image

Frank Urbaniok

Darwin schlägt Kant

Über die Schwächen der menschlichen Vernunft und ihre fatalen Folgen

image

Orell Füssli Verlag, www.ofv.ch

© 2020 Orell Füssli Sicherheitsdruck AG, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Dadurch begründete Rechte, insbesondere der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf andern Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Vervielfältigungen des Werkes oder von Teilen des Werkes sind auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie sind grundsätzlich vergütungspflichtig.

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

ISBN 978-3-280-05722-3

eISBN 978-3-280-09091-6

image

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

Teil 1:
Begrenzungen und Schwachstellen menschlichen Denkens und Handelns

1Erkenntnistheoretische Grenzen der menschlichen Vernunft

1.1Grünes Blatt und roter Ball, alles Täuschung oder was?

1.2Kant und seine synthetischen Urteile a priori

1.3Trotz aller Bedenken: Denken lohnt sich!

1.4Zusammenfassung erkenntnistheoretischer Grenzen

2Allgemeine psychologische Schwachstellen der menschlichen Vernunft

2.1Schläger und Ball

2.2Rückschaufehler

2.3Halo-Effekt

2.4What you see is all there is (WYSIATI-Regel)

2.5Priming

2.6Ankereffekte

2.7Wiederholungen

2.8Kausalitätsillusion

2.9Physiognomischer Kurzschluss

2.10Überschätzung geringer Häufigkeiten

2.11Der schwarze Schwan und stumme Zeugen

2.12Generalisierung: Der unterschätzte Denkfehler

2.13Vermeidung kognitiver Dissonanz

2.14Hereinspaziert: A little something for everybody

2.15Radikaler Konstruktivismus und Grenzen der Kommunikation

2.16Kommunikation wird überschätzt

3Individuelle Persönlichkeitsprofile

3.1Die Kaltblütig manipulative Persönlichkeit (KmP)

3.2Instabiler Realitätsbezug

3.3Basale Wahrnehmungsmuster

4Vernunft und Evolution

4.1Instinktverhalten: Stereotyp, aber oft effektiv

4.2Investition in Vernunft: Ein evolutionäres Projekt mit Chancen und Risiken

4.3Kooperation versus egoistische Abgrenzung

4.4Individuelle Zuspitzungen der basalen Evolutionsprinzipien der menschlichen Natur

4.5Abgrenzung schafft Identität

4.6Das Verhältnis Mensch – Tier: Ein Beispiel für die Aktivierung und Deaktivierung des Kooperationspotenzials

5Das RSG-Modell

5.1Registrieren

5.2Subjektivieren

5.3Generalisieren

5.4Ordnungen

5.5Die menschliche Natur zeigt sich in allen Bereichen, die mit Menschen zu tun haben

6Naturwissenschaft: Der Königsweg?

6.1Kahnemans Taxiproblem

6.2Methodische Probleme statistischer Modelle am Beispiel des Taxiproblems

6.3Methode oder Versuchspersonen: Wer liegt hier falsch?

6.4Irrtümer der Wissenschaft: Einige Beispiele

6.5Das erkenntnisleitende Interesse

6.6Das Hamsterrad dreht sich immer und überall

6.7Skandal um Rosi

7Pragmatisch-phänomenologische Betrachtungsweise

7.1Beispiel für theoriegeleitete Fehlentwicklungen: Der Fluch der Psychosomatik

7.2Die Problematik impliziter Theorien

7.3Pragmatisch-phänomenologisches Erkenntnismodell und klassische Phänomenologie

7.4Empirismus versus Rationalismus

7.5Die Konzeption des pragmatisch-phänomenologischen Erkenntnismodells

7.6Die Bewertungskriterien der pragmatisch-phänomenologischen Methode

7.7Das Falsifikationsprinzip

7.8Falsifikationsprinzip und die Evidenzkriterien der pragmatisch-phänomenologischen Methode

7.9Relative Determination: Ein oft verkanntes, aber universelles Prinzip

7.10Der Fall der Berliner Mauer: Ein Beispiel für relative Determination

7.11Prognosen über die Zukunft: Ein Ding der Unmöglichkeit?

8Evolution: Wie Lüge und Krieg in die Welt kamen

8.1Das schmutzige Instrumentarium: Lügen, Täuschung, Manipulation, Stehlen und Gewalt

8.2Nachteile des schmutzigen Instrumentariums

8.3Der Mensch: Vom evolutionären Ladenhüter zum Erfolgsmodell

8.4Das rätselhafte Schicksal der Neandertaler

8.5Geschwistermord, die wahre Erbsünde?

8.6Das schmutzige Instrumentarium: Garant für Erfolg

8.7Die Mafia: Das schmutzige Instrumentarium als Strukturprinzip

8.8Das archaische Spannungsfeld der menschlichen Natur: Weit sind wir noch nicht gekommen

9Werte

9.1Humanistische Werte

9.2Nietzsche und die Aufklärung

9.3Nietzsche und die Kritik an klassischen Wertvorstellungen

9.4Der Wille zur Macht

9.5Max Stirner

9.6Die Rehabilitation von Mitleid und Liebe etc

9.7Werte als handlungsleitende Orientierungspunkte

10Geschichtliche Entwicklungen und Gesellschaftsmodelle

10.1Diskontinuität kultureller Entwicklungen

10.2Karl Popper und der Kampf für die offene Gesellschaft

10.3Popper contra Hegel

10.4Frankfurter Schule

10.5Frankfurter Schule und Aufklärung

10.6Negri und Hardt: Das Empire

10.7Aufklärung gescheitert?

