Sigmund Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, hrsg. von Jeffrey Moussaieff Masson, Bearbeitung der dt. Fassung von Michael Schröter, Transkription von Gerhard Fichtner, S. Fischer Verlag 1986
Sigmund Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, hrsg. von Jeffrey Moussaieff Masson, Bearbeitung der dt. Fassung von Michael Schröter, Transkription von Gerhard Fichtner, S. Fischer Verlag 1986
Sigmund Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, hrsg. von Jeffrey Moussaieff Masson, Bearbeitung der dt. Fassung von Michael Schröter, Transkription von Gerhard Fichtner, S. Fischer Verlag 1986
Anna Freud an Freud, 31. Januar 1913, Freud Collection, Library of Congress (oder Peter Gay, Freud – Eine Biografie f. unsere Zeit, S. Fischer 2006, S. 489)
Für Ada,
die es mir schwer,
aber möglich machte
Ein neuer Sommer, das Wetter noch wechselhaft, aber nicht mehr klirrend kalt, und ich bin wieder schwanger. Vor mir auf dem Schreibtisch die ganz normale Unordnung, dahinter das Fenster, die regennasse Scheibe mit Blick auf den Garten, wo meine Tochter spielt, unter Johannes’ wachsamem Auge. Langsam verliert sie das ungestüme Taumeln des Kleinkinds. Das fällt mir auf, wenn wir nebeneinander hergehen, denn das tun wir jetzt getrennt, oder wenn wir einander gegenübersitzen – wie viel größer sie jetzt ist, aufrechter, ihr Handeln zielgerichteter, sie gehört nicht mehr mir, sondern nur sich selbst. Eben noch konnte man ihr jeden Gedanken am Gesicht ablesen, doch jetzt ist das offene Mienenspiel verschwunden, sie ist nicht mehr so durchschaubar: Mit der Komplexität kam auch die Fähigkeit, Gefühle zu verbergen. Wenn ich sie hochhebe, überrascht mich ihr Gewicht, das Unvertraute eine ständige Betonung der Distanz zwischen uns. Früher ist sie auf mir herumgeklettert, hat mit den Beinen meine Hüfte umklammert, die Arme um meinen Nacken geschlungen, als wäre ich ein Möbelstück oder eine Erweiterung ihrer selbst, einfach da oder völlig vertraut, doch nun hält sie Abstand, ich muss mich nach ihr strecken, jedes Mal ein bisschen weiter, und manchmal kommt mir ihr Voranschreiten ins Erwachsenenalter vor wie ein Verschwinden: Sie wird mir fremder, je mehr sie zu sich selbst wird. Obwohl es so sein muss, dass sie von mir geht und ich bleibe, denke ich dennoch, dass ich am liebsten die Distanz überwinden und mich zu ihr hinstrecken würde, sie dort vor der grellgelben Forsythie berühren, gegen die sie sich abzeichnet, um sie zu mir zurückzuziehen und nie wieder aus den Augen zu lassen, damit sie niemals mehr wird als die Summe des mir Vertrauten.
Am 28. Dezember 1895 präsentierten die Brüder Lumière, Auguste und Louis, dem Pariser Publikum im Salon Indien du Grand Café zum ersten Mal eine Auswahl von zehn selbst gedrehten Filmen. Den ganzen Nachmittag über hatten die Leute in Erwartung eines Wunders am Boulevard des Capucines Schlange gestanden, während ihr gefrorener Atem in die eiskalte Luft aufstieg. Später, als sie auf Klappstühlen Platz genommen hatten, sahen sie es dann endlich: flackernde Schwarz-Weiß-Bilder von Auguste, der seine kleine Tochter dicht vor ein Goldfischglas hält, sie auf die Beinchen stellt, damit sie von oben aufs Wasser blicken kann, sprunghafte, taumelnde Bilder projizieren einen schon Monate zurückliegenden Sommernachmittag direkt in die winterliche Dämmerung hinein. Zur selben Zeit eilte Wilhelm Conrad Röntgen, Professor der Physik, durch die Straßen seiner fast tausend Kilometer entfernten Stadt, um dem Präsidenten der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft zu Würzburg eine Mitteilung zu übergeben, eine erste Beschreibung der X-Strahlen. Während die Brüder Lumière ihre Filme vorbereiteten, hatte Röntgen über Wochen allein hinter schweren Vorhängen vor dem schwachen Winterlicht geschützt in seinem Labor beobachtet, wie Festes zunehmend transparent wurde. Undurchsichtiges – Holz, Stein, sogar sein Körper – hatte sich vor seinen Augen zu einer schattenhaften Kontur aufgelöst, ausgebreitet auf einer behandelten Fotoplatte, ein Abbild der Substrate, Metall und Knochen, ein Katalog des Unvergänglichen, das Gegenstück zur Konservierung der Oberfläche in der Kinematografie …
