Umschlag

Harry Luck, 1972 in Remscheid geboren, arbeitete nach einem Studium der Politikwissenschaften in München als Korrespondent und Redakteur für verschiedene Medien und leitete das Landesbüro einer Nachrichtenagentur. Seit 2012 ist er für die Öffentlichkeitsarbeit im Erzbistum Bamberg verantwortlich.
www.harry-luck.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2020 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/Jan Schuler/Alamy
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept
von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Carlos Westerkamp
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-626-5
Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die
Literaturagentur Kai Gathemann, München.

 

Wenn es mich nicht gäbe,

müsste man mich erfinden.

Horst Müller,
Kriminalhauptkommissar

Prolog

Nichts an diesem sonnigen Nachmittag deutet darauf hin, dass er heute einen Menschen sterben lassen wird. Er wird einen von langer Hand geplanten und bis ins kleinste Detail vorbereiteten Mord begehen. Und er wird sich dafür bezahlen lassen. Nicht so, dass er danach ein unbeschwertes Leben auf einer Südseeinsel führen kann. Aber wenn alles glattläuft, dann lohnt sich der Aufwand. Es wird der perfekte Mord sein, für den er sich nicht einmal die Hände schmutzig machen muss.

Natürlich weiß er, dass es den perfekten Mord in der Wirklichkeit nicht gibt. Doch hier taucht er in seine eigene Realität ein. Er hat es sich mit seinem Notebook auf der Terrasse gemütlich gemacht. Ein schräg gestellter Sonnenschirm verhindert, dass die Schrift auf dem Bildschirm unleserlich ist. Allerdings ist dort noch nicht viel zu lesen bis auf den Arbeitstitel. Die Angst vor dem leeren Blatt, das früher in der Schreibmaschine eingespannt war, ist heute der Panik des weißen Bildschirms gewichen.

Neben seinem Computer steht ein Cappuccino. Bücher schreiben ohne Kaffee ist für ihn nicht vorstellbar. Neben der Tasse liegen mehrere ausgedruckte Blätter, auf denen die Geschichte, die er verfassen möchte, schon komplett skizziert ist. Dieses Exposé ist die Antwort auf die Frage, die ihm Journalisten und Leser immer wieder stellen: »Wissen Sie schon, wer der Mörder ist, wenn Sie mit dem Schreiben anfangen?« Er antwortet dann stets, dass die komplette Story vom Mord über die falschen Spuren bis zur Auflösung fertig durchstrukturiert sein muss und dass er sich nicht vorstellen kann, dass es Krimiautoren gibt, die einfach drauflosschreiben, ohne zu wissen, wie ihre Geschichte endet.

Von der Terrasse aus kann er auf den Fluss blicken, wo gerade ein Schiff mit fröhlichen Tagestouristen vorbeifährt. Ein Entenpärchen spaziert über die Rasenfläche und hofft, dass etwas vom Tisch herunterfallen könnte, ein Windstoß lässt den Sonnenschirm kurz bedrohlich schwanken. Die restliche Akkulaufzeit seines Laptops beträgt vier Stunden und achtunddreißig Minuten. Das sollte reichen für das erste Kapitel. Die Zeit bis zum vertraglich vereinbarten Termin der Manuskriptabgabe: neun Monate, drei Wochen und vier Tage. Machbar, aber auch eine Herausforderung. Schließlich ist noch kein einziges Wort geschrieben. Dies soll sich in wenigen Augenblicken ändern. Er nimmt noch einen Schluck aus der Cappuccino-Tasse, dann tippt er in die Tastatur die Buchstaben P-r-o-l-o-g.

EINS

Seit einer geschlagenen Stunde saß dieser Mann nun schon in meinem Büro und machte sich eines schweren Vergehens schuldig: Er stahl meine Zeit. Seitdem ich vor ein paar Jahren mit dem fünfzigsten Geburtstag mit voller Fahrt in die Midlife-Crisis gerast war, war mir bewusster als je zuvor, dass Zeit ein endliches Gut ist. Und zu den wertvollsten Minuten des Tages gehörte die tariflich vereinbarte Mittagspause, die ich mit diesem Gespräch verbringen musste.

»Ich würde Ihnen gerne noch einen Filterkaffee anbieten, aber leider …« Ich deutete auf die gute alte Rowenta mit der leeren Kanne im Regal neben meinem Schreibtisch im Kommissariat 1 der Bamberger Kriminalpolizeiinspektion und zuckte hilflos mit den Schultern. Doch mein Besucher verstand den Wink mit der leeren Kanne nicht, sondern blätterte eifrig seinen karierten Spiralblock um und machte weitere Notizen.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Kommissar Müller, dass Sie meine Recherchen so wunderbar unterstützen und sich so viel Zeit nehmen für mich …«

In der Tat, dachte ich und verzichtete auf die Korrektur, dass ich Hauptkommissar war, was zwar nur eine Silbe mehr war, die jedoch in der Besoldungstabelle der bayerischen Polizei durchaus beachtliche Auswirkungen hatte.

»… ich habe auch nur noch einige wenige Fragen.« Er rutschte unruhig auf dem Vernehmungsstuhl hin und her, während ich gelangweilt mit dem Bleistift rechtwinklige Dreiecke auf dem Kalender der Polizeigewerkschaft zeichnete, der als Schreibtischunterlage diente. Normalerweise stellte ich in diesem Raum im dritten Stock der Polizeidienststelle die Fragen, und das nannte man dann Vernehmung, über die ein ordentliches Protokoll angefertigt wurde, das alle Beteiligten unterschrieben. Dass ich mich bereit erklärt hatte, einem Krimiautor Fragen über meine Arbeit zu beantworten, war ein Gefallen, um den mich der Leiter der Inspektion, Polizeidirektor Dr. Goos, gebeten hatte. Da blieb mir wohl keine Wahl.

»Fragen Sie nur«, sagte ich so freundlich wie möglich. »Aber macht es Ihnen etwas aus, wenn ich dabei etwas zu mir nehme? Ich habe heute noch nichts gegessen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, holte ich aus meiner obersten Schreibtischschublade eine beigefarbene Tupperdose, in der sich ein Pausenbrot befand, das je zur Hälfte mit Scheibenkäse und Putensalami belegt war.

