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MARIE JAHODA

Arbeitslose bei der Arbeit

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HerausgeberInnen:
Waltraud Kannonier-Finster, Horst Schreiber, Meinrad Ziegler

Die Buchreihe transblick veröffentlicht Arbeiten, die der sozialwissenschaftlichen Aufklärung verpflichtet sind.

Ein Blick richtet sich auf Phänomene und Verhältnisse, die wenig beachtet oder im Dunkeln gehalten werden.

Ein anderer Blick bietet Beschreibungen und Analysen, die eine unkonventionelle Sichtweise auf das soziale Leben eröffnen.

transblick thematisiert gesellschaftliche Widerspruchserfahrungen und Dominanzverhältnisse und fragt, was wir als vernünftig, gerecht und der menschlichen Würde angemessen erachten.

transblick will Denkprozesse fördern und auf Handlungsperspektiven verweisen. Die Bücher sollen in Inhalt und Form aufregen und einem Transfer sozialwissenschaftlicher Sichtweisen in interessierte Öffentlichkeiten dienen.

transblick benutzt eine Sprache, die auch jenen Personen und Gruppen das Mitdenken und Mitreden ermöglicht, die außerhalb des akademischen Diskurses leben und handeln.

transblick soll Frauen und Männer ansprechen, die sowohl dem „Darüberhinaus“-Schauen als auch dem „Hindurch“- oder „Quer-durch“-Denken etwas abgewinnen können.

www.transblick.com

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Inhalt

Editorische Notiz

Marie Jahoda
Arbeitslose bei der Arbeit

Einleitung

Das allgemeine Problem

Darstellung der Ergebnisse

Methoden

Teil Eins

Das Eastern Valley von Monmouthshire

Teil Zwei

Vorbemerkung über das Bedarfsdeckungsprogramm

Die Entwicklung des S.P.S.

Die Mitglieder des S.P.S.

Die Prinzipien und Ideen des Programms

Ein Kosten-Nutzen-Vergleich des Programms

Teil Drei

Der Einzelne im S.P.S.

Ein Konflikt der Ideen

Die Gruppenorganisation im S.P.S.

Arbeitsanreize

Schlussfolgerung

Zusätze

Ergänzende Daten

Eine Zusammenfassung von Charlotte Bühlers System der Lebensstadien

Ein Wochenende im Leben einer Bergarbeiterfamilie

Meinrad Ziegler
Auf den Spuren von Marie Jahoda im Eastern Valley

Von Wien nach London

Die sozialen und politischen Verhältnisse in England

George Orwell über Kohlereviere und Sozialismus

Das Subsistence Production Scheme und sein Umfeld

Der Bericht und die Kontroverse

Arbeit als soziale Erfahrung

Schlussbemerkung

Postskriptum

Danksagung

Kurzbiografie Marie Jahoda

Bildnachweise

Herausgeberin und Herausgeber

Editorische Notiz

Marie Jahoda führte die vorliegende Studie über ein Subsistenzprojekt für arbeitslose Bergarbeiter 1937 bis 1938 im englischen Exil durch. Sie verbrachte dazu mehrere Monate in der Untersuchungsregion im Eastern Valley (Südwales).

Der Forschungsbericht erlebte eine dramatische Publikationsgeschichte. Er wurde zunächst nicht veröffentlicht. Jahoda entschloss sich zu diesem Schritt, da Jim Forrester (1910–1960), einer der Organisatoren des Subsistenzprojektes, die Ergebnisse als persönliche Enttäuschung erlebte. Eine beträchtliche Anzahl der Teilnehmer blieb gegenüber den sozialen Ambitionen des Projektes distanziert und unterlief dessen Ziele. Forrester betrachtete die Tatsache, dass der Idealismus, mit dem das Programm begonnen worden war, nicht in die Realität umgesetzt werden konnte, als Zerstörung seines Lebenswerkes. Einige Monate vorher, im März 1938, hatte er Jahoda bei den Vorbereitungen der Emigration ihrer Mutter und weiterer Angehöriger aus dem nationalsozialistischen Österreich unterstützt. Der Verzicht auf eine Veröffentlichung war ein Akt der Dankbarkeit gegenüber Forrester.

Erst viel später konnte sie von einer Publikation überzeugt werden. 1987 erschien eine gekürzte Version unter dem Titel „Unemployed men at work“ (Jahoda 1987) in englischer Sprache in einem von David Fryer und Philip Ullah herausgegebenen Sammelband. 1989 erfolgte die vollständige deutsche Ausgabe mit dem Titel „Arbeitslose bei der Arbeit. Die Nachfolgestudie zu ‚Marienthal‘ aus dem Jahr 1938“, herausgegeben von Christian Fleck und übersetzt von Hans Georg Zilian (Jahoda 1989). Das Buch ist seit Jahren vergriffen.

Für die Neuauflage haben wir Jahodas Forschungsbericht in der übersetzten Fassung von 1989 übernommen. Neben den Fußnoten der Autorin gibt es auch von Fleck und Zilian gesetzte Fußnoten, die historische Kontexte erläutern; diese Herausgeber-Fußnoten sind als solche gekennzeichnet und kursiv gesetzt. Wir haben lediglich eine Übertragung in die neue deutsche Rechtschreibung vorgenommen und orthografische Fehler korrigiert.

Unsere Ausgabe unterscheidet sich von den bisherigen Editionen dadurch, dass wir dem historischen Sozialexperiment, das Jahoda in der Studie beschreibt und analysiert, viel Aufmerksamkeit und Raum geben. Die gekürzte englische Veröffentlichung von 1987 betonte einerseits die methodischen Aspekte der Studie im Vergleich zum Marienthal-Projekt (vgl. Fryer 1987); andererseits erfolgte sie als historische Referenz im Rahmen eines Sammelbandes, der aktuelle sozialpsychologische Konsequenzen von Arbeitslosigkeit diskutierte. Flecks Edition aus dem Jahr 1989 war wissenschaftsgeschichtlich motiviert. Sie sollte dokumentieren, dass die Geschichte der Sozialwissenschaften im deutschsprachigen Raum durch die Machtergreifung des Nationalsozialismus einen brutalen Kontinuitätsbruch erfahren hat. Eine Konsequenz des umfassenden Zerstörungswerks der NS-Herrschaft bestand darin, dass bedeutsame Forschende in Vergessenheit gerieten und ihre Forschungsarbeiten nicht zur Kenntnis genommen wurden. Vor diesem Hintergrund betont Christian Fleck in der Einleitung von 1989 zu Jahodas Studie vor allem die biografischen Umstände, die die Entstehung des Textes beeinflusst haben (vgl. Fleck 1989).