Vor vielen Jahren gab es eine Zeit, da habe ich der Gleichzeitigkeit dieser Ereignisse eine Bedeutung beigemessen. Damals musste ich entscheiden, ob ich ein Kind bekommen wollte oder nicht. Monatelang, den ganzen verregneten Frühling hindurch und auch noch in den ersten trüben Tagen des Sommers, hatten Johannes und ich abends Seite an Seite auf dem Sofa oder im Garten gesessen und darüber gesprochen oder geschwiegen, und mir war es vorgekommen, als wäre es um nichts anderes mehr gegangen, unsere Worte nur der Subtext zu meiner Unfähigkeit, einen Weg aus dieser selbst geschaffenen Zwickmühle zu finden. Ich wünschte mir mit aller Macht ein Kind, konnte mir aber nicht vorstellen, schwanger oder Mutter zu sein, denn ich sah mich nur so, wie ich in jenem Moment war oder zu sein glaubte: unverbunden, ohne innere Mitte, verängstigt. Die Unwiderrufbarkeit der Geburt und alles, was danach käme, erfüllte mich mit Entsetzen, genau wie die Vorstellung, dass die Aufgabe, ein Kind großzuziehen, diese Verantwortung, vor der man sich nicht drücken kann, jede Handlung zu einem folgenschweren Unfall machen, ein anderes Leben unbeabsichtigt verformen könnte, und gefangen zwischen diesen Polen – Wünschen und Fürchten – machte ich nicht nur mir, sondern auch Johannes das Leben schwer. Von Minute zu Minute erschien mir die Entscheidung greifbarer, doch ich traf sie nie: Ich hatte das Gefühl, über einen Abgrund springen zu müssen, doch jedes Mal brach ich das Manöver nach einem angetäuschten Versuch ab, immer wieder ging ich vor Johannes auf die Knie und sagte:
– Ich weiß nicht, was ich tun soll, was soll ich tun?,
bis er mein Gesicht umschloss und
– Ich liebe dich
sagte, weil alles andere schon gesagt war. Für ihn lag die Antwort klar auf der Hand: Wir würden ein Kind bekommen, der Rest würde sich finden. Er hatte keine Angst davor, dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein, hegte keinerlei Zweifel an seiner Fähigkeit, jemanden ganz zu machen, sah nicht, wie sich hinterher, wenn es bereits zu spät wäre, der Boden unter unseren Füßen auftäte und wir abstürzten, das von uns gewollte Kind in unserer Mitte. Obwohl er stets liebevoll war, wusste er nicht, was er mir sonst noch sagen sollte, und irgendwann bemerkte ich bei ihm einen frustrierten Unterton, den er rasch zu unterdrücken versuchte. Statt zu arbeiten, saß ich tagelang an meinem Schreibtisch mit Blick auf den damals noch leeren Garten und sah mir die zweiundvierzig Sekunden lange Filmsequenz der Brüder Lumière an, La Pêche aux Poissons Rouges. Daran klammern wir uns in solchen Situationen: die Illusion, dass irgendwo auf der Welt eine Lösung existiert und wir sie nur finden müssen, und in der Miene dieses Kleinkinds, das sich eines Nachmittags vor über hundert Jahren in Lyon dem wunderlichen Ding, der Kamera, zugewandt hatte, glaubte ich das Destillat einer ganzen Kindheit zu erkennen, und wenn ich nur lange genug hinsähe, würde ich die Art, wie Auguste seine Tochter hielt, oder das Lächeln, das sie ihm schenkte, während sie die Hand ausstreckte, um die Wasseroberfläche zu berühren, mit allen Einzelheiten in meinen Körper aufnehmen, um so zu spüren, wie es wäre, in ihre jeweilige Rolle zu schlüpfen. Ich hatte keine Vorstellung, wie das funktionieren sollte, Johannes und ich mit einem Kind im selben Haus. Mein Vater verschwand, als ich noch klein war, und hinterließ so gut wie nichts, meine Mutter starb, als ich Anfang zwanzig war, und ihr Tod verstörte mich dermaßen, dass ich meine Trauer monatelang nicht erkannte und das mich umhüllende Leichentuch der Anhedonie fälschlicherweise als Zeichen des endlich eingetretenen Erwachsenseins verstand: die Erkenntnis, dass die Welt nichts anderes war als das, was sie zu sein scheint, eine feste Oberfläche in kaltem Licht. Um die Lücke zu füllen, die damals, im Jahr der desolaten Unentschlossenheit, nicht mal die Trauer besetzen wollte, las ich zunächst alles, was mir in die Hände fiel, dann, als ich mich schließlich wieder aufbaute, Stück für Stück, auf den vom Tod meiner Mutter