Kapitel 10
Koslowski lag gerade auf der Couch und las in einem Kriminalroman der
kanadischen Schriftstellerin Louise Penny, als sein Telefon klingelte. Er legte
das Buch zur Seite und angelte das Mobilteil vom Tisch. »Koslowski!«
»Ah, gut, dass ich Sie erreiche, hier ist Michael Kemmler, ich bin der Leiter der
Kriminalpolizei in Lippe.«
»Guten Tag, Herr Kemmler, was gibt es?« Koslowski setzte sich auf.
»Keine Sorge, es ist nichts passiert. Die meisten Leute bekommen ja einen
Schreck, wenn die Polizei bei ihnen anruft, aber das scheint bei Ihnen ja zum
Glück nicht der Fall zu sein.« Kemmler lachte leise.
»Das kann mehrere Gründe haben«, vermutete Koslowski. »Entweder liegt es daran, dass ich früher selber mal dabei war und ich das noch nicht ganz vergessen habe, oder ich
habe ganz einfach ein gutes Gewissen.«
»Na, dann hoffe ich mal, dass es das Erste ist, denn das würde mir mein Anliegen sehr erleichtern.« Koslowski horchte auf. »Ich habe viel von Ihnen gehört und in der Presse gelesen. Sie waren ja schon in einige bemerkenswerte Fälle verwickelt und zum Teil haben Sie dabei ja erfolgreich mit uns und anderen
Behörden zusammengearbeitet.«
»Wir haben uns aber noch nicht kennengelernt, oder?« Koslowski hatte keinen blassen Schimmer, was der Mann von ihm wollte. »Worum geht es denn genau?« Er hörte wie Kemmler am anderen Ende ausatmen.
»Nun ja, die Angelegenheit ist etwas heikel«, gab der Kriminalbeamte zu und hüstelte verlegen. »Ich würde sie nur ungern am Telefon besprechen, wäre es Ihnen möglich, zur Bielefelder Straße zu kommen?«
»Sicher, wann passt es Ihnen? Von mir aus morgen oder übermorgen.« Koslowski war bereits im Kopf seinen Terminkalender durchgegangen.
Wieder dieses Hüsteln. »Ja äh …, also …, es wäre mir ganz lieb, wenn wir das heute noch erledigen könnten. Ginge es in, sagen wir mal, einer Stunde?«
Koslowski war überrascht, wenn Kemmler es so eilig hatte, dann dampfte die Kacke gewaltig. »Können Sie mir denn einen Tipp geben, worum es im Großen und Ganzen überhaupt geht?«
»Tja, wie gesagt, das ist nicht unbedingt etwas fürs Telefon, nur vielleicht so viel, dass wir gerne Ihren Rat hätten. Es gibt da ein paar heikle Dinge …« Den Rest ließ er ungesagt.
Mit dieser Information konnte Koslowski immer noch nichts anfangen, er würde es nur vor Ort erfahren. »Okay, ich mache mich auf den Weg. Von Hiddesen bin ich ja in kürzester Zeit da. Wo soll ich mich melden?«
Er spürte Kemmlers Erleichterung förmlich durchs Telefon. »Melden Sie sich einfach auf der Wache und sagen Sie, dass Sie zu mir wollen, ich
hole Sie dann unten ab.«
»Okay, also sehen wir uns gleich.« Koslowski legte auf und starrte einen Moment lang auf das Telefon in seiner
Hand. In seinem Bauch hatte sich ein ungutes Gefühl breitgemacht. Heikle Dinge, das klang gar nicht gut. Nachdenklich blickte er
auf den Kriminalroman, dessen Titelblatt solche roten Ahornblätter schmückten, wie man sie im Indian Summer in Kanada fand, und er wusste, wo er jetzt
lieber wäre.
***
Er hatte seinen Wagen auf dem Parkplatz vor dem Gebäude abgestellt und war nach der Anmeldung sehr schnell von Kemmler abgeholt
worden. Nun stiegen sie schweigend nebeneinander die Treppe zum zweiten Stock
hinauf. Koslowski hatte bei der Anmeldung erfahren, dass Kemmler
Kriminaloberrat und erst seit Kurzem neuer Leiter der Kripo war.
Als sie einen der Flure betraten, hielt der Leiter der Kripo ihm die Tür auf. »Ich würde sie zunächst gerne den Mitgliedern der Mordkommission vorstellen, bevor wir dann zum
eigentlichen Thema kommen.«
»Ich bin mal gespannt, was so wichtig ist, dass Sie mir am Telefon nichts darüber sagen konnten.«
Kemmler lächelte um Nachsicht heischend und öffnete eine Bürotür. Hier ließ er Koslowski wieder zuerst eintreten, folgte ihm und schloss die Tür hinter sich. Der Raum war mit einem großen Besprechungstisch ausgestattet und Koslowski ahnte, dass hier alle Fäden einer Mordkommission zusammenliefen, was auch immer diese Kommission als
Aufklärungsziel hatte.
