Frauenbewegung zu schreiben, bedeutet für einen Mann eine Reise in ein fremdes, ein feindliches Land. Richtig beobachtet, antworten darauf Feministinnen, aber das kann uns nicht sehr beeindrucken: Wir müssen unser ganzes Leben auf feindlichem Territorium zubringen, im Männerland. Die Verständigung, so freundlich die Gespräche sein mögen, stößt auf Barrikaden.« Ich selbst habe die Reise – eine Zeitreise in die alte Bundesrepublik, eine historische Reportage auf der Suche nach Frauenstimmen im Parlament – nicht als Ausflug auf feindliches Territorium erlebt. Das Lesen von weiblichen Autobiografien, die Interviews mit Politikerinnen, Journalistinnen und Feministinnen haben meinen begrenzten historischen Horizont geöffnet und meinen männlich geprägten Blick auf die Republik damals und heute verändert. Wer als Mann die Chance hat, die Grenzen des eigenen Geschlechts und Denkens im Dialog mit dem anderen zu begreifen, auch zu verstehen, worin die Zumutungspotenziale des eigenen Sprechens und Schreibens liegen mögen, welche Gewalt von Männern bewusst oder unbewusst ausgeht, sollte diese Möglichkeit nutzen. Auf dem Weg zu ihr kann er sich verlieren, ohne Verlust zu erleiden, denn hier beginnt ein Dialog, der den ganzen Menschen umgreift. Natürlich gibt es Barrikaden, blinde Flecken oder auch resonanzlose Partien des Verstehens, die nicht zu überwinden sind, aber die Möglichkeit, von so einer Reise bereichert zurückzukehren, erscheint mir größer als umgekehrt. Und wenn man einen Verlust erlitte, dann hoffentlich zuerst den der eigenen Borniertheit.
Den Anstoß für dieses feministische Reiseunternehmen bilden Erfahrungen, die ich vor einigen Jahren machte, als ich zum 100. Geburtstag von Willy Brandt eine Familienbiografie des Politikers schrieb. Dabei sprach ich mit vielen Zeitzeuginnen, Frauen, die selbst Politikerinnen waren, oder solchen, die als »Frau an seiner Seite« Politiker begleiteten. Dadurch veränderte sich mein Blick auf die Bonner Republik, auf die Politik, aber auch auf die Männer im Deutschen Bundestag. Die Frauen hatten als Interviewpartnerinnen oftmals einen eigenwilligeren Blick auf das politische Geschäft, sie hatten einen Sinn für Atmosphären, ein Gespür für die Innenwelten des gegnerischen Gegenübers, sie waren hellhöriger, wenn es darum ging, Zwischentöne wahrzunehmen. Ihr Politikbegriff schien mir insgesamt facettenreicher als der von Männern zu sein, und zugleich sahen sie als diejenigen, die die Familien zusammenzuhalten hatten, deutlicher, welche Schneisen der Verwüstung Politik in ein Leben schlagen kann, welche Deformationen das politische Leben mit sich bringt und welche Suchtpotenziale Politik für die Spitzenleute entwickelt. Ich musste viele Geschichten, die mir begegneten, zurücklassen, denn sie hätten das Buch über Willy Brandt gesprengt, sie lagen zu weit ab vom Weg. Zugleich wurde mir klar, wie der Mann, der legendäre Charismatiker, mein Material und meine Perspektiven organisierte. Auch wenn ich die Familie Brandt beschrieb, blieb der Kanzler Brandt doch die Zentralperspektive, er entwickelte eine enorme Verdrängungskraft, er schien der archimedische Punkt des Geschehens.
Von dieser Erfahrung und von den als Defizit empfundenen Weglassungen ausgehend, erschien mir die gesamte politische Geschichte der Bonner Republik wie eine enorm verkürzte, einseitige und eintönige Angelegenheit. Medial arbeitete man sich an den Kanzlern, an der Prominenz ab: Adenauer, Brandt, Schmidt und Kohl gehörten in die A-Liga, Kiesinger und Erhard rangierten in der B-Liga. Dann gab es noch die Kategorie Gegenspieler, in der Männer wie Schumacher, Barzel, Strauß oder Vogel auftauchten. Es gab graue Eminenzen zuhauf, es gab Lautsprecher wie Erich Mende, Edmund Stoiber und Heiner Geißler, gewitzte Vasallen wie Norbert Blüm, explosive Dramatiker und Leidensmänner wie Herbert Wehner, edle Repräsentanten wie Theodor Heuss und Gustav Heinemann, Ego-Anwälte wie Joschka Fischer oder Oskar Lafontaine, kluge Besserwisser wie Kurt Biedenkopf oder Peter Glotz, aber das waren alles schon Randfiguren im Vergleich zu den ganz großen Tieren, den Kanzlern, den Männern an der Spitze, der jeweiligen Nummer eins.