»Danke, Herr Kommissar. Wie ist das jetzt genau hier in der Mordkommission mit der Zuständigkeit bei Tötungsdelikten? Wer kümmert sich –«

»Ich unterbreche Sie nur ungern«, hakte ich mit vollem Mund ein. »Aber ich habe doch schon erläutert, dass es hier in Bamberg keine Mordkommission gibt. Bei sogenannten Verbrechen gegen höchste persönliche Rechtsgüter, dazu gehören auch Mord und Totschlag, ermitteln wir vom K1. Aber die Ersten am Tatort sind die Kollegen vom KDD im Erdgeschoss.«

Ich verkniff mir die Frage, ob das denn so schwer zu verstehen sei.

»Kriminaldauerdienst, richtig?«

»Exakt. Bei schweren Verbrechen kann eine Sonderkommission eingerichtet werden, das geschieht üblicherweise beim Präsidium in Bayreuth. Ständige Mordkommissionen existieren in Bayern nur in München und Nürnberg.«

Ich sah, wie es in seinem Kopf rumorte. Offenbar brachte meine Antwort ihn in Verlegenheit.

»Das heißt also, dass es eine Bamberger Mordkommission in der Form, wie sie in meinen Büchern vorkommt, gar nicht wirklich gibt?«

Ich nickte und biss ein weiteres Mal in mein Käsebrot. »Das sagte ich. Richtig. Aber Sie schreiben doch keine Reportagen oder Dokumentationen. Von mir aus können Sie in Bamberg auch einen Polizeipräsidenten ansiedeln. In jedem Roman steht doch am Anfang, dass alles frei erfunden ist und jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen … und so weiter.«

»Richtig, ja. Lesen oder schauen Sie selbst denn auch in Ihrer Freizeit Krimis?«, fragte der Schriftsteller.

»Ich bin ein großer ›Derrick‹-Fan«, antwortete ich. »Ich habe alle zweihunderteinundachtzig Fälle des legendären TV-Inspektors auf DVD. Wissen Sie, ich habe als Kind ›Derrick‹ im Fernsehen gesehen und wollte schon damals Polizist werden. Natürlich hat das nichts mit realer Polizeiarbeit zu tun. Zum Bücherlesen komme ich allerdings eher wenig, muss ich gestehen. Haben Sie noch Fragen?«

»Ja, ich möchte noch etwas zu Ihrem Revolver wissen.«

»Pistole. Kein Revolver«, sagte ich. »Die Dienstwaffe der Polizei ist die SFP9 von Heckler & Koch. Sie hat vor zwei Jahren die lang bewährte P7 abgelöst und eine Magazinkapazität von fünfzehn Schuss vom Kaliber neun mal neunzehn Millimeter. Sie wiegt ungeladen siebenhundertzehn Gramm. Und bevor Sie fragen: Sie liegt nicht hier in der Schublade, sondern unten im Keller im verschlossenen Waffenschrank.«

»Was kostet so eine Waffe?«, wollte er wissen.

»Die werden Sie nicht einfach auf eBay bestellen können. Aber der Wert im Handel liegt bei etwa siebenhundert Euro. Und jetzt muss ich Sie wirklich bitten …« Ich schaute demonstrativ auf die Uhr.

»Selbstverständlich, Herr Kommissar, ich möchte Sie nicht länger belästigen. Nur noch eine klitzekleine Bitte. Sie würden mir einen riesengroßen Gefallen tun.«

Ich seufzte und war fast bereit, ihm keine Bitte abzuschlagen, wenn er dann endlich gehen würde. »Was denn?«

Er öffnete eine braune, fleckige Aktentasche, wie man sie von Sozialkundelehrern kennt, und holte einen Stoß bedruckter Blätter hervor.

»Das ist das noch nicht veröffentlichte Manuskript meines nächsten Romans. Bevor ich den Text an den Verlag schicke, wollte ich Sie fragen … Ich meine, es wäre mir eine große Hilfe, wenn Sie … Also nur, wenn es Ihre Zeit erlaubt …«

»Ich soll Ihren Roman Korrektur lesen?«, fragte ich ungläubig.

Er nickte verschämt. »Es eilt auch nicht. Also nicht sehr. Mir geht es darum, dass keine sachlichen Fehler bei der Beschreibung der Polizeiarbeit vorkommen. Ich würde Sie natürlich auch im Nachwort bei den Danksagungen erwähnen, wenn Sie nichts dagegen haben. Und ein signiertes Exemplar erhalten Sie selbstverständlich auch.«

»Geben Sie her«, unterbrach ich ihn, nahm den Papierstoß und ließ ihn unbesehen in meiner Schublade verschwinden.

In diesem Moment öffnete sich die Bürotür, und meine Kollegin, Kriminalmeisterin Paulina Kowalska, betrat den Raum, ein Brödladüdla mit vermutlich veganen und laktosefreien Backwaren in der Hand. Nach einem Schritt blieb sie überrascht stehen.

»Ach, Sie haben Besuch, Horst? Ich hab Ihnen ein Bamberger Hörnla mitgebracht. Aber ich will nicht stören.«

»Kommen Sie rein, Paulina«, antwortete ich. »Der Herr wollte gerade gehen.«

ZWEI

Einige Wochen später

»Stehen bleiben, Polizei!«, rief der Kripobeamte laut, der im Laufschritt eine Frau mit einem auffälligen lilafarbenen Umhang auf der Oberen Brücke verfolgte. An ihrer Schulter baumelte eine schwarze Lederhandtasche. Die Frau lief ungelenk auf hochhackigen Schuhen an der Figur des heiligen Nepomuk vorbei Richtung Altes Rathaus, wobei sie sich ängstlich umschaute. Der Polizist, der eine schwarze Lederjacke, eine löchrige Jeans und Motorradstiefel trug und seine Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, blieb breitbeinig vor dem Postkartengeschäft am Beginn der Brücke stehen, dann hob er die rechte Hand und rief: »Stehen bleiben, oder ich schieße!« Ein etwa vierzigjähriger Hutträger mit Businessanzug und Aktenkoffer wandte sich erschrocken um und ging dann schnell weiter Richtung Grüner Markt.

»Frau Born! Sie haben keine Chance! Geben Sie auf!« Die Stimme des Polizisten klang, als hätte er die Kehle ausgiebig mit Whisky geölt.

Jetzt streifte die Frau, sie war um die fünfzig, ihre Stöckelschuhe ab und kletterte blitzschnell auf das steinerne Brückengeländer. Dann öffnete sie ihre Handtasche und zog ebenfalls eine Waffe hervor, es schien sich um eine kleinkalibrige Pistole zu handeln.

»Verdammt!«, rief der Kripomann. »Machen Sie keinen Scheiß!«

Doch die Frau hob die Hand und zielte auf den Polizisten. Der zögerte keine Sekunde.

Und drückte ab.