erschütterten Grundfesten, alles über Wilhelm Röntgen und die frühe Geschichte der X-Strahlen. Nun, da ich auf die zufälligen Ereignisse jenes trüben Nachmittags Ende des neunzehnten Jahrhunderts gestoßen war, bildete ich mir ein, ich könnte, wenn ich nur einen Zusammenhang zwischen ihnen herstellte, durch ihre Gleichzeitigkeit eine Verbindung finden, durch dasselbe Objektiv auf das Gerüst blicken, auf dem mein Leben aufgebaut war, auf das ihm zugrunde liegende Prinzip, oder verstehen, wie es möglich war, dass ich in Erwägung zog, Mutter zu werden, obwohl ich mich kaum verändert hatte seit der unglücklichen Zeit des Heranwachsens. Möglicherweise würde ich ja auch auf die gewünschte Garantie für eine Zukunft stoßen, in der ich nicht versagen, nicht abstürzen würde – doch am Ende stellte sich das als Trugschluss heraus. Wo ich Bedeutung sehen wollte, hatten sich lediglich zwei Dinge gleichzeitig ereignet – die Bürger von Paris hatten Schlange gestanden und Röntgen war durch die leere Universität gehastet. Deshalb blieb ich, wo ich war, als Nachmittag für Nachmittag verging, die Katze mit kläglichem Maunzen nach Futter rief, Johannes sich im Zimmer über mir zu rühren begann und die knarzenden Dielenbretter wohlwollend den nahenden Feierabend ankündigten, während La Pêche aux Poissons Rouges ein ums andere Mal über meinen Bildschirm flimmerte, das Bild vom Kind und seinem Vater wie ein Schlüssel, der in kein Schlüsselloch passen wollte.
Während seiner Kindheit in den Niederlanden, wohin er im Alter von drei Jahren mit seinen Eltern aus seinem Geburtsland Deutschland ausgewandert war, hatte Wilhelm Conrad Röntgen kein besonderes akademisches Talent gezeigt. Wenn überhaupt, zeichnete sich lediglich ein für sein Alter ungewöhnliches Geschick im Umgang mit Maschinen ab, er konnte mithilfe von Zahnrädern und Hebeln eine Vorstellung in die Praxis umsetzen, und er besaß eine gewisse Fingerfertigkeit, die er später bei der Konstruktion von Laborgeräten einsetzen würde, im festen Glauben, sich mit der handwerklichen Vertrautheit im Umgang mit Konstruktionen Erkenntnisse ertrotzen zu können. Ansonsten war er ein gewöhnliches Kind ohne besondere Lernbegabung, unkonzentriert, jedoch mit einer gewissen Neugier für die Natur ausgestattet; ein Interesse, das man einem weniger kräftigen Jungen möglicherweise als Verträumtheit ausgelegt hätte. Im Alter von siebzehn Jahren wurde er der Technischen Schule in Utrecht verwiesen, weil er sich weigerte, den Urheber einer Karikatur seines Lehrers preiszugeben, und so beendete er seine schulische Laufbahn ohne Abschluss, was ihm den Zugang zur Universität verwehrte. Dennoch schrieb sich Röntgen später am Polytechnikum in Zürich im Fach Maschinenbau ein, denn dort war ein Studium auch ohne Abitur möglich, solange man die Aufnahmeprüfung bestand. Aber selbst nachdem er vom Polytechnikum an eine Universität gewechselt und dort unter Professor August Kundt einen Doktortitel erworben hatte, entpuppte sich das fehlende Abitur immer noch als Hindernis, und so musste er lange als Kundts Assistent zwischen Würzburg und Straßburg hin und her pendeln, bevor er sich Jahre später endlich einen akademischen Posten sichern konnte. In dieser Zeit hatte Röntgen allerdings gelernt, sich ganz und gar für eine Sache einzusetzen, eine unbedingte Hingabe, die der Fantasie scheinbar entgegenstand, und er ging jedes Hindernis mit derselben unbeirrbaren Entschlossenheit an, die er allen Aspekten seines Lebens entgegenbrachte – seiner Ehe, seinen Freundschaften, Interessen, seiner Arbeit: ein beständiges, beharrliches Hinarbeiten auf ein Ziel, vorsichtig, Schritt für Schritt, geprüft und erneut geprüft, bis er schließlich sicher sein konnte, dass das Ergebnis tragfähig war. Mit derselben Akribie, mit der er als Kind mechanische Geräte baute, entwickelte er neben seiner wissenschaftlichen Arbeit ein reges Interesse an Fotografie und Pianola und hatte sogar ein Welte-Mignon-Reproduktionsklavier im Wohnzimmer, auf dem er Gästen vorspielte. Er bewahrte auch seine Liebe zur freien Natur, begeisterte sich für Schnee und Wintersport, Klettern und die