MEINE REISE IN DIE ARKTIS
Aus dem Französischen von Annika Klapper
Die Arbeit der Übersetzerin wurde durch den
Deutschen Übersetzerfonds gefördert.
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel
Briser la glace bei Éditions Paulsen, Paris.
Copyright © Éditions Paulsen, 2016
© 2020 by mareverlag, Hamburg
Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann, mareverlag
Abbildung Curtis Jones
Typografie (Hardcover) mareverlag, Hamburg
Datenkonvertierung E-Book Bookwire
ISBN E-Book: 978-3-86648-381-1
ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-605-8
www.mare.de
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
Dank
Einige Meter entfernt steht der Bär auf seinen Hinterbeinen und rührt sich nicht. Beim Anblick des obersten Glieds in der Nahrungskette halte ich den Atem an; das ist das Mindeste, was man tun kann, wenn man den König des Packeises anstarrt. Ich weiß, welche Kraft in diesen Zentnern aus Muskelmasse steckt, in diesen scharfen Krallen, die Robben (oder Menschen) zu enthaupten vermögen, in diesen Kiefern, die jeden Knochen in meinem Körper zermalmen können.
Ich trete einen Schritt vor, lasse ihn nicht aus den Augen.
Der Eisbär bewegt sich immer noch nicht.
Ich muss jetzt eine wichtige Entscheidung treffen.
Soll ich wegrennen oder mich tot stellen?
Brüllen und mit den Armen fuchteln?
Oder aber diese Postkarte kaufen, auf der das Wappentier der Arktis zu sehen ist, darüber der Schriftzug »Welcome to Greenland«?
Ich entscheide mich für Letzteres und warte brav an der Kasse des Duty-free-Shops. Meine Lage ist zwar deutlich ungefährlicher als eine echte Begegnung mit einem Eisbären, aber dennoch heikel: Vier Stunden muss ich bis zu meinem Anschlussflug totschlagen, und im Umkreis von 130 Kilometern hat keine einzige Bar geöffnet.
Das Konzept von Kangerlussuaq ist durchaus originell: ein Ort mit internationalem Flughafen mitten im Nirgendwo. Der Knotenpunkt des grönländischen Luftverkehrs, das Tor zu diesem Land, leistet sich nicht den Luxus einer Stadt, nicht einmal den einer Straße, die ihn mit der nächsten Stadt verbindet.
Einige Dutzend Hütten beherbergen die paar Einwohner, die alle mehr oder weniger vom Flugbetrieb abhängig sind. Eine Handvoll Souvenirgeschäfte, eine Jugendherberge, eine Post. Ein langes, rechteckiges Gebäude, laut Schild ein pisiniarfik. Der Klang dieses Wortes weckt meine Neugier, und ich gehe die wenigen Stufen hinauf zur Eingangstür. Ein Supermarkt. Langeweile ist ein starker Antrieb, also betrete ich den Laden und entdecke auf einem letztlich begrenzten Raum ein breit gefächertes Warenangebot aus Orangen, die nach nichts schmecken, Engelsfiguren aus Gips und Schrotflinten. Nur noch drei Stunden, dreißig Minuten bis zum Abflug.
In der Wartehalle des Flughafens wirbt der Schalter einer Reiseagentur für eine Tundra-Safaritour mit freier Sicht auf die Moschusochsen in der näheren Umgebung. Abfahrt sofort. Ich besteige einen Minibus zusammen mit einer deutschen Familie und einem dänischen Guide, der roboterartig sein Wissen über die Gegend abspult. Kangerlussuaq hat weniger als sechshundert Einwohner. Der Flughafen ist ein ehemaliger amerikanischer Militärstützpunkt, der während des Zweiten Weltkrieges eingerichtet und 1992 für einen symbolischen Dollar an Grönland abgetreten wurde. Den Standort hatte man aufgrund des stabilen Klimas ausgewählt. Die Lage auf halbem Weg zwischen Europa und den USA – ideal für das Betanken der Bomber – verlieh den Alliierten einen entscheidenden geostrategischen Vorteil im Kampf gegen die Nazis. Dieses Kapitel der Geschichte wird nicht ausreichend gewürdigt: Gäbe es Grönland nicht, wären wir jetzt alle in Germanien.
