Schwarzer August

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sondern auch für das, was wir nicht tun.

Molière

In dem Feuerwerk bildeten Soraias Grübchen und ihre Sommersprossen die einzigen Fixpunkte. Sie gaben ihm Halt, er musste nicht nach Ecken Ausschau halten, die sonst seinen Puls beruhigten. Denn Leander Losts Puls raste. Und die Sommersprossen – es waren 47, im Sommer wie jetzt ausgeprägt, im Winter blasser – und die Grübchen bildeten den festen Rahmen, in dem sich das Feuerwerk vollzog.

In Soraias Gesicht nämlich. Ein Gewitter an Mikroexpressionen, über die sie wie jeder Mensch keinerlei Gewalt hatte, da sie die Mimik beherrschten, bevor das Bewusstsein wieder die Kontrolle darüber übernahm. Aber Soraia hatte nicht die Absicht, ihre Gefühle zu verbergen. Sie gab sich dem Genuss hin, und Leander bot sich jenes Feuerwerk aus Gefühlen, das niemals dem vorherigen glich. Jedes ein Unikat.

Für Leander war es, als könnte er fliegen: die Schwingen ausbreiten und segeln. Und dabei trotzdem überall Berührungspunkte mit Soraia haben und ihren Geruch einatmen. Wenn er seine Nase in ihren Hals vergrub, atmete er eine unaufdringliche Mischung aus Paprika und Lavendel.

Soraia wurde nicht müde, Leander dicht bei sich zu haben. Sein sinnlicher Mund, die langen Wimpern, die feingliedrigen Finger – und wenn sie sich so wie jetzt liebten: das kindliche Staunen, mit dem er sie betrachtete. Wie ein Neugeborenes, das überrascht einen ersten Blick in die Welt warf.

 

Danach lagen sie ermattet unter dem Moskitonetz, das zusammengerollt von der Decke baumelte, und strichen mit den Händen in sanften Bahnen über die Haut des anderen.

»Du riechst nach Sandelholz«, flüsterte Soraia.

Eine Meeresbrise fächerte durch das kleine Schlafzimmerfenster in den Raum und brachte die Morgenluft zum Tanzen. Es war der erste Sonntag im August, und die 23 Grad morgens um halb acht, die an der gesamten Ostalgarve herrschten, ließen für den Tag Temperaturen über dreißig Grad erwarten.

»Das sind die Pheromone«, erklärte Leander, »unsere Zuneigung ist das Produkt eines chemischen Prozesses.«

Soraia, die noch halb in seinem Arm lag, küsste ihn auf die Schulter. »Mein Romantiker«, sagte sie leise und lächelte.

Am liebsten wäre sie den ganzen Sonntag mit ihm hier liegen geblieben. Sie hätten vielleicht im Bett gefrühstückt, sich Dinge aus ihrem Leben erzählt, sich wieder geliebt, wären ein paar Runden im Pool geschwommen, Arm in Arm auf einem der Liegestühle eingeschlafen. So in etwa.

Denn seit knapp einer Woche war das im Großen und Ganzen ihr Tagesablauf. Vor sieben Tagen hatten sie sich in die Villa Elias zurückgezogen, das Telefon ausgestöpselt und die Handys in die Schublade neben der Eingangstür verfrachtet (vermutlich waren ihre Akkus längst leer). Sie hatten den Rest der Welt hinter sich abgeschlossen und nichts anderes getan, als den lieben langen Tag ihre Zweisamkeit zu genießen. Sich anzuschauen und in der Miene des anderen die eigene Ungläubigkeit darüber zu entdecken, dass dies alles gerade zwischen ihnen stattfand. Gegen jedes Gebot von Wahrscheinlichkeit und Glück.

 

Am sechsten Tag kamen zwei Jungs um die zehn Jahre mit frischen Sardinen vorbei, die sie in aller Bescheidenheit als die

»Obrigado, obrigado!«, riefen sie noch bis zur nächsten Biegung des Feldwegs.

Allerdings gab es in der Villa Elias keine einzige Zitrone mehr, wie Soraia und Lost feststellten – obwohl Leander Lost über eine bestens organisierte Vorratshaltung verfügte. In Fuseta munkelte man, der Alemão sei für einen nuklearen Winter gerüstet. Wie dem auch sei: Gegrillte Sardinen ohne ein paar Spritzer Zitrone waren selbstverständlich undenkbar. Aber es gab ja Zara. Sie ersparte Soraia und Leander den Weg nach Fuseta.