10.8Eine makabre Rangliste

10.9Gemeinsamkeiten der drei größten Massenmörder aller Zeiten

10.10Menschlichster aller Menschen, Sonne der Menschheit!

10.11Mao Tse-tung: Ungebrochene Verehrung eines großen Führers

10.12Sind wir dem Mittelalter näher, als wir denken?

11Gedanken, Gefühle, Glaube und Überzeugungen

11.1Vorstellungen und andere Informationskonglomerate

11.2Der Glaube versetzt Berge

11.3Die Wechselwirkung von Glaube und Evidenz

Teil 2: Gesellschaftliche Schwach- und Baustellen

12Ordnungen und Organisationen

12.1Beschleunigung in der Postmoderne

12.2Einkaufsliste

12.3Regeln, Prinzipien, Konzepte, Systeme, Organisationen

12.4Neuer Wind in der Musikschule

12.5Ungebremstes Verwaltungswachstum: Folge der inhärenten Logik und übergeordneter Wachstumstreiber

12.6Die 80-20- und die --Regel, oder: Regeln und individuelle Kompetenz

12.7Standards und Papiere: Die Verschleierung fehlender persönlicher Kompetenzen

12.8Gruppenkategorien und Gruppenidentitäten

12.9Gute und schlechte Gründe für Gruppenkategorien

12.10Absolute Prinzipien enden in Absurdität

12.11Im Würgegriff des juristischen Prinzips

12.12Der Fall Metzler

12.13Asylrecht

12.14Flucht- und Migrationsursachen

12.15Algorithmen und künstliche Intelligenz

12.16Pferd oder Gießkanne, das ist hier die Frage

12.17Werner Heisenbergs Pollenallergie

12.18Das Würfelgericht

12.19Die Verfeinerung des Würfelgerichts und andere Systembrecher

13Ökonomie

13.1Die unsichtbare Hand

13.2Animal Spirits

13.3Ökonomische Ungleichheit und die Idealisierung des Unternehmertums

13.4Ehrliche Handwerker und egoistische Trader

13.5Machiavelli: Eine tief verankerte kulturhistorische Tradition

13.6Profitorientierung und Wachstumsprimat

13.7Mafiamethoden in der Ökonomie am Beispiel der Tabakindustrie

13.8Jeffrey Wigand: Ein hart bekämpfter Whistleblower

13.9Mafiamethoden in der Ökonomie: Die Spitze des Eisbergs

13.10Aber die Wahrheit kommt am Ende doch ans Licht – oder doch nicht?

13.11Schulden

14Medien und Information in der Postmoderne

14.1Eine Flut von Informationen

14.2Angriff auf die Pressefreiheit

14.3Die weiche Zensur

14.4Der Umgang mit populistischen Parteien am Beispiel der deutschen AfD

14.5Migrations- und Flüchtlingspolitik: Das gute und das schlechte Narrativ

14.6Im Wahlkampf gilt: Ausländische Regelbrecher verlassen das Land

14.7Abschiebungen von ausländischen Straftätern: Ein schwieriges Geschäft

14.8Abschiebungen: Theorie und Praxis

14.9Ausländerkriminalität: Das etablierte Gegen-Argumentarium

14.10Faktoren, die das Phänomen der Ausländerkriminalität verschleiern

14.11Die Analyse der Polizeilichen Kriminalstatistik von Jochen Renz

14.12Weitere Zahlen zur Ausländerkriminalität

14.13Die Bundeszentrale für Aufklärung und die Erziehung zum mündigen Bürger

14.14Die Angst vor aussagekräftigen Zahlen

14.15Schlussbetrachtung zum Thema »Ausländerkriminalität«

14.16Der Fall Edathy

14.17Der Fall Herman

14.18Öffentliche Entschuldigungsrituale

14.19Einzelfälle als Beurteilungsgrundlage

14.20Seltene Ereignisse können keine häufigen Ursachen haben

14.21Thesenjournalismus und Fake News

15Werbung, Propaganda und Politik

15.1Die Werbeindustrie

15.2Werbung in der Politik

15.3Das Informations- und Diskussionsvakuum westlicher Demokratien

15.4Populismus

15.5Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Populisten und Extremisten

15.6Massenpsychologie nach Gustave Le Bon

15.7Prinzipien der nationalsozialistischen Propaganda

15.8Goebbels in Berlin

15.9Goebbels gegen Bernhard Weiß: Beispiel einer gezielten Hetzjagd

15.10Unterschiede und Schnittmengen innerhalb des politischen Spektrums

15.11Extremismus, Populismus und die demokratische Mitte: Ein Differenzierungsschema

15.12Agitatorische Propagandamethoden versus aufklärerische Ideale

15.13Die Schweizerische Volkspartei (SVP)

15.14Populistische Stilmittel

15.15Ein ungleicher Kampf: Smarte Bogenschützen gegen schwerfällige Ritter

15.16Der Bus des Schreckens

15.17Verdienste der SVP

15.18Der Horror-Clown im Weißen Haus

15.19Profil und Markenkern demokratischer Parteien

15.20Stärken und Schwächen politischer Grundausrichtungen

15.21Die Sozial-Liberale-Ökologische-Kriminalität-und Überregulierung bekämpfende Partei (SLÖKÜBP)

