Joachim H. Peters


Koslowski und der Rabe








OWL-Krimi






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Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-212-6
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-201-0

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Der Autor
Joachim H. Peters, Baujahr 1958, schrieb 2008 seinen ersten Kriminalroman, seither sind sechzehn Bücher und diverse Kurzgeschichten von ihm erschienen. Der Kriminalbeamte steht aber auch als Schauspieler, Kabarettist mit eigenen Programmen, Leser oder Moderator auf der Bühne. Der gebürtige Gladbecker ist verheiratet, lebt und arbeitet seit 2004 in seiner Wahlheimat Lippe.

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Du, der Lesende, weilst noch unter den Lebendigen;
ich, der Schreibende aber, habe längst meinen Weg ins
Reich der Schatten genommen.

Edgar Allan Poe
(aus seiner Erzählung »Schatten«)
Prolog
Ein Jahr zuvor
Eine der vielleicht schönsten Bahnstrecken Südwestenglands verläuft nur wenige Kilometer an der Ärmelkanalküste entlang von St. Erth nach St. Ives. Die Reisenden haben einen wunderbaren Blick auf den Strand von St. Ives, dessen heller Sand unmittelbar in das türkisfarbene Wasser der Nordsee übergeht. Bei Sonnenschein ein großartiger Anblick. Heute allerdings wurde dieser Augenschmaus nicht nur durch trübes regnerisches Wetter beeinträchtigt, sondern vor allem durch die Anwesenheit von vielen Uniformierten. Ihre Uniformen wiesen sie als Polizeibeamte Ihrer Majestät aus.
Wie überall auf der Welt überlegen Menschen, was wohl Schreckliches passiert sein könnte, wenn sie so eine Menge an Ordnungshütern sehen. Hier war es der Fund einer Leiche, der dafür sorgte, dass Detective Constable Walter Price den Fundort sofort großräumig absperren ließ. Was aufgrund der fehlenden Badegäste kein allzu großes Problem darstellte.
Gegen fünf Uhr früh war der Anruf eines einsamen Strandläufers eingegangen, der eine leblose, auf dem Bauch liegende Person am Strand gesichtet hatte. Je näher er ihr gekommen war, desto sicherer war er sich, dass hier jede Hilfe zu spät kam, denn dort, wo das seitlich gedrehte Gesicht hätte sein sollen, war nur noch eine verwaschene undeutliche Masse von wachsweißem Fleisch zu sehen gewesen.
»Die Liegezeit im Wasser dürfte sich auf mindestens drei Tage belaufen«, mutmaßte Dr. Wellington. Der alte Amtsarzt war sofort gerufen worden, nachdem sich DC Price am Tatort einen ersten Überblick verschafft hatte. Dankbar ergriff er dessen angebotene Hand. »Der Rücken, Price, der Rücken. Man wird auch nicht jünger«, schnaufte er, als er sich mühevoll aufrichtete.
Price nickte zustimmend. Aber die Schwierigkeiten beim Aufstehen, hatten bei Dr. Wellington nicht nur mit dem Alter zu tun, sondern auch mit seiner beachtlichen Leibesfülle. Seine besondere Vorliebe für Scones, die süßlichen Kuchenbrötchen, die man hierzulande gerne mit Clotted Cream und Marmelade oder Konfitüre servierte, trug ebenso dazu bei wie seine regelmäßigen Besuche in seinem Pub. Angeblich sollte seine Frau sogar mal vorgeschlagen haben, sie darunter zu beerdigen, dann sei sie sicher, dass ihr Mann täglich bei ihr vorbeikommen würde.
»Was können Sie mir sonst noch sagen?« Price schaute nachdenklich auf die Leiche und kramte in der Jackentasche nach seiner Pfeife. Jeder Hinweis von Dr. Wellington konnte von Nutzen sein, denn anhand der Reste des Gesichtes würde eine visuelle Identifikation nicht mehr möglich sein.
»Der gesamte Kopf ist übel zugerichtet. Würde mich nicht wundern, wäre er in eine Schiffsschraube geraten. Sehen Sie nur hier«, er deutete mit seinem Gehstock auf den unteren Teil des Schädels. »Ober- und Unterkiefer fehlen komplett.« Er trat einen Schritt zurück und betrachte die Überreste des menschlichen Körpers mit schiefgelegtem Kopf. »Sicher kann ich nur sagen, dass es sich um eine Frau handelt.« Auch wenn er kurzatmig und langsam war, so war Wellington bei seiner Arbeit doch akribisch. Der Zustand der Toten hatte ihn nicht davon abgehalten, sie zu entkleiden und gründlich in Augenschein zu nehmen.
»Was können Sie mir zu …«. Weiter kam der Detective Constable nicht.