 

Auf dem Gelände der Villa Elias stand eine weiß gestrichene Casinha, ein Gästehäuschen, das auf zwanzig Quadratmetern einen überschaubaren Wohnraum inklusive Bett, eine Küchenzeile und ein Badezimmer beherbergte. Seit Losts erstem Fall an der Algarve wohnte die bald achtzehnjährige Vollwaise darin – und half ihnen mit Zitronen aus.

Zara lebte in Leanders Obhut, aber die Casinha war ihr Refugium, in dem er sie niemals ohne triftigen Grund behelligte – und triftige Gründe hatte es übers Jahr gezählt wenige gegeben. Manchmal aßen sie zusammen, manchmal suchte Zara auch seine Nähe, um ihn etwas zu fragen. Leander war praktisch eine wandelnde Wissensdatenbank, die täglich weiter anwuchs. Denn der Kommissar mit Asperger-Syndrom vergaß nicht.

Nie.

Zara sprach auch mit ihrem Freund über Dinge, die sie beschäftigten. Oder mit Soraia oder deren Schwester Graciana. Aber der Blick des Alemão auf die Welt, das Leben, die Menschen, auf praktisch jedes beliebige Thema, war stets ein

Während die Betreuer im Waisenheim ihr von morgens bis abends Vorschriften gemacht und sie damit eingezäunt hatten, trat Lost mit keiner Zehenspitze über die unsichtbare rote Linie, die sie eng um sich herum gezogen hatte. Er war nur mit ihrem Schutz beschäftigt. Und nichts sonst an ihr schien ihn zu interessieren.

Sie war damals die einzige Zeugin gewesen, die den Mörder ihrer Mutter identifizieren konnte – und deshalb in Lebensgefahr. Und sie hatte Leander Lost anfangs nicht leiden können, ja, sie misstraute ihm. Womit er keine Sonderstellung einnahm, denn zu dem Zeitpunkt misstraute sie der ganzen Welt.

»Komm ich lebend da raus, können Sie das versprechen?«, hatte sie ihn damals gefragt.

Und Leander Lost hatte in seinem schwarzen Anzug mit ihr am Pool gesessen und ein Kopfschütteln angedeutet: »Nein. Ich kann nur versprechen, dass du nach mir stirbst.«

Diese Bedingungslosigkeit hatte Zara nach und nach aus ihrem Schneckenhaus gelockt. Sie, die die Schule damals schon abgehakt hatte, stand mittlerweile kurz vor ihrem Abitur, und aus dem schreckhaften und misstrauischen Mädchen war eine selbstbewusste, empathische junge Frau geworden.

 

Leander und Soraia hatten Zara auf ihre Terrasse eingeladen, die im Wesentlichen aus einem großen Steintisch samt Eckbank bestand und mit hellbraunen Fliesen ausgelegt war. Sie war überdacht und bot Schutz vor Sonne und Blicken. Von hier aus waren es nur wenige Meter zu dem von blühenden Oleanderbüschen umsäumten Pool, der sich in der Länge auf zwölf Meter erstreckte. Aus der Überdachung der Terrasse lugten abends die Geckos hervor, klebten kopfüber auf Stein und Bambus und übten sich in Erstarrung. Scheinbar. Denn wenn

Als Zara mit den Zitronen eintraf, wendete Leander gerade die Sardinen auf dem Holzkohlegrill. Es zischte.

»Ah, die Zitronen«, sagte er. »Was möchtest du trinken?«

Als sie ihn sah, fielen ihr vor Erstaunen die Früchte herunter.

Zara sammelte sie auf, als wäre nichts geschehen.

Und dann aßen sie zu dritt die Sardinen, die sie mit dem Zitronensaft beträufelten.

 

Tags darauf trafen die Rosados, Soraias Eltern, Zara – ganz zufällig, wie sie betonten – in der Pastelaria am Largo, wie man den kleinen zentralen Platz nannte. Was vielleicht kein allzu großer Zufall war, weil Zara dort jeden Sonntag Pastéis de nata kaufte, die kleinen Blätterteigtörtchen. Und sich noch weniger als Zufall entpuppte, weil Raquel Rosado gerade eben Conquilhas erstanden hatte, zufällig Zaras Lieblingsspeise. So frisch, dass das Salzwasser der Lagune an den Schalen der winzigen Muscheln abtropfte. Und prompt lud Raquel sie auf einen kurzen Snack ein.

Zara konnte es ihr nicht abschlagen. Für die Conquilhas von Raquel Rosado wäre sie bis zum Südpol marschiert.

