Dear Oxbridge

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Inhaltsverzeichnis

And the people I met at Oxbridge.

F. Scott Fitzgerald

Success is the ability to go from one failure to another with no loss of enthusiasm.

Winston Churchill

This England never did, nor never shall,

Lie at the proud foot of a conqueror,

But when it first did help to wound itself.

William Shakespeare

 

 

 

 

 

Meine Schulden und der Brexit haben eines gemeinsam: Oxbridge – also die Universitäten Oxford und Cambridge, die, wie es sich für Celebrity-Pärchen gehört, gerne im Wort Oxbridge verschmolzen werden. Dieses Oxbridge ist der Ursprung meiner Schulden und des Brexits. Meine Schulden waren Studienschulden. Ich hatte sie mir hart erarbeitet in ungefähr sieben Jahren Studium, erst in Cambridge, dann in Oxford. Ich habe nie ausgerechnet, wie viel ein Studium in England wirklich kostet. Aber alleine die Studiengebühren liegen im Bachelor bei ca. 9000 £ und für Master und Promotion bei ca. 6000 £ pro Jahr. Und dann sind weder Miete noch Essen bezahlt, und beides ist in England deutlich teurer als in Deutschland.

Ich will natürlich nicht sagen, dass die Studiengebühren für den Brexit verantwortlich sind. Aber eine Verbindung zwischen der neoliberalen Politik, der daraus entstehenden Ungleichheit – ja, wenn ein Bachelor 9000 £ Studiengebühren im Jahr kostet, dann macht das die Menschen eines Volkes nicht gleicher – und einem allgemeinen Verdruss gibt es schon. Viele Engländer haben nicht für den Brexit gestimmt, sondern gegen Austerity – also die Austeritätspolitik, bei der die Ärmsten immer weniger Unterstützung bekommen, während gleichzeitig zum Beispiel die Studiengebühren angehoben werden (und die Reichen weniger Steuern zahlen). Das Problem ist, dass viele Engländer denken, die Austerität käme aus der EU, speziell von Merkel. Und natürlich ist Merkel – wie der Deutsche an sich – ein Freund der Sparsamkeit. Aber die schlimmsten Auswüchse der Austerity und des Neoliberalismus kommen ursprünglich aus England und

Der größte englische EU-Freund war seinerzeit David Cameron. Und während er das Referendum vorbereitete, verkündete er, gleichzeitig auf einem goldenen Thron sitzend, bei einem Vier-Gänge-Menü, dass man den Gürtel jetzt deutlich enger schnallen müsste. Wo ist Cameron zur Uni gegangen? Ja, es war Oxford.

Und gleichzeitig wetterte Boris Johnson als Bürgermeister von London und Journalist gegen die EU und schürte alle möglichen Ressentiments, viele davon nachweislich frei erfunden. Wo ist Boris Johnson zur Uni gegangen? In Birmingham. Nein, Scherz, es war Oxford.

Michael Gove, der Strippenzieher, der dachte, er schafft es durch den Brexit zum Premierminister? Oxford.

Theresa May? Oxford.

Im Oktober 2016 waren von den 54 Premierministern der englischen Geschichte genau die Hälfte in Oxford gewesen. Ein weiteres Viertel hatte Cambridge besucht. Ein paar wenige haben in Schottland studiert, noch weniger im Ausland. Der Rest, Winston Churchill zum Beispiel, war auf Militärakademien gegangen und außerdem wohlgeboren genug, um ohne Studium Premier zu werden. (Wobei Churchills Geburtsort, Blenheim Palace, keine 30 Minuten von Oxford entfernt ist, man ihn also vielleicht auch Oxbridge zurechnen sollte.) In Großbritannien gilt: Manchmal regieren die Konservativen und manchmal regiert Labour, aber fast immer regiert Oxbridge.

Gläserne Decken, die bestimmte Gruppen vom

Der Brexit lässt sich auch als eine Art Putschversuch gegen diese übermächtige Oxbridge-Elite verstehen. David Cameron will, dass wir in der EU bleiben? Dieser reiche Schnösel, der als Aufnahmeritual in die überelitäre Piers Gaveston Society in Oxford mal ein Schwein gevögelt haben soll, der seit Jahren von Sparsamkeit spricht und selber immer feister wird, will, dass wir für die EU stimmen? I say!

Es ist, glaube ich, auch kein Zufall, dass die Stimme des Brexits, Nigel Farage von der United Kingdom Independence Party (UKIP), als einer der wenigen wichtigen Politiker Englands nicht in Oxbridge war. Nigel Farage hat gar nicht studiert. Er ist ein Mann des Volkes. Zumindest konnte er sich so inszenieren und damit eine Revolution gegen die Machthaber – also gegen die Oxbridge-Elite – anzetteln. Aber wie im Kasino, wo immer das Haus gewinnt, gewinnt in England immer Oxbridge. Nach dem Referendum krähte eine Zeit lang kein Hahn mehr nach Farage. Er kann Menschen bewegen, aber die Fäden haben andere in der Hand. Die wahren Gewinner sind Boris Johnson and the Oxbridge Boys. Von Cambridge Analytica ganz zu schweigen.