Als Herausgeberin und Herausgeber erschienen uns für diese Ausgabe weitere, bisher noch nicht aufgegriffene Kontextualisierungen sinnvoll. Meinrad Ziegler rekonstruiert in seinen Nachbemerkungen zum einen die sozialhistorischen Zusammenhänge des von den Quäkern initiierten Sozialexperiments und geht zum anderen ausführlich auf Jahodas Konzept von den latenten Bedeutungen kollektiv organisierter Arbeit ein. Dieses ist in ihrem Text von 1938 bereits angedeutet, wird aber umfassender erst in den 1980er Jahren ausgearbeitet. Jahoda betont dabei, dass es zu kurz greift, Arbeit ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der ökonomischen Notwendigkeit oder der individuellen Sinnstiftung zu betrachten. Die Teilnahme am gesellschaftlichen Arbeitsprozess vermittelt den Beschäftigten – auch wenn die konkrete Arbeit unter oftmals belastenden Bedingungen geleistet werden muss – existenzielle Erfahrungen, deren Bedeutung vielfach übersehen und unterschätzt wird. Im Licht dieser Zusammenhänge mit Jahodas späteren Überlegungen zur Sozialpsychologie der Arbeit kann die hier vorliegende Studie als historische Anregung zu aktuellen Fragen gelesen werden: Welchen Stellenwert möchten wir der gesellschaftlich organisierten Arbeit in einer Welt zumessen, die sich infolge von Automatisierung und digitaler Revolution rapide verändert? Welche Modelle der Verteilung und Organisation der Arbeit sind denkbar?

In dieser Ausgabe sind historische Text- und Fotodokumente enthalten. Dieses Material wurde von folgenden Institutionen zur Verfügung gestellt: Blaenavon Community Museum, Workmen’s Hall; Brynmawr and District Museum; National Library of Wales, Aberystwyth; South Wales Miners Library, Swansea University sowie WEA Blaenavon History Group.

Herausgeberin und Herausgeber dieses Bandes ebenso wie die österreichische Sozialforschung und Soziologie verdanken Christian Fleck viel. Er hat sich in den 1980er Jahren für Jahodas unkonventionellen Forschungsstil zu interessieren begonnen und war neugierig auf die Person hinter der Marienthal-Studie. Es folgten die Aufnahme eines persönlichen Kontaktes, zahlreiche Gespräche mit Jahoda in Sussex und seine Bemühungen, ihre Arbeiten durch eigene Archivarbeiten und Publikationen bekannt und zugänglich zu machen. Ohne diese Initiativen würden viele Kolleginnen und Kollegen Marie Jahoda vielleicht noch immer nur als Koautorin der Marienthal-Studie zur Kenntnis nehmen. Flecks ausgeprägter Sinn für die Bedeutung eines historischen Zugangs zur Gesellschafts- und Wissenschaftsforschung hat 1987 zur Gründung des Archivs für die Geschichte der Soziologie in Österreich (AGSÖ) geführt.

Diese Publikation ist der zweite Teil einer mehrbändigen, von uns herausgegebenen Marie-Jahoda-Edition:

Band 1: Marie Jahoda, Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden
Klassen 1850–1930. Dissertation 1932; erschienen 2017.

Band 2: Marie Jahoda, Arbeitslose bei der Arbeit; erschienen 2019.

Band 3: Marie Jahoda, Aufsätze und Essays; erscheint 2019.

 

 

 

Fleck, Christian. 1989. Politische Emigration und sozialwissenschaftlicher Wissenstransfer. Am Beispiel Marie Jahodas. In: Marie Jahoda. Arbeitslose bei der Arbeit. Die Nachfolgestudie zu „Marienthal“ aus dem Jahr 1938, hrsg. Christian Fleck, vii–lxxii. Frankfurt a. M., New York: Campus.

Fryer, David. 1987. Monmouthshire and Marienthal: Sociographies of two unemployed communities. In: Unemployed people. Social and psychological perspectives, ed. David Fryer and Philip Ullah, 74-93. Milton Keynes: Open University Press.

Jahoda, Marie. 1987. Unemployed men at work. In: Unemployed people. Social and psychological perspectives, ed. David Fryer and Philip Ullah, 1–73. Milton Keynes: Open University Press.

Jahoda, Marie. 1989. Arbeitslose bei der Arbeit. Die Nachfolgestudie zu „Marienthal“ aus dem Jahr 1938, hrsg. und eingel. Christian Fleck. Frankfurt a.M., New York: Campus Verlag.

Jahoda, Marie. 2017. Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen 1850–1930. Dissertation 1932, hrsg. Johann Bacher, Waltraud Kannonier-Finster und Meinrad Ziegler. Innsbruck, Wien, Bozen: Studienverlag.

Jahoda, Marie. 2019. Aufsätze und Essays, hrsg. Johann Bacher, Waltraud Kannonier-Finster und Meinrad Ziegler. Innsbruck, Wien, Bozen: Studienverlag.

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Marie Jahoda, London 1939

Marie Jahoda:
Arbeitslose bei der Arbeit

Einleitung

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Vorhergehende Seite: Bahnhof Cwmavon

 

Das allgemeine Problem

Es herrscht weitverbreitete Übereinstimmung darüber, dass die Neugestaltung unserer gegenwärtigen Gesellschaft immer dringlicher wird. Jeder an gesellschaftlichen Fragen Interessierte muss zugeben, dass die Gefahr sozialer Katastrophen stetig zunimmt und dass es bewusster Anstrengungen bedarf, um Probleme zu lösen, die dringlich sind und deren Bestehen allgemein anerkannt wird. Sobald jedoch Vorgangsweise und Inhalt dieser Neugestaltung zur Debatte stehen, kommt es zu Schwierigkeiten. Sofort wird eine Vielfalt von Meinungen vorgebracht, von denen nicht wenige einander diametral entgegengesetzt sind.

So gibt es zum Beispiel zahlreiche Befürworter einer raschen, großangelegten und vielleicht revolutionären Neugestaltung. Jene Länder, die in der jüngeren Vergangenheit einer derartigen sozialen Neuordnung unterworfen waren, wie z.B. die Sowjetunion und Deutschland, sind zu Symbolen geworden, die stets in die Debatte eingebracht werden, um die Vorzüge dieser Vorgangsweise nachzuweisen. In England, wo es noch immer möglich ist, die Ideen und Methoden der Neugestaltung einigermaßen frei zu diskutieren, ist noch keine endgültige Entscheidung gefallen. Die Tradition und die besondere gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation des Landes haben bei jenen, denen die Mängel des gegenwärtigen Gesellschaftssystems ein echtes Anliegen sind, bewirkt, dass kontinentale Vorgangsweisen auf wenig Gegenliebe stoßen.

Von jenen, die eine neue Gesellschaftsordnung herbeiführen möchten, hegen viele die Hoffnung, dass dieses Ziel durch einen Prozess des friedlichen Wandels erreicht werden könne. Dies ist nicht bloß eine theoretische Haltung; gelegentlich entschließt sich eine Gruppe von Personen, ein praktisches Beispiel für einen solchen friedlichen Übergang zu einer neuen Gesellschaftsordnung zu liefern. Die jüngere Geschichte Englands weist viele solche Fälle auf, in denen sich eine kleine, von utopischen Ideen oder Visionen beflügelte Gruppe dem Aufbau einer sozialen Welt widmete, die – auf der Ebene des Individuums wie auf jener der Gruppe – der Nation oder der ganzen Welt als Vorbild dienen soll.