Frauen kamen in diesem demokratischen Chor kaum vor. Sie schienen nur an den Rändern zu wirken, keine echte Machtchance zu besitzen, schrieben offenbar keine große Geschichte und verschwanden mit ihren Biografien viel schneller in der politischen Versenkung als die Kraftkerle auf der Regierungsbank. Die Frauenbewegung mochte das Parlament umtoben, aber im Plenarsaal standen die Männer am Steuer und setzten die Segel. Stimmten all diese Bilder, oder handelte es sich um männlich-mediale Apotheosen, die von Männern geschrieben und komponiert worden waren?
Symptomatisch scheint mir folgendes Bild zu sein: Im Jahr 2009 feierte die Bundesrepublik ihren sechzigsten Geburtstag. Die ARD gab dazu eine mehrteilige Fernsehdokumentation in Auftrag, die später auch als Buch erschien. Für die Fernsehdokumentation interviewten die Autoren 55 Gesprächspartner, 52 Männer und drei Frauen. Mit dieser asymmetrischen Perspektivierung möchte ich an dieser Stelle brechen.
Nun kann ich den Frauenanteil im Parlament nicht nachträglich imaginär erhöhen, aber ich kann die Politikerinnen, die existierten, die ebenso charismatisch und machtorientiert waren wie ihre männlichen Rivalen, erst einmal wahrnehmen, ihre Reden, Einlassungen und Interventionen ans Licht bringen, Namen nennen, biografische Umrisse zeichnen, Stimmen aufrufen, die sonst weggeschnitten werden. Dann wird deutlich, dass sich die Bonner Republik zwar als Männerrepublik gerierte, aber keine war.
Im Zeitalter eines weltweit grassierenden Populismus, der sinkende Frauenzahlen in Parlamenten mit sich bringt, überkommene Familienbilder transportiert, überall den starken Führer und Mann und eine hierarchische Geschlechterordnung beschwört, ja, nach dem Patriarchat lechzt wie die Götter nach Ambrosia, verstehe ich den folgenden Versuch, den Chor der Frauenstimmen in der Bonner Republik hörbar zu machen, auch als Gegengift gegen solche Ordnungsvorstellungen und reaktionäre Idyllen.
Penelope hat das Warten schon lange aufgegeben. Sie spricht.
»Eine Frau ausstrahlender Anmut durch ihre Taten«
Inschrift auf dem Grabstein von Jeanette Wolff
Dem männlichen Politiker fällt es nicht schwer, sich auf männliche Stimmen und Bilder der Vergangenheit zu beziehen; seit der Adenauer-Ära gibt es ein maskulines Kontinuum in der politisch-parlamentarischen Rede und den dazugehörigen Medien. Wie kann das sein? Ist die alte Bonner Männerrepublik nicht längst Geschichte? Ist aus Angela Merkel, die man zu Beginn ihrer Karriere despektierlich »Kohls Mädchen« nannte, etwa nicht die »ewige Kanzlerin« geworden? Haben Frauen nicht längst bewiesen, dass sie politikfähig sind, dass sie die Macht erobern und erhalten können? Hat das Herrenzimmer unter dem tapferen Bundesadler in Bonn sich in Berlin nicht längst in ein bunt gesprenkeltes, Politikerinnen gegenüber sehr aufgeschlossenes Parlament verwandelt? Andrea Nahles stand bis zum 3. Juni 2019 an der Spitze der SPD, die CDU wird von Annegret Kramp-Karrenbauer geführt. Frau an der Macht! Also was?
Schon ein flüchtiger Blick in den Bundestag und die Ministerien reicht aus, um festzustellen, dass Gleichberechtigung und Parität möglich, aber noch lange nicht hergestellt sind – und dass ein Rückschritt jederzeit vorstellbar ist. Der Anteil der Parlamentarierinnen ist erstmals seit 1998 wieder deutlich gesunken, im 19. Bundestag sitzen seit 2017 nur noch 30,7 Prozent Frauen. Die ehemalige Bundesjustizministerin Katarina Barley bemerkte desillusioniert, sie sehe jetzt im Parlament ein »Meer von grauen Anzügen«. Es sind vor allem die Fraktionen der AfD, der CDU und der FDP, die den Frauenanteil senken.