Das Haus der Rosados schloss im zweiten Stock in Form einer ausladenden Dachterrasse ab, die auf einer Seite von kleinen Palmen in Trögen gesäumt wurde. Ein paar Wäschestücke wiegten sich im warmen Wind, ein Schwarm Möwen zog meckernd über ihre Köpfe hinweg, einige Haustüren weiter hörte jemand einem Tenor zu. Die winzigen Muscheln im Sud aus Öl, Weißwein, Koriander und Knoblauch waren ein Gedicht. Zara ertappte sich dabei, wie sie beim Essen seufzte.

António Rosado beugte sich in seinem Rollstuhl vor, umfasste mit seiner rechten Hand – die mühelos einen Apfel vor den Blicken Dritter verbergen konnte – die Kelle und füllte ihr nach.

»Ich bin satt.«

António flankierte die Aussage seiner Frau mit einem Nicken und schob ihr auch den kleinen Bastkorb mit den gerösteten Weißbrotscheiben zu.

»Na schön«, sagte Zara und benutzte eine leere Muschel als Zange, um das Fleisch aus den anderen Conquilhas zu lösen. Die Muscheln maßen kaum mehr als einen Fingernagel.

»Wie läuft es in der Schule?«, fragte António Rosado. Seine Gesichtszüge waren jetzt weich und nachgiebig, aber er konnte auch anders. Er hatte früher bei der Guarda Nacional Republicana, kurz GNR, als Leiter der örtlichen Polizeistation gearbeitet. Und sich vor sieben Jahren oben an der Nationalstraße 125 nach einem Überfall auf einen Geldtransporter allein auf weiter Flur einen offenen Schusswechsel mit den fünf Tätern geliefert. Daher der Rollstuhl.

»Ich muss mich noch in Englisch anstrengen, ich hab ja nur ein Jahr für den Lernstoff, für den die anderen zwei Jahre haben.«

Es war der Tribut an ihre Verweigerungshaltung während ihrer Monate im Heim, durch die sie den Anschluss verloren hatte.

»Und wenn du dir ein Jahr mehr Zeit nimmst?«, fragte Raquel. »Es kann doch nicht darum gehen, möglichst viel Wissen zu stapeln, hm? Es gibt ja auch noch ein Leben da draußen …«

»Ja, schon. Aber ich möchte … auf eigenen Füßen stehen. Größtmögliche Bildung bedeutet größtmögliche Unabhängigkeit.«

»Senhor Lost?«, fragte António Rosado.

Sie grinste ertappt und nickte.

»Apropos«, nahm Raquel wie zufällig den Ball auf: »Wie geht es unserer Tochter und Senhor Lost? Wir haben seit Tagen nichts gehört. Gut?«

Stattdessen spannte sie sie nicht länger auf die Folter und erzählte, dass Soraia und Leander seit etwa einer Woche praktisch nicht mehr das Haus verließen und sie gestern erst mit ihnen Sardinen gegessen hatte.

»Sie haben kaum die Augen voneinander gelassen, und sie haben gegessen wie die Spatzen«, berichtete sie. »Mich haben die beiden auch nicht richtig wahrgenommen.«

Raquel sagte nichts. Sie lächelte nur und legte Zara spontan die Hand auf den Unterarm.

António atmete erleichtert aus, seine Mundwinkel hoben sich zwar nur ein wenig, aber seine Augen lächelten breit. Als Raquel das bemerkte, legte sie ihre andere Hand in seine, in der sie beinahe verschwand.

»Und Leander hatte weiße Shorts und ein hellblaues Hemd an.«

»Nein«, entfuhr es den beiden.

»Doch.«

Und daraufhin lächelten sie noch breiter.

 

Zu diesem Zeitpunkt, sonntags, halb zwölf, wachte Soraia allein im Bett auf. Sie legte ihre Hand links neben sich, auf Leanders Seite. Kalt.

Sie musste wieder eingeschlafen sein. Sie reckte sich, erstarrte aber mitten in der Bewegung. Denn kurz hatte sie die Angst gepackt, er könnte einfach verschwunden sein. Überfordert mit der Situation. Aber die Blicke zu seinem Nachttisch und zum Fensterbrett genügten Soraia, um sich zu beruhigen: ein daumengroßes Auge, aus Speckstein geschnitzt, das neben seinem Bett stand. Und unter dem Fenster ein Blitz aus demselben Material.

Sie war noch nie dabei gewesen, aber sie glaubte ihm jede Silbe. Denn erstens konnte er nicht lügen, und zweitens hatte Zara es einmal erlebt, als sie einige der Skulpturen als Beschwerer für Servietten zweckentfremdet hatte. Sie wollte es nie wieder erleben.