»Wann lernt ihr es endlich, dass wir Ärzte nicht schon am Fundort der Leiche die genauen Todeszeiten, den Grund ihres Todes und womöglich ihre gesamte Biografie herunterbeten können. Das sollten Sie doch wissen, oder schauen Sie zu viele schlechte Krimis?«
Schnaufend umrundete Wellington die Leiche auf dem nassen Sand. »Gut, sehen wir mal, was ich Ihnen vorab sagen kann. Wie gesagt: eine Frau, ziemlich groß, ich würde sie auf etwa 1,75 bis 1,80 Meter schätzen. Europäische Kleidung, recht billiger Modeschmuck, aber eine insgesamt gepflegte Erscheinung.«
Als er Prices hochgezogene Augenbraue sah, fügte er erläuternd hinzu: »Sehen Sie sich die Hände an. Man sieht noch Rest von Nagellack und kann erkennen, dass die Nägel manikürt waren und trotz Waschhaut, vermute ich mal, dass das keine Arbeiterhände sind.« Er deutete mit dem Stock darauf. »Alles andere werden Sie rausfinden müssen, vor allem ihre Identität. Das dürfte ohne Zahnschema allerdings recht schwierig werden.«
Price seufzte. Er wusste, worauf Wellington anspielte. Kein Gesicht, keine Zähne. Auch mit den Fingerabdrücken würden sie wenig anfangen können, wenn sie nicht in einer Datei gespeichert waren. Das bedeutete, sämtliche Vermisstenmeldungen durchzugehen, die hier oder an anderer Stelle erstattet worden waren. Nachdenklich ließ er den Blick auf der Toten ruhen. Woher kommst du? Von einer Fähre? Von einem Ausflugsboot? Von einem Kreuzfahrtschiff? Es würde erforderlich sein, sich die Gezeiten- und die Strömungsdaten für die letzten Tage zu besorgen. Eine Leiche war nie ein schöner Auftakt für einen Arbeitstag.
»Brauchen Sie mich noch?«, wollte Dr. Wellington wissen. »Ich möchte endlich mal frühstücken.«
»Äh, was?« Price wurde aus den Gedanken gerissen. Er sah den Doktor einen Moment lang an, als habe er ihn soeben erst wahrgenommen. »Was? Ach so, nein danke, das reicht mir fürs Erste. Ich lasse die Leiche ins Leichenschauhaus bringen, vielleicht bringt die Obduktion ja noch weitere Hinweise.«
Wellington stieß den Stock in den Sand und blickte hinaus auf das Meer. »Na, dann wollen wir mal hoffen, dass die Aufschneider aus der Rechtsmedizin Ihnen helfen können. Ich empfehle mich.« Er begann, sich schnaufend den Strand hinaufzubewegen, und Price sah ihm gedankenverloren nach. Schließlich kehrte sein Blick zu dem angespülten toten Körper zurück.
Wie bei jeder Leiche musste er daran denken, dass das, was da vor ihm lag und nun äußerst unappetitlich aussah wie ein Stück Fleisch, einmal ein Mensch gewesen war. Jemand, der geliebt hatte und geliebt worden war. Jemand, der Pläne und Hoffnungen gehabt hatte und der nun vermutlich jemanden fehlen würde. Er hoffte, dass dieser Jemand sich melden würde und ihm bei der Identifizierung weiterhelfen konnte.
Sein Blick glitt hinauf zur Bahnstrecke und er nahm zur Kenntnis, dass der Zug von St. Ives bereits auf der Rückfahrt nach St. Erth war. Hier würde er neue Passagiere, vor allem Touristen abholen, für die diese Fahrt einen Höhepunkt ihrer Reise durch Südwestengland darstellte. Viele von ihnen Deutsche, die durch die Bücher und Filme von Rosamunde Pilcher zu dieser Fahrt inspiriert wurden. Er kannte die Romane nicht, seine Frau jedoch hatte jeden von ihnen gelesen. Sie hatte ihm erzählt, dass die Pilcher für die Verfilmungen Bedingungen aufgestellt hatte: Es durften keine Drogen genommen werden und keine Gewalttaten geschehen. Für Price zwar zu viel Herzschmerz, aber eben eine heile Welt. Er konnte nur hoffen, dass das auch für seinen Fall zutraf, denn wenn die Tote ermordet worden sein sollte, dann wäre der Fall mit der Identifizierung der Leiche nicht erledigt, sondern würde erst beginnen.

An einem anderen Ort zu einer anderen Zeit
Er schrie. Um zu prüfen, ob sein Gehör noch funktionierte, aber auch aus panischer Angst.
Dunkelheit. Sie war das Erste, was er wahrgenommen hatte, als er zu sich gekommen war. Vollkommene Dunkelheit. Absolute Finsternis.
Er wusste weder, wo er war, geschweige denn, warum er hier war. Vorsichtig richtete er sich aus seiner liegenden Position auf, immer drauf bedacht, nirgendwo mit dem Kopf anzustoßen. Er fühlte sich blind. Hatte er sein Augenlicht verloren? Wieder überkam ihn Panik, weil er es nicht überprüfen konnte.
Blinde! Ihr Leben in ständiger Dunkelheit kam ihm in den Sinn. Nur, dass sie daran gewohnt waren und es verstanden, sich in ihr zu bewegen. Für ihn war dieses komplette Fehlen jeglichen Lichts neu und beängstigend.
Als er endlich stand, begann er mit den Händen zu tasten. Keine Wand, kein Gegenstand waren zu fühlen. Nach oben! Er reckte die Arme und fand auch dort keine Begrenzung. Um ihn herum nur Dunkelheit und eine erdrückende Stille. Schließlich war er auf die Idee mit dem Schrei gekommen und hatte sich nicht anstrengen müssen, ihn auszustoßen.
Es hallte nicht, demnach konnte der Raum doch nicht allzu groß sein.