Jagd, verbrachte die Herbstsaison regelmäßig im Engadin und den Frühling am Comer See, wo er mit seiner häufig kränkelnden Frau Bertha in einem Pferdegespann Ausflüge unternahm. Im Winter 1895, sechs Monate nach seinem fünfzigsten Geburtstag, schien sein Leben wie von selbst dahinzugleiten, fast wie eine seiner mechanischen Entwicklungen: auf soliden Grundpfeilern, in festen Bahnen, gut gepflegt, sorgfältig geölt. Seine Stelle an der Universität war gesichert, seine Karriere ging mit den gewöhnlichen Auszeichnungen einher. Auf seinem Gebiet genoss er großen Respekt, und sein Name würde überdauern, wenn nicht gerade in ganzen Kapiteln, dann zumindest in Fußnoten und Appendizes: diese von Klarheit gekennzeichneten Bereiche, die penibel durchgearbeiteten Details, in denen die besondere Stärke einer Abhandlung liegt. Und später, als er sich nach den wenigen kurzen Wochen seiner Arbeit an den X-Strahlen und der Niederschrift seiner drei Aufsätze, die alles enthielten, was er zu diesem Thema zu sagen hatte, wieder seinem eigentlichen Fachgebiet zuwandte, glaubte er sein früheres, geringeres Ansehen verloren zu haben und empfand dessen plötzlichen Umsturz als bedauerlich.
Kurz nach meinem einundzwanzigsten Geburtstag erkrankte meine Mutter, und obwohl ich nach und nach ihre Pflege übernahm, tat ich so, als wäre nichts geschehen, lebte weiter in der Wohngemeinschaft am Kreisverkehr Elephant and Castle, in die ich nach der Uni gezogen war, und fuhr jeden Morgen zum Haus meiner Mutter, einer schmucklosen Villa aus den Sechzigerjahren hinter einer Auffahrt mitten in den zersiedelten Vororten, die sich meilenweit über den Stadtrand ausbreiten, wo unter laubgrünem Blätterdach eine Kleinstadt in die nächste übergeht. Ich hatte in diesem Haus fast mein ganzes Leben verbracht, empfand aber keine Zuneigung dafür, und meine Mutter vermutlich auch nicht. Wir hatten es uns nicht ausgesucht, fühlten uns ihm nicht einmal besonders verbunden, sondern wohnten dort, weil es sich so ergeben hatte, ein permanentes Provisorium, das wir eigentlich gern verlassen hätten, wären da nicht all die Dinge, die uns hielten – Arbeit, Schule, Trägheit oder Routine, die praktische Nähe zur Stadt, die wir theoretisch zu schätzen wussten, doch in Wahrheit kaum nutzten. Als ich drei Jahre zuvor ausgezogen war, um in der Stadt mein Studium zu beginnen, hatte ich geglaubt, alldem endlich entflohen zu sein, dem Prozess des Heranwachsens, dieser unerbittlich nach oben strebenden Kurve, exponentiell ansteigend bis zum Ende – doch meine Mutter erkrankte, und so kehrte ich erneut zurück. Ich beendete meine Jobsuche und saß stattdessen jeden Morgen im Zug, um die Stadt zu verlassen und in meine Vergangenheit zurückzukehren, den Blick aus dem zerkratzten Fenster auf die voll besetzten Abteile, die in entgegengesetzter Richtung an mir vorübersausten, schwer beladen mit ihrer lebendigen Fracht. Die Ungerechtigkeit dieser erzwungenen Rückkehr regte mich auf, doch ich wusste genau, wie unsinnig diese Wut war, denn ich konnte ja nichts daran ändern, und bisweilen, wenn ich mich morgens gegen die Welle der Anzugträger zum Bahnsteig vorkämpfte, empfand ich wieder dieselbe, mir schon aus der Kindheit vertraute Ohnmacht, die sich einstellt, wenn man Ungerechtigkeit erlebt, aber weiß, dass Widerstand zwecklos ist. Dann, am Abend, nach den Terminen im Krankenhaus und Stunden an Infusionsschläuchen, nachdem riesige Berge Wäsche gewaschen waren und die beiden Teller in der leeren Küche trockneten, nach den stummen Nachmittagen, der langen Zeit zwischen Mittagessen und Abendbrot, angefüllt mit dem besorgten, leeren Einerlei eines Lebens im Endstadium, fuhr ich in umgekehrte Richtung zurück oder, was öfter geschah, wurde durch eine kleinere Krise dort festgehalten, blieb also dort, lag in meinem Bett aus Kindertagen, lauschte den Geräuschen im Garten, wo statt des lärmenden Kreisverkehrs die Füchse bellten und die Käuzchen riefen, und hatte das Gefühl, die Welt würde sich woanders weiterdrehen, während ich hier lag, reglos, gefangen, weggelenkt von der leichten Zukunft, auf die ich meinte, ein Anrecht zu haben.