Heute gibt es keine Soldaten mehr in Kangerlussuaq, gerade mal einen Polizisten, nicht der Rede wert. Ein seltsames Gefühl, beim Herumgehen auf einem Flughafen nicht auf bis an die Zähne bewaffnete Patrouillen zu stoßen. Bloß ein misslicher Umstand, der sich so hinterlistig in unseren westlichen Alltag geschlichen hat, dass wir ihn schon gar nicht mehr wahrnehmen. Wir befinden uns im Krieg, ohne wirklich zu wissen, gegen wen, und wir finden uns resigniert damit ab.
Ich verjage diese düsteren Gedanken und lasse den Blick über die Landschaft schweifen. Entgegen einer weitverbreiteten Vorstellung ist Grönland nicht komplett von Eis bedeckt. Wir fahren weiter in die Tundra hinein. Die Erde ist braun und karg, ohne Bäume, die diesen Namen verdient hätten. Lediglich vom Wind gebeutelte Sträucher, Büsche, Moose und Flechten. Sie alle winden sich um Felsen, bedecken eine Hügellandschaft, die auf die ewig weiße Polkappe zuläuft.
»Zu Ihrer Linken sehen Sie den nördlichsten 18-Loch-Golfplatz der Welt.«
In den 1980er-Jahren haben die Piloten von Air Greenland diesen Platz geplant, offenbar um bei den Zwischenstopps nicht vor Langeweile zu vergehen. Heute liefert er den Reiseführern eine Anekdote, ein Mini-Weltrekord kann schließlich nicht schaden.
Der Bus hält am Ende einer Piste oben auf einem Hügel an, direkt vor einem von Kugeln durchsiebten Schild mit der Aufschrift »Jagen verboten«. Ich will Moschusochsen sehen (Ovibos moschatus), wie mir versprochen wurde. Sein Name verrät es nicht, aber der Moschusochse zählt eigentlich zu den Ziegenartigen. Man würde ihn automatisch mit einem Yak oder Bison vergleichen, aber in Wahrheit handelt es sich um eine Ziege, die mit verdeckten Karten spielt: Ihr Fell schleift auf dem Boden, weil sie keinen Sinn für Ordnung hat. Die Grönländer nennen den Moschusochsen Ummimak, »das Tier, dessen Fell wie ein Bart aussieht«. In meinem Notizbuch halte ich fest: »Der Moschusochse – Dschihadist oder Hipster?« Weder noch, er ist eine 300 Kilogramm schwere Ziege, die ich trotz des Fernglases, das uns der Guide in die Hand gedrückt hat, nicht ausmachen kann. Es ist Sommer, Paarungszeit, der Moschusochse hat Besseres zu tun, als die Neugier der Touristen zu befriedigen, er muss seinen Rivalen ein paar kräftige Stöße mit den Hörnern verpassen, bevor er sich mit seinen Eroberungen vergnügen kann. Ich steige wieder in den Bus, ohne das Abbild eines Moschusochsen auf meiner Netzhaut.
Schöne Abzocke, diese Tundra-Safaritour, meckere ich vor mich hin und nehme im Flughafenrestaurant Platz. Aus Rache bestelle ich einen Moschusochsenburger, den ich voller Groll verspeise. Nur noch zwei Stunden bis zum Abflug.