Vorsichtig machte er einen Schritt nach vorn. Dabei überkam ihn die nächste Panikattacke. Sauerstoff! Wenn es hier kein Licht gab, wie war es dann mit Atemluft? Sofort übermannte ihn das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Er musste hier raus! Die Arme vorstreckend, machte er einen weiteren Schritt. Einen dritten, einen vierten. Beim fünften war er überrascht, als seine Hände plötzlich gegen eine Wand stießen. Er tastete. Ziegelsteine, rau und feucht. Nun glaubte er auch, ihren typischen Geruch in der Nase zu haben. Nasse Ziegel und feuchter Mörtel. Der Geruch erinnerte ihn an den Keller seiner Großeltern. An ihr altes Zechenhaus im Ruhrgebiet.
Dann spürte er den Luftzug. Irgendwo über ihm kam frische Luft herein. Hoffnungsvoll reckte er die Arme, erreichte die Decke aber immer noch nicht. Er sprang in die Höhe. Fehlanzeige. Verdammt, er konnte nicht feststellen, wie hoch sein Gefängnis war. Gefängnis!
Das Wort bereitete ihm fast körperliche Schmerzen, so als erinnerte er sich eines Schnittes oder einer anderen Verletzung. Gefängnis. Allein dieses Wort machte ihm die Hoffnungslosigkeit seiner Situation nur allzu deutlich. Dann schreckte er erneut zusammen. Was, wenn es gar nicht sein Gefängnis, sondern sein Grab war?
Kapitel 9
»Frage ich ihn oder frage ich ihn nicht?« Koslowski stand in Pivitsheide in der Fleischerei Jobst und genehmigte sich zwei Wiener mit einer ordentlichen Portion Senf. Die hatte er sich seiner Meinung nach verdient, hatte er doch mit seinem neuen E-Bike eine große Tour rund um Detmold hinter sich. Dabei hatte er sich die ganze Zeit mit einem Gedanken beschäftigt. Nämlich, dass er Falkner Axmann zugesagt hatte, mit dem Zeugen zu sprechen, der einen menschengroßen Raben aus der Adlerwarte fliehen gesehen hatte. Nun schwankte er zwischen der Einlösung dieses Versprechens und der Frage, ob ihn das eigentlich etwas anging.
Dieser Zweifel kam nicht von ungefähr, denn durch solche Art von Gefallen war er das ein oder andere Mal schon in die haarsträubendsten Abenteuer verwickelt worden. Er musste an die geheimnisvolle Formel denken, der er nachgejagt war, an die dunklen Waffengeschäfte, bei denen er fast zwischen die Fronten geraten war. Er erinnerte sich noch an die Fälle von Rache für Kindesmissbrauch oder an den Skorpion. An dunkle Machenschaften mit Menschen- und Organhandel, an illegale Müllentsorgung nach Afrika und an den angeblichen Schatz der Nazis. Teilweise war seine Beteiligung lebensgefährlich gewesen, manchmal war er dabei an die Grenzen seiner Kräfte gestoßen. All das ging ihm durch den Kopf, als er sich fragte, ob er den nächtlichen Zeugen von der Adlerwarte aufsuchen und mit ihm sprechen sollte. Nachdem er die letzte Wurst verspeist hatte, entschloss er sich, Benjamin Axmann diesen Gefallen zu tun, und rief die Nummer an, die der Falkner ihm geschickt hatte. Ein gewisser Ullrich Strelzik, der sich bereit erklärte, mit Koslowski zu sprechen. Also schwang der sich auf sein E-Bike und machte sich auf den Weg zu dem Detmolder Stadtteil Berlebeck.

***
Dort angekommen, hatte er kaum auf den Klingelknopf gedrückt, als schon der Türöffner summte. Koslowski betrat das Vier-Familienhaus und kurz darauf hörte er die Worte: »Sie müssen nach oben!« Das hatte Koslowski bereits vermutet, da er den Namen Strelzik in der obersten Reihe der Klingelanlage gefunden hatte. »Ich wette, es ist oben rechts«, sagte Koslowski leise zu sich selbst, denn häufig erfolgte die Montage der Klingeln nach einem bestimmten Schema. Als er das erste Obergeschoss erreicht hatte, nahm er mit einem Schmunzeln zur Kenntnis, dass er richtig gelegen hatte. In der rechten Tür stand ein älterer Mann, der ihm freundlich entgegenlächelte.
»Hallo, Herr Strelzik«, begrüßte ihn Koslowski. »Schön, dass Sie Zeit für mich haben.«
»Ach wissen Sie, ich bin ja Rentner und habe nur noch wenig Verpflichtungen.« Er trat zu Seite und machte eine einladende Geste in seine Wohnung hinein. »Und ich bin auch froh, mich mal mit jemandem über meine nächtlichen Beobachtungen unterhalten zu können.« Er schloss die Wohnungstür hinter sich und bugsierte seinen Besucher ins Wohnzimmer. »Manchmal glaube ich nämlich schon, ich hätte das alles nur geträumt.« Er deutete auf die dunkelbraune Ledergarnitur. »Bitte, setzen Sie sich doch. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
Koslowski nahm in einem der beiden Sessel Platz, die dem Fenster gegenüberstanden und einen Blick auf die gegenüberliegenden, bewaldeten Hänge ermöglichten. Auch keine schlechte Wohnlage, dachte er und sah sich im Raum um. Das Mobiliar stammte aus früheren Zeiten, die überwiegende Farbe war dunkelbraun und die dominierende Holzart war Eiche rustikal. Massive und früher sicherlich sehr teure Möbel, die für die Ewigkeit gedacht waren und hier schon eine Zeitlang standen.
