Eine Spurensuche
Unter Mitarbeit von Andrea Böltken
und Mitwirkung von János Kemény und Oliver Musial
Mit einem Nachwort von Jan Philipp Reemtsma

Erste Auflage 2019
© Osburg Verlag Hamburg 2019
www.osburgverlag.de
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Lektorat: Wolf-Rüdiger Osburg
Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg
Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-95510-200-5
eISBN 978-3-95510-209-8
Vorbemerkung
1Ein unvermuteter Anruf
2Erste Sondierungen
3Kampf um die Rechte
4Zwischenstand: Versuche an Häftlingen
5Endlich: Die Übergabe
6Der Druck wächst: Jauch & Co.
7Zwischenstand: Häftlingsärzte in Auschwitz
8Spurensuche I: Erste Erfolge
9Das »Herzstück«
10Spurensuche II: Falsch und Fälscher
11Finten
12»Dieses kleine Wunder«
Jan Philipp Reemtsma:
Versprochener Glamour und erlogene Finsternis
Dank
Anmerkungen
Quellen und Literatur
Bildnachweis
Hochstapler sind geeignet, ihr Publikum um den Verstand zu bringen. Sie betreiben ein flirrendes Spiel aus Lüge und Wahrheit. Das macht sie interessant, ihre Geschichten oft auch lustig. Sie fordern uns in unserem Urteilsvermögen heraus, und rühren sie mit ihren Fiktionen an Unbewältigtes, Traumatisches, gilt dies in noch höherem Maße. Da lässt man sich zunächst auch auf Unwahrscheinliches ein. Denn wenn wie im folgenden Fall Auschwitz und die dort begangenen Verbrechen den Rahmen bilden, kann das tatsächliche Geschehen noch immer die eigene Vorstellungskraft sprengen. Umso wichtiger ist es, den Tatsachen auf den Grund zu gehen. Das schulden wir den Opfern und uns selbst.
Von dieser Suche erzählt dieses Buch. Ich schildere dabei die Ereignisse und Einschätzungen so, wie sie sich mir zum jeweiligen Zeitpunkt dargestellt haben.
Bogdan Musial, im August 2019
Ich hoffe, dass Magda es nicht lesen wird, und wenn doch, dann wird sie erfahren, was für ein schrecklicher Mensch ihr Großvater war, oder aber sie wird ihren Großvater bewundern und stolz auf ihn sein. Ich hoffe, die ganze Welt wird die Geschichte der Ärzte erfahren. In Auschwitz und in den deutschen Konzentrationslagern … Und die ganze Welt wird wissen […] was für ein Grauen der Faschismus war. […] Ja, ich werde sie moralisch und juristisch entlarven und anklagen, diese Apokalypse!
Memoiren, Bl. 117
»Hallo, Bogdan, Lisbeth hat dich zu ihrer Weihnachtsfeier eingeladen. Hast du Lust mitzukommen?«
Mit dieser harmlosen Anfrage einer befreundeten Ärztin begann eine wissenschaftliche Odyssee, die mich gut zweieinhalb Jahre lang intensiv beschäftigen sollte. Sie führte mich kreuz und quer durch Europa, eröffnete mir ein neues Forschungsfeld – und hätte mich meinen akademischen Ruf kosten können.
Die Anruferin war Dr. Isabel WassertI, eine Hausärztin aus meiner näheren Umgebung, die seit vielen Jahren eine enge Freundschaft mit einer vermögenden und national wie international bestens vernetzten Firmenerbin und Unternehmerin aus Süddeutschland verbindet. Jene Elisabeth LothfelsII, das wusste ich bereits aus Erzählungen, versammelt alljährlich in der Vorweihnachtszeit Familie, Freunde und Bekannte in einem Restaurant unweit ihres Wohnsitzes. Dieser Kreis war so weitläufig wie illuster, und so sagte ich, obwohl mich die Einladung überraschte, neugierig geworden zu.
Meine Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Die Villa unserer Gastgeberin, in der wir auf ihren Wunsch wie einige andere Gäste auch die Nacht verbrachten, war traumhaft gelegen und eröffnete einen herrlichen Blick in die Umgebung. Lothfels selbst erwies sich als überaus freundliche Dame Ende sechzig, agil und großzügig. Auf der Abendveranstaltung tummelten sich Prominente aus Geld- und Hochadel, Wirtschaft, Politik und Kultur, zumeist aus der näheren Umgebung, aber auch aus anderen Teilen Deutschlands; aus der Schweiz, selbst aus Asien waren Freunde angereist.