16Zum Schluss:
Ein vorsichtig optimistischer Ausblick

Quellenverzeichnis

Personenregister

Einleitung

Die Legende der Sieger

Der Mensch ist eindeutig das dominierende Lebewesen auf unserem Planeten. Wie hat er es auf diesen Spitzenplatz geschafft? Nicht ein besonders kräftiges Gebiss, eine außerordentliche Schnelligkeit, ein tödliches Gift oder überbordende Körperkraft sind sein Erfolgsgeheimnis. Die schärfste Waffe ist sein Verstand. Durch ihn ist er allen anderen Lebewesen haushoch überlegen. Er ist das Beste, was die Evolution in vielen Millionen Jahren hervorgebracht hat. Der Mensch ist ihr ultimatives Erfolgsmodell. So weit die Legende der vermeintlichen Sieger. Sie ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Das fängt schon damit an, den heute lebenden Menschen als »den Menschen« zu bezeichnen. Fakt ist: Es gab einige Menschenarten. Aber nur eine von ihnen überlebte. Alle anderen starben aus. Die Art, die überlebte, gab sich selbst einen schmeichelhaften Namen: Homo sapiens – der weise Mensch. Für die ausgestorbenen Verwandten reichte es, den Ort zu nennen, an dem man ihre Knochen fand. Sie mussten sich mit schmucklosen Namen wie Neandertaler oder Australopithecus begnügen.

Bescheidenheit war noch nie eine Stärke des weisen Menschen. Das sieht man auch daran, dass er sich gerne als Krone der Schöpfung und als ein Wesen begreift, das von Gott auserwählt und mit unendlicher Liebe beschenkt wird. Kein Wunder, dass die Evolutionstheorie des Naturforschers Charles Darwin lange Zeit erbittert bekämpft wurde. Auch heute noch ist sie wütenden Protesten ausgesetzt. Fakt ist auch: Für die Evolution sind 100 000 Jahre ein klein wenig mehr als nichts. Ob der Homo sapiens tatsächlich ein dauerhaftes Erfolgsmodell darstellt, ist eine offene Frage. Solche Fragen beantwortet die Evolution in Zeiträumen von mehreren Millionen Jahren. Und aus dieser Perspektive betrachtet haben wir bei einem Marathonlauf gerade mal den Startbereich verlassen.

Der Homo sapiens hat Stärken und Schwächen. Vieles, was in dieser Welt schiefläuft, hat mit seinen Schwächen zu tun. Man muss sich nur umschauen und findet sie in alltäglichen Kleinigkeiten genauso wie in Gesellschaft, Politik oder Wissenschaft. Es ist gut zu wissen, wie die Evolution den Homo sapiens konstruiert und geprägt hat. Denn das hilft zu verstehen, warum die Demokratie weltweit auf dem Rückzug ist, warum wir Kriege führen, Regeln bis zur Absurdität ausbauen, Populisten mögen, uns gerne selbst belügen und vieles mehr. In diesem Sinne erwartet die Leserinnen und Leser ein großes Themenspektrum. Damit verfolge ich vor allem ein Ziel: Das Buch soll zum kritischen Nachdenken anregen und dazu, sich eine eigene Meinung zu bilden. Denn unabhängige und mündige Bürger, die sich an humanistischen Idealen orientieren, sind der wichtigste Faktor in dem Versuch, die Welt besser zu machen, als sie derzeit ist.

Der große Irrtum

Beginnen wir mit der menschlichen Vernunft. Sie unterscheidet uns von allen anderen Lebewesen auf diesem Planeten. Sie ist eingebettet in die allgemeine menschliche Psychologie (= menschliche Natur) und hat ein gigantisches Potenzial. Aber, Vorsicht. Die Vernunft hat auch viele Schwachstellen, die den meisten Menschen unbekannt sind. Räumen wir gleich mit einem Irrtum auf, der seit Jahrtausenden gepflegt wird. Ja, die menschliche Vernunft ist ein faszinierendes Instrument dafür, uns selbst und die Welt um uns herum zu erkennen und einzuordnen. Aus dieser Tatsache wird ein unreflektierter Kurzschluss abgeleitet. Weil man mit der Vernunft die Wirklichkeit erkennen kann, sei das genau auch der Zweck unserer Vernunft. In der christlichen Tradition klingt das so: Gott habe den Menschen die Vernunft gegeben, um Gott und Gottes Schöpfung erkennen zu können. Denn nur mit diesem Geschenk sei es möglich, die Existenz und die Größe Gottes zu erkennen, sich für die richtige Religion zu entscheiden und die Welt sowie die eigene Existenz zu verstehen. Aber auch ohne diesen religiösen Bezug hat man immer angenommen, der Mensch besitze seine Vernunft, damit er die Welt und sich selbst richtig erkennen und einordnen könne. Das ist falsch. Vor allem aber ist dieses Missverständnis über den Zweck der Vernunft eine schlechte Voraussetzung, die Vernunft »vernünftig« anzuwenden. Denn es macht die Vernunft noch viel fehleranfälliger, als sie es ohnehin schon ist. Ich will den Gedanken anhand eines Beispiels verdeutlichen. Dabei versetzen wir uns in die Zeit der Urzeitmenschen.