Solche kleinräumigen Versuche können nur durchgeführt werden, wenn es eine Gruppe oder Klasse von Personen gibt, die aus dem einen oder anderen Grund in der Lage sind, freiwillig an einem sozialen Experiment teilzunehmen. In den letzten Jahren haben die Anhänger von Gesellschaftsreformen das Auftauchen einer neuen derartigen Gruppe oder Klasse festgestellt, jener der Arbeitslosen. Denn die Arbeitslosen haben ihren normalen Platz in der Arbeitergesellschaft verloren, sie wurden aus ihrer normalen Lebensweise herausgeschleudert und sie haben durch die Teilnahme an einem Experiment nichts zu verlieren; im Gegenteil, sie können daraus vielleicht sogar Nutzen ziehen. Es geht hier natürlich nicht um Experimente, die einer distanzierten und unmenschlichen Einstellung entspringen; Experimente, die mit den Arbeitslosen und in ihrem Interesse durchgeführt werden, gründeten auf voller Anteilnahme und waren von der Absicht getragen, den daran Teilnehmenden zu einer neuen und besseren Lebenssituation zu verhelfen. Sie haben damit die für alle realistischen gesellschaftlichen Experimente notwendige Bedingung erfüllt.

Die kritische Untersuchung eines solchen Kleinversuchs ermöglicht uns, über die Chancen des friedlichen Übergangs von einem Gesellschaftssystem zum anderen eine Meinung zu bilden. Sollte das Experiment gelingen, kann bei der Erörterung grundlegender sozialer Veränderungen die Möglichkeit der Anwendung ähnlicher Methoden in großem Maßstab nicht ausgeschlossen werden. Misslingt es jedoch sogar im Kleinen, dann würde das die Annahme rechtfertigen, dass großangelegte Versuche mit noch größeren Schwierigkeiten konfrontiert wären. Die Untersuchung eines solchen Experiments liefert auch Einsichten in verschiedene Aspekte des Funktionierens sozialer Gruppen und wirft ein Licht auf einige organisatorische Fragen, mit denen sich eine neugestaltete Welt auseinandersetzen müssen wird, ob sozialer Wandel sich nun als Folge des friedlichen Übergangs oder auf irgendeine andere Weise eingestellt hat.

Das von einem Zweig der Quäker im Eastern Valley von Monmouthshire organisierte Programm der Bedarfsdeckungsproduktion – im Folgenden kurz „das Programm“ oder „S.P.S.“ (Subsistence Production Scheme) genannt – bietet sich für eine derartige Untersuchung an. Den Vorteilen entsprechen selbstverständlich jene Nachteile, die mit einem kleinräumigen sozialen Experiment verknüpft sind, das in eine unveränderte Welt mit stark ausgeprägten Traditionen eingebettet ist. Es überwiegen jedoch die Vorteile: Das Experiment ist klein genug angelegt, um gründlich und in jeder Hinsicht untersucht werden zu können; es versucht, eine Anzahl relativ fest umrissener und neuer gesellschaftlicher Ideen zu verwirklichen; und wo Maßnahmen, die sich als erfolglos erwiesen haben, aufgegeben und durch neue ersetzt wurden, ergibt sich eine Vielfalt der Versuchsanordnung, ohne dass sich für die beteiligten Individuen nachteilige soziale oder wirtschaftliche Auswirkungen ergeben würden.

Darstellung der Ergebnisse

Das bei der Untersuchung dieses Experiments gesammelte Material wird hier in drei Abschnitten präsentiert. Der erste Teil befasst sich mit dem gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Hintergrund des Eastern Valley. Der zweite Teil stellt das Programm dar – die ihm zugrundeliegenden Ideen, seine Geschichte, seine wirtschaftlichen Bedingungen und seine Ergebnisse. Ein dritter Teil setzt sich mit einigen allgemeinen Problemen auseinander, die bei derartigen gesellschaftlichen Experimenten fast unvermeidlich sind. Das erste dieser Probleme bezieht sich auf die gesellschaftliche Beeinflussung der normalen Entwicklung des Einzellebens in aufeinanderfolgenden Stadien. Dies wird unter zwei Gesichtspunkten behandelt: Zunächst wird der Eingriff dargestellt, den Arbeitslosigkeit für den normalen Lebensablauf bedeutet; im Anschluss daran wird erörtert, wie sich das Programm auf das Leben seiner Teilnehmer ausgewirkt hat.

Im folgenden Kapitel wird der Konflikt der Ideen dargestellt, der sich aus dem gleichzeitigen Bestehen zweier divergierender wirtschaftlicher Systeme ergibt. Die Schärfe dieses Konflikts und die verschiedenartigen Versuche des Einzelnen, ihn zu überwinden, zu akzeptieren oder seine Existenz zu leugnen, hängen nicht nur vom individuellen Temperament ab, sondern auch von der Phase des Lebenszyklus, in der sich der Einzelne befindet. Jedes Wirtschaftssystem erfordert die Anpassung des Individuums, nicht nur physisch, sondern auch gedanklich und emotional. Bestimmte zur industriellen Welt passende und durch lange Tradition sanktionierte Ideen sind im Geist des Einzelnen tief verwurzelt; während die neuen und in vieler Hinsicht entgegengesetzten Ideen, die mit dem Experiment im Einklang stehen, sich erst langsam herausbilden, wobei sie jedoch von täglich wiederkehrenden Erfahrungen bestärkt werden.

Dieser Ideenkonflikt wirkt sich auf die ganze Atmosphäre des Programms aus. Dessen Hauptergebnisse werden in zwei weiteren Kapiteln erläutert: Eines befasst sich mit Gruppenbildung innerhalb des S.P.S., das andere mit der Arbeitsmotivation unter Bedingungen, wo keinerlei Zwang oder wirtschaftlicher Druck ausgeübt wird.

Im letzten Kapitel wird darauf verwiesen, dass alle Schlussfolgerungen aus der Untersuchung die Möglichkeit berücksichtigen müssen, dass die für die beobachteten Ergebnisse verantwortlichen Faktoren sich ändern könnten. Eine solche Veränderung könnte nicht nur das Experiment und seine Ergebnisse radikal umgestalten, sondern auch abweichende allgemeine Schlussfolgerungen nahelegen. Es folgt schließlich ein Versuch, den Nutzen des Programms zu bewerten.

Trotz der mit einer solchen Untersuchung verbundenen Schwierigkeiten und trotz der Ungewissheit vieler ihrer Ergebnisse bin ich zutiefst überzeugt davon, dass der Versuch, gesellschaftliche Abläufe mit Hilfe soziologischer und psychologischer Methoden verstehen zu lernen, zu den wenigen sinnvollen Dingen gehört, die man in unserer heute so chaotischen Welt unternehmen kann; und nichts eignet sich besser dazu, als die sorgfältige Untersuchung eines Ausschnitts der sozialen Wirklichkeit in all seinen Facetten, wie klein er auch sein mag.