Die mächtigste Politikerin des Landes mag eine Frau sein, aber dort, wo sich in den Ministerien die Macht ballt, bei den beamteten Staatssekretären, sitzen fast nur Männer. Sie, die in der Hierarchie gleich nach der Ministerin oder dem Minister rangieren, sind die eigentlichen Herren im Haus, sie setzen Themen, sie dirigieren die Verwaltung, sie vertreten die Minister, sie sind die gar nicht so heimlichen Chefs der Republik. Eine Untersuchung von »Zeit online« im Herbst 2018 hat ein erstaunliches Ergebnis zutage gefördert: »In der Geschichte der Bundesrepublik sind bislang 692 beamtete Staatssekretäre ernannt worden. Die männliche Bezeichnung ist angebracht, denn in 668 Fällen wurde ein Mann für dieses Amt ausgewählt. Nur 24 Mal nominierten die zuständigen Minister und Ministerinnen eine Frau. Zieht man Frauen ab, die mehrfach ernannt wurden, dann gab es seit 1949 insgesamt nur 19 beamtete Staatssekretärinnen. In derselben Zeit wurden 24 Männer Staatssekretäre, die den Vornamen Hans trugen, und 18, die Karl hießen. Es gab also in 69 Jahren Bundesrepublik mehr Männer namens Hans in dieser wichtigen Funktion als Frauen.«
Zu dieser bedrückenden Einsicht passt das nicht minder bedrückende Bild, das Bundesinnenminister Horst Seehofer augenscheinlich stolz am 27. März 2018 unter der Überschrift »Führungsmannschaft des BMI komplett« in die Welt hinausschickte: Da stehen neben dem Chef Seehofer vier Herren links und vier Herren rechts im uniformen Machtmannschick: zwickende Anzüge, Ernsthaftigkeit signalisierende Krawatten, zupackende Tatmenschengesichter mit zupackendem Lächeln. Frau empörte sich, und selbst Mann konnte es kaum glauben, dass ein derartig gestriges Bild, eine derartig frauenverleugnende Botschaft noch möglich ist: Sorry, Mädels, ihr müsst draußen bleiben!
Ein mittelschwerer Shitstorm war die Folge, aber faktisch änderte sich nichts.
Dass auf diesem Bild die Patina der Adenauer-Ära liegt, dass es ebenso gut zum Patriarchen Kohl und zum schneidigen Kanzler Helmut Schmidt gepasst hätte, liegt auf der Hand. Tatsächlich hört die Bonner Republik nicht auf, sich in die Gegenwart einzuschreiben und die Politik zu organisieren und zu beeinflussen. Wenn es stimmt, dass man gezwungen ist, die Vergangenheit zu wiederholen, solange man sie nicht kennt, dass man also ihr Gefangener bleibt, solange man keinen Ausweg aus ihr findet, dann müssen wir die allzu selbstgewissen Bilder der Bonner Männerrepublik hinterfragen und ihren fortwirkenden Allmachtsanspruch bestreiten.
Aber sind das nicht bloß kosmetische Korrekturen und nachträgliche Retuschen an alten Bildern? Ich möchte im Folgenden zeigen, dass es um sehr viel mehr geht: Es geht darum, zu verstehen, warum es bis heute vielen Männern und Frauen so schwer fällt, die Leistungen von Politikerinnen anzuerkennen, warum es angehenden Politikerinnen mitunter an weiblichen Vorbildern fehlt und warum es immer noch zu wenige Frauen an den Schaltstellen der Macht gibt. Wenn sich Frauen immer noch weniger für Politik interessieren als Männer, dann ist das kein naturwüchsiges Phänomen, kein angeborenes Desinteresse, sondern das Ergebnis männlicher Diskurse, Erzähler und Narrative, die Frauen als Politikerinnen ausblenden, an den Rand schieben, ihre Leistungen ignorieren, unter den Tisch fallen lassen oder kein Sensorium haben für spezifische weibliche Techniken und Tugenden der politischen Auseinandersetzung. Mitunter scheint es fast so, als hätten die Herren Adenauer, Brandt, Schmidt und Kohl nicht nur dickleibige Autobiografien geschrieben, sondern auch wirkmächtige Algorithmen, die uns das Gestern und Heute aus ihrem Blickwinkel betrachten lassen und uns vorschreiben, wie wir das Zoon politikon seit den Tagen des Philosophen Aristoteles bis heute zu definieren haben: als Mann.