Stellen wir uns vor, unsere Vorfahren hörten in der Nacht ein Rascheln im Busch. Der eine Urmensch geht stets davon aus, das Rascheln stamme von einem Löwen. Er macht sich blitzschnell aus dem Staub. Der andere wartet auf weitere Informationen, um eine bessere Beurteilungsgrundlage zu haben. Der erste ist ein wahrhaft einfältiger Geist. Bei jedem Rascheln sieht er vor seinem geistigen Auge einen hungrigen Löwen und nimmt schnurstracks die Beine in die Hand. Er lebt in einer eigenen Vorstellungsblase, die wenig mit der Realität zu tun hat. Die Welt erfasst er nur rudimentär. Anders sein Kollege. Der ist neugierig und will seinen Verstand nutzen. Mittlerweile hat er das Phänomen des Raschelns gut verstanden. Er weiß, dass es meistens der Wind ist, der geräuschvoll die Blätter bewegt. Er hat beobachtet, dass auch eine Vielzahl kleiner und großer Tiere solche Geräusche verursachen kann. Nur selten steckt tatsächlich ein Löwe dahinter. Mithilfe seines Verstandes und seiner Beobachtungsgabe hat er ein differenziertes Bild der Wirklichkeit entwickelt, das ihm viele faszinierende Details offenbart. Er kennt die Welt sehr viel besser als sein Artgenosse, der die Präsenz von Löwen in grotesker Weise überschätzt. Aber er hat leider einmal zu lange überlegt und gewartet. Da nutzte es ihm auch nichts, dass er in mehr als 99 Prozent der Fälle mit seinen Beurteilungen über die vielfältigen Ursachen des Raschelns goldrichtig lag. Die eine tragische Fehleinschätzung war eine zu viel. Sie ereignete sich unglücklicherweise zu einem Zeitpunkt, in dem er noch keine Kinder gezeugt hatte. Da zeigt sich der evolutionäre Vorteil seines in seinen Wahrnehmungen und Urteilen total verpeilten Kollegen. Der wurde nie gefressen und zeugte zehn Kinder. Die Evolution hatte also gute Gründe – diese personifizierende Darstellung eines Prinzips sei aus Gründen der Anschaulichkeit erlaubt (vgl. Kap. 2.8) –, die Geschwindigkeit und Eindeutigkeit einer Urteilsbildung weit höher zu gewichten als deren Wahrheitsgehalt. Hier wird klar, worin der schlagende Vorteil dumpfer Automatismen und total verzerrter Beurteilungen liegt. Die Folgen dieser evolutionären Ausrichtung der Vernunft sind insbesondere in der modernen Informationsgesellschaft gar nicht hoch genug einzuschätzen.

Was ist Aufklärung?

Die Aufklärung hat die Menschheit tiefgreifend verändert. Sie prägt bis heute unser Denken und ist Grundlage einer Fülle zivilisatorischer Errungenschaften. Die Aufklärung ist im Kern eine Haltung. Sie ist das Streben, die Welt, ihre Gesetzmäßigkeiten und auch uns selbst möglichst unvoreingenommen zu erforschen, dadurch Erkenntnisse zu gewinnen und so auf vielen Gebieten Fortschritte zu erzielen. Ein in der Menschheitsgeschichte beispielloser Zuwachs wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Fortschritt lassen sich ebenso auf die Aufklärung zurückführen wie Menschenrechte und demokratische Staatsformen.

1784 hat der Philosoph Immanuel Kant seinen berühmten Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« geschrieben. »Aufklärung«, so lautet darin seine Antwort, »ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.« Und weiter: »Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! [Wage es, weise zu sein!; F. U.] Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«

Für Kant sind »Faulheit und Feigheit« die Ursachen dafür, dass die meisten Menschen »zeitlebens unmündig« bleiben. Denn es sei bequem, nicht selbst zu denken, sondern anderen dieses »verdrießliche Geschäft« zu überlassen. Für die meisten Menschen sei es schwer, sich aus der »beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten«. Weil sie nicht daran gewöhnt seien, ohne Anleitung und Vorgaben eigenständig zu denken, würden sie beim freien Denken »auch über den schmalsten Graben einen nur unsicheren Sprung thun […]. Daher giebt es nur Wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wikkeln, und dennoch einen sicheren Gang zu thun.« [1]

Der Aufsatz ist ein flammendes Plädoyer für den freien Geist – oder, um einen heute gebräuchlicheren Begriff zu gebrauchen: den mündigen Bürger. Kant wendet sich gegen Denkverbote. In seinem Aufsatz betont er damit den emanzipatorischen Aspekt der Aufklärung. Man soll sich von Ideologien und gesellschaftlichen Dogmen befreien, die einem offenen Prozess des Erkennens und Verstehens im Wege stehen. Kant beschreibt damit einen wichtigen Faktor, durch den eigenständiges Denken und damit die Mündigkeit eines Menschen behindert werden können: Es handelt sich um einengende gesellschaftliche Bedingungen.

Wie viele andere Autoren seiner Zeit richtete Kant seine Kritik gegen die christliche Religion und ihre kirchlichen und gesellschaftlichen Repräsentanten. Sie gaben in der westlichen Welt über Jahrhunderte vor, wie die Welt, wie der Mensch, wie die Schöpfung beschaffen seien und welche Ordnung sich hieraus auf Erden ableiten müsse. Verständlicherweise sah die Kirche durch die Ideen der Aufklärung ihr Wissensmonopol und damit auch ihre irdische Macht bedroht. Kant nimmt aber auch die Bürger selber in die Pflicht. Denn er unterstellt, dass sie durch ihre Vernunft zwar grundsätzlich die Möglichkeit zur Selbstbefreiung in sich tragen, ihr Potenzial jedoch häufig aufgrund von Bequemlichkeit und mangelndem Mut nicht ausschöpfen.

Bevormundende Autoritäten sind zweifellos ein wichtiges und nach wie vor aktuelles Hemmnis für die Anliegen der Aufklärung. Denken wir an totalitäre Systeme, an Pressezensur, Verfolgung von politisch Andersdenkenden, an politischen oder religiösen Fanatismus. Sie sind aber längst nicht das einzige Hindernis für einen unvoreingenommenen Erkenntnisprozess.