Im selben Moment, wie der Schuss über die Brücke peitschte, schrie die Frau laut auf, torkelte und stürzte rücklings in die Regnitz. Der Knall veranlasste drei weiße Möwen, die auf dem gusseisernen Gitter vor der dreihundert Jahre alten Kreuzigungsgruppe saßen, hektisch aufzuflattern und über das von vielen Postkarten bekannte historische Rathausgebäude in den blauen Frühlingshimmel hinwegzufliegen.

»Stopp, aus!«, war eine Stimme zu hören. Dann rannte der Mann mit Hut wieder durch das Bild, ließ seinen Aktenkoffer auf den steinernen Boden fallen, fuchtelte wild mit den Händen und rief: »Was ist passiert? Frau Schauer?«

Er lief zu der Stelle, an der die Frau ins Wasser gestürzt war, und schaute hinunter.

In diesem Moment stoppte die Aufzeichnung, das Bild auf dem kleinen Monitor flimmerte kurz und wurde dann schwarz.

»Können wir die letzte Szene noch mal sehen?«, fragte ich und deutete auf den Bildschirm.

»Ich kann es immer noch nicht glauben, Herr Kommissar«, sagte Wolfgang Dreyer, der vor dem Haus mit den schrägen Wänden am Anfang der Brücke erschöpft in seinem Klappstuhl saß, auf dessen schwarzer Rückenlehne in großen weißen Buchstaben das Wort »Regie« zu lesen war. Er hatte den Kopf auf seine Hände gestützt, die Augen geschlossen. »Ich drehe jetzt seit zwanzig Jahren Fernsehkrimis, aber dass so etwas passieren kann, hätte ich niemals für möglich gehalten.«

»Und Frau Schauer ist wirklich tot?«, fragte Jörg Stettner, der Kameramann, der auf dem Boden vor dem Monitor kniete und mit wenigen flinken Handbewegungen die gewünschte Bildsequenz zurückholte.

»Die Leiche, die an der Anlegestelle am Kranen aus der Regnitz gezogen wurde, ist zweifelsfrei tot«, sagte meine Kollegin Paulina. »Ob sie an der Schussverletzung starb oder durch Ertrinken, wird erst die Obduktion zeigen.«

Stettner betätigte eine Taste, und die Szene lief noch einmal ab. Hinter uns waren Kollegen der Spurensicherung damit beschäftigt, den Tatort aus allen Perspektiven zu fotografieren. Um keine Spuren zu verwischen, trugen sie weiße Overalls, die in jedem schlechten Krimi vermeintlich originell als »Ganzkörperkondome« bezeichnet wurden, was in keiner Weise treffend war, denn die Schutzanzüge waren weder aus Latex, noch lagen sie besonders eng am Körper an.

Die Kollegen vom Kriminaldauerdienst hatten mir schon mitgeteilt, dass sich der Schütze ohne Widerstand hatte festnehmen lassen, und mir den Namen des Beschuldigten auf einen Notizzettel geschrieben. Das sah also nach einer raschen Ermittlung aus.

»Wer ist das?« Ich deutete mit dem Zeigefinger auf den Anzugträger mit Hut. »Ein zufälliger Augenzeuge?«

»Natürlich nicht«, sagte Regisseur Dreyer und schloss dabei die Augen. »Während der Dreharbeiten ist die Brücke für den Fußgängerverkehr gesperrt. Die scheinbar zufälligen Passanten, die man in der Szene sehen kann, sind Komparsen. Wobei Schlickowey, also der Mann, den Sie meinen, ein Nebendarsteller ist. Er kommt noch zweimal im Drehbuch vor.«

»Wie hätte die Szene laut Drehbuch denn ablaufen sollen?«

»Hier, sehen Sie selbst«, sagte Dreyer und reichte mir einen Packen luftig bedrucktes Papier, auf dessen erster Seite fett »Der Franken-Bulle« stand, in etwas kleinerer Schrift darunter »Folge 27 – Regie: Wolfgang Dreyer, nach einem Roman von Barbara Schauer«.

»Moment mal, Schauer?«, sagte ich. »Das ist doch der Name der geschädigten Person.«

»Richtig. Frau Schauer hat die Romanvorlage und das Drehbuch geschrieben. Sie ist eine bekannte Krimiautorin, und es war ihr großer Wunsch, einmal die Leiche in einem ihrer verfilmten Krimis zu sein.«

Einige Augenblicke lang schwiegen alle betreten. Auch ich schluckte jede zynische Bemerkung hinunter und fragte: »Wo ist dieser Schlickowey jetzt?«

»Er hat einen Schock erlitten. Der Notarzt hat ihn gleich mitgenommen ins Klinikum«, sagte eine junge Frau, die ihre kurzen blonden Haare so trug wie Herbert Grönemeyer in den achtziger Jahren.

»Und Sie sind?«, entgegnete ich.

»Annett Thiel. Aufnahmeleitung.«

Der Hobbypsychologe in mir stellte fest, dass Fräulein Thiel möglicherweise zu den an Komplexen leidenden Personen gehörte, die auf ihre Visitenkarten »Leitung« statt »Leiter« oder »Leiterin« schrieben, weil sie sich unbewusst einer Führungsposition nicht gewachsen sahen. Diese Bezeichnung erweckte zumindest bei mir den Eindruck einer Distanz zwischen Person und Aufgabe. Jedenfalls kannten wir jetzt die Namen der wichtigsten Zeugen hier am Tatort.

»Sie leiten also die Aufnahmen«, sagte ich.

Frau Thiel machte ein verächtliches Geräusch, ohne dabei die Lippen zu bewegen. Dann lachte sie kurz und stellte fest: »Ein Zitronenfalter faltet auch keine Zitronen.«

»Wie bitte?«, fragte ich. Doch dann verstand ich, was sie mir sagen wollte.

Der Regisseur Dreyer schaltete sich ein: »Wissen Sie, Herr Kommissar, es gibt noch einen Witz über diesen Job. Was haben ein Aufnahmeleiter und ein Präservativ gemeinsam?«

Ich schaute Paulina kurz an und zuckte dann mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

»Es geht auch ohne. Aber sicherer ist’s mit.« Er versuchte, wohl angesichts der Situation, sein Lachen zu unterdrücken. »Entschuldigen Sie. Vielleicht nicht sehr passend, aber immer wieder lustig.«

»Sagen Sie, Herr Dreyer«, kam ich zur Sache zurück, »beim Fernsehen wird doch alles dutzendfach gedreht, bevor eine Szene im Kasten ist, oder?«

Der Regisseur nickte stumm.