Um den Tisch herum saßen mehrere Personen, von denen Koslowski nur Jürgen Meerkötter und Steffi Krämer kannte. Er nickte grüßend in die Runde, dann blieb sein Blick an einer Pinnwand hängen, auf der jede Menge Fotos von Tatorten hingen. Einige in einem Wald
aufgenommen, andere in der Nähe eines Hauses. Aber noch mehr ins Auge fielen ihm diverse Bilder von zwei
toten Raben, die man anscheinend an beiden Tatorten gefunden hatte und aus
allen erdenklichen Winkeln fotografiert hatte. Neben jedem der Tiere stand eine
gelbe Markierungstafel mit einer Nummer drauf. Sofort fielen ihm sein Besuch
bei dem bettflüchtigen Strelzik und dessen Beobachtungen an der Adlerwarte wieder ein. Er kam
nicht mehr dazu, sich weiter umzusehen, denn Kemmler ergriff das Wort und
geleitete ihn gleichzeitig zu einem freien Stuhl.
»Nehmen Sie bitte Platz! Liebe Kollegen, ich möchte Ihnen gerne Herrn Koslowski vorstellen. Wie ich hörte, ist er einigen von Ihnen bereits bekannt.« Er blickte in die Runde und sah Meerkötter und Krämer unisono nicken. »Ich habe mit Bielefeld gesprochen, und wir sind übereingekommen gekommen, Herrn Koslowski zu fragen, ob er uns als Berater
unterstützen würde. Er war ja früher ebenfalls bei der Polizei und hat in etlichen Ermittlungsverfahren schon mit
der Polizei und anderen Behörden zusammengearbeitet. Daher meinen wir, dass uns seine Erfahrungen in diesem
etwas seltsamen Fall eventuell nützlich sein könnten.«
Koslowski war verblüfft. Damit hatte er nicht gerechnet. Keiner der anderen Anwesenden sagte etwas,
nur Katja Matthäus stieß hörbar die Luft aus. Als Koslowski sie ansah, verengten sich ihre Augen, und sie
funkelte ihn kurz an, bevor sie Kemmler einen wütenden Blick zuwarf.
»Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, oder?« Sie verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. »Was soll das hier werden? Amateurtheater?«
Kemmler wurde von diesem Ausbruch völlig überrascht. »Frau Kollegin, ich muss doch sehr bitten!« Er blickte entschuldigend zu Koslowski. »Ich denke nicht, dass das die richtige Art ist, einen Gast zu begrüßen.«
»Einen Gast? Das hier ist keine Geburtstagsfeier, sondern eine Mordermittlung.
Ich glaube kaum, dass wir da Leute mit hineinziehen sollten, die keine
Polizeibeamte sind.« Matthäus wurde langsam rot und ihrer Stimme merkte man die Wut über Kemmlers Entscheidung deutlich an.
»Herr Koslowski war früher selber Polizeibeamter und verfügt daher über ausreichend Erfahrung.«
»Ach ja? Wann war das denn? War da noch Adenauer Kanzler oder war es vielleicht
doch schon Helmut Kohl?« Katja Matthäus Stimme triefte nur so von Sarkasmus. Einige der Anwesenden konnte sich ein
Lachen nicht verkneifen, selbst Koslowski ging es so. »Ich bin auf jeden Fall strikt dagegen, dass er hier mit ermitteln soll.«
Koslowski lächelte weiterhin nur amüsiert, Kemmler hingegen wurde langsam ungehalten. »Frau Matthäus, ich glaube nicht, dass es Ihnen zusteht, solche Entscheidungen infrage zu
stellen. Ich habe das mit der Kriminalhauptstelle und dem Behördenleiter geklärt, und wir sind sehr wohl der Meinung, dass Herr Koslowski uns behilflich sein
könnte.«
Das klang so ein bisschen nach oberster Heeresleitung, fand Koslowski.
Die Kriminalbeamtin funkelte Koslowski über den Tisch hinweg böse an. Sie wollte gerade zu einer Erwiderung ausholen, hielt sich aber im
letzten Moment damit zurück. Die anderen Anwesenden hatten die Auseinandersetzung zwischen Kemmler und
ihr aufmerksam verfolgt, wussten sie doch, dass die beiden sich noch nie hatten
leiden können. Eingeweihte erzählten, dass Kemmler in seiner Zeit als Kommissar mal scharf auf sie gewesen sei,
sie ihn jedoch kräftig habe abblitzen lassen. Etwas, das ihrer Karriere nicht gerade förderlich gewesen war, vor allem nachdem Kemmler in den höheren Dienst aufgestiegen war.