Methoden

Die wissenschaftliche Untersuchung eines solchen Programms kann nicht von einem Beobachter durchgeführt werden, der distanziert und außerhalb verbleibt. Eine solche Untersuchung erfordert ein einfühlsames Wissen aus erster Hand über die persönlichen Aktivitäten, die Ideen und Gefühle, die einen wesentlichen Bestandteil des Ablaufs des Programms bilden; und hierzu muss man an der Arbeit und dem Leben der Mitglieder des Programms teilnehmen.

Es wurde daher ein Verfahren gewählt, das ich bereits bei der Untersuchung der Auswirkungen der Langzeitarbeitslosigkeit in Österreich angewendet hatte1. Dr. Oeser hat dieses Verfahren vor Kurzem „funktionale Durchdringung“ genannt.2

Eine kurze Beschreibung dieses Verfahrens und seiner Anwendung in der vorliegenden Studie mag hier am Platz sein. Sein wesentliches Merkmal besteht in der Weigerung, irgendeine Auffassung über das untersuchte Experiment zu vertreten oder zu akzeptieren, bevor nicht alle Auswirkungen auf die Betroffenen und alle Merkmale ihrer Einstellung dazu beobachtet und berücksichtigt wurden. Diese Auswirkungen und Einstellungen setzen sich aus verschiedenen Faktoren zusammen; einige davon mögen den Betroffenen nicht bewusst sein, jedoch zu verschiedenen Anlässen zum Ausdruck kommen, in Formen, die zwar wenig bedeutsam erscheinen mögen, aber symptomatischen Charakter haben. Nur ein enger und beständiger Kontakt gestattet die Beobachtung und Interpretation derartiger Symptome.

Ein weiterer Vorteil dieser Methode liegt in der weitgehenden Ausschaltung der sozialen oder theoretischen Vorurteile des Beobachters. Die Methode ist am fruchtbarsten, wenn der Beobachter an allen Aktivitäten der sozialen Gruppe teilnimmt, da dies nicht nur die Untersuchung des Verhaltens der Betroffenen ermöglicht, sondern auch das Verstehen dieses Verhaltens erleichtert, indem die Auswirkungen auf den Beobachter selbst der introspektiven Analyse zugänglich gemacht werden.

Anlässlich der vorliegenden Studie entschloss ich mich, am Familienleben und der täglichen Arbeit der Mitglieder des Programms teilzunehmen, so intensiv das angesichts der mir zur Verfügung stehenden Zeit möglich war. Daher richtete ich es so ein, dass ich jeweils ein oder zwei Wochen bei Familien von Teilnehmern des Programms lebte; so lernte ich nicht nur diese neun Familien gut kennen, sondern auch deren Freunde und Verwandte, von denen einige keine Programmteilnehmer waren und so wertvolles Vergleichsmaterial lieferten. Ich verbrachte die Abende und Nächte, den frühen Morgen und die Wochenenden im Familienkreis. Den restlichen Tag über arbeitete ich innerhalb des Programms, wobei ich in jeder der zwölf Untergliederungen ungefähr eine Woche verbrachte. Die für die Erhebung zur Verfügung stehenden vier Monate reichten nicht aus, auch an der Arbeit jener Gruppen teilzunehmen, die Felder bearbeiteten, die außerhalb des Zentrums des Programms in Cwmavon lagen. Die Ergebnisse beruhen daher nur auf Arbeit in den industriellen und landwirtschaftlichen Programmen in Cwmavon. Der Kontakt mit den kleinen, entfernter liegenden Feldern war lose und sporadisch.

Diese Forschungsstrategie eröffnete nicht nur die Möglichkeit persönlicher Einsicht und Erfahrung, sondern stellte auch rasch einen engen Kontakt mit den Teilnehmern am Programm her, der es möglich machte, die verschiedensten Materialien zu sammeln.

Die gesammelten Daten bezogen sich nicht nur auf den Erhebungszeitraum. Das soziale Leben unterliegt einem ständigen dynamischen Entwicklungsprozess; jedes seiner Elemente verweist auf die Vergangenheit und hat Bedeutung für die Zukunft. Im Verlauf der Erhebung stellte sich nicht nur heraus, was während des Programms passierte, sondern es wurden auch Ereignisse vor der Weltwirtschaftskrise angesprochen und die Zukunftsperspektiven derer thematisiert, die die Industrialisierung und ihren Niedergang erlebt hatten. Dies gestattete es, jenen Hintergrund von Traditionen, Denkgewohnheiten, herkömmlichen Einstellungen etc., gegen den sich das Programm mit seinen Idealen so deutlich abhebt, einigermaßen verlässlich darzustellen.

Es wäre vermessen zu behaupten, dass dieser Bericht eine vollständige Analyse der erhobenen Daten bietet; ja, es liegt ihm nicht einmal eine vollständige Datensammlung zugrunde. Die Erhebung wurde bis zu jenem Zeitpunkt fortgeführt, da ein Bild des S.P.S. und der Ausgangssituation des Programms und seiner Teilnehmer, sowie der gegenwärtigen Einstellung und Sichtweite der Organisatoren und Teilnehmer zumindest in den Grundzügen deutlich hervorzutreten schien. Am Ende der Erhebung lag folgendes Material vor:

–   Persönliche Daten für alle Teilnehmer (Alter, Familiengröße etc.);

–   Anwesenheitsstatistik aller Teilnehmer;

–   Aufzeichnungen über die wöchentlichen Einkäufe im S.P.S.;

–   Aussagen der Organisatoren und Instruktoren;

–   tägliche Protokolle über die Arbeit in den einzelnen Unterbereichen;

–   40 Einstellungsmessungen;

–   110 ausführliche Einzeluntersuchungen über Teilnehmer am Programm, hinsichtlich ihrer Einstellung und ihres Verhaltens, ihrer Ideen, Kritikpunkte, Arbeitsmotivation, über ihre Einstellung gegenüber dem neuen Dorf etc.;

–   zahlreiche einzelne Beobachtungen und Diskussionen;

–   Aussagen von Beamten der Arbeitsmarktverwaltung und anderer örtlicher Behördenvertreter über das Programm;

–   je eine Charakterstudie der 20 Gruppenleiter;

–   Protokolle und Beobachtungen über die Besprechungen der Gruppenleiter;

–   Berichte über Diskussionen mit Organisatoren und Instruktoren;

–   9 ausführliche Familienstudien (unter Einschluss des Haushaltsbudgets) bei Teilnehmern;

–   8 ausführliche Familienstudien bei arbeitslosen Nicht-Teilnehmern am Programm;

–   4 Familienstudien bei Männern, die in Arbeit standen;

–   Berichte über religiöse Aktivitäten, Sonntagsschule und Partys;

–   Gespräche mit Persönlichkeiten der religiösen Glaubensgemeinschaften;

–   Berichte über gewerkschaftliche und politische Aktivitäten;

–   Gespräche mit dem ansässigen Arzt;

–   Besuche in drei verschiedenen Schulen; Gespräche mit Lehrern; Aufsätze zu verschiedenen Themen von 130 Kindern;

–   allgemeine Statistiken und zahlreiche verschiedene Beobachtungen.