Gut gesättigt lege ich mich auf die Restaurantterrasse, mit Blick aufs leere Rollfeld, und versuche, mich bei einer Siesta zu erholen. Ich trage nur ein T-Shirt, meinen Pulli habe ich ausgezogen, er dient als Kopfkissen. Doch nichts mit Schlafen, die Sonne knallt vom Himmel. Von mir aus kann es gern Mitte August sein, aber ich befinde mich hier nördlich des Polarkreises und komme um vor Hitze. Irgendetwas stimmt da nicht.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als den kleinen Haufen Menschen im Transitbereich zu beobachten und daraus ein paar Erkenntnisse zu gewinnen. Ich bin kein Ethnologe, man sollte also nicht erwarten, dass ich die Verwandtschaftsverhältnisse in abgelegenen Gemeinschaften untersuche. Zwar hege ich für die altüberlieferten Weisheiten der Urvölker großen Respekt, aber trotzdem reiße ich mich nicht unbedingt darum, sechs Monate lang in einem Iglu zu hausen und mir traditionelle Sagen anzuhören, ganz zu schweigen davon, dass dies schon so manch einer vor mir versucht hat – und zwar ziemlich erfolgreich. Vorerst gebe ich mich damit zufrieden, eine knappe Nomenklatur der Flughafenbevölkerung zu erstellen. Diese gliedert sich in folgende drei Gruppen:
Auf den ersten Blick unterscheidet sich ein Grönländer nicht wirklich von einem Spanier oder Kenianer. Wie alle Arten des Homo sapiens verbringt er den Großteil seines Lebens damit, auf einem Smartphone herumzutippen und dabei das Wetter zu kommentieren. Hier wie anderswo übt sich der Durchschnittsmann in der Nase bohrend in Geduld, ohne daran zu denken, dass andere ihm dabei zusehen könnten. Hier wie anderswo putzt sich die junge Frau heraus. Ich sehe eine Studentin mit grün gefärbten Haaren, Mädchen in engen Hosen, eine Jacke mit Leoparden-Print, Piercings. Hier wie anderswo trägt die Frau in den Wechseljahren oft einen Kurzhaarschnitt und Jogginganzug – Verführen gehört nicht mehr zu ihren Prioritäten.
Man muss kein Migrationshistoriker sein, um zu erkennen, dass ihre Vorfahren die Beringstraße überquert haben. Diese Gesichter würden in der Mongolei oder anderen Gegenden des Fernen Ostens nicht groß auffallen. Von dort kamen die Ahnen der Inuit nämlich vor etwa zwölftausend Jahren, als sie von Asien nach Nordamerika und später weiter nach Grönland wanderten, immer dem Wild hinterher, das schon damals infolge des Klimawandels weiterzog.
Der durchschnittliche Grönländer ist nicht sehr groß, man hat es eher mit stämmigen, gedrungenen und robusten Menschen zu tun. Ich schätze, ein Evolutionsforscher könnte beweisen, dass diese Physis der Anpassung an die Umgebung geschuldet ist, denn so ein tiefer Körperschwerpunkt verschafft einem auf dem rutschigen Packeis mehr Halt. Die Dame vor mir, die mit der Leopardenjacke, verfügt über eine Fettschicht, die sicherlich gut gegen Kälte schützt. Ich stelle auch fest, dass die Kombination Birkenstock mit Socken hier weit verbreitet ist. Das ist womöglich auf den historischen Einfluss Dänemarks zurückzuführen, was wiederum die These stützen würde, der Däne sei nichts weiter als ein Norddeutscher, wohingegen er uns glauben machen möchte, er sei ein Südskandinavier – und dies trotz kartografischer Eindeutigkeit.
Unter den wartenden Fluggästen sind die Dänen die Riesen. Die Wissenschaft bestätigt meine Beobachtung: Die Dänen sind extrem hochgewachsen, genauso wie die Holländer. Überwiegend Männer, die allein und geschäftlich unterwegs sind, Aktenkoffer in der Hand. Sie nehmen eine postkoloniale Haltung ein, überlegen und befangen zugleich, leicht abgespannt und keineswegs aufgeregt angesichts der bevorstehenden Reise. Ihre Vorfahren hingegen kamen im 18. Jahrhundert mit Feuerwaffen, Lutherbibeln und einem ausgeprägten Handelssinn hierher. Drei Jahrhunderte später besitzt Dänemark noch immer die Hoheitsgewalt über dieses Gebiet, auch wenn Grönland inzwischen über weitgehende politische Autonomie und eine eigene Regierung verfügt.