Unter den Logiergästen in der Villa befand sich auch eine enge Freundin der Hausherrin. Die distinguierte Dame in ihren Sechzigern, die mir als Professorin Kaiser-Szentágothay vorgestellt wurde, war über mein Kommen offenbar unterrichtet gewesen, denn sie begrüßte mich umstandslos als den »polnischen Professor«. Doch noch ehe sich auf meiner Seite Verstimmung über diese, wie ich fand, merkwürdige Eröffnung breitmachen konnte, bemerkte ich, dass meine Gesprächspartnerin Deutsch ebenfalls mit einem leichten Akzent sprach. Sie sei Ungarin, erfuhr ich, und habe glänzende Kontakte nach Polen. Wir kamen ins Plaudern. Nach und nach stellte sich heraus, dass Kaiser eine angesehene Virologin ist und seit Jahrzehnten als päpstliche Leibärztin im Vatikan fungiert. Sie hatte den verstorbenen Johannes Paul II. auf Reisen nach Polen begleitet, von denen sie lebhaft zu erzählen wusste, gewürzt mit Anekdoten über seine Eigenheiten und Gewohnheiten. Vieles davon hatte ich schon gehört – über den ehemaligen Kardinal Karol Wojtyła, den ersten Slawen auf dem Heiligen Stuhl, kursieren in Polen naturgemäß unzählige Geschichten. Doch ihre Schilderungen ließen auf Nähe zu den Beteiligten schließen, auch die ein oder andere lockere Bemerkung über Vatikan-Interna fiel. Welcher Religion ich denn angehöre? Da ich keine Lust hatte, über derart Persönliches zu sprechen, beließ ich es bei dem Hinweis auf meine Lehrtätigkeit an der Kardinal-Stefan-Wyszyński-Universität, der katholischen Hochschule in Warschau, deren Lehrstuhl für Studien über Mittel- und Osteuropa ich damals innehatte. Sie insistierte nicht weiter, nahm stattdessen den Gesprächsfaden wieder auf und erzählte mir etwas über die Geladenen der Weihnachtsfeier: das übliche Wer mit Wem, Nützliches, Interessantes, ein bisschen Klatsch und Tratsch. Die Professorin schien jeden zu kennen, und jeder kannte sie. Sie bewegte sich unter den Gästen wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser. Es war eine vergnügliche Begegnung.
Kurz darauf ließ Wassert mich wissen, dass Lothfels und die Professorin Kaiser mich gern einmal kontaktieren würden. Dennoch traf mich der Anruf, den ich Mitte Januar 2014 erhielt, vollkommen unvorbereitet. Am Apparat war die Professorin, und anders als auf der Weihnachtsfeier, wo ich sie inmitten all der Prominenz als souveräne Persönlichkeit kennengelernt hatte, war sie nun hörbar aufgeregt. So aufgeregt, dass Lothfels ihr bei diesem Telefonat zur Seite stehen musste. Nach einigem Hin und Her erfuhr ich, dass Kaiser es mit einem brisanten Nachlass zu tun habe. Ihr Großvater, ebenfalls Mediziner, habe ihr Schriftstücke hinterlassen, um die sie sich demnächst kümmern müsse. Brisant seien sie – so ihre Befürchtung – deshalb, weil der Großvater, ein seinerzeit angesehener Frauenarzt, als Jude in Auschwitz inhaftiert gewesen sei und dort unter dem berüchtigten Lagerarzt Dr. Josef Mengele als Häftlingsarzt habe arbeiten müssen. Er sei womöglich auch an dessen grausamen medizinischen Experimenten beteiligt gewesen. Sie wisse eigentlich nichts darüber, wolle es auch gar nicht, doch der Großvater habe in einer Schweizer Bank Unterlagen deponiert. Die Dokumente unterlägen einer Sperrfrist. Am 27. Januar 2015 laufe diese aus.
Die Angelegenheit sei für sie äußerst schwierig. Das Verhältnis zum Großvater sei ein enges gewesen, denn er habe sie nach dem frühen Tod der Eltern aufgezogen. Sie habe große Angst vor dem Inhalt der Dokumente, fühle sich aber aus Loyalität dazu verpflichtet, seinem Wunsch, die Welt über das Geschehene in Kenntnis zu setzen, nachzukommen. Sie sehe sich jedoch außerstande, sich selbst damit zu befassen; die Nähe zum Großvater stehe dem ebenso entgegen wie die Tatsache, dass sie als Leibärztin im Vatikan kein Aufsehen auf sich ziehen dürfe. Ob ich Interesse hätte, die Papiere zu sichten – und gegebenenfalls einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen?
Die Idee, die Aufgabe in die Hände eines auf diesem Feld kompetenten Historikers zu legen, stammte von Lothfels. Ihr hatte sich Kaiser im Sommer 2013 in dieser Sache anvertraut, und die Freundin hatte ihr, ihre Zustimmung vorausgesetzt, versprochen, sich darum zu kümmern. Daher also die Weihnachtseinladung – man hatte mir auf den Zahn fühlen wollen.
Das Angebot war so überraschend wie verlockend. Bislang unbekannte Aufzeichnungen eines jüdischen Häftlingsarztes aus Auschwitz, der womöglich in Mengeles Menschenversuche verstrickt war? Wenn die Andeutungen auch nur ansatzweise stimmten, konnte sich dahinter ein sensationeller Fund verbergen. Auch das Datum 27. Januar 2015 ließ mich aufhorchen. An diesem Tag jährte sich die Befreiung von Auschwitz zum siebzigsten Mal.
Ich bat um Bedenkzeit und um einige weitere biografische Angaben, um mir ein wenigstens rudimentäres Bild machen zu können.
Kurz darauf erhielt ich von der Professorin folgende Informationen: Ihr Großvater hieß Salamon Ferencz Fülöp Grósz Chorin, war am 17. Juli 1879 im siebenbürgischen Szentágota (damals Ungarn, heute Rumänien) geboren worden und am 6. April 1977 in Küssnacht bei Zürich gestorben. Der Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. hatte sich auf Anatomie, Neuroanatomie, Hirnforschung und Pathologie spezialisiert und von 1920 bis 1936 in Budapest praktiziert. Wegen der Judenverfolgung in Ungarn änderte er im Jahre 1936 seinen Namen in Ferencz Kiss (= Klein) Chorin. Außerdem ging er ins Ausland. Bis 1938 hielt er sich an verschiedenen Universitäten in Großbritannien, den USA und auch in Deutschland auf, ehe er sich schließlich in Basel niederließ. Von dort aus reiste er im Dezember 1941 anlässlich eines Familienbesuchs nach Budapest. Er wurde verraten, verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Nach der Befreiung ging er wieder in die Schweiz, nahm den Namenzusatz Szentágothay an und arbeitete von 1945 bis 1956/68 an der Züricher Frauenklinik – bis 1956 offiziell, danach bis 1968 wegen fortgeschrittenen Alters nur noch inoffiziell.