 

__________

1 Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langdauernder Arbeitslosigkeit, bearbeitet und herausgegeben von der österreichischen wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle, Leipzig 1933 (Neuauflage Frankfurt/M. 3. Aufl. 1975).

2 O. A. Oeser, Methods and Assumptions of Field Work in Social Psychology, in: British Journal of Psychology, Vol. 27, 1938, p. 352 f.

Teil Eins

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Vorhergehende Seite: Blaenavon, Cwmavon Road um 1930

 

Das Eastern Valley von Monmouthshire

Das Eastern Valley von Monmouthshire1 liegt im westlichen Teil des Landes, befindet sich jedoch im äußersten Osten des südwalisischen Kohlereviers. Das Tal wird vom Afon Llwyd durchzogen, der von Norden nach Süden fließt; er beginnt in den Bergen oberhalb von Blaenavon und mündet in der Nähe von Newport in den Usk. Von Blaenavon über Cwmavon bis Pontypool ist das Tal eng, eine Schlucht, die nur hie und da von sanfteren Abhängen unterbrochen wird. Im Westen erreichen die Abhänge ihren höchsten Punkt (ca. 600 m); die östliche Seite liegt etwas tiefer. Südlich von Pontypool erweitert sich das Tal des Afon Llwyd und die Berge werden immer niedriger, bis unterhalb von Cwmbran der Fluss die Ebene erreicht, die sich nördlich von Newport öffnet.

Niemand, der das Tal zum ersten Mal sieht, kann sich dem Eindruck entziehen, der vom Kontrast zwischen der östlichen und der westlichen Seite des Tals hervorgerufen wird. Im oberen Teil des Tals kontrastieren Wohnsiedlungen und Anzeichen der Industrialisierung am Westhang mit dem vorwiegend landwirtschaftlichen Charakter des Osthanges.

Dies beruht keineswegs auf Zufall; der Westhang von Blaenavon bis Pontypool bildet einen Teil des südwalisischen Kohlereviers. Schutthalden sind über dieses Gebiet verstreut und sind das deutlichste Anzeichen menschlicher Anstrengungen in der Landschaft. Es gibt noch andere deutliche Hinweise auf das Vorkommen von Kohle im Tal; so ist zum Beispiel der Fluss schwarz, und sein Schlamm wird auf Grund seines Gehaltes an Kohlenstaub von den Arbeitslosen als Brennmaterial sehr geschätzt.

Das Tal enthält die Gemeinden Blaenavon, Pontypool, Cwmbran und Caerleon. Da im Gegensatz zu den anderen drei die Gemeinde Caerleon vom Special Areas Act2 nicht berührt ist und vorwiegend landwirtschaftlichen Charakter hat, hat sie mit dem industriellen Teil des Tals wenig gemeinsam und findet im folgenden Zahlenmaterial keine Berücksichtigung. Dies bot sich auch deshalb an, weil Caerleon nicht in den Tätigkeitsbereich des Programms fällt.

Im 19. und 20. Jahrhundert gab es auch im Eastern Valley jenen raschen Bevölkerungszuwachs, den ganz Südwales als Resultat der Zuwanderung erlebte; die starke Ausweitung des Zentrums des Kohlenreviers begann in den 1850er Jahren des vorigen Jahrhunderts. 1861 betrug die Bevölkerung der vier südwalisischen Grafschaften noch 660.000.3 1911 betrug sie 1.736.000. Der Zustrom von Arbeitern dauerte während der Jahre des Weltkriegs an; erst während der Wirtschaftskrise im Jahr 1921 wurde er zum ersten Mal unterbrochen. Ein Bevölkerungsschwund durch Abwanderung setzte nicht vor 1923 ein.

Tabelle 1 zeigt die Bevölkerung in den drei Gemeinden, mit denen sich dieser Bericht befasst.4

Tabelle 1: Zensusschätzung

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Die drei Gemeinden erstrecken sich nach dem Zensus des Jahres 1931 über 10.700 Hektar (siehe Tabelle 2).

Setzt man die Gesamtbevölkerung zur Gesamtfläche in Beziehung, ergibt sich für 1931 eine geringe Bevölkerungsdichte (6.125 Personen pro Hektar). Die Gesamtfläche bezieht jedoch weite Gebiete ein, die aus unbewohnbaren Berghängen bestehen. Das bewohnte Gebiet ist im Vergleich dazu klein. Nimmt man einen der örtlichen Busse, oder folgt man einer der beiden Eisenbahnlinien – von denen eine unten im Tal verläuft, die andere in den Westhang eingeschnitten ist –, dann gewinnt man den Eindruck einer beträchtlichen Bevölkerungsdichte. Oft ist nicht leicht zu sagen, wo das eine Dorf beginnt und das andere aufhört. Die Dörfer ziehen sich den Westhang hinan und auch ein wenig darüber hinaus.

Illustration

Das Eastern Valley, Monmouthshire, Südwales

Tabelle 2: Fläche in Hektar

 

Blaenavon

1.867

 

 

Abersychan

4.096

 

 

Pontypool

94

 

 

Panteg

2.257

 

 

Cwmbran

728

 

 

Llantarnam

1.658

 

 

 

10.700

 

Inwieweit die Leute des Eastern Valley ihren Ursprung und ihr gesellschaftliches Erbe mit den Leuten von Südwales gemeinsam haben, konnte nicht in Erfahrung gebracht werden. Vom gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Standpunkt aus bildet das Tal heute mit ähnlichen Tälern in Südwales jedoch eine Einheit – sie haben zusammen Perioden der Prosperität und des Niedergangs erlebt. Diese Gemeinsamkeit wurde dadurch bestärkt, dass der Großteil des Eastern Valley unter die „special areas“ aufgenommen wurde, wie dies im Special Areas Act 1934 festgelegt ist.