Betrachten wir ein paar Beispiele, um zu verstehen, wie die rückwirkende und dadurch zugleich fortwirkende Ausblendung der Frau als Politikerin funktioniert. Dass nicht nur Horst Seehofer etwas davon versteht, sich auf Twitter zu blamieren, zeigte Robert Habeck. In einem Video zur Thüringer Landtagswahl 2019 erklärte er vollmundig: »Wir versuchen, alles zu machen, damit Thüringen ein offenes, freies, liberales, demokratisches Land wird, ein ökologisches Land.« Obwohl die Thüringer Grünen seit fast fünf Jahren an der Landesregierung beteiligt waren.
Die politischen Gegner mokierten sich weidlich über so viel grüne Selbstherrlichkeit. Nahezu zeitgleich wurde der Bundesvorsitzende der Grünen Opfer eines Hackerangriffs, private Daten wurden öffentlich. Das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« hob Habeck daraufhin aufs Titelbild und widmete ihm eine Geschichte. Unter der Überschrift »Problemzone« sollte eigentlich erörtert werden, dass der Chef der Grünen den Start in das Superwahljahr 2019 »verstolpert« habe, doch tatsächlich liest sich das Porträt dann ganz anders. Da heißt es: »Robert Habeck hat seine Partei zu neuen Umfragehöhen geführt«, oder auch: »Der Chef der Grünen hat vieles richtig gemacht in den vergangenen Monaten, sonst stünde die Partei in den Umfragen nicht so blendend da.« Dass auch Annalena Baerbock als gleichberechtigte Bundesvorsitzende der Grünen etwas richtig gemacht haben könnte oder persönliche Anteile am Höhenflug der Grünen zeichnen dürfte, kommt in dem Artikel so gut wie nicht vor. Stattdessen bleibt der Text, der doch eigentlich die Fehler des Politikers thematisieren wollte, durchgängig eine Eloge: »Mit Habeck stoßen die Grünen in neue Sphären vor […].«
Habeck – ob er selbst will oder nicht – monopolisiert den Erfolg, er ist der Kopf, sie wird zum ornamentalen Beiwerk geschrieben.
Diese Fokussierung auf den Mann korrespondiert in dem »Spiegel«-Artikel mit einem retrospektiven Verdrängungsmechanismus. So heißt es im Hinblick auf die Anfänge der Grünen und ihren jetzt unvermuteten Höhenflug: »Wer jedenfalls hätte gedacht, dass die Partei, die im Jahr 1983 mit 5,6 Prozent und ein paar Zauselbärten in den Bundestag einzog, eines Tages den Atomausstieg durchsetzen würde, die doppelte Staatsbürgerschaft und das Dosenpfand?« Sicher, ein Wort wie »Zauselbärte« geht leicht von der Hand, und man sieht die langbärtigen Norwegerpulliträger direkt vor sich, aber gerade deshalb verdeckt und unterschlägt die Formulierung das Entscheidende: Die Grünen zogen damals mit 28 Abgeordneten in den Bundestag ein, es waren zehn Frauen und 18 Männer. Unter den Frauen waren eine charismatische Weltbürgerin wie Petra Kelly, eine hartnäckige und vitale Parlamentarierin wie Marie-Luise Beck, eine faszinierende Rednerin wie Waltraud Schoppe, eine authentische Anwältin des außerparlamentarischen Lebens wie Christa Nickels und eine strategische Virtuosin wie Antje Vollmer. Sie alle – man könnte weitere Namen nennen – verschwinden hinter den zu belächelnden Zauselbärten. Kein Wort darüber, dass niemals zuvor eine Fraktion mit derart hohem Frauenanteil in den Bundestag eingezogen war, kein Wort über das »Feminat«, den Fraktionsvorstand der Grünen von 1984, der ausschließlich von Frauen gebildet wurde und tatsächlich ein Meilenstein für die Frauen aller Parteien bedeutete. So werden die Frauen im Rückblick verdrängt, und diese Ausblendung erleichtert es auf der Gegenwartsebene, den Mann als Star zu etablieren: Robert Habeck, der smarte Höhenflug höchstpersönlich.
Blicken wir auf ein weiteres Beispiel, das uns vor Augen führt, wie die Frau aus dem politischen Feld verschwindet, wenn Männer Bilanz ziehen, resümieren und die Spitzen der Politik bestimmen. Der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter ist einer der angesehensten Parteienforscher seiner Zunft. Im Jahr 2009 veröffentlichte er im Suhrkamp Verlag eine Studie unter dem Titel »Charismatiker und Effizienzen. Porträts aus 60 Jahren«. Das Buch ist eine Geschichte der Bundesrepublik als Galerie von Porträts und politischen Physiognomien: Walter teilt die politische Klasse in nüchterne Manager und »politische Propheten« ein. Die »Effizienzen« organisieren den Alltag, möglichst geräusch- und reibungslos, die »Charismatiker« sind die Magier, die mit kühnen Visionen und Ideen ins Offene und Weite aufbrechen. Insgesamt werden 61 Politiker charakterisiert und näher beleuchtet; zu diesen 61 Auserwählten gehören nur fünf Frauen: die grünen Politikerinnen Petra Kelly, Antje Vollmer, Renate Künast und Claudia Roth sowie die unvermeidliche Angela Merkel. (Dass Walter sie nicht zu den Charismatikern zählt, muss kaum erwähnt werden, oder?)