Strelzik nahm auf der Couch Platz und zwar genau auf der Stelle, auf der Koslowski es vermutet hatte, denn dort lag eine karierte Decke. Davor, auf dem Wohnzimmertisch, ein Platzdeckchen aus Kunststoff, eine Fernsehzeitung, ein Kugelschreiber und ein benutztes Wasserglas. Man sah, dass das der Stammplatz des Hausherrn war.
»Meine Frau ist einkaufen, in Detmold ist ja heute Markt und den lässt sie sich nicht entgehen.« Verschwörerisch beugte er sich vor. Seine Stimme senkte sich. »Wissen Sie, ich bin sogar ganz froh, dass sie nicht da ist, denn ich habe ihr von alldem nichts erzählt, um sie nicht zu beunruhigen.«
Koslowski nickte verständnisvoll. »Das kann ich gut verstehen. Es klingt aber auch wirklich seltsam, was Sie mir am Telefon bereits beschrieben haben.«
Strelziks Blick wurde skeptisch. »Sie glauben mir doch, oder?« Er richtete den Oberkörper auf, faltete die Hände vor sich auf dem Tisch und er sah aus, als ob er auf einer Schulbank säße und gleich seinem Lehrer Rede und Antwort stehen müsste.
»Natürlich glaube ich Ihnen, warum sollten Sie sich so etwas ausdenken?« Koslowski versuchte ein Lächeln. »Und wenn, dann hätten Sie eine ausgesprochen blühende Fantasie.«
Erleichterung machte sich in Strelziks Gesicht breit. »Wissen Sie, manchmal habe ich schon selbst an mir gezweifelt. Immer und immer wieder bin ich die Erlebnisse dieser Nacht durchgegangen.« Er blickte Koslowski in die Augen. »Und Sie wollen wirklich nichts trinken?«
»Nein, danke. Aber es wäre schön, wenn Sie mir die Person noch einmal genau beschreiben würden, die Sie in der besagten Nacht gesehen haben.«
Anstelle einer Antwort stand Strelzik auf und ging zum Wohnzimmerschrank hinüber. Koslowski sah zu, wie er dort in einem Fach kramte und sich dann mit einem Blatt Papier in der Hand umdrehte.
»Wissen Sie, ich habe ja kein Internet«, sagte er in einem fast schon entschuldigend klingendem Ton, »aber Lukas, mein Neffe, der kennt sich da bestens aus.« Er wedelte mit dem Blatt Papier. »Das haben wir beide gefunden, als wir nach einer Maske gesucht haben, die aussieht wie ein Rabe.«
Triumphierend hielt er Koslowski das Blatt mit einem Foto darauf hin. Es zeigte eine schwarze Halbmaske mit einem langen Schnabel, die von einer Person getragen wurde, deren Kopf von einer schwarzen Kapuze verdeckt war.
»So sah der aus!« Strelzik tippte immer wieder mit dem Finger auf das Blatt Papier. »Ganz genauso!« Er ging zu seinem Platz zurück und setzte sich. »Das ist eine Pestmaske«, fuhr er fort und griff nach seinem Wasserglas. »Damit haben früher die Ärzte ihr Gesicht bedeckt, wenn sie Pestkranke untersucht haben. Steht alles im Internet.« Er wollte einen Schluck trinken, als er feststellte, dass sein Glas leer war.
»Moment, ich hole mal Wasser … Wollen Sie wirklich nichts?«
Koslowski schüttelte erneut den Kopf. »Hatte die Person auf der Adlerwarte denn auch einen Umhang und eine Kapuze?«
Strelzik hatte sich gerade erhoben, ließ sich jedoch bei der Frage zurück auf das Sofa fallen. »Ja, sagte ich doch.« Er stellte das Glas auf den Tisch und kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Ich muss gestehen, ich war so schockiert, dass ich zuerst gar nicht so genau drauf geachtet habe, aber als ich das Bild sah, war sofort alles wieder da.« Etwas resigniert stieß er die Luft aus. »Ich bin mir jetzt sicher, dass er genauso eine Kapuze aufhatte wie der auf dem Bild.« Sein Blick ging an Koslowski vorbei ins Leere. Einen Moment lang sprach keiner. Dann hatte sich Strelzik gefangen.
»Wissen Sie, was mir letzte Nacht eingefallen ist?« Ohne Koslowskis Antwort abzuwarten, fuhr er fort. »Ich musste an diesen komischen Dichter denken, an diesen Poe. Von dem hatten wir mal was in der Schule.«
»Edgar Allan Poe?«, hakte Koslowski nach. Strelzik besaß offenbar ein gutes Gedächtnis, wenn er sich heute noch daran erinnern konnte.
Strelzik nickte. »Genau der. Das war doch dieser irre Engländer mit den ganzen Gruselgeschichten, oder nicht?«
»Ich glaube, er war Amerikaner«, korrigierte Koslowski vorsichtig.