Der Kohlenabbau ist der Hauptindustriezweig des Tales; alle anderen Arten von Industrie sind zahlenmäßig von relativ geringer Bedeutung. Tabelle 3 wurde aus Zahlenmaterial zusammengestellt, das vom Arbeitsministerium zur Verfügung gestellt wurde, und zeigt die Anzahl der Versicherungsnehmer in den wichtigsten Industriezweigen im oberen Teil des Eastern Valley (von Blaenavon bis einschließlich Pontypool) für den Juli 1937.5 In diesen Industrien gibt es praktisch keine Arbeiter, die nicht versichert sind.6

Zwar hatte sich die Situation vor und nach 1937 durch die vorherrschende Depression geändert, doch war zum Erhebungszeitpunkt der Kohlenabbau noch immer der bei Weitem bedeutendste Industriezweig der Region. Zieht man die Metallindustrie in Betracht, die von der Kohle abhängig ist und während ihrer gesamten Geschichte mit dem Kohlenabbau eng verflochten war, dann tritt die Bedeutung der Kohleförderung noch deutlicher hervor.7

Tabelle 3: Bei den Arbeitsämtern in Blaenavon und Pontypool (unter Einschluss von Abersychan) gemeldete Arbeitslose zwischen 16 und 64, absolut und in Prozenten Kohlenabbau

 

Anzahl

%   

Kohlenabbau

8.030

49,4

Koksereien und Nebenprodukte

180

1,1

Stahl- und Eisenerzeugung

2.570

15,7

Handel

1.370

8,5

Bauindustrie

690

4,3

Weißblecherzeugung

490

3,0

Lokalverwaltung

470

2,9

Öffentliche Bauten

290

1,8

Allgemeine Reparaturarbeiten

200

1,2

Sonst ge industrielle und Dienstleistungsbetriebe

1.970

12,1

 

16.260

100,0

Schon seit mehr als 150 Jahren findet die Bevölkerung im Bergbau Beschäftigung. Wilkins erwähnt, dass es um 1750 Anlagen bei Taibach gab und dass in Cwmbychan, einem bei Cwmavon abzweigenden Seitental, Kohle gefördert wurde.8 Seit Anfang des 19. Jahrhunderts wird dort Kohle und Erz im Tagebau gefördert. Ein Hochofen wurde angelegt; 1838 wurde im Bezirk zum ersten Mal Kupfer erzeugt. In der Hütte von Cwmavon wurde damals Kupfer, Eisen und Zinn erzeugt. 1845 soll die Gesellschaft in Cwmavon 34.556 Tonnen Kohle gefördert haben. Es war üblich, so jung wie möglich mit der Arbeit in der Grube zu beginnen. Vor hundert Jahren wurden sechs- oder siebenjährige Knaben in die Kohlengrube mitgenommen; sie begleiteten ihre Väter und Mütter und lernten rasch, ihren Teil beizutragen. Das Alter, in dem man mit der Arbeit begann, wurde allmählich angehoben, doch für die meisten der Burschen blieb es eine Unvermeidlichkeit, zum frühesten gesetzlich möglichen Zeitpunkt die Arbeit in der Grube aufzunehmen.

Heute haben nur sehr wenige Menschen irgendeine persönliche Erinnerung an das Landleben, oder irgendein Wissen darüber. Da wir uns hier jedoch am Rande des Kohlenreviers befinden, bestehen Verbindungen zum ländlichen Gebiet jenseits des östlichen Kammes, und auch ein bestimmtes Wissen darüber. Wenn die Leute über die Vergangenheit und ihre frühen Erinnerungen sprechen, dann reden sie im Allgemeinen von den Arbeitsbedingungen, von Streiks und Unfällen; manchmal jedoch erwähnt jemand eine persönliche Erfahrung aus dem Leben jenseits der Berge, und dann tritt eine tiefe Sehnsucht nach einer derartigen Lebensweise zutage.

Diese seltenen Berührungen haben allerdings die Wünsche und Träume nur sehr weniger Menschen beeinflusst. Die Einstellung der überwiegenden Mehrheit wird von einer industriellen Tradition bestimmt, die durch mehrere Generationen hindurch geformt und weitergereicht wurde. Diese Tradition ist vor allem von der Arbeit in den Kohlengruben und dem damit verbundenen gesellschaftlichen Leben geprägt.

Wie in allen anderen Kohlenrevieren ist auch in Eastern Valley das Hauptmerkmal dieser lebendigen Tradition ein ausgeprägter Gegensatz zwischen den Eigentümern der Bergwerke und den Bergarbeitern; dieser Gegensatz ist stärker als jener, den man im Allgemeinen zwischen Arbeitgebern und Arbeitern in anderen Industriezweigen findet. Das besondere Ausmaß von Verbitterung auf Seiten der Bergarbeiter ist nicht leicht zu analysieren, dürfte aber wahrscheinlich auf die ständige Lebensgefahr – ein Risiko, das fast immer davon abhängt, wie die Bergbaubetriebe geführt werden und ausgerüstet sind – zurückzuführen sein, sowie auf die Größe des modernen Bergbaubetriebes, die im Allgemeinen persönlichen Beziehungen zwischen Männern und der Betriebsleitung im Wege steht. Da kein direkter Kontakt zu den Verbrauchern der Kohle besteht, haben die Bergarbeiter darüber hinaus noch das Gefühl, dass sie nur für die Eigentümer der Bergwerke produzieren; und die Spanne zwischen ihren Löhnen und dem Marktpreis der Kohle verstärkt ihr Gefühl, ausgebeutet zu werden. Vom Standpunkt der Eigentümer aus betont die Entwicklung der Preise und Gewinne in den letzten Jahren diesen Gegensatz zwischen ihren Interessen und jenen der Arbeiter. Bis 1932 wurden pro geförderte Tonne Kohle noch Gewinne erzielt; ab 1933 jedoch wurde nur mehr mit Verlust produziert.

Dieser Gegensatz zwischen Eigentümern und Arbeitern wird von letzteren als Konflikt zwischen den riesigen Bergbaugesellschaften und den ständig mächtiger werdenden Gewerkschaften wahrgenommen. Die kollektiven Bemühungen der Arbeiter gegenüber der überwältigenden Macht der Grubenbesitzer werden von den Gewerkschaften repräsentiert und scheinen kaum darüber hinauszugehen. Der Kampf um eine Verbesserung des Lebensstandards, auf den sich fast all ihre Verbitterung und ein Großteil ihrer Organisationsfähigkeit konzentrierten, wurde über die Gewerkschaften geführt. Das letzte Beispiel dieses Konflikts lieferte der Generalstreik 1926; noch heute erinnern sich arbeitslose Männer mit großer Begeisterung an diese Wochen des Kampfes um bessere Bedingungen.

Angesichts ihrer Einbettung in denselben wirtschaftlichen Komplex war es dennoch vielleicht unvermeidlich, dass die Bergwerkseigentümer und die Gewerkschafter zu Kompromissen gezwungen waren. Die Eigentümer haben eingesehen, dass sie sich mit der Existenz der Gewerkschaften abfinden müssen; die Gewerkschaften versuchen nicht, das gesamte großindustrielle System zu verändern, sondern haben sich ihrerseits damit praktisch abgefunden und versuchen nur, für den Arbeiter so viel wie möglich aus ihm herauszuholen. Dieses Hinnehmen der Industrie in ihrer gegenwärtigen Form ist das wesentlichste Merkmal der gewerkschaftlichen Betätigung; nichts davon zielt auf den Umsturz des Systems ab.

Ein weiteres wichtiges Element der gegenwärtigen Einstellung der Bergarbeiter liegt darin, dass ein System, nach dem der Wert eines Mannes an seinem Wochenlohn gemessen wird, allgemeine Anerkennung findet. Früher stand der Verdienst in Beziehung zur körperlichen Leistungsfähigkeit und zur Geschicklichkeit; diese Eigenschaften sind nun gegenüber den nackten Zahlen in den Hintergrund getreten.