Haben die FDP und die SPD seit 1949 keine Politikerinnen in ihren Reihen gehabt, die man entweder als charismatisch oder effizient hätte bezeichnen können? Warum wird etwa eine herausragende Politikerin wie Hildegard Hamm-Brücher (FDP) nicht genannt? Auch die Respekt einflößende Altliberale Marie-Elisabeth Lüders hätte erinnert werden können, die in den Fünfzigerjahren mit Verve für die Sache der Frauen eintrat und durch ihre spöttische Schlagfertigkeit manchen männlichen Kollegen im Bundestag das Fürchten lehrte. Und auch die SPD kann viele Politikerinnen vorweisen, die die parlamentarische Unauffälligkeit und Biederkeit weit hinter sich ließen, man denke an die erste Bundestagspräsidentin Annemarie Renger, an die überzeugte Europäerin und Gesundheits- und Familienministerin Katharina Focke, an die durchsetzungsstarke Justizministerin Herta Däubler-Gmelin oder die kompetente Familienpolitikerin Renate Schmidt. Franz Walter schreibt zwar, er verfolge keine »streng politikwissenschaftliche Systematik« – lieber wolle er bei der Auswahl der Porträts einen »heiteren Anarchismus« pflegen, wie ihn der Wissenschaftsskeptiker Paul Feyerabend anregt –, doch letztlich ist die Einteilung in Effizienzen und Charismatiker eine sehr systematische und vor allem männliche Katalogisierung von Menschen und ihren politischen Talenten; diese Systematik schafft zwar Ordnung und Übersicht, sie grenzt aber auch aus und ist unzugänglich für Fähigkeiten und Charaktere, die sich nicht eindeutig einem dieser Pole zuordnen lassen. Zudem wird der Machtbegriff durch die Bindung an Individuen sehr eng ausgelegt. Diese eher statische Definition von Macht schließt Frauen, die weniger bekannt sind oder kein hohes Amt innehatten, aus.
Wie diese einseitige Perspektive auf Macht den Blick verstellt, zeigt sich etwa in dem Kapitel »Weimarer Spätlese des Sozialismus«. Hier werden der SPD-Vorsitzende und Charismatiker Kurt Schumacher und sein blasser Nachfolger Erich Ollenhauer, ein »farb- und konturenloser Funktionärstyp«, einander gegenübergestellt. Natürlich lässt die unmittelbare Gegenüberstellung dieser so unterschiedlichen Politiker ihre Profile deutlicher zutage treten, allerdings bleibt durch diese konfrontative Gegenüberstellung zwischen ihnen kein Platz für andere politische Naturen und Biografien. So hätte unter die süffige Überschrift »Weimarer Spätlese des Sozialismus« auch eine bemerkenswerte Politikerin wie Jeanette Wolff gepasst, deren beeindruckender Lebensweg keinen Zweifel daran lässt, dass sie nicht nur charismatisch oder auch effizient agieren konnte, sondern noch ganz andere Gesichter und Facetten gehabt hat.
Jeanette Wolff hat im wahrsten Sinne des Wortes für die Demokratie gelebt und gelitten. Sie wird am 22. Juni 1888 als Jeanette Cohen in Bocholt geboren, bekennt sich früh zur SPD, weil ihr Interesse sozialen Themen gilt. Sie lässt sich zunächst zur Kindergärtnerin ausbilden, holt dann aber später das Abitur nach. Sie setzt sich für das passive und aktive Wahlrecht von Frauen ein und wird 1919 Stadtverordnete in Bocholt; es ist vor allem auf ihren Einfluss zurückzuführen, dass ihr Mann Hermann Wolff, ein Textilfabrikant, als einer der Ersten in Deutschland 1912 den Achtstundentag einführt. Die Nazis nehmen sie wegen ihres Einsatzes für die SPD zwei Jahre lang in »Schutzhaft«. Die Atempause, die ihr nach der Haft bleibt, ist nur kurz. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik reißt die Familie auseinander und zerstört sie. Die Eheleute und die drei Kinder werden voneinander getrennt, nur Jeanette Wolff und eine ihrer Töchter überleben mehrere Konzentrationslager, ihr Mann und zwei Töchter werden hingegen ermordet.