Verheiratet war er mit der Professorin und Augenärztin Rebekka Lipot, geboren am 1. August 1880, die einer angesehenen Wiener Rabbinerfamilie entstammte. Das Paar bekam sieben Söhne; die vier jüngeren (darunter ein zweieiiges Zwillingspaar) wurden wie die Mutter in Auschwitz ermordet. Die drei älteren überlebten das Vernichtungslager. Kaiser selbst kam am 13. August 1950 in Zürich auf die Welt. Ihre Mutter, die ungarische Gräfin Krisztina Batthyány, verstarb bei der Geburt, der Vater kurz darauf bei einem Autounfall.
Selbst diese dürftigen Informationen, ließ mich die Professorin wissen, könne sie mir nur unter Vorbehalt geben. Sie wisse eigentlich nichts über ihre Familiengeschichte. Ihr Großvater sei ein sehr verschlossener Mann gewesen. Über die Vergangenheit habe er so gut wie nie gesprochen, sich, wenn überhaupt, nur in Andeutungen ergangen. Am ehesten habe ihn noch seine langjährige Haushälterin Elly Ostertag gekannt. Die sei jedoch 1991 verstorben.
Das war tatsächlich wenig, aber dass mündlich tradierte Biografien lücken- und fehlerhaft sind, zumal wenn sie um traumatische Erlebnisse kreisen, liegt in der Natur der Sache. Erste Recherchen würde ich anhand der Daten jedoch anstellen können. Da bis zur Einsichtnahme in die Dokumente noch ein Jahr vergehen sollte, bat ich darum, wenigstens das Schließfach einmal in Augenschein nehmen zu dürfen – ich wollte sichergehen, dass sich überhaupt etwas darin befand. Und hoffte, wenn ja, abschätzen zu können, um wie viel Material es ging.
Mitte Februar erhielt ich von der Professorin die Nachricht, sie habe sich das Schließfach Nr. 268 bei der SNB Zürich im Beisein eines Bankmitarbeiters angesehen. Es enthalte sechs Pakete mit folgenden Aufschriften,1 die sie ins Deutsche übertragen habe:
1.
Aufzeichnung
Auschwitz
Auschwitz BII
1943–1944
Siegel Dr. Josef Mengele und
Unterschrift Mengeles
In hebräische Sprache:
mir übergeben am 13. Januar 1945
Unterschrift unleserlich
2.
Auf Hebräisch geschrieben:
Aufzeichnungen
Beim Otmar Freiherr von Verschuer
18. Dezember 1941 bis 31. Dezember 1942
Unterschrift unleserlich
3.
Auf Hebräisch geschrieben:
Flecktyphus
NOMA
Masern
Scharlach
Dr. Wirth?
Januar 1943 bis 30. September 1943
Unterschrift unleserlich
4.
Auf hebräisch geschrieben:
Mai 1944
31. Dezember 1944
Selektionen
Unterschrift unleserlich
5.
Auf Hebräisch geschrieben:
Koblenz-Levi
Bertold Eppstein
(Miklös Nyiszli)?????
Weisskopf
Robert Havemann
KWI-Institut
1943–1946
Unterschrift unleserlich
6.
Auf Hebräisch geschrieben:
Genf 1949
Brasilien – Araraquara 1964
Fam. Stammer
Treffen mit Wolfgang Gerhard,
der eine Zahnlücke hatte
Unterschrift unleserlich
Ich traute meinen Augen kaum. Josef Mengele war von Juni 1943 bis Januar 1945 Lagerarzt in Auschwitz, zunächst im sogenannten Zigeunerlager in Auschwitz-Birkenau im Abschnitt Auschwitz B II e. Im November desselben Jahres wurde ihm als Erstem Lagerarzt die Zuständigkeit für den Gesamtkomplex Birkenau übertragen (Auschwitz II). In diesen Funktionen oblagen ihm in erster Linie die Seuchenbekämpfung im Lager und die »Selektion« oder »Ausmusterung« der Häftlinge. Doch was ihn im kollektiven Gedächtnis zum »Todesengel« und »Schlächter« von Auschwitz2 werden ließ, das waren die medizinischen Versuche und anthropologischen Untersuchungen, die von ihm selbst oder auf seine Veranlassung an ungezählten Häftlingen, insbesondere Kindern, vorgenommen wurden und häufig tödlich endeten. Und genau dazu gab es keinerlei Aufzeichnungen.