In den Monaten nach dem ersten Zusammenbruch meiner Mutter, ausgelöst von einer plötzlichen Hirnblutung, die zwar aufgehalten, aber nicht gestoppt werden konnte, schwanden ihr nach und nach die Kräfte und die Sinne. Ihre Muskeln verloren die Spannung, die Gelenke die Verankerung. Die Medikamente, die sie einnahm, um das Schlimmste aufzuhalten, ließen ihren Körper auf das Zweifache anschwellen, bis sie mit ihrem runden, prallen Gesicht aussah wie das Faksimile einer Gesunden. Nachdem die Diagnose feststand, die Medikamente eingestellt und die Bestrahlungen alle zwei Wochen zu einem erträglichen Umstand geworden waren, schien es ihr eine Weile besser zu gehen, und diese erste Woche, als sie wachsbleich im Krankenbett gelegen hatte, schien überwunden, worüber wir uns mit geradezu euphorischer Erleichterung freuten, denn wir waren sicher gewesen, dass das Ende ihrer Lebenszeit bereits gekommen war. Ja, sie war müde, ein bisschen unsicher auf den Beinen und auf einer Seite ihres Schädels unter dem nachgewachsenen Flaum hatte sie eine Narbe, so lang wie meine Hand, rosa, glatt, und obwohl nicht mehr dieselbe, war meine Mutter nicht zu dem geworden, vor dem ich mich gefürchtet hatte, als ich zwischen verschlungenen Schläuchen vor Monitoren gesessen, dem Tropfen und Piepsen gelauscht und darauf gewartet hatte, dass das, was die Chirurgen von ihr übrig gelassen hatten, wieder zu Bewusstsein kommen würde. Diese ersten Wochen, als wir beide noch glaubten, wir könnten irgendwie an unser altes Leben anknüpfen, muteten an wie ein heimlicher Urlaub, als hätten wir uns fortgestohlen, und unser Kummer war ein Jauchzen, eine Welle der Hoffnung und Liebe, denn wir hatten die Wahrheit noch nicht verinnerlicht: dass es kein Danach geben würde, von dem aus wir zurückblicken und uns glücklich schätzen könnten, überlebt zu haben. Zunächst brauchte meine Mutter nur Hilfe im Haushalt, mit dem Kochen und Putzen und Einkaufen, und jemanden, der sie ins Krankenhaus begleitete, in überheizten Räumen neben ihr saß und aus Fenstern starrte, wenn schlechte Nachrichten überbracht und erklärt wurden, doch mit der Zeit schwanden auch die letzten stabilen Überreste ihrer Gesundheit, und sie konnte immer weniger Dinge selbst erledigen. Irgendwann brauchte sie Hilfe, um sich im Haus zu bewegen, Treppen zu steigen, sich hinzusetzen oder zu erheben, und als ihr linker Arm zunehmend kraftlos wurde, konnte sie ihr Essen nicht mehr selbst schneiden und sich nicht mehr allein waschen, und unser beider Leben fiel in sich zusammen, verstrickte sich, wurde enger, ihre Bedürftigkeit zwang mich zur Kehrtwende, weg vom unausweichlichen Abnabelungsprozess, der Arbeit des Erwachsenwerdens. Wir spürten es beide. Wenn ich ihr mit dem Schwamm über den Kopf ging, um ihr die Seife aus dem noch verbliebenen Flaum zu waschen, oder ihr beim Anziehen half, bemühte ich mich um Freundlichkeit, doch die zu zeigen, mein Versuch, sie zu trösten oder zu beschützen, sanfter zu sein, als für die jeweilige Tätigkeit nötig gewesen wäre, hätte unsere natürlichen Rollen nur umso brachialer vertauscht, und das allein wäre ein Gewaltakt gewesen gegen diese Frau, die mich Zeit ihres Lebens zu schützen, den Aufprall in der harten Realität zu mindern und mich in Sicherheit zu wiegen versucht hatte. Oft blieben wir stumm. Die emotionale Distanziertheit erschien uns offenbar als einzige Lösung für das Problem der körperlichen Nähe – wir versteckten uns voreinander, verkrochen uns in unsere