Man könnte denken, Jeanette Wolff hätte nach diesen Erfahrungen resigniert, hätte abgeschlossen mit der Politik und ihren mörderischen Landsleuten, doch das Gegenteil ist nach ihrer Befreiung durch russische Truppen der Fall. Die frühere Kommunalpolitikerin verschreibt sich nun ganz der Politik, engagiert sich für die deutsch-jüdische Aussöhnung und zieht 1952 für die SPD in den Bundestag ein, dem sie bis 1961 angehört.
Wenn man Jeanette Wolffs persönlichen Bericht über die erlittenen und erlebten Gräueltaten in den Konzentrationslagern liest, dann lässt sich auch heute noch leicht erahnen, welche Kraft diese Frau gehabt haben muss, wenn sie sich im Bundestag für die »Wiedergutmachung für die Opfer des Nationalsozialismus« einsetzte. Als sie am 22. Juni 1955 vor das Parlament tritt, sitzen dort 45 Frauen und 464 Männer, unter ihnen nicht wenige alte Nazis und Kameraden, die nichts wissen wollen von Entschädigungen für die Opfer des »Tausendjährigen Reiches«. Auf dem Weg zum Rednerpult strafft sie sich. Es ist ihr siebenundsechzigster Geburtstag. Auf ihren Sitz hat jemand einen Strauß rote Rosen gelegt:
»Herr Präsident, meine Herren und Damen! Wir schreiben heute das Jahr 1955, und über zehn Jahre sind vergangen, seitdem die Tore der KZs und Zuchthäuser sich für die Opfer des ›Tausendjährigen Reiches‹ öffneten. Viele kehrten nicht zurück. Irgendwo, an irgendeiner Stelle haben sie ihre gequälte Seele ausgehaucht, und der geschundene Leib entrann der weiteren Qual. Die Heimgekehrten und die Hinterbliebenen dieser furchtbaren Zeit warten zum Teil heute noch auf ihre materielle Entschädigung. […] Ich spreche für jene, denen es nicht wie mir vom Schicksal gegeben war, noch einmal wieder eingreifen zu können in den Beruf oder in die Geschicke des Staates oder auf dem Gebiet der Politik oder auf irgendeinem anderen Gebiet, wo es mir möglich war, mir eine anständige Existenz zu schaffen. Ich spreche für jene Kreise, die heute am Rande des Grabes stehen. Ich spreche für jene Witwen, deren Haare in jugendlichem Alter ergraut sind.«
Nun ist dem Politikwissenschaftler Walter nicht im Besonderen vorzuwerfen, dass er Jeanette Wolff ausgeblendet hat, so berührend ihr Lebensweg und beeindruckend ihre politischen Leistungen auch sein mögen. Genauso gut hätte das Buch andere Politikerinnen jener Jahre nennen können, die es verdienen, erinnert zu werden. Was man dieser und vielen anderen Studien jedoch entgegenhalten muss, ist die Verengung des politischen Feldes auf den männlichen Politiker, eine damit einhergehende anhaltende Trübung des politischen Langzeitgedächtnisses und eine leichtfertige Übernahme eingeschliffener Wahrnehmungs- und Deutungsmuster. Bevor ich auf diese männlich dominierten Wahrnehmungsketten und frauenvergessenden Narrative weiter eingehe, will ich noch ein weiteres Beispiel aus »Charismatiker und Effizienzen« nennen, das diesen Verdrängungsmechanismus wünschenswert deutlich macht.