Auch auf der persönlichen Ebene gibt es viele Hindernisse, die sich einem aufgeklärten Verständnis der Welt und einem darauf basierenden vernünftigen Handeln in den Weg stellen. Es sind Hindernisse, die damit zu tun haben, wie die menschliche Vernunft und die menschliche Psychologie konstruiert sind. Das wiederum hat mit der evolutionären Entwicklung des Menschen zu tun. Die von Kant genannten persönlichen Haltungen, Bequemlichkeit und fehlender Mut, sind hier nicht einmal die Spitze eines riesigen Eisbergs, der den meisten Menschen unbekannt ist. Von diesem Eisberg, seinen Konsequenzen, aber auch von möglichen Lösungsansätzen wird in diesem Buch die Rede sein.

Menschliche Psychologie und menschliche Vernunft

Zwar hat Kant recht: Die Vernunft ist die entscheidende Fähigkeit des Menschen, um die Wirklichkeit zu erkennen und ein autonomes Leben zu führen. Das Beispiel des Urzeitmenschen zeigt aber, dass die menschliche Vernunft zweischneidig ist. Sie hat ein immenses Potenzial, ist jedoch auf der anderen Seite aus guten evolutionären Gründen mit vielfältigen Schwachpunkten ausgestattet. Diese beiden Seiten bestimmen die Chancen und die Risiken, die mit ihr verbunden sind. Dabei bewegt sie sich nicht in einem luftleeren Raum. Sie ist eingebunden in die psychologische Grundstruktur und damit Teil der allgemeinen menschlichen Natur. Diese menschliche Natur bewegt sich selbst zwischen zwei entgegengesetzten Polen. An dem einen Pol verfügt sie über ein großes Potenzial für Kooperation und die Gestaltung tragfähiger Beziehungen. Auf der anderen Seite findet sich eine grenzenlose egoistische Dynamik, die in diesem Buch als »egoistische Selbstbehauptung« bzw. »Wille zur Macht« bezeichnet wird. Auch diese beiden Pole der allgemeinen menschlichen Natur sind Ergebnis evolutionärer Prägungen. Sie entspringen also nicht unseren Wünschen und unseren Idealvorstellungen darüber, wie die menschliche Natur sein sollte. Aus der Perspektive der Evolution haben diese beiden Seiten ebenso einen Sinn wie die zwei entgegengesetzten Seiten der menschlichen Vernunft. Der Sinn erschließt sich aus einer evolutionären Entwicklung, die sich über Hunderttausende von Jahren vollzogen hat. Aber sind diese Baupläne, die sich in unvorstellbar langen Zeiträumen entwickelt haben, für den modernen Menschen noch sinnvoll? Stimmen die grundlegenden Konstruktionselemente der allgemeinen menschlichen Psychologie und der menschlichen Vernunft in der heutigen Zeit noch? Stimmt das Verhältnis zwischen Chancen und Risiken für das Leben in unserer heutigen Welt, die sich fundamental vom Umfeld der Urzeitmenschen unterscheidet? Jedenfalls sind die Risiken beträchtlich. Diese Risiken sind Folge der Prägungen, die uns die Evolution aus einst guten Gründen in unsere psychologische Grundstruktur und unsere Vernunft über Hunderttausende von Jahren eingebrannt hat.

Das, was ich hier einleitend mit wenigen Worten skizziere, ist der Leitgedanke dieses Buches. Die beiden entgegengesetzten Pole der menschlichen Natur im Allgemeinen und der menschlichen Vernunft im Speziellen haben vielfältige Wirkungen. Sie erklären individuelle menschliche Verhaltensweisen ebenso wie gesellschaftliche, wissenschaftliche, geschichtliche oder politische Phänomene.

Dieses Buch besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil steht die Analyse der allgemeinen menschlichen Natur und insbesondere der menschlichen Vernunft im Vordergrund. Im Verlauf dieses ersten Teils werde ich ein übergeordnetes Erklärungsmodell präsentieren, das die vielfältigen, evolutionär geprägten Schwachstellen und Fehlerquellen der menschlichen Vernunft und damit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit abbildet. Es handelt sich um das RSG-Modell (Registrieren-Subjektivieren-Generalisieren), auf das ich auch im zweiten Teil des Buches immer wieder Bezug nehmen werde (Kap. 5). Ebenfalls noch im ersten Teil stelle ich auch eine praktische Vorgehensweise vor, die den Schwachstellen und Fehlerquellen der menschlichen Vernunft Rechnung trägt. Es ist die pragmatisch-phänomenologische Vorgehensweise (vgl. Kap. 7).

Die grundlegenden Konstruktionsbedingungen der menschlichen Natur und vor allem der menschlichen Vernunft finden sich in allen Bereichen, die mit Menschen und menschlichen Aktivitäten zu tun haben. Das ist der Fokus des zweiten Teils dieses Buches. Hier werden die Folgen dieser Bedingungen – und die damit verbundenen Chancen und Risiken – anhand verschiedener Beispiele in Gesellschaft, Geschichte, Politik, Wissenschaft oder Ökonomie dargelegt. In den Blick geraten dabei so unterschiedliche Facetten dieses Themas wie die menschliche Tendenz, Regeln, Gesetze und Normen bis zur Absurdität zu generalisieren. Es lassen sich aus dieser Perspektive aber gleichfalls Fehlleistungen in der Wissenschaft, in der modernen Informationsgesellschaft oder in der Ökonomie zeigen. Am Schluss des zweiten Teils nimmt das aktuelle Thema des Populismus einen breiten Raum ein. Grob gesagt, lassen sich die Empfänglichkeit für Populismus und populistische Propagandamethoden auf die Mechanismen des RSG-Modells zurückführen. Das gilt für die individuelle Empfänglichkeit vieler Menschen für populistische Agitation. Das gilt aber auch für klar benennbare gesellschaftliche Schwachstellen in westlichen Demokratien. Diese Schwachstellen schaffen ein Klima, in dem populistische Agitation gut gedeihen kann.