»Na ja, ist ja auch egal. Auf jeden Fall hat der doch die Geschichte mit diesem Raben geschrieben, oder?«
Koslowski fiel ein, dass der Rabe immer nur ein Wort gesprochen hatte. Nimmermehr! Gedankenverloren nickte er.
»Sehen Sie, und genau daran hat mich diese Gestalt erinnert.« Strelzik schüttelte sich bei der Erinnerung an sein nächtliches Abenteuer. »Es war so gruselig wie in den Geschichten von Poe.«
»Aber der Rabe in der Geschichte war doch ein echter Vogel«, wandte Koslowski ein.
»Jaja, das schon, ich finde nur, die ganze Geschichte ist genauso unheimlich wie meine Beobachtung.«
Koslowski konnte keinen direkten Zusammenhang zwischen einem Gedicht und einer maskierten Gestalt erkennen, doch des Menschen Wille ist ja bekanntlich sein Himmelreich.
»Haben Sie vielleicht sonst noch etwas Verdächtiges bemerkt?«
Strelzik schüttelte den Kopf. »Nein, ich könnte auch nicht sagen, ob er sonst etwas dabeigehabt hat. Herr Axmann hat mich ja schon gefragt, ob ich zum Beispiel einen Vogelkäfig gesehen hätte. Habe ich aber nicht.«
»Und der Polizei haben Sie davon nichts erzählt, richtig?«
Strelzik blickte ihn an und lächelte leicht. »Jetzt seien wir mal ehrlich, die hätten mich doch für bekloppt erklärt. Ein seniler Rentner, der nachts in der Gegend rumschleicht und Leute mit Pestmasken sieht. Die hätten mich bestimmt sofort in die Klapsmühle gesperrt. Nein, nein, bei denen habe ich lieber den Mund gehalten.« Er hielt einen Augenblick lang inne. »Glauben Sie mir denn? Bitte lügen Sie mich nicht an.« Strelzik suchte anscheinend nach jemanden, der ihm bestätigte, dass alles so gewesen sein musste, wie er es erlebt hatte.
»Wie ich bereits sagte, warum sollten Sie sich so etwas ausdenken?« Koslowski wollte ihm das Bild zurückgeben, doch Strelzik wehrte ab.
»Das können Sie gerne behalten, mein Neffe könnte mir ja ein neues ausdrucken. Aber ganz ehrlich? Ich will das gar nicht in der Wohnung haben.«
Koslowski stemmte sich aus dem Sessel hoch und bedankte sich. Dann zog er seine Visitenkarte aus der Tasche und legte sie auf den Wohnzimmertisch. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt oder wenn Sie noch mal mit jemandem reden wollen, können Sie sich gerne bei mir melden.«
»Das ist sehr nett«, bekannte Strelzik erleichtert, »man weiß ja nie. Aber der Axmann, der hat wirklich Recht gehabt mit dem, was er über Sie gesagt hat, als er anrief und sagte, dass sie kommen würden.«
»Aha? Und was hat er genau über mich gesagt?«
Strelzik lächelte spitzbübisch. »Dass Sie ein feiner Kerl sind.«
Kapitel 10
Koslowski lag gerade auf der Couch und las in einem Kriminalroman der kanadischen Schriftstellerin Louise Penny, als sein Telefon klingelte. Er legte das Buch zur Seite und angelte das Mobilteil vom Tisch. »Koslowski!«
»Ah, gut, dass ich Sie erreiche, hier ist Michael Kemmler, ich bin der Leiter der Kriminalpolizei in Lippe.«
»Guten Tag, Herr Kemmler, was gibt es?« Koslowski setzte sich auf.
»Keine Sorge, es ist nichts passiert. Die meisten Leute bekommen ja einen Schreck, wenn die Polizei bei ihnen anruft, aber das scheint bei Ihnen ja zum Glück nicht der Fall zu sein.« Kemmler lachte leise.
»Das kann mehrere Gründe haben«, vermutete Koslowski. »Entweder liegt es daran, dass ich früher selber mal dabei war und ich das noch nicht ganz vergessen habe, oder ich habe ganz einfach ein gutes Gewissen.«
»Na, dann hoffe ich mal, dass es das Erste ist, denn das würde mir mein Anliegen sehr erleichtern.« Koslowski horchte auf. »Ich habe viel von Ihnen gehört und in der Presse gelesen. Sie waren ja schon in einige bemerkenswerte Fälle verwickelt und zum Teil haben Sie dabei ja erfolgreich mit uns und anderen Behörden zusammengearbeitet.«
»Wir haben uns aber noch nicht kennengelernt, oder?« Koslowski hatte keinen blassen Schimmer, was der Mann von ihm wollte. »Worum geht es denn genau?« Er hörte wie Kemmler am anderen Ende ausatmen.
»Nun ja, die Angelegenheit ist etwas heikel«, gab der Kriminalbeamte zu und hüstelte verlegen. »Ich würde sie nur ungern am Telefon besprechen, wäre es Ihnen möglich, zur Bielefelder Straße zu kommen?«
»Sicher, wann passt es Ihnen? Von mir aus morgen oder übermorgen.« Koslowski war bereits im Kopf seinen Terminkalender durchgegangen.