Ecken, bis jegliche Zuneigung aus unseren Berührungen getilgt und nur noch Pragmatismus und Notwendigkeit übrig blieben. Wir ließen es zu, dass Funktionalität an die Stelle von Mitgefühl trat und mein nominelles Zuhause in der Stadt als Grenze fungierte, ein Beharren auf dem Prinzip der Trennung, bis ich sie eines Morgens zusammengerollt auf der Schwelle zum Badezimmer fand, schlafend, ihre kindlich plumpen, von Steroiden gerundeten Ellbogen und Handgelenke zur Schau gestellt. Seit Wochen hatte der für die räumliche Vorstellung zuständige Teil ihres Hirns nach und nach die Arbeit eingestellt, sie konnte sich nicht mehr anziehen, ihre Unterhose war für sie zu einem unlösbaren geometrischen Rätsel geworden, doch jetzt hatte sie auch noch die Fähigkeit verloren, sich von Zimmer zu Zimmer zu bewegen, und verharrte stattdessen verwirrt auf Türschwellen und wandte sich in unlogische Richtungen. Obwohl sie das Haus noch erkannte und behauptete, alles sähe so aus wie vorher, und obgleich sie wusste, dass sich beispielsweise die Küche links vom Wohnzimmer befand und das Bad im ersten Stock, konnte sie dieses Wissen nicht in Bewegung umsetzen. Ihre geistige Vorstellung von diesem Haus, in dem wir mein ganzes Leben lang gewohnt hatten – wir beide wie ein zurückhallendes Echo in der Geborgenheit seiner Zimmer, unsere Auseinandersetzungen, unsere zornigen Gesten und unsere Versöhnungen, unsere besonderen Anlässe zum Feiern und unsere alltäglichen Reibereien, hatten Spuren hinterlassen an Wänden und Böden, geisterhafte Flecken auf dem Teppich, einen wackeligen Türgriff am Arbeitszimmer – besaß keinerlei Beziehung mehr zu dem Raum, in dem sie sich bewegte, die Daten unlesbar, obschon die Erinnerung daran noch deutlich und detailliert vorhanden war. Auch ihr Körper war ihr fremd geworden, seine Form entsprach nicht mehr dem Plan in ihrem Kopf, sodass sie ihre räumliche Position nicht mehr zuverlässig ermitteln konnte und jede Bewegung große Aufmerksamkeit erforderte, ein präzises Beobachten, bevor sie ihren Körper herumschob wie eine Maschine, während sich ihr mentales Gegenstück in einer leeren Ebene frei durch eine beständige Stille bewegte. Am darauffolgenden Tag räumte ich mein Zimmer in der Wohnung am Elephant and Castle und zog zurück nach Hause, stopfte meine Siebensachen in eine Reisetasche und, als die voll war, in diverse Plastiktüten. Ich fuhr mit dem Taxi zum Bahnhof und ging endlich in dieselbe Richtung wie alle anderen, saß bei einsetzendem Berufsverkehr mit Pendlern im Zug, in einer Ecke, auf meinem sperrigen Gepäck. Beim Umsteigen in Clapham Junction platzte eine der Tüten und es ergoss sich eine Lawine von bunt durcheinandergewürfelten Taschenbüchern samt Unterwäsche auf den Bahnsteig, die in den Spalt vor dem Zug rutschten und schließlich auf den Gleisen liegen blieben. Ich stand in der dem Feierabend entgegenstrebenden Menge, schmuddelig und ungepflegt in fleckigen Jeans und knöchelhohen Turnschuhen unter Anzügen und Lederschuhen, den Rest meiner Habseligkeiten in Tüten um meine Beine, und sah zu, wie die Züge wieder und wieder über meine Sachen fuhren – und falls es mir hinterher nicht möglich war, die Tiefe meiner Trauer zu erkennen, und ich mir einbildete, kein Recht zu haben, unglücklich zu sein, dann lag es vermutlich daran, dass ich mich dafür schämte, diese letzte Reise nicht aus Liebe oder Mitgefühl unternommen zu haben, sondern aus Zweckmäßigkeit, weil es unabdingbar war, und niemand sonst dafür infrage kam.