Grundlage der folgenden Analyse ist, dass wir zunächst einmal genau die konkreten Schwachstellen der menschlichen Vernunft in den Blick nehmen. Diese Schwachstellen begegnen uns auf drei verschiedenen Ebenen.

Ebene 1: Grundlegende erkenntnistheoretische Grenzen unseres Denkens

Denken und Wahrnehmung bewegen sich in einer vorgegebenen Struktur. Diese Struktur ist mit einem Betriebssystem vergleichbar, ohne das die »Maschine« gar nicht laufen würde. Das Betriebssystem als solches nehmen wir gar nicht wahr. Es ist ein Raster, das wir in alles und jedes automatisch hineinprojizieren. Da wir ohne Betriebssystem gar nichts wahrnehmen und denken können, ist es allgegenwärtig, ohne dass es uns bewusst ist. Mit diesen erkenntnistheoretischen Grenzen hat sich die Philosophie ausgiebig beschäftigt.

Ebene 2: Allgemeine psychologische Schwachstellen der menschlichen Vernunft

Wenn die erkenntnistheoretischen Grenzen dem Betriebssystem entsprechen, dann sind die allgemeinen psychologischen Schwachstellen mit den vielen unterschiedlichen Programmen verbunden, die den operativen Betrieb unserer Wahrnehmung und unseres Denkens gewährleisten. Sie sind vorab installiert. Hier hat uns die Evolution allerdings zahlreiche »Bugs« eingebaut.

Ebene 3: Persönlichkeitsprofile mit individuell akzentuierten Schwachstellen der menschlichen Vernunft

Die Schwachstellen der ersten beiden Ebenen betreffen mehr oder weniger alle Menschen. Manche Menschen können damit besser umgehen, andere schlechter. Selbstverständlich bin ich der Überzeugung, dass es sehr nützlich ist, die Schwachstellen genau zu kennen, um den mit ihnen verbundenen Risiken möglichst aus dem Wege zu gehen. Die dritte Ebene geht aber über den Umgang mit den Schwachstellen hinaus. Denn Menschen haben höchst unterschiedliche Charaktereigenschaften. Es gibt zahlreiche Persönlichkeitsprofile, durch die jene Schwachstellen der menschlichen Vernunft auf individueller Ebene drastisch verschärft werden.

Teil 1:
Begrenzungen und Schwachstellen
menschlichen Denkens und Handelns

1Erkenntnistheoretische Grenzen der menschlichen Vernunft

1.1Grünes Blatt und roter Ball, alles Täuschung oder was?

Will man Grenzen und Schwachstellen der menschlichen Urteilsfähigkeit untersuchen, kommt man nicht an der philosophischen Erkenntnistheorie vorbei. Denn wie erwähnt betrifft sie gewissermaßen das Betriebssystem unseres Denkens. Im Zentrum steht die Frage, was man überhaupt mit dem menschlichen Verstand erkennen kann und wo prinzipielle, also theoretische Grenzen liegen. Hier muss noch einmal Immanuel Kant erwähnt werden. Die Ideen Kants sind keine leichte Kost, aber ich hoffe, die Leserinnen und Leser lassen sich nicht abschrecken. Wem dieser philosophische Einstieg aber zu abstrakt ist, der kann dieses Kapitel auch problemlos überschlagen und gleich mit den »Apps«, also der operativen Programmierung unserer Vernunft, fortfahren.

Bevor wir uns im Zusammenhang mit dem »Betriebssystem« mit synthetischen und analytischen Urteilen und anderen Ideen Kants beschäftigen, möchte ich mit einem praktischen Beispiel beginnen. Es verdeutlicht das prinzipielle Problem, um das es Kant und anderen Philosophen geht: Wenn wir ein grünes Blatt oder einen roten Ball sehen, dann sagen wir: Das Blatt ist grün oder der Ball ist rot. So empfinden wir es auch. Das Grün empfinden wir als eine Eigenschaft des Blattes und das Rot als eine Eigenschaft des Balls. Für uns sind es ein grünes Blatt und ein roter Ball. Aber sind diese Farben, die wir wahrnehmen, wirklich Eigenschaften des Blattes und des Balls?

Philosophisch gesprochen: Hat das »Ding an sich«, also das, was wir als Blatt, und das, was wir als Ball wahrnehmen, wirklich diese Farbeigenschaften? Ist das Blatt auch dann grün, wenn wir nicht hinschauen? Ist der Ball auch dann rot, wenn wir ihn nicht ansehen? Sind die grüne und die rote Farbe also Eigenschaften, die etwas über den tatsächlichen Charakter der beiden Dinge aussagen? Oder entstehen die grüne und die rote Farbe durch die Art, wie wir sehen, und sind eigentlich Eigenschaften, die mehr über uns als über das Blatt und den Ball aussagen? Dass sich die Farben, die wir den Dingen zuordnen, mit anderen Augen ganz anders darstellen, kann man sich leicht am Beispiel der Bienen verdeutlichen. Bienen können im Gegensatz zu uns ultraviolettes Licht sehen. Rot hingegen existiert für sie nicht. Was für uns rot ist, ist für die Biene schwarz. Aber dafür sehen Bienen prachtvolle Farbmuster, die wir nicht erkennen können und bei denen wir nur eine einzige Farbe sehen.