»Haben Sie dann diese Sequenz schon mehrmals gedreht?«

»Nein«, antwortete er. »Wir haben vorher ein paar Licht- und Tonproben gemacht.«

»Aber dabei wurde nicht geschossen?«

»Nein. Die Waffe hat Zenker in diesem Moment zum ersten Mal betätigt.«

»Zenker, Eric, Hauptdarsteller«, war auf dem Zettel der KDD-Kollegen notiert. Und: »vorläufige Festnahme«.

»Auf der Aufzeichnung ist nur zu sehen, wie das getroffene Opfer ins Wasser fällt, aber nicht die Reaktion des Schützen. Können Sie sich daran erinnern?«, fragte ich.

»Die Pistole ist ihm aus der Hand gefallen«, antwortete die Aufnahmeleitung. »Dann ist er einen Moment starr stehen geblieben, um schließlich zu Schlickowey zu rennen.«

»Er wollte hinterherspringen, um sie zu retten«, sagte Stettner. »Aber wir konnten ihn daran hindern. Der Körper von Frau Schauer war nach wenigen Augenblicken schon bis hinter die Untere Brücke abgetrieben.«

»Ich kann es immer noch nicht glauben«, seufzte Dreyer und schüttelte langsam den Kopf.

»Haben Sie eine Erklärung dafür, dass aus einer vermeintlichen Filmwaffe ein scharfer Schuss abgefeuert wurde?«, stellte ich die naheliegende Frage.

»Nein, das ist es ja«, antwortete Dreyer sofort. »Eric Zenker spielt seit zehn Jahren den Franken-Bullen. Und von Anfang an benutzte er dieselbe Waffe, die von einem Spezialisten unbrauchbar gemacht worden war.«

»Ach«, staunte ich.

»Das heißt, es war ursprünglich eine echte Pistole? Warum keine Attrappe?«, hakte Paulina nach.

»Das müssen Sie ihn schon selbst fragen. Ich glaube, er ist in solchen Dingen ein Perfektionist.«

»Das werden wir«, sagte ich.

Und Paulina fügte hinzu: »Die Kollegen vom KDD haben ihn als geständigen Schützen widerstandslos festgenommen. Er ist in der KPI und wartet auf seine Vernehmung.«

***

»Haben Sie schon mal ein Drehbuch gelesen, Paulina?« Ich saß auf dem Beifahrersitz und blätterte in dem Manuskript, während meine Kollegin unseren Dienstwagen zur Polizeiinspektion in der Schildstraße fuhr. Dass wir uns siezten und beim Vornamen nannten, war eine der Besonderheiten, die unser dienstliches Verhältnis auszeichnete: Trotz des Altersunterschieds von etwa zwanzig Jahren schätzten wir uns und gingen auf Augenhöhe miteinander um, wobei wir immer die gebotene Distanz wahrten und die Privatsphäre des anderen respektierten. Ein Feierabendbier mit Kollegen, wie man es oft in den Fernsehkrimis beobachten konnte, wäre mir niemals in den Sinn gekommen. Und wenn, dann hätte ich eh nur alkoholfreies Bier getrunken. Denn Alkohol pflegte ich nur in geringen Dosen in Form von Eierlikör zu konsumieren. Andernfalls hätte ich gesagt: Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps.

»Nein, warum sollte ich ein Drehbuch lesen, Horst?«, antwortete Paulina und stoppte an der Ampel am Kunigundendamm vor der Marienbrücke, wo linker Hand ein »Frisörsalon« mit dem haarsträubenden Namen »Abschnitt 1« seine Niederlassung hatte. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass man heute straflos »Frisör« statt »Friseur« schreiben durfte.

Daneben entdeckte ich ein Plakat mit dem Konterfei und dem Namen der getöteten Autorin: »Buchpremiere«, stand in großen Lettern über ihrem Porträtfoto, das sie mit ernstem Blick und einer gezückten Pistole zeigte, deren Lauf auf Höhe ihrer Nasenspitze endete. Ich hatte mich schon oft gefragt, warum Krimiautoren sich auf Fotos so oft mit Knarre oder Ganovenhut abbilden ließen, so als ob man selbst Verbrecher sein müsste, um über Mord und Totschlag zu fabulieren.

»Schauen Sie mal, Frau Schauer hätte morgen eine Buchpremiere gehabt. Der neue Fall für Chris Ridder.«

»Die Veranstaltung fällt wohl aus«, bemerkte Paulina lakonisch. »Aber es gibt ja noch genug andere Lesungen. Die Stadt ist voll mit Plakaten.«

»Ja, es ist wieder Literaturfestival. Dutzende Autoren, drei Wochen lang, fast jeden Tag eine Lesung. War groß im FT angekündigt.«

»Aber nicht nur Krimis?«

»Politiker, Philosophen, Ratgeberautoren, Wissenschaftler, alles dabei. Und natürlich auch Belletristik. Es gibt sogar Krimilesungen, die in einem Stadtwerkebus stattfinden.«

Ich hatte im Drehbuch schnell die Stelle gefunden mit der Szene, die an der Oberen Brücke gedreht werden sollte.

»Das sieht ja ähnlich aus wie unsere Vernehmungsprotokolle«, stellte ich fest und überflog die Seiten. »Es scheint tatsächlich genau so passiert zu sein, wie es im Drehbuch stand: Dieser Kommissar Rottmann verfolgt eine Frau durch die Fußgängerzone bis zur Brücke, dort klettert sie auf die Mauer, zückt auch eine Waffe, woraufhin der Kommissar sie erschießt.«

»Krasse Sache«, bemerkte Paulina. »Dann hat diese Autorin sozusagen das Buch zu ihrem eigenen Tod geschrieben.« Die Ampel wurde grün, und wir fuhren weiter. »Allerdings ist diese Handlung schon ziemlich bescheuert. Ich meine, eine Verfolgungsjagd durch die Innenstadt und dann dieser Showdown an der Brücke, das klingt für mich eher nach Edgar Wallace oder den ›Straßen von San Francisco‹ und nicht nach Bamberger Altstadt. Der ›Franken-Bulle‹ ist doch eigentlich ein eher realistisches Format.«

»Abgesehen davon, dass es bei uns zum Glück keine Kommissare mit Rockerjacke und Fetzenjeans gibt«, sagte ich und blätterte weiter. Mit Blick auf Paulinas Knie, das auch durch eine von Designern akkurat platzierte aufgeritzte Stelle ihrer Hose blitzte, fügte ich hinzu: »Jedenfalls nicht bei männlichen Beamten.«

»Das sind keine Fetzen, das ist Used Style und hat was mit Mode zu tun. Aber darüber muss ich Ihnen ja nichts erzählen. Lassen Sie mich raten: Von Ihrem Dutzend grauen Anzügen ist keiner jünger als zehn Jahre.«

»Mit einem grauen Anzug ist man jedenfalls zeitlos und in jeder Situation gut angezogen. Und solange sich an meiner Kleidergröße fünfzig nichts ändert, habe ich keinen Grund, mir neue Anzüge zu kaufen.«

»Fehlt noch der Trenchcoat, dann wäre das Derrick-Outfit perfekt«, frotzelte Paulina.