Es gibt so Momente im Leben, die vergisst man nicht mehr. In meiner Generation war das lange der 11. September. »Wo warst du am 11. September?« ist eine Frage, die wir fast alle beantworten können, wie frühere Generationen die nach dem Mauerfall oder der Mondlandung.

So ein Tag, den man nicht mehr loswird, war für mich der 24. Juni – der Tag, an dem der Ausgang des Brexit-Referendums bekannt gegeben wurde. Mein Freund und

In Oxford luden wir meine Kisten ins Auto. Viel Zeug hatte sich in den Jahren, die ich in England gelebt hatte, nicht angesammelt. Anstrengend war es trotzdem, die Kisten aus meinem Dachgeschosszimmer ins Auto zu laden. In dem engen englischen Treppenhaus, in dem man auch ohne Kisten nur schwer gehen konnte, ohne anzuecken, waren die Kisten kaum zu manövrieren. Auf dem dicken Teppich, mit dem Engländer wirklich jedes Treppenhaus auslegen, rutschte ich aus. Immerhin, ich fiel weich.

Nachdem wir das Auto eingeräumt hatten, aßen wir Fish & Chips in meinem Lieblingspub, kehrten in mein WG-Zimmer zurück und schliefen ein. Meinen Freund hatte ich in mein 80-cm-Bett verfrachtet. Ich selbst schlief auf einer alten Sportmatte, die gerade so neben das Bett passte. Für zwei Menschen war das englische Studentenzimmer eigentlich zu klein, weswegen sich mein Freund auch bis zum Umzug gesträubt hatte, mich jemals in England zu besuchen. England ist einfach zu eng für Zweisamkeit.

Bevor ich einschlief, checkte ich noch mal den Wechselkurs. Wenn man ein Promotionsstipendium in Euro ausgezahlt bekommt, die Studiengebühren aber in Pfund bezahlen muss, dann wird der Wechselkurs zur Herzkurve. Das tägliche Überprüfen der Rate war für mich so normal wie Zähneputzen und gleichzeitig so aufregend wie Pferderennen.

Plus ein Drittel, das war lange Zeit meine Faustregel für schnelles Pfund-zu-Euro-Rechnen gewesen. Ungefähr 1,30 €, daran hatte ich mich gewöhnt.

Vor dem Einschlafen fragte ich mich kurz, ob ich meine Studienschulden vielleicht noch vor dem Ausgang des Referendums begleichen sollte. Das Geld hatte ich fast zusammen, es fehlten noch ein paar Hundert Pfund, aber den Großteil hatte ich bereits zusammengespart. Würden die Briten gegen den Brexit stimmen, dann würde das Pfund leicht in die Höhe gehen, meine Schulden sich also vergrößern. Wenn die Briten aber für den Brexit stimmten – was keiner glaubte –, würde der Kurs in den Keller fallen und meine Schulden schlagartig schrumpfen. Es war ein Pokerspiel. Und ich setzte auf Brexit.

Am nächsten Morgen weckte mich mein Handy. »The EUR to GBP exchange rate has reached your threshold«, stand da.

Den Tracker hatte ich Jahre zuvor mal aktiviert, nur für den Fall, dass der Kurs irgendwann für ein paar Sekunden fällt. Der threshold – also die Grenze, die ich eingegeben hatte – war reine Fantasterei. Der Tracker war ein Scherz mit mir selbst gewesen: Im Fall einer Zombie-Apokalypse sterbe ich wenigstens schuldenfrei.

Als ich die Nachricht auf meinem Handy sah, freute ich mich. Ganz kurz freute ich mich. Pfundkurs auf Rekordtief.

Ich hatte gerade die Banking-App geöffnet, um schnell das Geld zu überweisen, da begriff ich erst, was dieser Kurs bedeuten musste. Als mich der Wechselkurs weckte, war meine Freude darüber so groß, dass mir erst mal gar nicht klar war, dass dieser Kurs nicht nur finanziell praktisch für mich, sondern politisch katastrophal war.

Plötzlich war mir übel. Ich stand auf, ging die zwei Stockwerke in die Küche hinunter, wo meine Mitbewohner mit gläsernen Augen in ihre Müslischalen starrten.

Wir waren sieben. Ein bunter Haufen aus Kontinentaleuropäern und Commonwealth – das bedeutet Australien und Kanada, aber auch Teile Afrikas. Wir studierten zwar alle in Oxford, Brite war aber keiner.

Wir schwiegen. Eine Mitbewohnerin stand auf und nahm mich in den Arm. Keiner musste es sagen, aber es lag so ein Gefühl im Raum: Wir fühlten uns mit Großbritannien zutiefst verbunden und gleichzeitig vollkommen fremd.

Ich ging wieder hoch. Durch den Schock hatte ich meine Überweisung unterbrochen. Jetzt wollte ich sie abschließen und gleichzeitig wollte ich auch nicht. Das Glück der Ersparnis war der Scham gewichen. Ich hatte auf den Brexit gewettet. Und ich hatte gewonnen. Was bedeutet: Wir hatten verloren.