Im Hinblick auf den Regierungsstil des Kanzlers Helmut Schmidt berichtet Franz Walter über das sogenannte Kleeblatt, den engsten Kreis der Berater, wo alle Fäden und Informationen zusammenliefen, wo koordiniert und dirigiert, offen kritisiert und analysiert wurde. Walter nennt den Staatssekretär Manfred Schüler, den Regierungssprecher Klaus Bölling sowie Hans-Jürgen Wischnewski als zum Kleeblatt zugehörig. Nach allgemeiner Auffassung aber, ja, nach Helmut Schmidts eigenem Urteil, gehört statt Wischnewski zunächst und zuallererst die parlamentarische Staatssekretärin Marie Schlei dazu. Für Walter ist sie als Politikerin und Ratgeberin offenbar eine zu vernachlässigende Größe. Helmut Schmidt jedoch, der für Frauenfragen ansonsten kein gesteigertes Interesse hatte, schildert ihre Rolle in seinen Erinnerungen »Weggefährten« so: »Marie und ich waren im Kleeblatt die Einzigen, die sich geduzt haben, so wie wir es aus der Fraktion gewohnt waren. Sie kam aus Pommern, hatte aber seit Kriegsende in Berlin gelebt und sprach mit deutlich berlinerischer Sprachfärbung. Auf dem zweiten Bildungsweg war sie in Berlin Lehrerin, Schulleiterin und Schulrätin geworden. Wenn ihr jemand ›Herz mit Schnauze‹ attestiert hat, so war das ganz treffend. […] In der Fraktion war sie noch wesentlich drastischer. ›Mensch, ick lass ma doch nich von dir vascheißern‹, hat sie mehrfach gesagt. So ist auch überliefert, dass sie in der Fraktion gesagt hat: ›Ick bin die Trösterin, die die Arme ausbreitet, um alle vom Kanzler auf den Schlips Getretenen wieder uffzumuntern.‹ Marie Schlei hatte einen guten politischen Instinkt. Im Kleeblatt war sie genauso kritisch wie Manfred Schüler und Klaus Bölling.«
Erst als Marie Schlei 1976 das Kanzleramt verlässt, tritt Hans-Jürgen Wischnewski an ihre Stelle. In diesem Fall ist es also nicht der Politiker, der in seiner Autobiografie die Frau im Kleeblatt unterschlägt, sondern ein Historiker, dessen Wahrnehmungsraster Männer bevorzugt und Frauen unter den Tisch fallen lässt.
Wenn wir die umfangreichen Bücher deutscher Zeithistoriker in die Hand nehmen, machen wir daher eine Entdeckung, die nicht wirklich überraschen kann: je dicker die Bücher, desto dünner das Kapitel Frau. Je mehr Männer im Register prangen, desto weniger Frauen tauchen auf. Dort, wo es um das Große und Ganze geht, verschwinden Frauen und Politikerinnen schnell im Kleingedruckten und Reich der Fußnoten. So nennt das Register von Manfred Görtemakers »Geschichte der Bundesrepublik Deutschland«, erschienen 1999, 1.417 Namen, wovon lediglich 54 auf Frauen entfallen. Frauen sind hier also allenfalls historische Objekte, keineswegs jedoch Subjekte.
Diese Tendenz findet sich in den meisten von Historikern verfassten Groß- und Größerwerken, ob bei Eckart Conzes »Die Suche nach Sicherheit« (1.071 Seiten) oder Heinrich August Winklers »Geschichte des Westens. Vom Kalten Krieg zu Mauerfall« (1.258 Seiten): Politikerinnen gehören in diesen Werken nur in wenigen Ausnahmefällen zum Personal der Weltgeschichte. Es ist daher kaum übertrieben, wenn man deutschen Historikern eine retrospektive Amnesie attestiert, wenn es um deutsche Politikerinnen geht, ihre Geschichtsschreibung ist auf den Mann als Helden zentriert.
Wohin das führt, konnte man am Schicksal der vier »Mütter des Grundgesetzes« sehen. Sie waren nach 1949 jahrzehntelang nahezu vergessen, man sprach ausschließlich von den »Vätern des Grundgesetzes«. Die vier Frauen im Parlamentarischen Rat, die sich im Bonner Museum König 61 Männern gegenübersahen, als es darum ging, das Grundgesetz für die westdeutsche Republik auszuarbeiten, wurden lange Zeit einfach nicht als erinnerungswürdig angesehen. Das begann sich erst Ende der Achtzigerjahre zu ändern, als immer häufiger über die Rolle von Elisabeth Selbert (SPD), Frieda Nadig (SPD), Helene Wessel (Zentrum) und Helene Weber (CDU) berichtet wurde. Mittlerweile ist vor allem Elisabeth Selberts kämpferisches Engagement bei der Gestaltung des Artikels 3 Abs. 2 des Grundgesetzes, »Männer und Frauen sind gleichberechtigt«, einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden. Einen verdienstvollen Beitrag dazu leistete der ARD-Film »Die Sternstunde ihres Lebens« (2014), der auch deshalb weithin Beachtung fand, weil die prominente Schauspielerin Iris Berben die Hauptrolle übernahm und Elisabeth Selbert als willensstarke Verfechterin der Gleichberechtigung und heute noch anschlussfähiges Rollenvorbild verkörperte. Doch was hier gelang – eine Politikerin und ihre Geschichte in die Gegenwart zu tragen, die anhaltende Bedeutung ihres Engagements zu würdigen und die Unentbehrlichkeit weiblicher Politik auch gerade für nachwachsende Generationen und Gesellschaften zu zeigen –, gelingt leider viel zu selten. Die Fäden zwischen dem Gestern und der Gegenwart reißen viel zu oft ab, weil die Geschichte der Parlamentarierinnen lückenhaft und unvollständig geblieben ist, weil weibliche Stimmen im demokratischen Chor untergingen. Schließlich waren es ja Jahrzehnte überwiegend die Männer, die auf das Schreiben der politischen Artikel, Geschichten, Essays, Lexika und Kommentare spezialisiert waren, es waren Männer, die politische Dokumentationen oder Features machten, zum »Internationalen Frühschoppen« einluden oder mit gewichtiger, alles durchschauender Miene aus Bonn berichteten.