Auschwitz war seit dem Herbst 1944 von der SS sukzessive geräumt worden; am 27. Januar 1945 hatte die Rote Armee das Lager erobert und die letzten verbliebenen Häftlinge befreit. Doch schon seit Oktober 1944 hatte die Lagerleitung – die drohende Niederlage vor Augen – damit begonnen, sämtliche Unterlagen, die über das Lager und die darin verübten Verbrechen Aufschluss geben konnten, entweder auszulagern oder zu verbrennen. In Flammen aufgegangen waren auch jene des Krankenblocks.3 Mengele dagegen, so wurde von verschiedenen Seiten berichtet, soll seine Aufzeichnungen mitgenommen haben, als er das Lager Mitte Januar verließ. Doch seitdem hatte man nichts finden können: keine Labornotizen, keine Tagebücher, Protokolle oder Manuskripte über seine Tätigkeit. Auskunft hatten lediglich überlebende Häftlinge geben können, doch deren Beobachtungen und Erfahrungen waren zwangsläufig eingeschränkt.4
Dass detaillierte Niederschriften vorgelegen hatten, davon war auszugehen. Der 1911 im schwäbischen Günzburg geborene Mengele, der 1935 mit einer »rassenmorphologischen« Untersuchung zum vorderen Unterkieferabschnitt zum Dr. phil. und 1938 mit einer Studie über den Erbgang der Lippen-Kiefer-Gaumenspalte zum Dr. med. promoviert worden war, galt zum Zeitpunkt seiner Versetzung nach Auschwitz als wissenschaftliche Nachwuchshoffnung.5 Auf dem Gebiet der sogenannten Rassenanthropologie, Erbpathologie und Rassenhygiene hatte er sich nicht nur mit seinen beiden Dissertationen, sondern auch mit kleineren Artikeln und Rezensionen in Fachpublikationen bereits einen Namen gemacht.6 Überaus ehrgeizig, fleißig und effizient, hatte er nach einem breitgefächerten medizinischen und naturwissenschaftlichen Studium in München, Bonn und Wien rasch Karriere gemacht. Auf die erste Promotion in Physiologischer Anthropologie folgte im Sommer 1936 die ärztliche Staatsprüfung, im Sommer 1937 erhielt er seine Approbation. Zu der Zeit arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene der Universität Frankfurt, zu dessen Aufgaben die Erstellung von »erbbiologischen Rassen- und Abstammungsgutachten« für das Reichssippenamt zählte. Es folgten Stationen bei der Sanitätsinspektion der SS, beim Rasse- und Siedlungshauptamt der SS, bei der Dienststelle des Reichsarztes der SS und Polizei Dr. Ernst Grawitz, seit 1940 immer wieder unterbrochen durch Kriegseinsätze.
In Frankfurt hatte Mengele für den damaligen Leiter des Instituts für Erbbiologie und Rassenhygiene, Professor Otmar Freiherr von Verschuer, gearbeitet. Verschuer, der als Kapazität auf dem Feld der Humangenetik galt, hatte sich insbesondere als Zwillingsforscher einen Namen gemacht. Mit Zwillings- und Familienforschung hoffte man damals – nicht nur in Deutschland – der Erblichkeit bestimmter Merkmale (und Anomalien) auf die Spur zu kommen. Mengeles erster Doktorvater, der Rassenhygieniker Professor Theodor Mollison, hatte seinen Schüler an das Institut empfohlen, und Verschuer fand schnell Gefallen an seinem neuen Mitarbeiter. Er betreute nicht nur als Doktorvater dessen zweite Promotion, sondern übertrug ihm immer mehr Verantwortung. Mengele vertrat ihn bei Vorträgen, selbst als er das Institut bereits verlassen hatte. Der Kontakt scheint auch während des Krieges nicht abgerissen zu sein. Verschuer hatte 1927 die Abteilung für menschliche Erblehre am neu gegründeten Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin-Dahlem aufgebaut und bis zu seinem Wechsel nach Frankfurt 1935 geleitet. Im Oktober 1942 kehrte er als dessen Direktor an das KWI zurück. Mengele, der als Truppenarzt bei der SS-Division »Wiking« am Krieg gegen die Sowjetunion teilnahm, traf im Januar 1943, von der Ostfront kommend, in Berlin ein. Seinen weiteren Wehrdienst (diesmal beim SS-Infanterie-Ersatzbataillon »Ost«) konnte er zunächst in der Reichshauptstadt ableisten; das erlaubte ihm, nebenbei für das Dahlemer Institut tätig zu werden. Seit dem Frühjahr 1943 behandelte Verschuer ihn dort als seinen Assistenten – und vermutlich als Habilitationskandidaten. Die Versuche an Zwillingen, die Mengele unmittelbar nach seiner Ankunft in Auschwitz im Juni 1943 in die Wege leitete, dienten vermutlich nicht nur dazu, die innerhalb der Reichsgrenzen aus kriegsbedingtem Mangel an verfügbaren Probanden erlahmte Zwillingsforschung am KWI wieder voranzutreiben; Mengele versorgte Verschuer und andere mit Präparaten aus Auschwitz. Sie könnten auch mit Mengeles Habilitationsprojekt zusammengehangen haben und dürften entsprechend akribisch dokumentiert worden sein. Dasselbe gilt für die Aufzeichnung darüber hinausgehender Experimente und Untersuchungen. Den Häftlingen schien Mengele jedenfalls »von seinen wissenschaftlichen Ambitionen geradezu besessen«.7
Doch geblieben war davon, sofern es die Quellenlage betraf: nichts. »Einige wenige Dokumente im Museum in Auschwitz«, so musste der Wissenschaftshistoriker Benoît Massin 2003 bedauernd feststellen, »ein paar Zeilen in den spärlich überlieferten Akten des KWI für Anthropologie, drei äußerst knappe Berichte über das Eiweißkörper-Projekt Verschuers an die DFG [Deutsche Forschungsgemeinschaft; B. M.] und wenige Sätze in seinem Briefwechsel – das ist alles, was es noch gibt.«8 Daran hatte sich auch gut zehn Jahre später noch nichts geändert.