Die meisten von ihnen sind Backpacker aus aller Welt, schon jetzt von Kopf bis Fuß in North Face gekleidet, sodass sie sofort loswandern können, dabei werden sie in zwanzig Minuten erst einmal ins Flugzeug steigen.
Vorfahren haben sie keine. Denn in den Urlaub zu fahren, um im Morast herumzulaufen, ist eine erst spät aufgetretene menschliche Angewohnheit, deren Ursprünge in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts anzusiedeln sind.
So sieht also meine Ankunft in einem Land aus, in dem sich Ziegen als Ochsen verkleiden, jeder Minimarkt Knarren verkauft und wo man mit Gamaschen ins Flugzeug steigt. Auf einem Schild steht »Paris 4 Stunden, 25 Minuten« und »Nordpol 3 Stunden, 15 Minuten«.
So unglaublich es auch scheinen mag: Ich bin nicht der Erste, der Grönland besucht. Eine ganze Menge Wikinger, Walfänger, Missionare, Entdecker, Forscher und Sportler haben diese Route vor mir abgesteckt. Die Erzählungen meiner mehr oder minder glorreichen Vorgänger haben unsere Vorstellungen geprägt. Unser Bewusstsein ist gespickt mit Bildern von Polarlandschaften. Hier ein Iglu im Schneesturm, dort ein paar armselige, alkoholsüchtige Eskimos und vom Aussterben bedrohte Eisbären auf schmelzenden Eisschollen. Die Realität ist natürlich nach wie vor nicht so einfach wie im Bilderbuch. Das darf man Bilderbüchern nicht übel nehmen, schließlich können diese sich nur schwer einer Welt anpassen, die sich für sie viel zu schnell verändert. Das ist der Grund, weshalb ich reise – um die Wirklichkeit ohne einen dazwischengeschalteten Bildschirm zu erfassen, wohl wissend, dass diese Wirklichkeit schon wieder Vergangenheit ist, sobald ich zur nächsten Etappe aufbreche.
Bisher galt mein Interesse eher den Tropen. Mich faszinierten die Klimazonen, in denen das Leben draußen stattfindet, wo kaum ein Unterschied zwischen Haus und Straße gemacht wird; mein Ziel war immer der Süden, die Gegenden, in denen man so leicht angezogen ist, dass man problemlos reisen, leben und lieben kann. Der Süden fördert die Beweglichkeit, man tanzt, ohne eingeengt zu sein. Ohne den Norden wirklich zu kennen, habe ich ihn immer mit Starrheit verbunden.
Doch dieser Norden rührt sich nun. Nachdem die Arktis lange als exotisches Randgebiet galt, das lediglich Abenteurern vorbehalten war, sucht sie nunmehr neue Herausforderungen. Der Klimawandel verändert die Geografie. Mit dem Schmelzen des Packeises im Sommer öffnen sich Seerouten, erste vorsichtige kommerzielle und strategische Interessen machen sich bemerkbar. Die Touristen kommen in Strömen, die multinationalen Konzerne wittern reiche Schätze im lange Zeit gefrorenen Boden. Unter dem Eis die Dollars. Der Norden orientiert sich um.
Ich will ja nur meinen Kompass neu ausrichten und Fäustlinge anziehen. Es hat gereicht, dass ein Verleger mir vorschlägt, mich in den Norden zu verziehen, und schon überfliege ich die nördlichste Region der Erde.
Die Flugbegleiterin ist eine Wucht, mit ihren blauen, mandelförmigen Augen, einer nordischen, kokettierenden Katze gleich; trotzdem schafft sie es nicht, das draußen vor dem Fenster stattfindende Schauspiel in den Schatten zu stellen. Auf der einen Seite des Flugzeuges: der Eisschild – oder auch Polkappe –, der den Hauptteil des Landes mit einer Tausende von Metern dicken Schicht bedeckt. Milliarden Kubikmeter Eis, der zweitgrößte Süßwasserspeicher der Erde. Die Kälte lähmt hier jeglichen Versuch aufkeimenden Lebens. Eine Märchenlandschaft, die einen blendet. Unendliches Weiß, durchzogen vom blauen Aufblitzen der Gletscherbäche. Ein Bild beinahe verstörender Unberührtheit, eine Landschaft, an deren Realität Zweifel aufkommen. Sind wir in ein Paralleluniversum geraten? Ganz durcheinander vom Anblick dieses unerreichbaren Wunders, wechsle ich den Platz und setze mich ans Fenster auf der anderen Seite des Ganges, wobei mich die Katzendame anmeckert.