Koslowski hatte die ganze Zeit über geschwiegen. In der soeben entstandenen Gesprächspause ergriff er das Wort und blickte dabei Katja Matthäus an. »Ich kann Sie sehr gut verstehen und bin über dieses Angebot auch selbst ein wenig überrascht.«
Man konnte Kriminaloberrat Kemmler deutlich ansehen, dass ihm das peinlich war.
Vor lauter Eifer hatte er vergessen, Koslowski vorher über den Grund seines Hierseins zu informieren. Katja Matthäus sah ihren Chef an und auf ihrem Gesicht entstand ein leicht gehässiges Grinsen.
»Es stimmt, dass ich früher selber Polizeibeamter war. Ich bin übrigens auf eigenem Wunsch aus dem Dienst ausgeschieden und nicht etwa gefeuert
worden.«
In der Runde am Tisch wurde vereinzelt gelacht.
»Es ist auch richtig, dass ich immer wieder mal in etwas dubiose Fälle verwickelt worden bin, aber ich versichere Ihnen, dass ich da jedes Mal
durch Zufall und nicht durch eigenes Betreiben hineingeraten bin.«
»Das kann ich bestätigen«, sagte Jürgen Meerkötter und Steffi Krämer nickte zustimmend. »Außerdem ist er ein guter Freund unseres ehemaligen Kollegen Walfried Eugelink.«
Bei der Erwähnung dieses Namens ließ Koslowski resigniert den Kopf auf die Brust sinken. »Das ist richtig, aber Sie sollten auch wissen, dass er nach einem Fall, in den
wir beide involviert waren, seinen Dienst quittiert hat.« Er lachte bitter auf. »Manchmal ist es anscheinend besser, sich nicht in meiner Nähe aufzuhalten.«
Kemmler stützte im Stehen die Hände auf die Tischplatte. »Ich glaube, dass wir Herrn Koslowskis Hilfe gut gebrauchen werden, und ich bin
sicher, dass wir ihn alle«, dabei blieb sein Blick auf Katja Matthäus ruhen, »so gut wir können, unterstützen werden. Hat zu dieser Angelegenheit sonst noch jemand etwas zu sagen? Nein?
Na gut, dann gehen wir jetzt zum Tagesgeschäft über.«
Die Kriminalbeamtin stand auf, schob dabei ihren Stuhl geräuschvoll nach hinten, raffte die Unterlagen zusammen, die sie vor sich auf dem
Tisch ausgebreitet hatte und marschierte Richtung Ausgang.
Kemmler reagierte sofort. »Wo wollen Sie hin?«, herrschte er sie an.
Man sah Katja Matthäus an, wie sich ihre Wangen veränderten, weil sie die Zähne aufeinanderbiss. »Ich habe noch einen Termin bei der Staatsanwaltschaft, wenn Sie gestatten?«, zischte sie. Ohne eine Antwort abzuwarten, rauschte sie aus dem Raum und ließ die die Tür hinter sich geräuschvoll ins Schloss fallen.
»Oh je, ganz schön dicke Luft«, stöhnte Greve.
»Ach komm«, hielt Klaus Hochmuth dagegen. »Du kennst doch Katja, die kriegt sich schon wieder ein.« Dann wandte er sich an Koslowski. »Nehmen Sie diesen Auftritt bitte nicht zu ernst, unsere Katja ist sehr
emotional. Ich freue mich jedenfalls, dass Sie da sind, denn ich glaube auch,
dass wir in diesem verzwickten Fall jede Hilfe gebrauchen können.«
Koslowski nickte und Kemmler klappte die vor ihm liegende Akte auf. »Lassen Sie uns beginnen und Herrn Koslowski mal auf den neuesten Stand bringen.«
Allgemeines Papierrascheln war die Folge.
***
»Oh Mann, ist die geladen!« Der Kollege, der gerade seine private BMW auf den Ständer gewuchtet hatte, blickte Katja Matthäus hinterher, die mit einem nur knappen Gruß an ihm vorbeirauschte.
Mit seiner Einschätzung hatte er durchaus Recht, denn eigentlich war Katja freundlich und
kollegial, aber heute war ihr der Kragen geplatzt. Was dachte sich bloß dieser Kemmler? Er schleppte einen Zivilisten an, der ihnen jetzt womöglich über die Schulter sehen sollte. Wer wusste schon, ob der nicht sogar von Kemmler
gerade deswegen angeheuert worden war. So eine Art Betriebsspion.