Was also hatte die Beschriftung von Pakete 1 zu bedeuten: »Auschwitz B II 1943–1944 Siegel Dr. Josef Mengele« und »Unterschrift Mengeles … mir übergeben am 13. Januar 1945«? Sollte Grósz Chorin tatsächlich im Besitz von Unterlagen Josef Mengeles gewesen sein und hatte sie unter Verschluss gehalten? Ebenso rätselhaft war die Beschriftung von Paket 2: »Beim Otmar Freiherr von Verschuer 18. Dezember 1941 bis 31. Dezember 1942«. Worauf bezog sich das? War auch Grósz Chorin mit Verschuer in Kontakt gekommen? Seine Enkelin hatte erzählt, er sei nach seiner Verhaftung im Dezember 1941 nach Auschwitz deportiert worden. War dies womöglich nicht sofort geschehen?
Die zu Paket 3 genannten Krankheiten – Flecktyphus, NOMA (auch als Wangen- oder Wasserkrebs bezeichnet), Masern und Scharlach – zählten zu jenen Seuchen, die in Auschwitz auftraten. Dr. Eduard Wirth – hier: »Wirth?« – war seit September 1942 der SS-Standortarzt für den Gesamtkomplex Auschwitz und damit Mengeles Vorgesetzter. In den auf Paket 4 verzeichneten Zeitraum fielen die sogenannten Ungarntransporte: Zwischen April und Oktober 1944 wurden 438 000 ungarische Juden nach Auschwitz verschleppt, nachdem die Wehrmacht im März 1944 in das Staatsgebiet des ehemaligen Verbündeten einmarschiert war. Es war bekannt, dass Mengele unter diesen Deportierten besonders intensiv nach Zwillingen gesucht hatte (»Selektionen«), und es klang plausibel, dass ein ungarischer Häftlingsarzt wie Grósz Chorin mit dieser Opfergruppe in Berührung gekommen war. Paket 5 verwies auf einige bekannte Auschwitzer Häftlingsärzte und das KWI. Dr. Koblenz-Levi, eigentlich Lévy-Coblentz, war im SS-Hygiene-Institut in Rajsko bei Auschwitz eingesetzt, Prof. Dr. Berthold Epstein, ein Kinderarzt von internationalem Renommee, Dr. Miklós Nyiszli und Dr. Rudolf Weißkopf hatten sich an Mengeles barbarischen Versuchen im Lager beteiligen müssen. Der ebenfalls genannte Robert Havemann, ein Verfolgter des NS-Regimes, war von den Sowjets im Juli 1945 als Leiter aller KWI-Institute berufen worden und hatte in dieser Funktion auch Verschuer als Dahlemer Institutsleiter abgelöst. Er machte die alliierten Behörden auf die Verquickung des KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik mit den Verbrechen insbesondere Mengeles in Auschwitz aufmerksam und beteiligte sich an deren Aufdeckung.9
Die Beschriftung von Paket 6 war wiederum nebulös. Hatte Grósz Chorin außerdem Mengeles Verbleib nach dem Krieg in Brasilien, wo Wolfgang Gerhard vom »Kameradenwerk« und das Ehepaar Stammer ihn unter ihre Fittiche genommen hatten, nachgespürt? Und was bedeutete »Genf 1949«?
Die Aussichten, die diese Auflistung eröffnete, klangen, gelinde gesagt, vielversprechend. Wurde mir hier ein Dokumentenschatz angeboten, von dem jeder Historiker in meinem Feld träumt? Elektrisiert sagte ich endgültig zu. Mein Forschungsschwerpunkt lag zu diesem Zeitpunkt zwar auf der sowjetischen Wirtschaftsgeschichte nach 1945 und den ökonomischen Aspekten, die mit dem Zerfall der Sowjetunion verbunden sind. Aber promoviert hatte ich über die Judenverfolgung im besetzten Polen und auch anderweitig zu dem Thema publiziert.10 Außerdem gab es zu dem Komplex Auschwitzer Häftlingsärzte auch biografische Anknüpfungspunkte. Geboren und aufgewachsen bin ich in der Nähe von Tarnów. Von dort ging nicht nur der erste Transport nach Auschwitz ab, einige Häftlingsärzte stammten ebenfalls aus der Stadt. Einer meiner Lehrer hatte das Lager überlebt, und von medizinischen Experimenten, die dort an Häftlingen durchgeführt wurden, hatte ich erstmals von zwei Frauen erfahren, die uns Schülern aus eigenem Erleben im Unterricht davon erzählten. Nun sah es so aus, als könnte ich mich dem Thema aus wissenschaftlicher Perspektive noch einmal neu nähern. Das alles war faszinierend. Wir vereinbarten, uns gemeinsam mit Wassert, die mich in medizinischer Hinsicht beraten wollte, und Lothfels zu einem ersten ausführlichen Gespräch zu treffen.
IName vom Autor geändert. Das betrifft auch die Dokumente, in denen die Ärztin genannt wird.
IIName vom Autor geändert. Das betrifft auch die Dokumente, in denen die Unternehmerin genannt wird.
Die vergangene Zeit ist wie Dämmerung, die sie durchdringt. Die Einzelheiten sind mit dem gütigen Schleier des Vergessens verhüllt, nur […] die Umrisse […] bleiben in den Erinnerungen enthalten. […] Aber da meine Memoiren nur für meine Enkelin, nur für Magda als Erinnerung geschrieben werden, so [… werde ich] auch nicht überall das Datum der Geschehnisse angeben, denn […] nicht die Daten, sondern die durchlebten Fakten sind wichtig!!!
