Nr. 3066
Drangwäsche
Zwischenstopp auf einer langen Reise – ein Haluter tobt sich aus
Michael Marcus Thurner
Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt
Cover
Vorspann
Die Hauptpersonen des Romans
1. Der Sturz
2. Das Leben ist schön
3. Einige Tage vor dem Aufprall
4. Neuer Auftrag, neues Glück
5. Vermehrte Anzeichen
6. Die erste Begegnung
7. Die Raumschlacht
8. Überlegungen
9. Das Ende der Welt
10. Nach dem Aufprall
11. Krieg in der Stadt
12. In der Ruhemuschel
13. Nach der Explosion
14. Die andere Flotte
15. Zehner
16. Ins Innere
17. Schiffskampf
18. Die Villanova-Terraner
19. Hoffnung
20. Schirmherrin und Vordenker
Journal
Leserkontaktseite
Impressum
PERRY RHODAN – die Serie
Mehr als 3000 Jahre in der Zukunft: Längst verstehen sich die Menschen als Terraner, die ihre Erde und das Sonnensystem hinter sich gelassen haben. In der Unendlichkeit des Alls treffen sie auf Außerirdische aller Art. Ihre Nachkommen haben Tausende Welten besiedelt, zahlreiche Raumschiffe fliegen bis zu den entlegensten Sternen.
Perry Rhodan ist der Mensch, der von Anfang an mit den Erdbewohnern ins All vorgestoßen ist. Nun steht er vor seiner vielleicht größten Herausforderung: Er wurde vorwärts durch die Zeit katapultiert und findet sich in einem Umfeld, das nicht nur Terra vergessen zu haben scheint, sondern in dem eine sogenannte Datensintflut fast alle historischen Dokumente entwertet hat.
Nachdem er in der fernen Galaxis Ancaisin einen Weg fand, die sogenannte Zerozone zu betreten und womöglich eine Fährte Terras zu finden, begibt sich sein Raumschiff RAS TSCHUBAI ohne ihn auf den weiten Rückweg in die Milchstraße. Mit sich nimmt die Besatzung die Erkenntnis, dass die Cairaner, die sich als Herrscher der Heimatgalaxis aufspielen, nichts anderes sind als Flüchtlinge vor einer weitaus schrecklicheren Gefahr: den Phersunen und ihrer Schutzmacht, der »Kandidatin Phaatom«.
Während des Rückflugs trägt der Haluter Icho Tolot die Verantwortung für das gewaltige Schiff. Dabei überkommt ihn ein altbekanntes Gefühl. Es wird Zeit für eine DRANGWÄSCHE ...
Icho Tolot – Der Haluter spürt das Nahen seiner Drangwäsche.
Onker Dou – Der Epsaler wird zum Kindermädchen des Haluters.
Gustav – Der Posbi soll Onker Dou zur Hand gehen.
Anbarr – Das Zain-Konstrukt sagt nicht viel.
Kibrr und Hadrr – Zwei Planetarier begegnen dem Tod aus Diskusraumern.
1.
Der Sturz
Icho Tolot genoss den freien Fall auf die blaubraune Welt zu. Er fühlte die nur sanft und allmählich einsetzende Schwerkraft. Das Ziehen an seinem Körper. Den Ausblick. Das Gefühl absoluter Freiheit.
Seine Haut war verhärtet, die Atmung hatte er eingestellt. Er blieb in sich abgekapselt, während er auf Spavar zustürzte, und beschäftigte sich mit Berechnungen. Der Aufprall würde in knapp 16 Minuten erfolgen.
Das Zielgebiet war eine der großen Savannenlandschaften Spavars, etwa auf Äquatorhöhe, auf tausend Meter über See. Noch drehte sich die Welt unter ihm gemächlich dahin und er konnte den wahrscheinlichen Landeplatz nicht erkennen.
Atmosphäre.
Dünn und nicht atembar. Aber er spürte den stetig steigenden Widerstand.
Tolot streckte alle vier Arme weit aus, als wollte er die Welt umarmen. Reibung entstand, und mit der Reibung kam die Hitze. Aber nichts davon würde seinem Rucksack etwas anhaben können, in dem er seine Ausrüstung und den Schutzanzug verstaut hatte. Am Körper trug er lediglich Unterwäsche. Sie sollte ihn keineswegs schützen, sondern diente einem anderen Zweck: Sie sollte Feuer fangen und ihn in Flammen einhüllen. Die Umstände verlangten nach ein klein wenig Dramatik.
Noch zwölf Minuten.
Icho Tolot brannte, es riss ihm die Unterkleidung in Fetzen vom Leib. Der Effekt währte nur kurz. Nach nicht einmal zehn Sekunden erloschen die Flammen wieder.
Der Kontinent unter ihm wurde größer, erste topografische Elemente hoben sich ab. Tolot erkannte einen massiven Gebirgszug, der sich von Norden nach Süden erstreckte und dessen höchste Gipfel schneebedeckt waren. Blaue Fäden durchzogen wie feinste Adern das Flachland östlich und westlich des Gebirgsstocks. Städtische Strukturen wurden sichtbar.
Tolot nahm es stumm hin, als die Reibungshitze unangenehm wurde. Er legte den Schwerpunkt seiner Denkarbeit aufs Planhirn und ließ das Ordinärhirn bloß Sinneseindrücke registrieren.