Außerdem war sie sauer, weil der Typ die Auseinandersetzung zwischen ihr und
Kemmler anscheinend vollkommen unbeeindruckt verfolgt hatte. Mir wäre es zumindest peinlich gewesen, wenn man sich wegen mir gestritten hätte, dachte sie.
Der Typ schien ein dickes Fell zu haben. Das versprach ja noch, was zu werden.
Auf der anderen Seite wusste sie jedoch, dass Kemmler am längeren und vor allem am mächtigeren Hebel saß. Er durfte sie zwar nicht, wie in amerikanischen Filmen oft angedroht »zum Parkuhren-Kontrollieren« schicken, aber er konnte sie aus der Mordkommission abziehen und das hätte ihr gar nicht behagt. Katja war Ermittlerin mit Leib und Seele. Seit ihrem
ersten Tag bei der Polizei war ihr Wunsch immer gewesen, einmal Mitglied einer
Mordkommission zu sein. Darauf hatte sie all die Jahre hingearbeitet und nun
war es endlich soweit. Sie wusste, dass Kemmler nicht zögern würde, sie wieder in die Sachbearbeitung zu schicken, wenn sie sich zu sehr
querstellte.
Aber geärgert hatte sie sich doch. Diesem Koslowski würde sie ganz genau auf die Finger schauen. »Pass nur auf, mein Freund, dass du keinen Fehler machst«, zischte sie durch die Zähne, als sie den dienstlichen Volvo aufschloss und sich auf den Sitz fallen ließ. Sie setzte zurück, schenkte dem Kollegen in der grauen Motorradkombination zur Entschuldigung
diesmal ein Lächeln und rollte dann vom Hof in Richtung Staatsanwaltschaft.
***
Nachdem die Formalitäten erledigt waren, bei denen Koslowski unter anderem eine Erklärung unterschreiben musste, dass er alles, was er hier hörte, der Vertraulichkeit unterlag, sah man sich die bisher erlangten
Erkenntnisse an. Zwei Morde, davon ein Doppelmord, und jedes Mal hatten der
oder die Täter einen toten Raben zurückgelassen. Die Autopsie der Geschwister Schwandt hatte ergeben, dass im Körper der Toten eine hohe Menge des Beruhigungsmittels Flunitrazepam gefunden
worden war, was auch Bestandteil sogenannter K.-o.-Tropfen war. Wie die
Geschwister das Mittel zu sich genommen hatten, blieb unklar. Wahrscheinlich
hatten sie es oral aufgenommen, an ihren Leichen ließen sich jedenfalls keinerlei Einstiche feststellen.
Bedachte man die körperliche Konstitution der beiden, so war es sehr unwahrscheinlich, dass man es
ihnen gewaltsam eingeflößt hatte, denn das hätte sicherlich Kampfspuren verursacht, die bei einer Obduktion zutage getreten wären. Blieb also nur die Möglichkeit, dass sie es freiwillig genommen hatten oder dass man sie dazu
gezwungen hatte. Die Durchsuchung des Hauses hatte ebenfalls keine Hinweise
ergeben. Man hatte keine benutzten Trinkgefäße gefunden. Der oder die Täter hatten anscheinend gründlich aufgeräumt, nachdem die beiden Geschwister bewusstlos im eigenen Pool ertränkt worden waren. Ebenso wie für die Ermordung Krottmanns fehlte auch für den Tod des Geschwisterpaares bislang jegliches Motiv.
Was die Raben betraf, so ging man davon aus, dass das Tier im Fall Krottmann in
unmittelbarer Nähe des Tatortes geschossen worden war und der gefundene Rabe in Cappel womöglich der war, der aus der Adlerwarte in Heiligenkirchen entwendet worden war.
Die letztere Annahme beruhte allerdings bislang auf reiner Spekulation.
Als die Sprache auf den Raben aus der Adlerwarte kam, überlegte Koslowski einen Moment lang, ob er den Mitarbeitern der Kommission von
seinem Gespräch mit dem Zeugen Strelzik berichten sollte. Aber er war sich ja noch nicht
einmal selbst darüber im Klaren, ob wirklich stimmte, was der gesehen haben wollte. Er entschied
sich dafür, zunächst den Mund zu halten.
»Wir können alle nur hoffen, dass hier kein Serienmörder am Werk ist, denn das wäre der Super-GAU.« Kemmler seufzte tief und keiner der Anwesenden widersprach ihm.