Memoiren, Bl. 7 und Bl. 15
Anfang März reisten Isabel Wassert und ich erneut nach Süddeutschland. Lothfels hatte uns zusammen mit der Professorin in ihre Villa eingeladen. Mittlerweile hatte ich von Wassert schon etwas mehr über die beiden Frauen erfahren, mit denen sie selbst seit Jahren eine enge Freundschaft verbindet. Mit Elisabeth Lothfels steht sie seit mehr als einem Jahrzehnt auf vertrautem Fuß; sie telefonieren nahezu täglich, und Wassert besucht die Unternehmerin regelmäßig. Bei einer dieser Gelegenheiten lernte sie die Vatikanärztin, von der ihre Freundin ihr immer wieder erzählt hatte, endlich auch persönlich kennen. Diese sei ungemein engagiert, so sei auch der Kontakt zu Lothfels über gemeinsame Wohltätigkeitsprojekte entstanden: ein Kinderheim in Rumänien etwa, das Kaiser betreut, oder ein Krankenhausprojekt in Kenia. Hier sei sie gemeinsam mit Pater Florian aktiv, dem gebürtigen Franz- Josef Prinz von Bayern, der seit fast drei Jahrzehnten Missionsarbeit betreibt. Lothfels unterstützt beide Unternehmungen großzügig. Ich erfuhr, dass die Vatikanärztin unserer Gastgeberin in einer persönlichen Krisensituation großen Trost gespendet hatte; sie sei ohnehin ein Mensch, der sich in hohem Maße für andere einsetzt. Auch als Medizinerin stehe sie immer gern mit Rat und Tat bereit. Über ihre nationalen und internationalen Kontakte habe sie schon so manchem einen wertvollen Kontakt zu den richtigen Ärzten vermittelt, neben ihrer Tätigkeit im Vatikan sei sie als Dozentin an der Universität Zürich beschäftigt, außerdem mitunter für die WHO im Einsatz. Die Professorin sei andauernd unterwegs. Manchmal hatten Wassert und Lothfels sich schon besorgt über das »Helfersyndrom« der Freundin unterhalten. Diese sei persönlich ausgesprochen anspruchslos. Nach Wasserts Kenntnis hatte sie sogar das nicht unbeträchtliche Vermögen ihres verstorbenen Mannes zur Gänze der Caritas gespendet. Sie habe den Eindruck, dass es Lothfels vor diesem Hintergrund umso mehr freue, nun umgekehrt endlich einmal der Freundin mit Rat und Beistand unter die Arme greifen zu können.
Drei Tage saßen wir mit Kaiser und unserer Gastgeberin in wechselnden Konstellationen zusammen. Mal unterhielten wir uns zu viert, mal interviewte Isabel Wassert die Professorin allein, vor allem in privateren Fragen der Familiengeschichte. Wir sprachen über Kaisers Großvater, ihren eigenen Werdegang, das persönliche Verhältnis der beiden. Ich erfuhr, dass Kaiser die Letzte der Batthyány-Familie sei – ungarischer Uradel, der seit dem vierzehnten Jahrhundert nachweisbar ist und im Laufe der Jahrhunderte Grafen, Fürsten und Magnaten hervorgebracht hatte. Ihre Tante, die Schwester ihrer Mutter, habe keine Kinder bekommen können, ihr Onkel als hochrangiger Franziskaner das Zölibat gelebt. Damit sei der ungarische Familienzweig – im Unterschied zum österreichischen – nun kinderlos. Sie selbst nennt sich mit vollem Namen Prof. Dr. med. Magdalena Nicoletta Krisztina Kaiser-Batthyány/Szentágothay. Auf diese Herkunft ist sie stolz. 2013 hatte sie mit Lothfels sogar eine Ungarn-Reise auf den Spuren des weitläufigen Batthyány-Universums unternommen. Den Zusatz »Szentágothay« benutzt die Gräfin, im Gedenken an ihren Großvater, erst seit einigen Jahren.
Über ihre Familie väterlicherseits konnte sie im Grunde nichts sagen. Es handele sich um eine Ärztefamilie, eine Tradition, die sie fortgesetzt habe. Auch ihr 1991 verschiedener Ehemann sei Arzt gewesen, Professor der Neurologie. Beide Eltern seien am Tag ihrer Geburt verstorben, zuerst die Mutter (Dermatologin) während der Entbindung – womöglich eine Folge der in ihrer Familie grassierenden Bluterkrankheit. Der Großvater habe die Enkelin eigenhändig auf die Welt gebracht, doch die Schwiegertochter nicht retten können. Der Vater (Neurologe) sei, vermutlich auf dem Weg ins Krankenhaus, bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die beiden überlebenden Söhne ihres Großvaters, Ärzte wie er, seien nach dem Krieg ausgewandert, der eine nach Toronto, der andere nach Israel, und hätten den Kontakt zum Vater abgebrochen. Sie vermutete, dass dies mit seiner Tätigkeit als Häftlingsarzt zusammenhing. Selbst im Hinblick auf seinen Namen war sie sich nicht sicher. Sie wisse, dass er ihn schon vor dem Zweiten Weltkrieg geändert hatte, um antisemitischen Anfeindungen zu entgehen, und halte es für wahrscheinlich, dass er es nach der Befreiung erneut getan habe. Diesmal aus Scham.