In den Fünfziger- und Sechzigerjahren betrachteten die Herren Journalisten weibliche Berufskolleginnen und Politikerinnen unverhohlen mit Geringschätzung, man bedachte sie mit mildem Spott und hielt sie nicht selten für eine exotische Lebensform, die sich auf den falschen Kontinent verirrt hatte. Diese Geringschätzung, die auch von den meisten Abgeordneten geteilt worden sein dürfte, verfestigte sich zu einem Geist männlicher Kameraderie, der Frauen ausschloss. Diese Generation von männlichen Journalisten und Politikern hatte also kaum ein Interesse daran, Frauen zu fördern, Frauen in die Mannschaft zu holen, sie zu den bedeutenden Köpfen zu zählen.
Walter Henkels, der legendäre Korrespondent der »FAZ
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Die Politikerinnen im Deutschen Bundestag müssen von der ersten Parlamentssitzung 1949 an um ihre Stimme, ihre Zugehörigkeit zum Parlament, ihren Einfluss, ihre Redezeit und ihre Sichtbarkeit kämpfen. Das patriarchalische Weltbild vieler Abgeordneter kommt im folgenden Ausspruch treffend zum Ausdruck. Michael Horlacher, er war Mitbegründer der und Landtagspräsident Bayerns, hatte sich 1950 zu folgender botanisch-metaphorischer Aussage verstiegen: »Als Einzelne wirkt die Frau wie eine Blume im Parlament, aber in der Masse wie Unkraut.« Nun war diese derb-bäuerliche Ausdrucksweise nicht jedermanns Sprache außerhalb Bayerns, aber mit anderen, nur etwas »kultivierteren« Worten brachten viele Zeitgenossen Ähnliches zum Ausdruck. Die Frage der Gleichberechtigung der Frau überhaupt im Parlament zu erörtern, empfanden viele Männer als Zumutung und Zeitverschwendung. In dieser Stimmung findet auch Helene Weber, eine der Mütter des Grundgesetzes, das Parlament vor, als sie am 2. Dezember 1949 vor das Hohe Haus tritt, um über Fragen der Gleichberechtigung und Gleichstellung der Frau im öffentlichen Dienst zu sprechen. Sie trägt die Situation mit Humor: An dieser Stelle verzeichnet das Protokoll »Unruhe und Widerspruch«. fährt sie fort, Helene Weber fordert bessere Sozialleistungen für Frauen, eine wirkliche Gleichberechtigung im öffentlichen Leben und vor allem: Und schließlich mahnt sie an, dass die Frauen zum gesamten Staatswesen stärkeren Zugang finden: An dieser Stelle, das Protokoll verzeichnet »Heiterkeit«, erntet die Rednerin Lachen und Sprüche. Sie setzt hinzu: Die Heiterkeit im Parlament steigert sich, die Abgeordneten patschen sich auf die Schenkel.
FAZ
SPD
Warum eine Revision dieser Diskurse wichtig ist, zeigt uns folgende Szene, die Anja Maier, Parlamentskorrespondentin der »taz«, geschildert hat: »Die Tür geht auf, dahinter: ein runder Besprechungstisch, die Szenerie beleuchtet von kalten Energiesparlampen. Die Kollegen, die ebenfalls zum Hintergrundgespräch mit dem Spitzenpolitiker eingeladen sind, sitzen bereits mit aufgeschlagenen Notizbüchern auf ihren Plätzen. Es kann losgehen. Doch dann fällt es selbst dem Gastgeber auf: Seine Sprecherin und die Frau Maier von der ›taz‹ sind die einzigen Frauen im Raum. Der Politiker beugt sich nach vorn, schaut noch mal prüfend in die Runde. Tatsächlich: nur zwei Frauen unter vierzehn Männern. Na ja, kann man jetzt auch nix dran machen. Fangen wir an.«
ARDZDF