Im Jahr 1890, fünf Jahre bevor Wilhelm Röntgen die Auswirkungen der neuen Strahlen verfolgen würde, schob Arthur Goodspeed an der Fakultät für Physik der Universität von Pennsylvania eine unbelichtete Fotoplatte unter einen Haufen Münzen und baute daneben eine Crookes’sche Röhre auf, das gleiche Instrument, das Wilhelm Röntgen zu seiner Entdeckung führen würde. Später, bei der Fotoentwicklung, stieß Goodspeed nicht auf das erwartete Bild, sondern auf eine Reihe kleiner runder Schatten, gefleckte Sprenkel, ähnlich wie Verfärbungen auf dem Umschlag eines monatelang auf der Fensterbank vergessenen Buches, dunkle Stellen, die sich dort, wo etwas gelegen hatte, von dem durch die Sonne ausgeblichenen Hintergrund abhoben. Die Platte behielt er, fasziniert von dem Mysterium, ein Rätsel, das er nicht zu lösen vermochte – und fünf Jahre später, nachdem er Röntgens Veröffentlichung gelesen und die dazugehörigen Bilder gesehen hatte, ein durchleuchtetes Kästchen mit Gewichten und die Knochen einer Hand, wiederholte Goodspeed seine Experimente und fand heraus, dass das Bild durch auf die Platte auftreffende Röntgenstrahlen entstanden war. In der Reproduktion wirkt dieses Bild alt und zufällig, wie Leberflecken auf der Haut oder verschüttete Flüssigkeit, die beiden kreisrunden, von den Münzen hinterlassenen Sprenkel sind deutlich voneinander zu unterscheiden, aber nicht vollständig, die Ränder an einer Seite eingefallen, die Schwärze ihrer Schatten ins Graue verwischt, und bei diesem Anblick entsteht bei mir sofort ein geistiges Bild von Doktor Arthur Willis Goodspeed, wie er in seinem Laboratorium mit Blick über die Universitätsgärten bis hinunter zum Fluss Schuylkill vom Anstand durchdrungen jene Versuche ausführte, die beweisen würden, dass er im Gegensatz zu Wilhelm Röntgen versagt hatte, nicht, weil er nicht verstanden hätte, auch nicht, weil ihm das Glück abhold gewesen wäre, sondern irgendwas dazwischen: Erfolg, der aus Konzentration und dem rechten Zeitpunkt hervorgeht.
Kurz nach unserem Kennenlernen verbrachten Johannes und ich einen Nachmittag im Victoria and Albert Museum. Es war Samstag, und ich war von der Station Marble Arch aus durch den Hyde Park zum Albert Memorial spaziert, am Ufer des Serpentine entlang. In jener Woche hatte ein falscher Frühling Einzug gehalten, hatte die schweren Vorhänge des Winters auseinandergeschoben, um Licht und Luft in die frühen Märztage zu lassen, die unerwartet warme Sonne hing noch tief genug am Himmel, dass ihr Schein den Spätsommer imitierte, wenn das Gold des Septembers schwer auf kahlen Ästen liegt und nur noch die lila Blüten der Christrose in ihren aufgehäuften Beeten Farbe spenden. Schon am nächsten Wochenende würde tristes Grau uns wieder in Mantel und Schal zwingen, noch mindestens einen Monat lang, doch jener vorübergehende Lichtblick verhieß ungeahnte Möglichkeiten. Ich war nervös, denn ich hatte unseren kleinen Ausflug vorgeschlagen und fürchtete nun, dass ich oder Johannes keine Freude daran haben würden und sich einer von uns nach einer Stunde mit einer gestammelten Ausrede verabschieden könnte, womit unsere erhoffte Verbindung langsam, enttäuschend im Sande verlaufen wäre. Bis zu jener Verabredung hatten wir kaum Zeit miteinander verbracht, uns nur zufällig und in Gesellschaft gemeinsamer Freunde getroffen, und ich hatte Sorge, dass diese Störung des Gleichgewichts uns befangen machen könnte und wir vielleicht feststellen würden, dass wir uns nichts zu sagen hatten.
Nachdem wir durch das große Eingangstor an den Cromwell Gardens getreten und das geräumige Foyer des Museums durchquert hatten, wandten wir uns ohne besonderen Grund nach rechts und betraten durch einen Bogen die Ausstellungsräume für das Mittelalter und die Renaissance, diese langen Korridore voller Lettner und Tafelbilder, Schnitzereien und Waffen, Relikte einer vergangenen Zeit, unvorstellbar und gewöhnlich zugleich, die Fremdheit alltäglich, wie eine alternative Antwort auf eine vertraute Frage. Lange standen wir vor einem Altargemälde, ein sonderbares, halluzinatorisches Werk, gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts in Hamburg entstanden, mit Holzflügeln zu beiden Seiten eines Hauptbilds, das komplette Triptychon in insgesamt 45 Kästchen mit Szenen der Johannesoffenbarung unterteilt, eine sorgfältige Darstellung der nahenden Apokalypse. Bild für Bild wanderten wir bis ans Ende der Welt: Die sieben Siegel wurden geöffnet, sieben Posaunenstöße erschollen, die Erde tat sich auf. Schwefel regnete wie schwarzer Hagel herab, und Blut ergoss sich in einer hellroten Flut durch die engen Gassen einer mittelalterlichen Stadt, spülte ertrunkene Pferde an den Bürgern vorbei, die aus ihren Fenstern hinabblickten, ihre Welt im Zusammenbruch begriffen. Während ich neben Johannes stand, in der Stille hinter uns die knarzenden Schritte der anderen Besucher, versuchte ich mir vorzustellen, wie es wäre, unter diesem Bild, frisch gemalt, seinem täglichen Leben nachzugehen – vielleicht trat es in den Hintergrund, bis man sich an seine Schrecken gewöhnt hatte, und womöglich verblasste seine Wirkung mit jedem Tag, den seine Prophezeiung nicht eintraf. Doch stattdessen erkannte ich nur den großen Zufall, der uns und dieses Bild hierhergebracht hatte – wie leicht war es doch, eine mögliche Zukunft wegen einer anderen abzubrechen und im Rückblick stattdessen, was hätte sein können, nur diese dünne, zufallsbedingte Linie zu sehen, das Geschehene, das aus der unendlichen und leeren Finsternis des Ungeschehenen aufsteigt.