»Nur, dass der TV-Oberinspektor immer noch eine Rolex am Handgelenk hatte. Die passte zu seiner Gehaltsstufe ebenso wenig wie der 7er BMW, mit dem er durch die Münchner Isarvorstadt kurvte. Aber wenn man in einem Krimi die Polizeiarbeit realitätsgetreu beschreiben würde, dann bestünde ein Neunzig-Minuten-Film achtzig Minuten lang aus Schreibarbeiten und dem Abtippen von Vernehmungsaufzeichnungen. Weitere fünf Minuten wären Dienstbesprechungen. Und so eine Schießerei, wie hier beschrieben, erlebt man in echt eher selten. Da kommt ja häufiger der Papst nach Bamberg.«

»Der Papst? Der war noch nie in Bamberg«, sagte Paulina, die von ihrer polnischen Mutter nach dem damaligen Heiligen Vater auf die Namen Johanna Paulina getauft worden war, selbst aber eher allergisch auf alles Katholische reagierte und vermutlich ihre Kirchenaustrittsbescheinigung irgendwo zu Hause eingerahmt an der Wand hängen hatte.

»Eben«, stimmte ich zu. »Allerdings ist das nicht so ganz richtig. Dass ein Bamberger mal Papst war und als einziger solcher jetzt im Dom begraben ist, gehört ja zum Allgemeinwissen jedes japanischen Tagestouristen. Aber Papst Benedikt war mal in Bamberg und hat die Stephanskirche geweiht.«

»April, April«, entgegnete Paulina. »Das weiß ich zufällig, dass Benedetto nie in Bamberg war, zumindest nicht als Papst. Und die Stephanskirche ist ja wohl evangelisch. Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«

»Keineswegs. Es war nämlich nicht unser Benedikt XVI., sondern Papst Benedikt VIII. Und es ist jetzt ziemlich genau tausend Jahre her, dass er in Bamberg …«

»… eine evangelische Kirche geweiht hat?«

»Vor tausend Jahren gab’s noch fünfhundert Jahre lang keine Protestanten. Da waren alle noch gut katholisch. Aber egal. Und noch was: Als Benedikt noch Joseph Ratzinger hieß und Theologieprofessor war, hat er auf dem Katholikentag in Bamberg in der Alten Hofhaltung eine Rede gehalten.«

»Das war aber noch in der Zeit des Schwarz-Weiß-Fernsehens, oder, Mister Brockhaus?«

»Gut geschätzt. 1966. Das Farbfernsehen in Deutschland kam ein Jahr später.« Ich genoss einen kurzen Moment die Situation, in der mich Paulina bestimmt für mein Allgemeinwissen bewunderte. Dafür konnte sie besser Wikipedia und Google bedienen als ich. So ergänzten wir uns auch in diesem Punkt wunderbar.

»Dieser tödliche Schuss auf der Brücke war gar nicht echt«, sagte ich, während ich weiter im Drehbuch las.

»Wie bitte? Sondern?«

»Das war nur ein Traum.«

»Schön wär’s, Horst. Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

»Ich meine: im Drehbuch. In der nächsten Szene wacht Kommissar Rottmann schweißgebadet auf. Er hat diese Verfolgungsjagd und den Schuss auf die Frau nur geträumt. Es wird immer zynischer. In dieser Krimifolge leidet der Kommissar unter psychischen Problemen und wird regelmäßig von Alpträumen verfolgt.«

»Ich bin jedenfalls sehr gespannt, wie Herr Zenker erklären will, dass er die Drehbuchautorin vor laufender Kamera mit einer scharfen Waffe erschossen hat«, sagte Paulina und fuhr auf den Polizeiparkplatz, der für die Dienstfahrzeuge des K1 reserviert war.

***

»Ist das ein Tippfehler?«, fragte ich, als ich den Namen Erich Zenker auf dem rosafarbenen Aktendeckel sah, der auf meinem Schreibtisch lag. Ich setzte mich, schräg gegenüber war der Arbeitsplatz von Paulina. Dazwischen hatte Zenker auf dem Vernehmungsstuhl Platz genommen. Selten hatten wir die Situation, dass der Täter bei einem Tötungsdelikt von einer Fernsehkamera aufgezeichnet wurde und sich danach widerstandslos festnehmen ließ. Dennoch schien mir dieser Fall alles andere als aufgeklärt.

»Eric oder Erich?«, hakte ich noch mal nach.

»Erich ist richtig, eigentlich. So steht’s in meinem Pass. Als Schauspieler trete ich aber seit eh und je als Eric Zenker in Erscheinung, anfangs noch als Eric H. Zenker. Aber das H ist irgendwann abhandengekommen. Wissen Sie, ich bin in der DDR aufgewachsen. Da hatte der Name Erich einen etwas unguten sozialistischen Beigeschmack.«

Zenkers Lederjacke hing über dem Stuhl, die Ärmel seines karierten Baumwollhemdes hatte er hochgekrempelt, sodass seine stark behaarten Unterarme zu sehen waren. Am linken Handgelenk trug er ein braunes Lederarmband.

Paulina klärte ihn darüber auf, dass er als Beschuldigter vernommen wurde.

Ich blickte ihm in die Augen und ergänzte: »Ihnen wird ein Tötungsdelikt zum Nachteil von Frau Barbara Schauer vorgeworfen.«

»Zum Nachteil?« Zenker schaute erst mich, dann Paulina mit glasigen Augen an. »Tötungsdelikt? Das heißt, die Babsi ist wirklich … tot?«

Ich nickte wortlos.

»Herr Zenker, ich muss Sie das fragen«, sagte ich dann. »Sie wussten nicht, dass die Waffe, mit der Sie auf Frau Schauer zielten, mit scharfer Munition geladen war?«

»Nein, verdammt!«, schrie er auf und schlug mit der Faust auf die Tischplatte, sodass das Wasserglas vor ihm zu vibrieren begann. Sofort beruhigte er sich wieder. »Entschuldigen Sie. Aber glauben Sie, ich hätte abgedrückt, wenn ich das gewusst hätte? Warum sollte ich sie umbringen? Es gibt überhaupt keinen Grund dafür! Ich bin doch kein Mörder!« Zenker sprang von seinem Stuhl auf und blickte uns hilflos an.