Sie selbst sei in Zürich geboren und aufgewachsen, versorgt von ihrem Großvater, der sogar ein Studium der katholischen Theologie aufgenommen habe, um dem Wunsch seiner Schwiegertochter zu entsprechen, ihre Tochter katholisch zu erziehen. Sein Judentum habe daher in ihrer Jugend keine Rolle gespielt. Sie habe allerdings Hebräisch lernen müssen. Eine Tätowierung habe sie nicht gesehen, aber eine Narbe am Unterarm; sie glaubt, dass seine Schwiegertochter ihm bei der Entfernung der verräterischen Ziffern auf der Haut geholfen habe. Seine Füße allerdings seien vollkommen vernarbt gewesen. Und gelacht habe er nie.
Über seine Verbindung zu Mengele wisse sie auch kaum etwas. Allerdings sei ihrem Großvater wohl über Mengele und mithilfe eines katholischen Priesters die Flucht aus Auschwitz gelungen. Denn im Herbst 1944 habe Mengele eine Infektionskrankheit vorgetäuscht und deshalb das Lager verlassen müssen. Zur Quarantäne habe er sich in ein deutsches Krankenhaus nach Krakau begeben und den Großvater – mitsamt Unterlagen – dorthin mitgenommen. Der sei dort bei günstiger Gelegenheit einfach herausspaziert und habe Zuflucht bei einem polnischen Priester gefunden. Mit gefälschten Papieren habe man ihn auf eine Wallfahrt nach Lourdes mitgenommen; auf dieser Pilgerreise sei ihm die Flucht in die Schweiz geglückt.
Über das Studium der Theologie habe der Großvater in den fünfziger Jahren Joseph Ratzinger kennengelernt. Kaiser glaubte, dass er auch dessen Schwester ärztlich behandelt habe. Jedenfalls habe sich zwischen den beiden Männern im Laufe der Jahre eine so enge Freundschaft entwickelt, dass der Großvater Ratzinger gebeten habe, sich nach seinem Tod um seine Enkelin zu kümmern. Und tatsächlich habe Ratzinger nach seinem Wechsel in den Vatikan 1982 dafür gesorgt, dass sie, mittlerweile eine hochqualifizierte Virologin, 1983 dort eine Anstellung als Ärztin fand. Nachdem sie erst Johannes Paul II. als päpstliche Leibärztin betreut habe, sei sie in dieser Funktion auch für Benedikt XVI. tätig geworden. Bis heute kümmere sie sich dort, zusammen mit seinem Privatsekretär Georg Gänswein, um sein Wohlbefinden und das seines Nachfolgers Franziskus. Über die Jahre, erzählten mir Wassert und Lothfels später, habe sich zu dem mittlerweile emeritierten Papst ein echtes Vertrauensverhältnis entwickelt. Gänswein und Benedikt seien zu einer Art »Ersatzfamilie« für die Gräfin geworden. Insbesondere Lothfels hatte darin Einblicke gewonnen, stand sie über diese Verbindung doch mittlerweile selbst mit den beiden Würdenträgern in trostreichem Kontakt. Es wunderte die beiden Freundinnen daher auch nicht, dass die Professorin uns mitteilte, Ratzinger sei über die Unterlagen ihres Großvaters informiert und müsse vor jeder wichtigen Entscheidung zurate gezogen werden. Daher habe sie auch vor der Inspektion des Bankschließfachs sein Einverständnis eingeholt.
Diese Grundzüge der Erzählung, so fragmentarisch sie auch waren, boten nach meiner Einschätzung genügend Ansatzpunkte für erste Nachforschungen zu Grósz Chorin. Seine Enkelin stimmte diesem Vorgehen zu und versprach, Dokumente wie den Totenschein des Großvaters und ihre eigene Geburtsurkunde zu diesem Zweck nachzureichen. Wir vereinbarten eine gemeinsame Auschwitz-Reise, an der auch Lothfels teilnehmen wollte, und Wassert und ich machten uns an die Arbeit. Rasch verständigten wir beide uns darauf, die Aufgaben zu verteilen. Uns war aufgefallen, dass die Vatikanärztin zwar stets beteuerte, nichts über die Vergangenheit ihres jüdischen Familienzweigs und insbesondere über die ihres Großvaters zu wissen, dann aber doch im privaten Gespräch mehr verlauten ließ, als wir ursprünglich erwartet hatten. So hatte sie, wie ich später erfuhr, Wassert gegenüber erwähnt, dass ihre Großmutter in den dreißiger Jahren bei Albert Schweitzer in Lambaréné gearbeitet habe, auch die Fluchtgeschichte ihres Großvaters ausführlicher als in der größeren Runde geschildert. Die medizinischen Einzelheiten ihrer Geburt und die Frage, wie es um die Tätowierung ihres Großvaters bestellt war, hatte sie ebenfalls nur ihrer Arztfreundin erläutert. In weiteren Interviews mit ihr würde Wassert daher Näheres an Persönlichem herauszufinden versuchen, während ich mich auf die wissenschaftlichen Recherchen konzentrierte: zur Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, zu den SS-Ärzten, den medizinischen Experimenten und vor allem zu den Häftlingsärzten.