Diese Einstellung wurde durch das spekulative Element der Kohlenindustrie, die wechselnden Phasen des Aufschwungs und des Niedergangs, noch weiterentwickelt. Bei günstiger Wirtschaftslage bewog das hohe Einkommen die Bergarbeiter dazu, sich ihrer Arbeit voll zu widmen und die ständigen Gefahren und Härten der Grubenarbeit auf sich zu nehmen. In schlechten Zeiten wurden sie von der Angst um ihre Existenzgrundlage angetrieben, wenn auch ihr Verdienst nicht ausreichte, sie im gleichen Ausmaß wie vorher zufriedenzustellen. Für Arbeitsfreude und die Befriedigung eines schöpferischen Drangs war in solchen Phasen der Unsicherheit kein Platz. In diesem industriellen System war jedoch ein gewisses Maß von Gleichheit verwirklicht, das den Vorstellungen der Bergarbeiter über soziale Gerechtigkeit die Grundlage lieferte. Jeder Einzelne wurde je nach Leistungsfähigkeit behandelt und bezahlt. Ein feststehendes Verhältnis zwischen Arbeitsleistung und Arbeitslohn war die Basis dieser Gleichheit. Dieses Verhältnis war im Stücklohnsystem verkörpert, das den Männern als Ausdruck der sozialen Gerechtigkeit erschien. Wenn sie sich mit Unmut über die Ungleichheit in der Welt äußerten, dann bezogen sie sich damit auf bestimmte Personen, die außerhalb dieses Systems standen, in dem Leistung und Lohn zueinander in Beziehung gesetzt wurden – die Eigentümer und Manager. Gleichzeitig wollten sie das System nicht unmittelbar auf den einzelnen Arbeiter angewendet wissen. Sie waren daran gewöhnt, in Gruppen zu arbeiten und den Lohn ihrer gemeinsamen Anstrengungen nach eigenem Ermessen untereinander aufzuteilen. Dieses System erzeugte das Gefühl einer gewissen Freiheit bei der Bestimmung ihres Einkommens und einer echten Kameradschaftlichkeit und Interessengemeinschaft bei der Arbeit.

Mit ganz wenigen Ausnahmen sind die arbeitslosen Männer Mitglieder der Gewerkschaft geblieben und zahlen die von ihnen verlangten herabgesetzten Beiträge. Der Wert der Gewerkschaftsbewegung wurde von ihnen nie in Zweifel gezogen – ihre Vorteile waren allzu offensichtlich. So begann zum Beispiel ein Teilnehmer des Programms einmal eine Diskussion über die Gewerkschaftsbewegung und stellte sich als ihr Gegner heraus. Er wurde von allen anderen heftig angegriffen und schließlich aus seiner Arbeitsgruppe ausgeschlossen, sodass er in Zukunft ganz allein arbeiten musste.

Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft ist nicht an eine bestimmte politische Einstellung gebunden. Manchmal fielen wohlwollende Äußerungen über die nicht parteipolitische Haltung der Gewerkschaft in Fragen der Arbeitsbedingungen. Von den Männern des Eastern Valley ist ein beträchtlicher Anteil politisch interessiert; bei den Frauen ist dieses Interesse weniger stark ausgeprägt. Zwischen den politischen und den gewerkschaftlichen Einstellungen der Männer bestehen oft bemerkenswerte Unterschiede; hier gibt es deutliche Widersprüche. Ihr politisches Verhalten, ihr politisches Wissen, ihre politischen Prinzipien und ihr politisches Glaubensbekenntnis unterschieden sich oft erstaunlich voneinander.

Das Bedürfnis nach einem politischen Etikett – einem Namen, unter dem sich politische Ideen und Programme relativ einfach zusammenfassen lassen – wird im Eastern Valley ebenso deutlich empfunden wie anderswo. Ein ehemaliger Bergarbeiter, der jetzt in einer Weißblechfabrik arbeitete, drückte dies ganz deutlich aus: „Eine politische Auffassung“, sagt er, „macht erst eine einheitliche Persönlichkeit. Sie hilft dir dabei, dir bei verschiedenen Gelegenheiten eine Meinung zu bilden.“

Beurteilt man das politische Verhalten nach den Wahlergebnissen, so zeigt sich, dass nach dem Niedergang der Liberalen vorwiegend Labour gewählt wird. Allgemein gesprochen, haben die kleinen Städte und Dörfer nun eine Mehrheit für Labour im Gemeinderat. Es gibt jedoch nur wenige aktive Mitglieder der Labour Party; die Gruppe jener, die mit dem Kommunismus sympathisieren, ist noch kleiner. Liberale und Konservative sind selten, besonders unter der männlichen Arbeiterschaft.

Ein anderer Aspekt ihres politischen Verhaltens zeigt sich in ihrer Zeitungslektüre. Der „Daily Herold“9 wird bei Weitem am häufigsten gelesen. Doch ist jede der großen Londoner Zeitungen im Tal vertreten; sie stoßen auf weit größeres Interesse als die örtlichen Tageszeitungen. Die örtlichen Wochenzeitungen finden allerdings weit mehr Anklang. Die Wahl der Zeitung scheint von vielen verschiedenen Gründen bestimmt zu sein, darunter auch von der Tatsache, dass die Zeitungen ihren Stammlesern verschiedene Vergünstigungen anbieten. So wird die politische Färbung der Zeitung oft übersehen. In einer Familie neigte der Mann zur Labour Party, die Frau zu den Liberalen. Am Sonntag wurde „The People“10 gelesen. Auf die Frage nach der politischen Einstellung des Blattes, sagte der Mann „Sozialistisch“, die Frau „Liberal“.

Einige der Männer verfügten über ein umfangreiches, wenn auch bunt gemischtes Wissen über innen- und außenpolitische Tatsachen, das die Beobachterin immer wieder überraschte. Ihr Wissen über andere Länder übertrifft das Wissen von Mitgliedern der Arbeiterschicht in verschiedenen kontinentalen Ländern bei Weitem. Man sitzt im Haus eines Bergarbeiters, weit entfernt von allen Bus- und Eisenbahnverbindungen und man erkennt plötzlich, dass diese Männer bewussten Anteil an jener gewaltigen Organisation haben, die als das Britische Weltreich bekannt ist. Jeder hat entweder einen Verwandten oder kennt irgendjemandes Sohn, der sich gerade in Indien oder sonst wo auf der Welt aufhält. Dies verleiht ihnen ein unbehauenes geographisches Interesse und Wissen, das weit wirksamer ist, als ihnen in der Schule beigebracht wurde. Auch über die jüngere Geschichte Englands zeigen sie sich recht gut informiert.