»Setzen Sie sich wieder«, sagte ich. »Wie gut und seit wann kannten Sie Frau Schauer?«

Er atmete tief durch und ließ sich dann zurück auf seinen Stuhl sinken.

»Ich hatte sie vor einigen Jahren getroffen, als sie bereits eine Folge für den ›Franken-Bullen‹ geschrieben hatte. Richtig kennengelernt hatten wir uns aber erst, als der Dreh in Bamberg begann.«

»Ist es denn üblich, dass Drehbuchautoren auch als Schauspieler in einem Film mitwirken?«, wollte Paulina wissen.

»Das kommt nicht erst seit Alfred Hitchcock immer wieder vor. Es ist meistens eher ein Gag, dass der Autor als unbedeutende Person irgendwann mal durchs Bild läuft oder in einer Menschengruppe steht. Der Fitzek macht das auch gern. Dass ein Drehbuchautor in einem Film die Leiche spielt, habe ich allerdings noch nie erlebt.«

»Wer ist auf die Idee gekommen, wissen Sie das?«

»Keine Ahnung. Ich hörte mal, dass es auf eine Wette zurückging, die Babsi, also Frau Schauer, verloren hat. Genaues weiß ich aber nicht.«

»Sie nennen sie Babsi?«, stellte Paulina fest. »Wie gut kannten Sie Frau Schauer?«

»Es war ein gutes kollegiales Verhältnis. Geduzt haben wir uns alle am Set.«

»Und hatten Sie zu Frau Schauer auch außerhalb der Dreharbeiten Kontakt?«

Zenker zögerte kurz. »Nein. Ich lebe in Nürnberg. Die Babsi wohnte zurückgezogen in Unterfranken, soweit ich weiß.«

»Erzählen Sie mehr über den Franken-Bullen«, wechselte ich das Thema.

»Sie meinen, über die Serie? Oder die Rolle?«

»Beides. Wie lange spielen Sie schon diesen Fernsehkommissar?«

»Seit ungefähr zehn Jahren. Damals wollte das Bayerische Fernsehen einen Gegenpol zur Münchner und oberbayerischen Übermacht bei Fernsehkrimis setzen. Es gab sogar eine Intervention des aus Franken stammenden damaligen CSU-Generalsekretärs, der sich öffentlich beklagte, dass die Franken in den Fernsehkrimis immer nur als Deppen dargestellt würden.«

»Stimmt«, sagte ich. »Nicht nur ›Derrick‹ spielte in München. Auch ›Der Alte‹, ›Soko 5113‹ und ›Der Isarbulle‹.«

»Genau. Der ›Franken-Bulle‹ sollte die nordbayerische Antwort auf den erfolgreichen ›Isarbullen‹ sein. Das Ergebnis: Den ›Isarbullen‹ gibt’s schon lange nicht mehr, und der ›Franken-Bulle‹ hat oft höhere Einschaltquoten als der ›Tatort‹.«

»Und wo ermittelt der Franken-Bulle?«, fragte ich.

»In der Serie existiert eine fiktive Mordkommission Franken mit Sitz in Nürnberg. Die Fälle spielen jeweils in einer anderen fränkischen Stadt. Die letzten Folgen wurden in Würzburg, Fürth, Coburg und Ansbach gedreht. Es gibt immer viel Lokalkolorit in den Drehbüchern, deshalb werden auch regionale Autoren verpflichtet. Das Fernsehen wollte auf der Erfolgswelle der Regiokrimis im Buchhandel mitreiten. Da hat die Babsi ja auch schon viele Erfolge gehabt.«

»Und Frau Schauer hat die Drehbücher für die Folgen in Bamberg geschrieben?«, fragte Paulina. »Dabei wohnte sie doch in Unterfranken, wie Sie eben sagten.«

»Ja, aber sie hat Bamberger Wurzeln. Bis vor ein paar Jahren hat sie in der Gartenstadt gelebt, dort ist sie auch aufgewachsen. Früher arbeitete sie als Journalistin für den FT und das ›Heinrichsblatt‹, aber auch für überregionale Medien. Vor Jahren hat sie mal für den ›Stern‹ eine Enthüllungsreportage über Manipulationen in der Spielautomatenszene geschrieben und dafür einen Journalistenpreis bekommen. Als sie mit ihren Krimis so erfolgreich wurde, dass sie davon leben konnte, hat sie sich aufs Land zurückgezogen und den Journalismus aufgegeben. Aber die Recherchen über die Glücksspielbranche hat sie auch mal in einem Roman verarbeitet, der ebenfalls verfilmt werden soll.«

»Sie wissen erstaunlich viel über sie, dafür, dass Sie sie nur oberflächlich kannten.«

»Sie glauben gar nicht, wie lange die Pausen am Set sein können. Da hat man viel Zeit zum Reden. Ich weiß über meine Kollegen zum Teil mehr als über meine eigene Frau.«

»Sie sind verheiratet?«, fragte ich.

»Ja. Ist das wichtig?«

»Was macht Ihre Frau beruflich?«

»Sie ist Friseurin in der Nürnberger Südstadt. Wir sind seit zwanzig Jahren verheiratet.«

Ich schaute auf die Personendaten in der Akte. Zenker war achtundvierzig, also durchaus im Alter, in dem Männer in der Midlife-Crisis rein statistisch häufig reif für einen amourösen Neustart sind. Und dem Lesungsplakat zufolge war Barbara Schauer eine für ihr Alter äußerst attraktive Erscheinung. Ich wollte dem Schauspieler den rein oberflächlichen Kontakt zum Todesopfer nicht so recht abnehmen, beließ es aber für den Moment dabei.