Physikalisch ist es so: Unsere Farbwahrnehmung beruht auf der Wahrnehmung von Licht. Licht ist eine elektromagnetische Strahlung. Es kommt in verschiedenen Wellenlängen vor. Je nachdem, mit welcher Wellenlänge das Licht auf unsere Netzhaut trifft, werden sogenannte Farbrezeptoren aktiviert. Diese Farbrezeptoren lösen bei uns eine Farbwahrnehmung aus. Die Farben entstehen also in unserem Kopf und sind ein subjektiver Eindruck. Hat das Licht eine Wellenlänge zwischen 490 und 570 Nanometer, dann löst das bei uns die Wahrnehmung der Farbe Grün aus. Trifft Licht mit einer Wellenlänge zwischen 640 und 780 Nanometer auf unsere Netzhaut, dann wird damit der Schalter für »Rot« gedrückt und wir »sehen« rot.

Das Blatt ist in unseren Augen deswegen grün, weil es selber gar nicht grün ist. Was meine ich damit? Das Blatt kann die Wellenlängen schlucken (absorbieren), die Rot oder Blau entsprechen. Einzig die Wellenlänge zwischen 490 und 570 Nanometer kann das Blatt nicht verarbeiten. Sie wird abgewiesen und damit reflektiert. Wenn wir also das Blatt ansehen, dann trifft dieses reflektierte Licht auf unsere Netzhaut und wir sehen »grün«. Genauso ist es beim Ball. Er ist in unseren Augen deswegen rot, weil er das Licht im Wellenspektrum von Rot reflektiert. Man könnte sagen, wir ordnen dem »Ding an sich« genau die Farbe als Eigenschaft zu, die am allerwenigsten mit dem eigentlichen Charakter des »Dings an sich« zu tun hat. Denn es ist ja die Farbe, die das »Ding an sich« von sich abweist und zurück in die Umwelt reflektiert.

Man kennt das Prinzip der Farbwahrnehmung aus dem Physikunterricht. Es ist ein gutes Beispiel für eine fundamentale Frage, die weit über Farben und Sinneswahrnehmungen hinausgeht. Was können wir tatsächlich von uns selbst und von der Welt, in der wir leben, erkennen? Können wir unseren Sinnen und unserer Vernunft vertrauen oder spielen uns beide ein Theater vor, das mit der »wirklichen Welt« wenig oder gar nichts zu tun hat? Viele Philosophen haben über die Erkenntnismöglichkeiten und deren Grenzen nachgedacht, die mit unseren Sinneswahrnehmungen und unserer Vernunft verbunden sind. Bis in unsere Gegenwart prägend ist das Werk Immanuel Kants.

Kant rückte die Gesetzmäßigkeiten der Vernunft und ihren Zusammenhang mit den Erkenntnismöglichkeiten der Wirklichkeit ins Zentrum seiner Metaphysik. Die Metaphysik ist der Zweig der Philosophie, der sich mit den Dingen beschäftigt, die »hinter« den Dingen stehen bzw. zu vermuten sind. Die Metaphysik sucht also nach den großen und letzten Wahrheiten. Kant zog es bei dieser Suche nicht hinaus in die Welt. Vielmehr machte er das Instrumentarium, mit dem wir die Welt zu erkennen glauben, selbst zum Forschungsgegenstand. Er kehrte also erst einmal vor der eigenen Haustür und beschäftigte sich mit der menschlichen Vernunft und den menschlichen Wahrnehmungen. »Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten«. [2, S. XVI]

»A priori« ist ein Terminus, der bei Kant häufig vorkommt. Er meint damit ein Wissen, das unabhängig von konkreten Erfahrungen besteht. Also ein Wissen, das es schon »vorher« gibt, bevor wir irgendeine Sinneswahrnehmung oder Erfahrung einleiten. Kant hatte eine sehr genaue Vorstellung davon, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit man von einer »Erkenntnis a priori« sprechen kann. Doch dazu später mehr.

Jedenfalls bringt Kant mit seinem Zitat Folgendes auf den Punkt: Wir haben es mit den Erscheinungen der Dinge zu tun, nicht aber mit den Dingen an sich. Wir sehen den roten Ball so, wie er auf unserer Netzhaut erscheint. Wir wissen aber nicht, wie er aussieht, wenn wir nicht hinschauen. Die Erscheinungen, so wie sie sich uns darbieten, so wie sie in unserem Bewusstsein stattfinden, sind nach den Regeln unseres eigenen Erkenntnisvermögens aufgebaut. Das heißt, sie spiegeln in hohem Maße die Regeln unserer eigenen Wahrnehmung und Vernunft wider. Manche Autoren greifen diesen Gedanken auf und sagen: Das »Ding an sich« gibt es doch dann gar nicht. Denn das »Ding an sich« wäre die wahre Identität hinter der Erscheinung, so wie sie unabhängig von einem Beobachter existiert. Wir kennen aber nichts anderes als diese Erscheinungen, die in unserem Kopf entstehen. Alles das, was wir wahrnehmen, sei daher eine Art Illusion, die wir selbst produzieren. Das glaube ich nicht. Auch Kant meinte, dass es »ungereimt« sei, anzunehmen, »daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint«. [2, S. XXVII] Ein anderes Argument für die Existenz des »Dings an sich« sei »der moralische Vernunftglaube, der, auf das Bewusstsein der Pflicht gestützt, von hier zum Unbedingten, das heißt zu Gott, Freiheit und Unsterblichkeit aufsteigt«. [3, S. 17]