Wieder dieses Hüsteln. »Ja äh …, also …, es wäre mir ganz lieb, wenn wir das heute noch erledigen könnten. Ginge es in, sagen wir mal, einer Stunde?«
Koslowski war überrascht, wenn Kemmler es so eilig hatte, dann dampfte die Kacke gewaltig. »Können Sie mir denn einen Tipp geben, worum es im Großen und Ganzen überhaupt geht?«
»Tja, wie gesagt, das ist nicht unbedingt etwas fürs Telefon, nur vielleicht so viel, dass wir gerne Ihren Rat hätten. Es gibt da ein paar heikle Dinge …« Den Rest ließ er ungesagt.
Mit dieser Information konnte Koslowski immer noch nichts anfangen, er würde es nur vor Ort erfahren. »Okay, ich mache mich auf den Weg. Von Hiddesen bin ich ja in kürzester Zeit da. Wo soll ich mich melden?«
Er spürte Kemmlers Erleichterung förmlich durchs Telefon. »Melden Sie sich einfach auf der Wache und sagen Sie, dass Sie zu mir wollen, ich hole Sie dann unten ab.«
»Okay, also sehen wir uns gleich.« Koslowski legte auf und starrte einen Moment lang auf das Telefon in seiner Hand. In seinem Bauch hatte sich ein ungutes Gefühl breitgemacht. Heikle Dinge, das klang gar nicht gut. Nachdenklich blickte er auf den Kriminalroman, dessen Titelblatt solche roten Ahornblätter schmückten, wie man sie im Indian Summer in Kanada fand, und er wusste, wo er jetzt lieber wäre.

***
Er hatte seinen Wagen auf dem Parkplatz vor dem Gebäude abgestellt und war nach der Anmeldung sehr schnell von Kemmler abgeholt worden. Nun stiegen sie schweigend nebeneinander die Treppe zum zweiten Stock hinauf. Koslowski hatte bei der Anmeldung erfahren, dass Kemmler Kriminaloberrat und erst seit Kurzem neuer Leiter der Kripo war.
Als sie einen der Flure betraten, hielt der Leiter der Kripo ihm die Tür auf. »Ich würde sie zunächst gerne den Mitgliedern der Mordkommission vorstellen, bevor wir dann zum eigentlichen Thema kommen.«
»Ich bin mal gespannt, was so wichtig ist, dass Sie mir am Telefon nichts darüber sagen konnten.«
Kemmler lächelte um Nachsicht heischend und öffnete eine Bürotür. Hier ließ er Koslowski wieder zuerst eintreten, folgte ihm und schloss die Tür hinter sich. Der Raum war mit einem großen Besprechungstisch ausgestattet und Koslowski ahnte, dass hier alle Fäden einer Mordkommission zusammenliefen, was auch immer diese Kommission als Aufklärungsziel hatte.
Um den Tisch herum saßen mehrere Personen, von denen Koslowski nur Jürgen Meerkötter und Steffi Krämer kannte. Er nickte grüßend in die Runde, dann blieb sein Blick an einer Pinnwand hängen, auf der jede Menge Fotos von Tatorten hingen. Einige in einem Wald aufgenommen, andere in der Nähe eines Hauses. Aber noch mehr ins Auge fielen ihm diverse Bilder von zwei toten Raben, die man anscheinend an beiden Tatorten gefunden hatte und aus allen erdenklichen Winkeln fotografiert hatte. Neben jedem der Tiere stand eine gelbe Markierungstafel mit einer Nummer drauf. Sofort fielen ihm sein Besuch bei dem bettflüchtigen Strelzik und dessen Beobachtungen an der Adlerwarte wieder ein. Er kam nicht mehr dazu, sich weiter umzusehen, denn Kemmler ergriff das Wort und geleitete ihn gleichzeitig zu einem freien Stuhl.
»Nehmen Sie bitte Platz! Liebe Kollegen, ich möchte Ihnen gerne Herrn Koslowski vorstellen. Wie ich hörte, ist er einigen von Ihnen bereits bekannt.« Er blickte in die Runde und sah Meerkötter und Krämer unisono nicken. »Ich habe mit Bielefeld gesprochen, und wir sind übereingekommen gekommen, Herrn Koslowski zu fragen, ob er uns als Berater unterstützen würde. Er war ja früher ebenfalls bei der Polizei und hat in etlichen Ermittlungsverfahren schon mit der Polizei und anderen Behörden zusammengearbeitet. Daher meinen wir, dass uns seine Erfahrungen in diesem etwas seltsamen Fall eventuell nützlich sein könnten.«
Koslowski war verblüfft. Damit hatte er nicht gerechnet. Keiner der anderen Anwesenden sagte etwas, nur Katja Matthäus stieß hörbar die Luft aus. Als Koslowski sie ansah, verengten sich ihre Augen, und sie funkelte ihn kurz an, bevor sie Kemmler einen wütenden Blick zuwarf.
»Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, oder?« Sie verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. »Was soll das hier werden? Amateurtheater?«
Kemmler wurde von diesem Ausbruch völlig überrascht. »Frau Kollegin, ich muss doch sehr bitten!« Er blickte entschuldigend zu Koslowski. »Ich denke nicht, dass das die richtige Art ist, einen Gast zu begrüßen.«
»Einen Gast? Das hier ist keine Geburtstagsfeier, sondern eine Mordermittlung. Ich glaube kaum, dass wir da Leute mit hineinziehen sollten, die keine Polizeibeamte sind.« Matthäus wurde langsam rot und ihrer Stimme merkte man die Wut über Kemmlers Entscheidung deutlich an.