 

Er stand mit weißen Shorts und nacktem Oberkörper am Pool, hinter dem das versengte Brachland sich über einen Kilometer weit bis zum nächsten Haus erstreckte. Die Zikaden zirpten, die Sonne hatte den Beckenrand erwärmt, auf dem Leander barfuß balancierte und mit dem Kescher die Insekten aus dem Pool fischte.

Er tat das gerne am Morgen, noch vor dem Frühstück, weil die ersten Bienen und Hummeln bereits nach Sonnenaufgang in dem Becken havarierten und ihren Todeskampf aufnahmen, den sie unweigerlich verloren, sofern Leander sie nicht rettete. Es war ihm unmöglich auszuschlafen, während sie ertranken. So zog er mit starrer, unbeweglicher Miene schon zum zweiten Mal heute mit dem Kescher systematische Bahnen durch das Wasser.

Hätte Soraia ihm neutral gegenübergestanden, hätte sie sein Verhalten als zwanghaft eingestuft. So fand sie es rührend.

Sie hatte zwei Gläser mit frisch gepresstem Orangensaft mitgebracht, von denen sie ihm eines reichte, nachdem er seine Rettungsaktion beendet hatte.

»Obrigado.«

»De nada.«

Leander trank mit Durst, sein Kehlkopf hob und senkte sich. Er lächelte sie an: »Schmeckt pelzig.«

Soraia nahm es sportlich. Er konnte ohnehin von sich geben,

Aber eins, eins wollte sie dann doch wissen: »Wie ist das mit den Pheromonen?«

»Wie das ist?«, hakte Leander nach.

Soraia nickte und präzisierte ihre Frage: »Dass sie der Grund sind für … dass wir jetzt diese Tage verleben.«

»Ja.«

»Das heißt, es ist vorherbestimmt?«

»Nein, es ist ein … Wunder.«

Soraia stutzte. Leander glaubte nicht an Wunder. Er glaubte an überhaupt nichts. Darauf angesprochen, zitierte er gerne Marie von Ebner-Eschenbach: »Wer nichts weiß, muss alles glauben.« Er wusste lieber.

Bloß, dass sich Wunder nicht mit Wissen erklären ließen.

»Entziehen Wunder sich nicht dem Wissen?«

»Nicht das Wunder, das ich meine. Wunder sind per Definition Dinge, die sich nach menschlicher Vernunft oder Erfahrung kaum ereignen können.«

Leander setzte sich auf den Beckenrand und ließ die Füße im Pool baumeln. Soraia nahm neben ihm Platz. Dort, wo ihre Unterschenkel die Wasseroberfläche durchbrachen, beschrieben sie einen unwirklichen Knick. Und die Sonne zeichnete irrlichternde Muster auf ihre Haut.

»Es gibt nur diesen winzigen Spalt, von außen betrachtet wie ein minimaler Ausschlag in einer konstanten Linie«, begann er und überlegte kurz. »Das ist die Lebenszeit, die ein Mensch hat. Die ist natürlich individuell, aber mit großzügig bemessenen hundert Jahren kann man die Sache recht gut überschlagen. Und um mit jemandem eine Liebesbeziehung einzugehen, muss man denjenigen vorher gut kennenlernen.«

Soraia nickte.

Er hob den Blick vom Pool und betrachtete ihre Grübchen:

»Und die Pheromone?«, hakte Soraia nach und nahm seine Hand.

»Die haben es besiegelt. Aber sie sind nur die Tür, die die Evolution einem aufstößt. Hindurchgehen muss man selbst.«

Sie saßen unbewegt. Eine Familie Schwalben ergriff die Chance und segelte hinab, knapp über der Wasseroberfläche, schnappte etwas von dem Nass auf und zog wieder davon. Soraia beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss. Am liebsten hätte sie Leander und sich für den Rest ihres Lebens hier eingeschlossen.

Sie ließ sich in den Pool gleiten. Leander betrachtete sie beim Dahintreiben im Wasser, während die Sonnenstrahlen sie beide warm bestrich. Er hatte das Gefühl, als legte man die Kontakte einer Neun-Volt-Batterie auf seine Zunge. Nur angenehmer.

 

So füllten sie die Tage. Und die Villa Elias bildete ihr geschütztes Eiland, auf dem sie tun und lassen konnten, wonach ihnen der Sinn stand.

Bis zum Nachmittag dieses 2. Augusts.