Auf dieser Seite: das Meer, auf dem ich schon bald fahren werde. Grönland ist eine Insel, flächenmäßig sogar die weltweit größte. Unter mir liegen mehr als zwei Millionen Quadratkilometer Land. In dieses Land, das nicht wirklich eins ist, würde Frankreich viermal hineinpassen, dabei hat es weniger Einwohner als die Gemeinde Bourg-en-Bresse mit Umland. Die Gesamtbevölkerung Grönlands hätte in einem Stadion Platz. Sie konzentriert sich auf den schmalen, schwer zugänglichen Streifen Land, der sich zwischen festem und flüssigem Wasser entlangschlängelt. Dort unten kann man Fjorde ausmachen, tiefe Einschnitte im Boden, Seen, die sich in ihn eingraben; man erkennt, wie das Wasser sich bewegt und seinen Aggregatzustand ändert, um eine Landschaft zu erschaffen, aus der vereinzelt Lebenszeichen auftauchen, die sich in der unendlichen Weite verlieren. Kleine Punkte, die aufgrund der fehlenden Straßen nur über Luft- und Wasserwege miteinander verbunden sind, Orte menschlicher Wärme, hier und da entlang der Küste verstreut. Der kleine Punkt, wo wir gleich landen werden, ist die Hauptstadt.
Mit seinen stolzen 17 000 Einwohnern wird Nuuk vom Tourismusbüro mit dem Titel »Metropole der Arktis« bedacht. Und es stimmt, dass man hier Läden mit iPads findet, Museen, ein Viersternehotel, ein Sushi-Restaurant, ein thailändisches Massagestudio und ein nachgemachtes Starbucks-Café. Das Tourismusbüro erwähnt es zwar nicht, aber Nuuk ist vor allem für seine Betonklötze bekannt – eine architektonische Entgleisung und eine Katastrophe fürs Auge, Schandmale einer von den dänischen Behörden in den 1950er-Jahren eingeführten stadtorientierten Siedlungspolitik. Einfacher zu verwalten. Man nehme einen Fischer aus einem Dorf mit traditioneller Lebensweise, stecke ihn in einen Schuhkarton und mache aus ihm einen Arbeitslosen mit Fernseher in der Stadt. Und das Ganze mehrere Tausend Male. Das Ergebnis sind soziale Auswirkungen und ein Ruf, der logischerweise darunter leidet.
Nuuk ist allerdings nicht der Albtraum, als der mir diese Stadt geschildert wurde. Die Hauptstadt Grönlands ist ein netter Ort mit Hafen, einem ordentlichen Straßennetz, einem einzigen Kino, mit Beamten, die ihr Büro verlassen, durchs Einkaufszentrum bummeln und dann in ihr buntes Häuschen zurückkehren, wobei sie ihren Nachbarn herzlich grüßen. Nuuk wirkt wie eine Mischung aus, sagen wir, dem eisigen Überseegebiet Saint-Pierre-et-Miquelon und La Courneuve mit seinen Betonklötzen.
Ich habe eine bewährte Methode, um mich direkt nach Ankunft mit der Seele eines Ortes vertraut zu machen. Ich verlasse den Flughafen und gehe in die nächste Kneipe. Das habe ich von Baku bis Valparaíso ausprobiert, und ich bin nie enttäuscht worden; dabei ergibt sich immer etwas: ein erstes Abtasten der lokalen Vorlieben, eine Spur, der es zu folgen gilt, manchmal auch Freundschaften.
Ich betrete das erste Lokal, auf das ich stoße, und mache sofort wieder kehrt, denn dort sitzen ausschließlich große, blonde Typen. Ich habe nichts gegen große, blonde Männer, aber heute suche ich etwas anderes.