 

Bevor wir uns auf die Rückfahrt nach Deutschland machten, mussten wir noch mal zu meinem College. Schon beim Einsteigen freute ich mich – zum ersten Mal, seitdem wir es gekauft hatten – ein französisches Auto zu fahren. Neben dem Peugeot-Schriftzug prangte der Umriss der Insel Sylt. Wir waren zwar noch nie auf Sylt gewesen, hatten uns aber nicht die Mühe gemacht, den Sticker abzukratzen, als wir den Peugeot vom Gebrauchtwagenhändler holten. Jetzt war ich froh darüber. Was unserem klapprigen Peugeot-Kombi an Sex-Appeal fehlte, machte er mit europäischem Kontinentalstolz wieder wett. In einem See aus englischen Fahnen waren wir ein kleiner Flecken Europa. In unserem Peugeot waren wir die letzten beiden Gallier und überall nur Römer.

Als wir an meinem College ankamen, gab es keine Parkplätze. Somerville College, dessen Mitglied ich zu diesem Zeitpunkt seit vier Jahren war und, wie uns die damalige Dekanin bei der Immatrikulation erklärte, auch immer sein würde, liegt im angesagten Viertel Jericho. Hier sind Parkplätze schwer zu ergattern. Eigentlich konnte ich immer

Also parkten wir auf der Woodstock Road, der großen Straße, die aus dem Stadtzentrum, an Somerville vorbei, hoch nach Summertown führt. Ich stieg aus, um Geld in den Parkscheinautomaten zu werfen, und merkte da erst, dass ich keine Pfund mehr hatte.

Ich ging die Straße entlang, Richtung Geldautomat, und rechnete aus, wie viel Zeit ich noch hatte, um Geld zu holen, es mir in Münzen wechseln zu lassen und zum Auto zurückzulaufen, wenn wir die Fähre noch bekommen wollten. Plötzlich geriet ich in eine Menschentraube.

Eigentlich ist Traube das falsche Wort. Die Menschen standen schweigend in regelmäßigem Abstand, dazwischen mindestens eine Armlänge Platz, auf dem breiten Bürgersteig und schauten alle in die gleiche Richtung. Ich folgte ihrem Blick. Sie schauten auf ein Café. Und auch

Die Nachricht war nicht eloquent. Sie war nicht mal schön geschrieben. Der Besitzer hatte sie offensichtlich schnell und wütend hingeschmiert. Und trotzdem berührte sie ein Dutzend wildfremde Menschen so sehr, dass sie stehen blieben, um sie anzustarren. Aber vielleicht blieben wir auch nicht wegen der Nachricht stehen, sondern wegen des Gefühls, das wir miteinander teilten. Keiner, der hier stand, war ein Brexiteer, so viel war klar. Auf dem Bürgersteig vor dem St. Giles Café hatten wir ein gallisches Dorf gefunden.

»Kommst du?«, rief mein Freund vom Auto. Wir mussten die Fähre kriegen und dieser Moment des Stehenbleibens hatte mich wichtige Zeit gekostet. Ich schaute auf meine Uhr und wurde leicht panisch, gleichzeitig war ich immer noch wie gefesselt von diesem Café und den Menschen, mit denen ich hier stand.

»Kann mir jemand Euro in Pfund wechseln? Ich brauche Münzen für den Parkautomaten …«, fragte ich in die

Aus der Jackentasche zog ich einen Fünf-Euro-Schein hervor und hielt ihn vor mich.

»Ich brauch nur ein Pfund«, sagte ich und dann, um die Stimmung aufzulockern, versuchte ich einen Witz. Ich schwenkte meinen Euro-Schein und sagte: »Wird im Wert nur steigen … also im Verhältnis zum Pfund zumindest.«

»Wissen wir«, sagte eine Britin. Ein Mann nickte. Eine andere Frau versuchte zu lächeln, kämpfte aber augenscheinlich mit den Tränen. Von links streckte sich mir ein Fünf-Pfund-Schein entgegen.

»Ich kann Ihnen einen Schein geben«, sagte der Besitzer des Scheines.

»Ich brauche leider Münzen für den Automaten«, antwortete ich.

»Ich habe zwei Pfund«, sagte ein anderer Brite und zeigte mir seine zwei Pfund-Stücke.

»Danke«, sagte ich und wollte ihm meinen Fünf-Euro-Schein im Tausch geben. Er gab mir seine Münzen, nahm meinen Schein aber nicht. Ich versuchte ihm meinen Schein in die Hand zu drücken.

»Nein, das ist schon okay«, sagte er.

»Nein, nimm doch den Schein. Ihr werdet jeden Eurocent brauchen«, sagte ich. Er nickte. Alle nickten. Aber meinen Schein nahm er nicht.

Auch ich musste weg. Die anderen blieben stehen. Jetzt aber standen sie dicht beieinander. Aus der Ferne sah es aus, als würden sie sich umarmen.