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Endnoten

Sigmund Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, hrsg. von Jeffrey Moussaieff Masson, Bearbeitung der dt. Fassung von Michael Schröter, Transkription von Gerhard Fichtner, S. Fischer Verlag 1986

Sigmund Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, hrsg. von Jeffrey Moussaieff Masson, Bearbeitung der dt. Fassung von Michael Schröter, Transkription von Gerhard Fichtner, S. Fischer Verlag 1986

Sigmund Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, hrsg. von Jeffrey Moussaieff Masson, Bearbeitung der dt. Fassung von Michael Schröter, Transkription von Gerhard Fichtner, S. Fischer Verlag 1986

Anna Freud an Freud, 31. Januar 1913, Freud Collection, Library of Congress (oder Peter Gay, Freud – Eine Biografie f. unsere Zeit, S. Fischer 2006, S. 489)

Für Ada,
die es mir schwer,
aber möglich machte

Ein neuer Sommer, das Wetter noch wechselhaft, aber nicht mehr klirrend kalt, und ich bin wieder schwanger. Vor mir auf dem Schreibtisch die ganz normale Unordnung, dahinter das Fenster, die regennasse Scheibe mit Blick auf den Garten, wo meine Tochter spielt, unter Johannes’ wachsamem Auge. Langsam verliert sie das ungestüme Taumeln des Kleinkinds. Das fällt mir auf, wenn wir nebeneinander hergehen, denn das tun wir jetzt getrennt, oder wenn wir einander gegenübersitzen – wie viel größer sie jetzt ist, aufrechter, ihr Handeln zielgerichteter, sie gehört nicht mehr mir, sondern nur sich selbst. Eben noch konnte man ihr jeden Gedanken am Gesicht ablesen, doch jetzt ist das offene Mienenspiel verschwunden, sie ist nicht mehr so durchschaubar: Mit der Komplexität kam auch die Fähigkeit, Gefühle zu verbergen. Wenn ich sie hochhebe, überrascht mich ihr Gewicht, das Unvertraute eine ständige Betonung der Distanz zwischen uns. Früher ist sie auf mir herumgeklettert, hat mit den Beinen meine Hüfte umklammert, die Arme um meinen Nacken geschlungen, als wäre ich ein Möbelstück oder eine

 

Am 28. Dezember 1895 präsentierten die Brüder Lumière, Auguste und Louis, dem Pariser Publikum im Salon Indien du Grand Café zum ersten Mal eine Auswahl von zehn selbst gedrehten Filmen. Den ganzen Nachmittag über hatten die Leute in Erwartung eines Wunders am Boulevard des Capucines Schlange gestanden, während ihr gefrorener Atem in die eiskalte Luft aufstieg. Später, als sie auf Klappstühlen Platz genommen hatten, sahen sie es dann endlich: flackernde Schwarz-Weiß-Bilder von Auguste, der seine kleine Tochter dicht vor ein Goldfischglas hält, sie auf die Beinchen stellt, damit sie von oben aufs Wasser blicken kann, sprunghafte, taumelnde Bilder projizieren einen schon Monate zurückliegenden Sommernachmittag direkt in die winterliche Dämmerung hinein. Zur selben Zeit eilte Wilhelm Conrad Röntgen, Professor der Physik, durch die Straßen seiner fast tausend Kilometer entfernten Stadt, um dem Präsidenten der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft zu Würzburg eine Mitteilung zu

Vor vielen Jahren gab es eine Zeit, da habe ich der Gleichzeitigkeit dieser Ereignisse eine Bedeutung beigemessen. Damals musste ich entscheiden, ob ich ein Kind bekommen wollte oder nicht. Monatelang, den ganzen verregneten Frühling hindurch und auch noch in den ersten trüben Tagen des Sommers, hatten Johannes und ich abends Seite an Seite auf dem Sofa oder im Garten gesessen und darüber gesprochen oder geschwiegen, und mir war es vorgekommen, als wäre es um nichts anderes mehr gegangen, unsere Worte nur der Subtext zu meiner Unfähigkeit, einen Weg aus dieser selbst geschaffenen Zwickmühle zu finden. Ich wünschte mir mit aller Macht ein Kind, konnte mir aber nicht vorstellen, schwanger oder Mutter zu sein, denn ich sah mich nur so, wie ich in jenem Moment war oder zu sein glaubte: unverbunden, ohne innere Mitte, verängstigt. Die Unwiderrufbarkeit der Geburt und alles, was danach käme, erfüllte mich mit Entsetzen, genau wie die Vorstellung, dass die Aufgabe, ein Kind großzuziehen, diese Verantwortung, vor der man sich nicht drücken kann, jede Handlung zu einem