»Kommen wir noch mal zur Tatwaffe, Herr Zenker. Stimmt es, dass es sich um eine echte Waffe handelte, die schießuntauglich gemacht wurde?«

»Richtig, ja. Eine HK P7.«

»Das ist die frühere Dienstwaffe der bayerischen Polizei. Woher haben Sie die?«

»Als ich die Rolle des Franken-Bullen bekam, habe ich lange bei der Kripo recherchiert. Ich bin nach München gefahren und habe sehr ausführlich mit dem Leiter des Morddezernats gesprochen, mir alles zeigen und erklären lassen. Wie man Personen festnimmt, wie man Handschellen anlegt, wie die Beamten sich gegenseitig ansprechen und auch wie man eine Waffe hält. Dabei ist mir aufgefallen, dass die Plastikattrappen, die beim Film oft verwendet werden, viel leichter sind als eine echte Pistole. Der Münchner Kriminaloberrat hat mir dann eine ausgemusterte P7 organisiert, die von einem Waffenexperten unbrauchbar gemacht worden war. Alles hochoffiziell mit Genehmigung des Innenministeriums. Sie müssen wissen: Ich trage den Titel des Ehrenkommissars der bayerischen Polizei.«

Tatsächlich wurde dieser Titel seit 1957 immer wieder auch Schauspielern verliehen, die im Fernsehen als Sympathieträger für den Polizeidienst fungierten beziehungsweise »durch ihr Engagement die Belange der bayerischen Polizei in besonderem Maße unterstützt haben«, wie es offiziell hieß. Dazu gehörten unter anderen auch Gustl Bayrhammer, Rolf Schimpf, Miroslav Nemec, Udo Wachtveitl und natürlich auch Fritz Wepper und Horst Tappert, den man später jedoch wegen seiner SS-Vergangenheit still und heimlich aus der Liste gestrichen hatte.

»Und wo wurde diese Waffe aufbewahrt, wenn nicht gedreht wurde?«, fragte Paulina.

»In meiner Garderobe. Ich habe bei Außendrehs immer eine Art Caravan als Rückzugsort. Da sind meine Kostüme untergebracht. Und auch die Pistole, in einer verschlossenen Schublade.«

»Und wer wusste davon?«, fragte ich.

Zenker dachte kurz nach. »Keine Ahnung. Jeder? Ich habe kein Geheimnis daraus gemacht. Warum auch?«

»Und der Wohnwagen war verschlossen?«, fragte Paulina.

»Hm. Nachts schon. Sonst nicht.«

»Es wäre also relativ leicht möglich gewesen, die Waffe unbemerkt auszutauschen gegen eine scharfe?«, hakte ich nach.

Zenker zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, ja. Aber warum sollte das jemand tun? Darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht. Die Pistole war völlig ungefährlich.«

»Sie sieht täuschend echt aus«, merkte ich an. »Allein deshalb hätten Sie auf sie achtgeben müssen.«

»Aber ich konnte doch nicht ahnen, dass …«

»Die Pistole ist jedenfalls im Labor, wir werden gewiss DNA-Spuren feststellen. Derweil lassen wir Vergleichsproben von allen Mitarbeitern am Drehort nehmen.«

»Und was ist mit mir?« Zenker hob beide Hände. »Ich bin unschuldig. Wann kann ich heimgehen?«

»Das entscheiden nicht wir«, sagte ich und griff zum Telefon, um die interne Durchwahl unserer Vorgesetzten, Kriminalrätin Veronica Stadel, zu wählen.

Die Bärenfalle (1)

Während draußen die Schneeflocken immer dichter fielen, wurden drinnen die Rollen verteilt. Emmi Schmitt, Heiner Deuerling, Anton Drygalski und Elisabeth Löhlein hatten sich für das Wochenende ins Seehaus in Tröstau zurückgezogen für die ersten Proben der Theatergruppe Mehlmeisel. Anders, als der Name vermuten ließ, lag das Seehaus nicht am Wasser, sondern auf dem Berg. Zwischen Nußhardt und Platte im Schneebergmassiv am Westhang des Seehügels war es in neunhundertzweiundzwanzig Metern über dem Meeresspiegel eine der höchsten besiedelten Stellen im Fichtelgebirge und in ganz Franken.

Die Laienschauspieler unter der Leitung von Gründer und Regisseur Peter Bertl hatten sich nach den Dorfkomödien der vergangenen Jahre diesmal für einen Theaterkrimi entschieden. »Die Bärenfalle«, ein mörderisches Drama in drei Akten im Stil von Agatha Christie, stand auf dem Programm. Bertl blickte zufrieden in die Runde. Der Beginn eines Theaterprojektes war für ihn immer so etwas wie der Aufbruch zu einer großen Reise, deren Ziel feststand, der Weg dorthin aber über viele Umwege und durch unbekannte Länder führen konnte. Seit der Trennung von seiner Ehefrau steckte er all seine Leidenschaft und Zeit in das Theaterprojekt. Das Krimigenre war Neuland für ihn als Regisseur, doch für eine Laienspielgruppe, die ihre Auftritte in der Dorf-Turnhalle absolvierte, kam neben Komödie eigentlich nur noch Krimi in Frage, wenn man nicht vor leeren Stuhlreihen spielen wollte. Anspruchsvolles Theater interessierte hier niemanden. Auch das Probenwochenende auf der Hütte war eine Neuerung, die er mit dem Ziel eingeführt hatte, gleich zu Beginn ein Wir-Gefühl in der Gruppe herzustellen. Hinzu kam der Effekt, sich auf diese Weise kurz vor dem Fest dem vorweihnachtlichen Trubel für ein paar Tage entziehen zu können.

Die Mitglieder der Theatergruppe saßen in einem von einem Kachelofen beheizten Gastraum an einem rustikalen Holztisch auf Stühlen mit ausgesägten Herzen in der Rückenlehne. In der Mitte des Tisches stand ein handgefertigter Adventskranz, an dem die ersten beiden Kerzen brannten.

»Dass die Emmi die Helena spielt, dürfte klar sein«, stellte Bertl fest. Tatsächlich war die dreißigjährige blonde Schönheit die Einzige im Ensemble, die für die Hauptrolle der ebenso schönen Bauerstochter in Frage kam, auch wenn die in diesem Fall mit dem gewaltsamen Ableben auf der Bühne verbunden war. Zweifellos war Emmi Schmitt auch die talentierteste Schauspielerin in der Gruppe. Das hatte sie in ihrer ersten Rolle im Stück »Da Schippedupfer« im Jahr zuvor bereits eindrucksvoll unter Beweis gestellt.

»Das dachte ich mir«, sagte Emmi, die im richtigen Leben als Schalterbeamtin bei der Bundespost in Warmensteinach arbeitete. »Ich habe mir den Text schon mal angeschaut.«

Bertl fiel auf, dass Emmis Haare noch eine Spur blonder waren als bei ihrer letzten Begegnung. Außerdem hatte sie abgenommen, fast etwas zu viel für seinen Geschmack. Die Grenze zwischen schlank und mager war beinahe überschritten.

Das Theaterstück »Die Bärenfalle« kam anders als die Dorfkomödien der letzten Jahre ganz ohne fränkische Mundart aus und war vor zwei Jahren im Münchner Blutenburg-Theater uraufgeführt worden. Leider hatte es dort nicht den andauernden Erfolg der Vorlage »Die Mausefalle« erreicht, das im Londoner West End seit 1952, also seit sechsunddreißig Jahren, gespielt wurde und damit das am längsten ununterbrochen gezeigte Theaterstück der Welt war.