Es gibt allgemeine Übereinstimmung darüber, dass die aktive Anteilnahme an Politik steigt, wenn Wahlen vor der Tür stehen. Dies konnte nicht direkt beobachtet werden, da zur Zeit der Erhebung keine Wahlen stattfanden; es wäre nicht uninteressant herauszufinden, ob in solchen Zeiten die politischen Regeln und Prinzipien beibehalten werden, die in ruhigeren Zeiten Geltung haben. Zu diesen gehört – in auffälligem Gegensatz zu Kontinentaleuropa – die Idee der Fairness in der politischen Auseinandersetzung. So sagte ein Mann der Labour Party unter Zustimmung aller Anwesenden in einer Diskussion: „Man muss gegenüber den Kapitalisten fair sein.“ Und ein anderer fügte hinzu: „Wir wollen bloß einen anständigen Lohn. Soll doch der Kapitalist den Großteil des Gewinnes haben; er trägt immerhin das Risiko.“

Die Beziehung zwischen den politischen Ideen und Prinzipien dieser Männer und bestehenden politischen und sozialen Gruppierungen und Institutionen ist nicht leicht zu bestimmen. Wenn sie sich über die örtlichen Behörden oder die britische Regierung äußern, etwa über die fehlende Wohnbautätigkeit, die Lebenshaltungskosten, die Verhandlung mit Italien11 oder die Feststellung der Vermögensverhältnisse durch die Arbeitsmarktverwaltung, dann wird mit Kritik nicht gespart; am Ende jedoch wird übereinstimmend festgestellt, dass „England trotz allem das beste Land der Welt ist“. In dieser Sache sind sich Sozialisten und Kommunisten, Liberale und Konservative einig. Denn „in diesem Land braucht niemand zu verhungern und jeder kann sagen, was er sich denkt“. Offensichtlich haben die politischen Schwierigkeiten auf dem Kontinent die Vorzüge ihres eigenen Landes in besonders hellem Licht erstrahlen lassen und die Ansprüche gesenkt, sodass sogar Männer, die seit langen Jahren arbeitslos sind, mit den allgemeinen Richtlinien der Regierungspolitik im Großen und Ganzen übereinstimmen.12

Allerdings stellen sich die arbeitslosen Männer in politischen Diskussionen nicht als Individuen, sondern im Allgemeinen als eine soziale Gruppe dar. Dieses „Klassenbewusstsein“, wenn man es so nennen kann, erweckt in ihnen den Eindruck, dass sie einen mehr oder weniger direkten Einfluss auf die politische Maschinerie haben, wenn auch die Fähigkeit, die Wirkungsweise dieses Einflusses klar zu beschreiben, fehlt.

Zwei verschiedene ideologische Glaubenssysteme sind im Eastern Valley populär. Von diesen ist die nationalistische Einstellung schwächer ausgeprägt und weniger weit verbreitet. Die nationalistische Propaganda war in den letzten Jahren recht rührig, doch werden die politischen Ziele der Bewegung nicht überall verstanden und üben nur geringe Anziehungskraft aus. Der Einfluss nationalistischer Gefühle ist vielleicht im kulturellen Bereich am stärksten.

Andererseits ist der Glaube an den Sozialismus bei fast allen Arbeitern anzutreffen. Dieses Glaubenssystem hat allerdings mit den gegenwärtigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen wenig zu tun. Es ist utopisch und mit religiösen Glaubensvorstellungen aufs Engste verwandt. Sozialismus bedeutet die Verwirklichung der Prinzipien des Christentums. Einander zu helfen, seinen Nächsten zu lieben, selbstlos zu sein – das ist christlich und sozialistisch. All dies ist von ihrem praktischen politischen Handeln so weit entfernt, dass niemand überrascht war, als ein Laienprediger den Sozialismus als Ausdruck des Christentums darstellte, obwohl jeder der Anwesenden wusste, dass er als „konservativ bis in die Knochen“ bekannt war.

So sind die politischen Ideen dieser Menschen keineswegs so fest umrissen wie ihre wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vorstellungen über das durch die Bergwerksgesellschaften und die Gewerkschaften repräsentierte industrielle System. Neben diese Vorstellungen tritt die Religion als weitere wichtige Säule des ideologischen Gebäudes der Bevölkerung. Die Zersplitterung der Bevölkerung in viele verschiedene kirchliche Gemeinschaften und Sekten ist ein bekanntes Merkmal des südwalisischen Kohlereviers. In den städtischen Gebieten von Blaenavon, Abersychan, Griffithstown, Garndiffaith und Cwmbran gibt es: 8 anglikanische Kirchen, 4 römisch-katholische Kirchen, 1 römisch-katholisches Kloster, sowie kleinere Gotteshäuser zahlreicher verschiedener Bekenntnisse – 13 baptistische, 3 calvinistische, 12 der Kongregationalisten, 11 methodistische, 1 presbyterianisches, 3 der Mission, 2 der Heilsarmee, 1 der Kirche Christi, 2 apostolische, 2 der Kirche „der Natur und des Geistes“ sowie eine theosophische Gesellschaft. Daneben gibt es auch einige Glaubensgemeinschaften, die über kein eigenes Gotteshaus verfügen, wie z.B. die Quäker, die Sieben-Tage-Adventisten, die Zeugen Jehovas, die Buddhisten usw.

Seit mehreren Generationen hat die Arbeit unter Tag die Leute des Tals immer wieder mit Gefahr und Tod konfrontiert und hat ihnen gezeigt, wie über Fragen von Tod und Leben entschieden wird, ohne dass Menschen dies voraussehen können. Dies hat sie einerseits begierig gemacht, an allen Lustbarkeiten und Vergnügungen teilzunehmen, solange sie noch leben. Andererseits entstand dadurch ein fatalistischer Glaube an die Macht der Vorsehung und eine tief empfundene religiöse Hingabe. Wenn es Gottes Wissen und Entscheidung vorbehalten ist, wessen Schicksal es sein wird, als nächster in einem Grubenunglück zu sterben, dann braucht man nicht zu zittern, wenn man die Schicht antritt. Was ihnen Religion bedeutete, wurde gegenüber der Beobachterin vom einen oder anderen der Männer sehr deutlich ausgedrückt:

So sagte ein Grubenarbeiter: „Wir müssen unserem Schöpfer vertrauen. Wissen wir überhaupt, ob wir morgen noch am Leben sein werden?“ Ein arbeitsloser Bergarbeiter: „Ich glaube an Gott, aber nicht an die Kirchen und Kapellen. Ich glaube besonders dann, wenn ich krank bin, oder in Gefahr. Darüber zu diskutieren ist schwer. Es gibt so viel, das dich denken lässt, dass es kein höheres Wesen gibt. Und doch höre ich nicht auf zu glauben. Ich denke, es erleichtert den Tod.“

Diese tief religiöse Haltung, eine persönliche Beziehung zu Gott und zu einer persönlichen Idee von Gott, machte sich immer wieder, auch in außerreligiösen Dingen, bemerkbar. Einige Beispiele können dies illustrieren: Anfang 1938 ereigneten sich zwei Begebenheiten von allgemeiner Bedeutung: das Nordlicht und die Eden-Krise13