– Ich weiß nicht, was ich tun soll, was soll ich tun?,

bis er mein Gesicht umschloss und

– Ich liebe dich

sagte, weil alles andere schon gesagt war. Für ihn lag die Antwort klar auf der Hand: Wir würden ein Kind bekommen, der Rest würde sich finden. Er hatte keine Angst davor, dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein, hegte keinerlei Zweifel an seiner Fähigkeit, jemanden ganz zu machen, sah nicht, wie sich hinterher, wenn es bereits zu spät wäre, der Boden unter unseren Füßen auftäte und wir abstürzten, das von uns gewollte Kind in unserer Mitte. Obwohl er stets liebevoll war, wusste er nicht, was er mir sonst noch sagen sollte, und irgendwann bemerkte ich bei ihm einen frustrierten Unterton, den er rasch zu unterdrücken versuchte. Statt zu arbeiten, saß ich tagelang an meinem Schreibtisch mit Blick auf den damals noch leeren Garten und sah mir die zweiundvierzig Sekunden lange Filmsequenz der Brüder Lumière an, La Pêche aux Poissons Rouges. Daran klammern wir uns in solchen Situationen: die Illusion, dass irgendwo auf der Welt eine Lösung existiert und wir sie nur finden müssen,

 

Während seiner Kindheit in den Niederlanden, wohin er im Alter von drei Jahren mit seinen Eltern aus seinem Geburtsland Deutschland ausgewandert war, hatte Wilhelm Conrad Röntgen kein besonderes akademisches Talent gezeigt. Wenn überhaupt, zeichnete sich lediglich ein für sein Alter ungewöhnliches Geschick im Umgang mit Maschinen ab, er konnte mithilfe von Zahnrädern und Hebeln eine Vorstellung in die Praxis umsetzen, und er besaß eine gewisse Fingerfertigkeit, die er später bei der

 

In den Monaten nach dem ersten Zusammenbruch meiner Mutter, ausgelöst von einer plötzlichen Hirnblutung, die zwar aufgehalten, aber nicht gestoppt werden konnte, schwanden ihr nach und nach die Kräfte und die Sinne. Ihre Muskeln verloren die Spannung, die Gelenke die Verankerung. Die Medikamente, die sie einnahm, um das Schlimmste aufzuhalten, ließen ihren Körper auf das Zweifache anschwellen, bis sie mit ihrem runden,

 

Im Jahr 1890, fünf Jahre bevor Wilhelm Röntgen die Auswirkungen der neuen Strahlen verfolgen würde, schob

 

Kurz nach unserem Kennenlernen verbrachten Johannes und ich einen Nachmittag im Victoria and Albert Museum. Es war Samstag, und ich war von der Station Marble Arch aus durch den Hyde Park zum Albert Memorial spaziert, am Ufer des Serpentine entlang. In jener Woche hatte ein falscher Frühling Einzug gehalten, hatte die schweren Vorhänge des Winters auseinandergeschoben, um Licht und Luft in die frühen Märztage zu lassen, die unerwartet warme Sonne hing noch tief genug am Himmel, dass ihr Schein den Spätsommer imitierte, wenn das Gold des Septembers schwer auf kahlen Ästen liegt und nur noch die lila Blüten der Christrose in ihren aufgehäuften Beeten Farbe spenden. Schon am nächsten Wochenende würde tristes Grau uns wieder in Mantel und Schal zwingen, noch mindestens einen Monat lang, doch jener vorübergehende Lichtblick verhieß ungeahnte Möglichkeiten. Ich war nervös, denn ich hatte unseren kleinen Ausflug vorgeschlagen und fürchtete nun, dass ich oder Johannes keine Freude daran haben würden und sich einer von uns nach einer Stunde mit einer gestammelten Ausrede verabschieden könnte, womit unsere erhoffte Verbindung langsam, enttäuschend im Sande verlaufen wäre. Bis zu jener Verabredung hatten wir kaum Zeit miteinander verbracht, uns nur zufällig und in Gesellschaft gemeinsamer Freunde getroffen, und ich hatte Sorge, dass diese Störung des Gleichgewichts uns befangen machen könnte und