Ich gehe über die Straße und öffne die Tür vom Max; dieses Lokal bietet den Vorteil, dass es eine landestypischere Klientel anzieht. Max ist ein Pub. Holzverkleidung, Darts und ein gigantischer Bildschirm, auf dem ein deutsches Handballspiel gezeigt wird. Kiel liegt nach der ersten Halbzeit drei Tore zurück. An der Bar geht es lautstark hin und her, wie in allen Kneipen dieser Welt, in denen man etwas Entspannung sucht und sein Hirn betäubt. Ein Paar um die fünfzig liegt sich zärtlich in den Armen. Drei Frauen spielen an der Theke Schere, Stein, Papier und leeren dabei ein Schnapsglas nach dem anderen. Der Besitzer begrüßt mich, und dann spricht mich ein Stammgast an. Sehr schön, schließlich bin ich deshalb hergekommen. Doch leider weist unser Vokabular nur wenige Überschneidungen auf. Grönländisch, die offizielle Sprache, hat keine indogermanischen Wurzeln. Wie alle eskimo-aleutischen Sprachen ist sie polysynthetisch und ergativ. Ich wusste nicht wirklich, was das bedeutet, bevor ich mich informiert hatte, und nachdem ich mich nun informiert habe, weiß ich es immer noch nicht*. Was ich empirisch feststelle, ist, dass die Wörter aus etwa dreißig Buchstaben bestehen können und aus Phonemen, deren Bildung mein Kehlkopf nicht zulässt. Ich habe mir Mühe gegeben und kann nun »Guten Tag«, »Danke schön«, »Ich heiße Julien und bin Franzose« sagen. Das ist mein aktuelles Maximum. Meine Kenntnisse des Dänischen, das bis 2009 offizielle Sprache war, lassen zu wünschen übrig – seit Ewigkeiten habe ich Kierkegaard nicht im Original gelesen.
Offenbar versucht es mein Thekennachbar mit Englisch, auch wenn ich das wegen seiner merkwürdigen Sprechweise nicht mit Sicherheit sagen kann. Unser Gespräch dauert gute zehn Minuten, der Typ gibt Laute von sich, und ich wiederhole »Tut mir leid, Kumpel, ich verstehe nichts«. Vier Mal schüttelt er mir die Hand, ich stoße fünf Mal mit ihm an, um die Unmöglichkeit unseres Austausches zu überspielen und mein Wohlwollen zum Ausdruck zu bringen. Er klopft mir auf die Schulter, und ich beende das Ganze, indem ich pinkeln gehe.
Als ich aus der Kabine herauskomme, merke ich, wie jemand mir in den Schritt fasst. Ich schaue hoch. Eine alte Schachtel, über fünfzig, pausbäckig, mit Brille. Gut gelaunt. Ich muss unbedingt dran denken, mir Notizen zu den hiesigen, recht direkten Verführungstaktiken zu machen. Schnell begreife ich jedoch, dass sie keinerlei sexuelle Absichten verfolgt. Sie will mich lediglich darauf hinweisen, dass ich einen Penis habe (was ich wusste) und dass ich hier, auf der Damentoilette, nichts zu suchen habe. Sie zeigt auf das Schild, das ich zuvor nicht entschlüsseln konnte. Ich weiß nicht, was »Frau« auf Grönländisch heißt. Entschuldigung, die Dame (aber wenn du mich noch einmal so begrapschst, rufe ich um Hilfe).
Kurz darauf belagert mich eine isländische Touristin, die ihre riesigen Brüste unter einem Anorak versteckt. Schon mit ihrem zweiten Satz eröffnet sie mir, sie sei Dichterin.
»Glaubst du an Elfen?«
Irgendwo habe ich mal gelesen, dass zwei Drittel der isländischen Bevölkerung an Elfen glauben.
»Natürlich nicht«, antwortet sie.
Sie trinkt einen Schluck Carlsberg.
»Obwohl, eigentlich doch.«