»Heiner«, fuhr Bertl fort, »ich denke, dass du der Richtige für die Rolle des Franz bist. Du kannst mit einem Schießeisen umgehen und hast keine Skrupel, damit auf deine Ex zu zielen?«

Bertl spielte damit auf die Tatsache an, dass Heiner eine Weile mit Emmi liiert war, nach seiner Darstellung sogar verlobt, bis sie ihn für einen anderen verlassen hatte. Der Neffe des Gründers der Branco AG, Florian Brandenstein, war da wohl eine bessere Partie gewesen.

»Jetzt hör doch mit den alten Geschichten auf, Peter«, wehrte Emmi ab. »Das ist doch Schnee von gestern.«

»Während der Schnee von heute langsam bedrohlich wird«, sagte Anton Drygalski mit Blick zum Fenster. »Wenn das so weitergeht, dann sitzen wir hier bald fest. Die Schneeflocken sind groß wie Tennisbälle. Hoffentlich ist genug Holz für den Ofen da. Können wir mal weitermachen? Ich möchte nämlich gleich das Match sehen.«

»Das Match?«, fragte Emmi. »Bist du immer noch in Steffi verknallt?«

»Ach geh! Heute beginnt das Davis-Cup-Finale in Göteborg. Boris spielt gegen Edberg. Die Schweden haben in der Halle einen Sandplatz hingelegt, weil sie denken, dass wir darauf am ehesten zu schlagen sind.«

»Wir? Spielst du auch mit?«, schaltete sich Elisabeth Löhlein ein, deren Eltern im KZ Flossenbürg inhaftiert gewesen waren und die sich in der Friedensbewegung engagierte. Die Aufschrift »Petting statt Pershing« wirkte auf dem Pullover einer über Sechzigjährigen allerdings etwas deplatziert. »Bei allem Respekt für die deutschen Sportler: Es gibt keinen Grund für Deutsche, stolz auf ihre Nation zu sein.«

»Komm, Lissi, lass das jetzt«, sagte Bertl. Er schätzte Lissi sehr, sie war die Einzige, die dem Ensemble von Anfang an angehörte. Sie war immer für die Rolle der »verrückten Alten« geeignet, da konnte sie fast sich selbst spielen. »Nimmst du die Müllerin? Wenn der Anton den Wachtmeister macht, hätten wir alle Rollen verteilt. Passt das so?«

Alle nickten. Bertl war froh, dass die Vergabe ohne Streit und Diskussionen über die Bühne gegangen war.

»Dann sollten wir anstoßen. Auf die ›Bärenfalle‹!«

Alle hoben ihre Seidla mit Lang-Bräu-Weißbier und ließen die Gläser klirren.

»Auf die ›Bärenfalle‹«, stimmten alle ein.

»Wenn wir das geklärt hätten, darf ich jetzt den Fernseher anmachen?«, sagte Anton Drygalski etwas ungeduldig. Und zu Lissi gewandt fügte er hinzu: »Ich schwenke auch keine Deutschlandflagge, versprochen.«

Drygalski wartete keine Antwort ab, ging zu einem kleinen tragbaren Fernseher, der neben dem Kachelofen stand, und schaltete das Gerät ein. Zuerst war Schneetreiben zu sehen, ähnlich wie vor dem Fenster. Durch das geschickte Drehen der Zimmerantenne wurde das Schwarz-Weiß-Bild besser. Eingestellt war das Bayerische Fernsehen, wo eine blonde Sprecherin namens Eva Herman in der »Rundschau« die Meldungen vorlas, dass das Kölner Domkapitel den vierundfünfzigjährigen Berliner Kardinal Joachim Meisner zum neuen Kölner Erzbischof gewählt hatte und dass eine Woche nach dem Absturz einer US-Militärmaschine in Remscheid der Parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Peter Kurt Würzbach, seinen Rücktritt eingereicht hatte. Dann eine Nachricht aus der Region, die alle aufhorchen ließ: »Wir kommen zu einem Fahndungsaufruf der Bayreuther Polizei: Nach einem brutalen Mord in Warmensteinach wird ein etwa vierzigjähriger Mann gesucht, den Zeugen folgendermaßen beschrieben haben.« Es wurde eine genaue Personenbeschreibung genannt und dazu aufgerufen, sich mit Hinweisen bei der nächsten Polizeidienststelle zu melden.

»Da arbeite ich«, sagte Emmi entgeistert. »Ich muss sofort telefonieren.« Sie stand auf und rannte in den Vorraum, wo ein Telefon an der Wand montiert war. Sie nahm den Hörer ab, drückte mehrmals auf die Gabel. Doch nichts geschah. »Die Leitung ist tot!«, rief sie.

»Kein Wunder, schaut mal raus«, sagte Drygalski und schaltete auf das ZDF, wo die Live-Übertragung des Davis-Cup-Finales mit einem Interview mit dem deutschen Teamchef Niki Pilić begonnen hatte.

Einige Minuten verstrichen, in denen niemand etwas sprach.

»Jetzt hat das Telefon geklingelt«, sagte Emmi. »Es scheint doch zu gehen.«

Bertl hatte das Telefon nicht gehört, vermutlich war es von der Lautstärke des Fernsehers übertönt worden. Emmi lief zum Apparat und nahm den Hörer. »Hier ist Emmi Schmitt von der Theatergruppe Mehlmeisel im Seehaus. Wer ist dort?« Sie hörte zu, sagte leise »Ja« und »Wirklich?«, während ihr Gesicht bleich wurde. Als sie den Hörer wieder einhängte, starrte sie erst einige Sekunden auf die Wählscheibe, auf der die Notrufnummern 110 und 112 notiert waren. Dann wandte sie sich an die anderen, die ihre Stühle vor den Fernseher geschoben hatten.

»Was ist los?«, fragte Lissi.

»Wir sind in Gefahr!«, sagte Emmi.

Draußen stieg die geschlossene Schneedecke Zentimeter um Zentimeter.

DREI

»Was machen Sie denn da?«, fragte ich Paulina, nachdem Zenker wieder in seine Zelle gebracht worden war und meine Kollegin mit einem Gerät hantierte, das neben der vollautomatischen Kaffeemaschine stand und ein wenig wie eine Kreuzung aus Kaugummiautomat und Seifenspender aussah.

»Ich filtere das Trinkwasser«, war ihre knappe Antwort.