Nachdem wir durch das große Eingangstor an den Cromwell Gardens getreten und das geräumige Foyer des Museums durchquert hatten, wandten wir uns ohne besonderen Grund nach rechts und betraten durch einen Bogen die Ausstellungsräume für das Mittelalter und die Renaissance, diese langen Korridore voller Lettner und Tafelbilder, Schnitzereien und Waffen, Relikte einer vergangenen Zeit, unvorstellbar und gewöhnlich zugleich, die Fremdheit alltäglich, wie eine alternative Antwort auf eine vertraute Frage. Lange standen wir vor einem Altargemälde, ein sonderbares, halluzinatorisches Werk, gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts in Hamburg entstanden, mit Holzflügeln zu beiden Seiten eines Hauptbilds, das komplette Triptychon in insgesamt 45 Kästchen mit Szenen der Johannesoffenbarung unterteilt, eine sorgfältige Darstellung der nahenden Apokalypse. Bild für Bild wanderten wir bis ans Ende der Welt: Die sieben Siegel wurden geöffnet, sieben Posaunenstöße erschollen, die Erde tat sich auf. Schwefel regnete wie schwarzer Hagel herab, und Blut ergoss sich in einer hellroten Flut durch die engen Gassen einer mittelalterlichen Stadt, spülte ertrunkene Pferde an den Bürgern vorbei, die aus ihren Fenstern hinabblickten, ihre Welt im Zusammenbruch begriffen. Während ich neben Johannes stand, in der Stille hinter uns die knarzenden Schritte der anderen Besucher, versuchte ich mir vorzustellen, wie es wäre, unter diesem Bild, frisch gemalt, seinem täglichen Leben nachzugehen – vielleicht trat es in den Hintergrund, bis man sich an seine Schrecken gewöhnt hatte, und

Als wir danach durch die anderen Abteilungen spazierten, verschwanden Statuen und Keramiken in einer grauen Weite aus Zeit und Ort, und unsere Unterhaltung war wenig mehr als eine vorsichtige Aneinanderreihung trivialer Beobachtungen, bis wir schließlich im Café saßen und Johannes mir von seiner Familie erzählte, wenig bemerkenswerte, aber intime Details einer nicht immer glücklichen Kindheit, von seinem abwesenden englischen Vater, dem er vergeben hatte, und der starken Persönlichkeit seiner Mutter, eine große, schlanke Frau in einem großen schlanken Haus bei Harwich mit Blick übers Meer, dieses graue Gewässer, an dessen anderem Ufer irgendwo ihre Heimat lag. Diese Einzelheiten, so alltäglich sie mir auch erschienen, wurden mir zum Geschenk gemacht, als Geste des Vertrauens oder der Nähe über den Tisch gereicht, und nach einigem Suchen, denn ich wollte mich irgendwie revanchieren, fiel mir nur meine Mutter ein und der Umstand, dass mir ihr Tod wie ein plötzliches Ereignis erschienen war, das in Zeitlupe ablief, ein einzelner erschreckender Augenblick, auf Monate ausgedehnt. Den ganzen Sommer danach, während ich hinüberglitt ins stille Auge der Trauer, schlief ich oft wie eine Katze

– Meine Mutter ist gestorben,

sagte ich zu Johannes, streckte meine Hand über die entstandene Stille hinweg und legte sie auf seine.

 

Obwohl ich nun die ganze Zeit über bei meiner Mutter wohnte, stieß ich bei ihrer Pflege irgendwann an meine Grenzen. Eines Morgens, als sie sich aus dem Bett und mit der Gehhilfe zum Badezimmer quälte, stürzte sie und landete mit einem heftigen Aufprall auf dem Hinterteil. Sie hatte sich zwar nicht verletzt, konnte sich aber nicht mehr aufrichten, und nachdem ich einige Versuche angestellt, sie mal hierhin, mal dorthin gezogen und verschiedene Möbelstücke als Hilfsmittel und Hebel herbeigeholt hatte, musste ich aufgeben, denn sie war einfach zu schwer. Ich