Als wir danach durch die anderen Abteilungen spazierten, verschwanden Statuen und Keramiken in einer grauen Weite aus Zeit und Ort, und unsere Unterhaltung war wenig mehr als eine vorsichtige Aneinanderreihung trivialer Beobachtungen, bis wir schließlich im Café saßen und Johannes mir von seiner Familie erzählte, wenig bemerkenswerte, aber intime Details einer nicht immer glücklichen Kindheit, von seinem abwesenden englischen Vater, dem er vergeben hatte, und der starken Persönlichkeit seiner Mutter, eine große, schlanke Frau in einem großen schlanken Haus bei Harwich mit Blick übers Meer, dieses graue Gewässer, an dessen anderem Ufer irgendwo ihre Heimat lag. Diese Einzelheiten, so alltäglich sie mir auch erschienen, wurden mir zum Geschenk gemacht, als Geste des Vertrauens oder der Nähe über den Tisch gereicht, und nach einigem Suchen, denn ich wollte mich irgendwie revanchieren, fiel mir nur meine Mutter ein und der Umstand, dass mir ihr Tod wie ein plötzliches Ereignis erschienen war, das in Zeitlupe ablief, ein einzelner erschreckender Augenblick, auf Monate ausgedehnt. Den ganzen Sommer danach, während ich hinüberglitt ins stille Auge der Trauer, schlief ich oft wie eine Katze an sonnigen Plätzen, in Sesseln, auf Läufern zusammengerollt, und träumte, dass sie gar nicht tot, sondern nur gegangen wäre, ohne mir Bescheid zu sagen, und sich nun, zurückgekehrt, in den Schatten ihrer Abwesenheit zwängte – doch nicht mehr hineinpasste. In dieser kurzen Zeit war ich gewachsen und hatte mich verändert – ihr Haus war weg, und in der Wohnung, die ich stattdessen besaß, gab es kein Bett mehr für sie, keine Tasse, keine Teller, keine Kleidung. Diese Träume waren entsetzlich, und meine Hände krallten sich dabei so tief in meine Brust, dass ich beim Erwachen kleine halbmondförmige Kerben auf der Haut entdeckte. Minutenlang lag ich dann einfach da, gelähmt, bis in der stillen, leeren Wohnung endlich die Wahrheit an die Oberfläche stieg: Das Geschehene war unwiderruflich und meine Trauer angemessen, schrecklich, aber einzigartig, ein Besitz, den der Eigentümer niemals veräußern konnte.
– Meine Mutter ist gestorben,
sagte ich zu Johannes, streckte meine Hand über die entstandene Stille hinweg und legte sie auf seine.
Obwohl ich nun die ganze Zeit über bei meiner Mutter wohnte, stieß ich bei ihrer Pflege irgendwann an meine Grenzen. Eines Morgens, als sie sich aus dem Bett und mit der Gehhilfe zum Badezimmer quälte, stürzte sie und landete mit einem heftigen Aufprall auf dem Hinterteil. Sie hatte sich zwar nicht verletzt, konnte sich aber nicht mehr aufrichten, und nachdem ich einige Versuche angestellt, sie mal hierhin, mal dorthin gezogen und verschiedene Möbelstücke als Hilfsmittel und Hebel herbeigeholt hatte, musste ich aufgeben, denn sie war einfach zu schwer. Ich musste einen Krankenwagen rufen, auf den wir, weil sie kein Notfall war, stundenlang warteten, Seite an Seite auf dem Boden im Schlafzimmer. Irgendwann servierte ich uns ein Mittagessen, Sandwiches, die wir auf dem Schoß aßen, ein Picknick für zu Hause, wie sie es uns in Kindertagen manchmal an verregneten Samstagen zubereitet hatte, und in der zerbrechlichen Gussform der Erinnerung entstand eine Art Komplizenschaft, ein Aufflackern der Nähe, die wir einst zueinander empfunden hatten, sodass es kurz so schien, als wären wir glücklich.