1.2Kant und seine synthetischen Urteile a priori

Wie kann man nun aber wissen, welcher Teil unserer Wirklichkeitswahrnehmung nur eine Folge der Struktur unseres Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögens ist und welcher Teil unabhängig davon tatsächlich existiert? Kant unterscheidet analytische von synthetischen Urteilen. Analytische Urteile sind solche, die sich zwingend aus der Logik einer Aussage ergeben. Patzig definiert das so: »Ein Satz ist analytisch in einer Sprache S, wenn über seine Wahrheit entschieden werden kann allein aufgrund der Bedeutungsregeln von S und der Gesetze der Logik.« [3, S. 23] Ein einfaches Beispiel dafür ist der Satz: Alle Schimmel sind weiß. Aufgrund der Definition von Schimmel (Schimmel = weißes Pferd) folgt logisch, dass der Satz wahr ist. Denn er heißt im Grunde nichts anderes als: Alle weißen Pferde sind weiße Pferde. Demgegenüber sind synthetische Urteile solche, bei denen der Wahrheitsgehalt nicht anhand solcher immanent vorhandenen logischen Regeln entschieden werden kann. Kant spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Erweiterungsurteil.

Er unterscheidet ferner zwischen Urteilen a priori und a posteriori. A priori sind Urteile, für deren Beurteilung nicht auf Erfahrungen zurückgegriffen werden muss. Also Dinge, die man einfach weiß, weil man sie weiß. A posteriori sind Urteile, zu deren Begründung explizit Erfahrungen verwendet werden müssen. Also Dinge, die sich belegen lassen, wenn wir etwas beobachten oder ausprobieren.

Demzufolge gelten folgende Zusammenhänge: Analytische Urteile sind immer a priori, weil die Beurteilungskriterien dieser Urteile bereits immanent vorliegen und nicht erst nachträglich anhand einer Beweisführung – zum Beispiel experimentell – ermittelt werden müssen. Daraus folgt zwingend: Es kann keine analytischen Urteile a posteriori geben (denn für die braucht es ja Beweise). Hingegen ist die Mehrheit aller synthetischen Urteile zwingend a posteriori. Denn sie werden ja meist anhand von Erfahrungen (z. B. durch Experimente) belegt. Bei einem Experiment handelt es sich um nichts anderes als um die Bestätigung oder das Verwerfen einer zuvor aufgestellten Hypothese anhand von konkreten Erfahrungen.

Strittig ist die Frage, ob es auch synthetische Urteile a priori geben kann. Das wären Aussagen, die nicht allein aufgrund von logischen Gesetzen oder Sprachdefinitionen (weißer Schimmel) beurteilt werden können. »Andererseits darf aber auch Erfahrung zu ihrer Begründung oder Ablehnung nicht ausreichen, weil sie schlechthin allgemeingültig und notwendig zu sein beanspruchen.« [3, S. 24] Kant sah die Existenz solcher Urteile, die nicht nur einen Begriff analytisch zergliedern und näher bestimmen, sondern unsere Erkenntnisse wirklich erweitern, als bewiesen an.

Was kompliziert klingt, ist praktisch eine wichtige Frage. Wenn synthetische Urteile a priori nicht möglich wären, dann gäbe es eine einfache Zweiteilung. Über die Wirklichkeit können wir dann nur etwas aus der Erfahrung wissen, also letztlich mit empirischen Methoden (z. B. Experimente). Alles andere (z. B. freies Nachdenken oder Philosophieren) wäre dann nichts anderes als das Reproduzieren von Regeln und Implikationen, die vorher schon von uns selbst angelegt waren. Es wäre also in gewisser Weise ein formales Kreisen um sich selber. Erkenntnis der Wirklichkeit wäre über diesen Weg nicht möglich.

Kant vertrat eine andere Meinung. Nehmen wir uns noch einen Augenblick Zeit, um seine Argumentation besser zu verstehen. Sie kommt – reichlich verdichtetet – in folgendem Satz zum Ausdruck: »[…] auf solche Weise sind synthetische Urteile a priori möglich, wenn wir […] sagen: die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori.« [2, S. 197]

Wie bitte? Kant sagt mit diesem Satz, dass es Bedingungen gibt, die uns überhaupt erst die Möglichkeit verschaffen, eine Erfahrung zu machen. Sie sind aber gleichzeitig auch Bedingungen der Gegenstände, die wir durch Erfahrung erkennen können. Es handelt sich um Bedingungen, die allgemein und notwendig sind, nicht aber aus der Erfahrung stammen. Es geht somit um die Form, in der uns Gegenstände gegeben werden. Gegeben werden uns Gegenstände durch unsere Sinnesorgane. Demnach gibt es eine Wahrnehmung von Gegenständen, bevor das Denken einsetzt und diesem Gegenstand einen Begriff zuordnet. Kant spricht davon, dass unsere Sinne durch Gegenstände affiziert werden können und uns diese Gegenstände dann in der Form gegeben werden, die Kant Anschauung nennt. Anschauung ist die Art, wie uns Gegenstände durch unsere Sinneswahrnehmungen unmittelbar gegeben werden können. Der Begriff »Gegeben-Werden« soll zum Ausdruck bringen, dass es sich um einen spontanen passiven Vorgang handelt. Er läuft also automatisch und unbewusst ab. Es muss nicht aktiv – zum Beispiel durch gedankliche Verarbeitung – etwas getan werden. Kant sagt es so: »[…] vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe.« [2, S. 33]

Nach Kant sind der Raum und die Zeit reine Formen der Anschauung. Damit ist gemeint, dass diese uns über die Sinne gegebenen Kategorien als Eigenschaften auch für die Gegenstände objektive Gültigkeit haben – unabhängig von unserer Wahrnehmung und unserem Bewusstsein.