Rasch stellte ich fest, dass insbesondere über Häftlingsärzte wenig publiziert und noch weniger geforscht worden war. Die Lage ist kompliziert: Zeitgenössische Quellen gibt es kaum, allerdings relativ viele Nachkriegsaussagen, Berichte und sogar Publikationen ehemaliger Häftlingsärztinnen und -ärzte. Diese sind indes mit besonderer Vorsicht zu lesen, da das medizinische Häftlingspersonal sich nach dem Krieg mitunter Beschuldigungen und sogar Ermittlungs- und Gerichtsverfahren ausgesetzt sah. Die meisten dieser Unterlagen liegen in polnischen Archiven, insbesondere im Institut des Nationalen Gedenkens (IPN). Da viele davon entweder nur auf Polnisch verfasst sind oder aber die Beschriftungen der Akten dies zumindest vermuten lassen, selbst wenn sich darin deutsche Texte verbergen, werden sie im Westen vergleichsweise wenig rezipiert. Eine Ausnahme stellt das zweibändige Kompendium »Auschwitz-Hefte« dar, eine deutschsprachige Auswahl von Texten zum Thema – darunter Schilderungen von Häftlingsärzten –, die zwischen 1961 und 1991 in Polen publiziert wurden.11 Eine Monografie zu dem Fragenkomplex fehlt im Osten wie im Westen. Dies machte die Sache nicht leichter, wissenschaftlich aber umso interessanter, weil mir klar wurde, dass ich Grundlagenforschung betreiben musste. Die Idee von zwei sich ergänzenden Forschungsprojekten entstand: eines über den Nachlass von Grósz Chorin und eines über die Häftlingsärzte in Auschwitz. Selbst wenn sich der Inhalt der avisierten Päckchen als unergiebig herausstellen sollte, wäre die Beschäftigung mit den Häftlingsärzten lohnend.
Am 28. März 2014 trafen wir vier uns erneut, diesmal in Krakau. Tags darauf fuhren wir nach Auschwitz, das Kaiser, wie sie uns erzählt hatte, als wir die Reise verabredeten, zuvor schon zwei Mal als Kind mit ihrem Großvater aufgesucht hatte – aus welchen Anlässen, hatte sie offengelassen. Wie viel ihr Großvater ihr bei diesen Gelegenheiten erzählt hatte, auch. Im Vorfeld des Besuchs hatte ich mit der Gedenkstätte Kontakt aufgenommen, unser Kommen angekündigt und darum gebeten nachzuforschen, ob sich in den dortigen Unterlagen Hinweise auf einen Häftling Salamon Grósz Chorin fänden. Auf Lothfels’ Anregung und mit Einverständnis der Professorin war außerdem ein polnischer Kameramann anwesend, der unseren gesamten Aufenthalt dort filmen sollte. Bei unserer Ankunft wurden wir daher von ihm sowie von einem Mitarbeiter des Gedenkstättenarchivs erwartet, der uns ausführlich und sachkundig über die dortigen Bestände informierte. Die Quellenlage sei enorm schwierig, da angesichts der breitangelegten Spurenvernichtung der SS vor der sogenannten Evakuierung des Lagers am 18. Januar 1945 kaum Unterlagen erhalten geblieben seien. Hinweise auf einen Auschwitz-Häftling Salamon Grósz Chorin habe er denn auch nicht gefunden. Dies bedeute aber nichts. Personalunterlagen von ehemaligen Häftlingen gebe es nur noch vereinzelt.
Anschließend besichtigten wir das ehemalige Stammlager (Auschwitz I) und Auschwitz-Birkenau. Vor den Ruinen der Krematorien II und III in Auschwitz-Birkenau überraschte uns Kaiser mit einem mehrseitigen Brief Benedikts XVI., den sie dort verlesen wollte. Es sah nach einem hochoffiziellen Schreiben aus, mit Siegel und Wappen des Vatikans. Sein Privatsekretär Gänswein habe es getippt, berichtete sie. Bewegt, aber gefasst begann sie mit der Lektüre. Erst als der emeritierte Papst in dem Schreiben direkt auf sein persönliches Verhältnis zu ihr und seinem Freund, ihrem Großvater, zu sprechen kam, bat sie ihre Freundin Lothfels, die in dem Brief ebenfalls direkt angesprochen wurde, ihn für sie zu Ende vorzutragen. Es war ihr wichtig, dass dieser Moment auf Film festgehalten wurde. Ich empfand die Szene zwar als leicht befremdlich, wunderte mich aber hauptsächlich darüber, dass in der Epistel zwei Mal der Begriff »Zionismus« fiel. Das schien mir in dieser Situation nicht passend zu sein. Doch der Moment ging vorüber, und dass Kaiser durch die Atmosphäre, die Umgebung und die Angelegenheit als solche aufgewühlt war, fand ich nachvollziehbar. Zudem hatte sie ja immer wieder betont, wie groß ihre Befürchtungen, ja Ängste in Bezug darauf, was sie im Rahmen unserer Nachforschungen über ihren Großvater erfahren mochte, waren. Es war ein emotionaler Besuch, und sie bewältigte ihn mit Würde. Beim anschließenden Bummel durch die Krakauer Altstadt entspannte sie sich. Sie kannte sich gut aus; schließlich hatte sie Johannes Paul II., wie sie uns erzählte, mehrfach hierhin begleitet. Über Anekdoten und Geschichten von diesen Aufenthalten fand sie allmählich zu ihrer gewohnten Sicherheit zurück.
Ehe Wassert und ich uns nun an die eigentlichen Recherchen machten, war mir daran gelegen sicherzustellen, dass wir die Nutzungsrechte an den Safe-Unterlagen bekamen. Lothfels hatte sie nach eigener Aussage von ihrer Freundin übertragen bekommen und übertrug sie nun ihrerseits am 6. April uns:
GEGENSTAND