»Herr Koslowski war früher selber Polizeibeamter und verfügt daher über ausreichend Erfahrung.«
»Ach ja? Wann war das denn? War da noch Adenauer Kanzler oder war es vielleicht doch schon Helmut Kohl?« Katja Matthäus Stimme triefte nur so von Sarkasmus. Einige der Anwesenden konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, selbst Koslowski ging es so. »Ich bin auf jeden Fall strikt dagegen, dass er hier mit ermitteln soll.«
Koslowski lächelte weiterhin nur amüsiert, Kemmler hingegen wurde langsam ungehalten. »Frau Matthäus, ich glaube nicht, dass es Ihnen zusteht, solche Entscheidungen infrage zu stellen. Ich habe das mit der Kriminalhauptstelle und dem Behördenleiter geklärt, und wir sind sehr wohl der Meinung, dass Herr Koslowski uns behilflich sein könnte.«
Das klang so ein bisschen nach oberster Heeresleitung, fand Koslowski.
Die Kriminalbeamtin funkelte Koslowski über den Tisch hinweg böse an. Sie wollte gerade zu einer Erwiderung ausholen, hielt sich aber im letzten Moment damit zurück. Die anderen Anwesenden hatten die Auseinandersetzung zwischen Kemmler und ihr aufmerksam verfolgt, wussten sie doch, dass die beiden sich noch nie hatten leiden können. Eingeweihte erzählten, dass Kemmler in seiner Zeit als Kommissar mal scharf auf sie gewesen sei, sie ihn jedoch kräftig habe abblitzen lassen. Etwas, das ihrer Karriere nicht gerade förderlich gewesen war, vor allem nachdem Kemmler in den höheren Dienst aufgestiegen war.
Koslowski hatte die ganze Zeit über geschwiegen. In der soeben entstandenen Gesprächspause ergriff er das Wort und blickte dabei Katja Matthäus an. »Ich kann Sie sehr gut verstehen und bin über dieses Angebot auch selbst ein wenig überrascht.«
Man konnte Kriminaloberrat Kemmler deutlich ansehen, dass ihm das peinlich war. Vor lauter Eifer hatte er vergessen, Koslowski vorher über den Grund seines Hierseins zu informieren. Katja Matthäus sah ihren Chef an und auf ihrem Gesicht entstand ein leicht gehässiges Grinsen.
»Es stimmt, dass ich früher selber Polizeibeamter war. Ich bin übrigens auf eigenem Wunsch aus dem Dienst ausgeschieden und nicht etwa gefeuert worden.«
In der Runde am Tisch wurde vereinzelt gelacht.
»Es ist auch richtig, dass ich immer wieder mal in etwas dubiose Fälle verwickelt worden bin, aber ich versichere Ihnen, dass ich da jedes Mal durch Zufall und nicht durch eigenes Betreiben hineingeraten bin.«
»Das kann ich bestätigen«, sagte Jürgen Meerkötter und Steffi Krämer nickte zustimmend. »Außerdem ist er ein guter Freund unseres ehemaligen Kollegen Walfried Eugelink.«
Bei der Erwähnung dieses Namens ließ Koslowski resigniert den Kopf auf die Brust sinken. »Das ist richtig, aber Sie sollten auch wissen, dass er nach einem Fall, in den wir beide involviert waren, seinen Dienst quittiert hat.« Er lachte bitter auf. »Manchmal ist es anscheinend besser, sich nicht in meiner Nähe aufzuhalten.«
Kemmler stützte im Stehen die Hände auf die Tischplatte. »Ich glaube, dass wir Herrn Koslowskis Hilfe gut gebrauchen werden, und ich bin sicher, dass wir ihn alle«, dabei blieb sein Blick auf Katja Matthäus ruhen, »so gut wir können, unterstützen werden. Hat zu dieser Angelegenheit sonst noch jemand etwas zu sagen? Nein? Na gut, dann gehen wir jetzt zum Tagesgeschäft über.«
Die Kriminalbeamtin stand auf, schob dabei ihren Stuhl geräuschvoll nach hinten, raffte die Unterlagen zusammen, die sie vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte und marschierte Richtung Ausgang.
Kemmler reagierte sofort. »Wo wollen Sie hin?«, herrschte er sie an.
Man sah Katja Matthäus an, wie sich ihre Wangen veränderten, weil sie die Zähne aufeinanderbiss. »Ich habe noch einen Termin bei der Staatsanwaltschaft, wenn Sie gestatten?«, zischte sie. Ohne eine Antwort abzuwarten, rauschte sie aus dem Raum und ließ die die Tür hinter sich geräuschvoll ins Schloss fallen.
»Oh je, ganz schön dicke Luft«, stöhnte Greve.
»Ach komm«, hielt Klaus Hochmuth dagegen. »Du kennst doch Katja, die kriegt sich schon wieder ein.« Dann wandte er sich an Koslowski. »Nehmen Sie diesen Auftritt bitte nicht zu ernst, unsere Katja ist sehr emotional. Ich freue mich jedenfalls, dass Sie da sind, denn ich glaube auch, dass wir in diesem verzwickten Fall jede Hilfe gebrauchen können.«
Koslowski nickte und Kemmler klappte die vor ihm liegende Akte auf. »Lassen Sie uns beginnen und Herrn Koslowski mal auf den neuesten Stand bringen.«
Allgemeines Papierrascheln war die Folge.

***
»Oh Mann, ist die geladen!« Der Kollege, der gerade seine private BMW auf den Ständer gewuchtet hatte, blickte Katja Matthäus hinterher, die mit einem nur knappen Gruß an ihm vorbeirauschte.
Mit seiner Einschätzung hatte er durchaus Recht, denn eigentlich war Katja freundlich und kollegial, aber heute war ihr der Kragen geplatzt. Was dachte sich bloß dieser Kemmler? Er schleppte einen Zivilisten an, der ihnen jetzt womöglich über die Schulter sehen sollte. Wer wusste schon, ob der nicht sogar von Kemmler gerade deswegen angeheuert worden war. So eine Art Betriebsspion.
Außerdem war sie sauer, weil der Typ die Auseinandersetzung zwischen ihr und Kemmler anscheinend vollkommen unbeeindruckt verfolgt hatte. Mir wäre es zumindest peinlich gewesen, wenn man sich wegen mir gestritten hätte, dachte sie.
Der Typ schien ein dickes Fell zu haben. Das versprach ja noch, was zu werden. Auf der anderen Seite wusste sie jedoch, dass Kemmler am längeren und vor allem am mächtigeren Hebel saß. Er durfte sie zwar nicht, wie in amerikanischen Filmen oft angedroht »zum Parkuhren-Kontrollieren« schicken, aber er konnte sie aus der Mordkommission abziehen und das hätte ihr gar nicht behagt. Katja war Ermittlerin mit Leib und Seele. Seit ihrem ersten Tag bei der Polizei war ihr Wunsch immer gewesen, einmal Mitglied einer Mordkommission zu sein. Darauf hatte sie all die Jahre hingearbeitet und nun war es endlich soweit. Sie wusste, dass Kemmler nicht zögern würde, sie wieder in die Sachbearbeitung zu schicken, wenn sie sich zu sehr querstellte.
Aber geärgert hatte sie sich doch. Diesem Koslowski würde sie ganz genau auf die Finger schauen. »Pass nur auf, mein Freund, dass du keinen Fehler machst«, zischte sie durch die Zähne, als sie den dienstlichen Volvo aufschloss und sich auf den Sitz fallen ließ. Sie setzte zurück, schenkte dem Kollegen in der grauen Motorradkombination zur Entschuldigung diesmal ein Lächeln und rollte dann vom Hof in Richtung Staatsanwaltschaft.

***
Nachdem die Formalitäten erledigt waren, bei denen Koslowski unter anderem eine Erklärung unterschreiben musste, dass er alles, was er hier hörte, der Vertraulichkeit unterlag, sah man sich die bisher erlangten Erkenntnisse an. Zwei Morde, davon ein Doppelmord, und jedes Mal hatten der oder die Täter einen toten Raben zurückgelassen. Die Autopsie der Geschwister Schwandt hatte ergeben, dass im Körper der Toten eine hohe Menge des Beruhigungsmittels Flunitrazepam gefunden worden war, was auch Bestandteil sogenannter K.-o.-Tropfen war. Wie die Geschwister das Mittel zu sich genommen hatten, blieb unklar. Wahrscheinlich hatten sie es oral aufgenommen, an ihren Leichen ließen sich jedenfalls keinerlei Einstiche feststellen.
Bedachte man die körperliche Konstitution der beiden, so war es sehr unwahrscheinlich, dass man es ihnen gewaltsam eingeflößt hatte, denn das hätte sicherlich Kampfspuren verursacht, die bei einer Obduktion zutage getreten wären. Blieb also nur die Möglichkeit, dass sie es freiwillig genommen hatten oder dass man sie dazu gezwungen hatte. Die Durchsuchung des Hauses hatte ebenfalls keine Hinweise ergeben. Man hatte keine benutzten Trinkgefäße gefunden. Der oder die Täter hatten anscheinend gründlich aufgeräumt, nachdem die beiden Geschwister bewusstlos im eigenen Pool ertränkt worden waren. Ebenso wie für die Ermordung Krottmanns fehlte auch für den Tod des Geschwisterpaares bislang jegliches Motiv.
Was die Raben betraf, so ging man davon aus, dass das Tier im Fall Krottmann in unmittelbarer Nähe des Tatortes geschossen worden war und der gefundene Rabe in Cappel womöglich der war, der aus der Adlerwarte in Heiligenkirchen entwendet worden war. Die letztere Annahme beruhte allerdings bislang auf reiner Spekulation.
Als die Sprache auf den Raben aus der Adlerwarte kam, überlegte Koslowski einen Moment lang, ob er den Mitarbeitern der Kommission von seinem Gespräch mit dem Zeugen Strelzik berichten sollte. Aber er war sich ja noch nicht einmal selbst darüber im Klaren, ob wirklich stimmte, was der gesehen haben wollte. Er entschied sich dafür, zunächst den Mund zu halten.
»Wir können alle nur hoffen, dass hier kein Serienmörder am Werk ist, denn das wäre der Super-GAU.« Kemmler seufzte tief und keiner der Anwesenden widersprach ihm.