Freier Fall. Ohne die Möglichkeit, etwas dagegen zu tun. Er würde auf dem Boden aufprallen. Jedes andere Lebewesen würde dabei sterben. Aber kein Haluter.
Icho Tolot lachte, atmete glühend heiße Luft ein und brüllte Spavar seine Wut entgegen.
Sechs Minuten.
Der Gebirgszug zerfaserte immer weiter. Er gliederte sich in einen Haupt- und mehrere Nebenkämme, in unzählige Quertäler, Durchbrüche, eine fast kreisrunde Anomalie, die vor langer Zeit von einem Meteoriten geschlagen worden war, dunkelblaue Gewässer und rostrote Mittelgebirgsteile, die das Hochgebirge wie ein Heiligenschein umkränzten. Kaum ein Wolkenstock beeinträchtigte seine Sicht. Tolot würde etwa 50 Kilometer östlich der letzten Gebirgsausläufer in der Savanne landen. Nahe einer Stadt.
Vier Minuten.
Icho Tolot hätte die Fallgeschwindigkeit unter den herrschenden Bedingungen und die Wucht des Aufpralls berechnen können. Schwerkraft 1,2 Gravos, die ungewöhnlich dicke Troposphäre war längst erreicht, der Luftwiderstand groß. Er fiel mit einer Geschwindigkeit von 600 Stundenkilometern.
Tolot verzichtete auf die Fakten. Er wollte nicht wissen, was bei Bodenkontakt geschehen würde. Er suchte das Risiko des Unbekannten. Die vage Möglichkeit, dass er sich doch verletzte.
Zwei Minuten.
Das Hochgebirge fiel nach Westen weg, die Savanne beherrschte sein Blickfeld. Unter ihm war das Gelb offenen Landes und das Braun eines südlich daran anschließenden Sumpfgebietes. Die Hitze kam gleichermaßen vom freien Fall wie von der sich steigernden Vorfreude.
Eine Minute.
Das Savannengelb beherrschte sein Blickfeld. Im Norden erkannte er vage eine große Viehherde. Schwere Tiere mit langen Schwänzen und Klauenarmen, die sie benutzten, um Früchte von vereinzelt dastehenden Bäumen zu pflücken.
Irrelevant. Er musste sich konzentrieren. Auf das nicht kalkulierte Risiko des Aufpralls.
Arme anziehen, sich so klein wie möglich machen. Der Aufprallwinkel betrug etwa 45 Grad, er würde ein Stück abrollen und sich im Erdreich jenes Kraterwalls verfangen, den er zweifelsohne schlagen würde.
30 Sekunden.
Ein letzter und tiefer Atemzug. Körper anspannen. Auf die Situation vorbereiten. Auf den Schock des Aufschlags, die Fliehkräfte, eine mögliche Katapultwirkung.
Zehn Sekunden.
Da war er: der Moment, den er herbeigesehnt hatte. Der Eintritt ins Vurhatu, in die Drangwäsche.
Wenn er die kommenden Sekunden überlebte, warteten aufregende Tage auf ihn. Er würde sich austoben und sein Haluterdasein mit jeder Faser seines nahezu unzerstörbaren Körpers genießen ...
Aufprall.
2.
Das Leben ist schön
Kibrr bestieg die Überlandgondel und holte seinen kleinen Gelegekönig hastig zu sich ins Innere, bevor das Glastor zuschnappen konnte.
»Du trödelst wieder einmal, Hadrr«, sagte er. »Wie oft habe ich dir schon gepredigt, dass du dich mit vier Krallenhänden hochziehen sollst!«
Hadrr nahm die Lederflügel eng um seinen schmalen Körper. Wie so oft. Er schämte sich für seine nur schwach ausgeprägten Greifkrallen.
»Ich kann das nicht, Papa. Du weißt ganz genau, dass erst drei von ihnen das tun, was ich will.«
»Das redest du dir bloß ein.« Kibrr flatterte unruhig mit seinen eigenen Lederflügeln, soweit es ihm die Enge der Gondel erlaubte. »Als ich so alt war wie du, konnte ich bereits fünf bewegen und einsetzen. Warum solltest du ungeschickter sein als ich?«
»Ich bin anders als du, Papa. Vergleich uns nicht dauernd!« Hadrr setzte sich auf die schmale Gelegestange ihm gegenüber und zog verschämt das Gesicht hinter die durchscheinende Lederhaut. Den Schnabel weit nach unten gesenkt, die silber-blau gesprenkelten Augen geschlossen. Seine Physiognomie hinterließ einen prägnanten Abdruck in der Haut.
»Du wirst einmal der Gelegekönig meines Hausstalls sein. Du wirst meine Haupteierin, ihre vier Schwestern und viele andere Fruchthühner unter dir haben. Der Stall wird blühen und gedeihen. Darauf vertraue ich.« Kibrr klapperte lautstark und ermutigend, sein Sohn nahm es wortlos zur Kenntnis.
Die Überlandgondel setzte sich sanft schaukelnd in Bewegung. Sie verließen die Hauptstation und das städtische Treiben Chachwims. Die Katapultfahrzeuge waren bald nur noch eine Ahnung, ein Auf und Ab zwischen den Häuserschluchten der Peripherie. In dieser Gegend hatten sich vor allem Spavnos niedergelassen, die nicht die Mittel für einen eigenen Gelegestall besaßen.
Kibrr blickte durch die transparente Bodenplatte in die Tiefe. Nur zu gerne hätte er die Gondel geöffnet und wäre in die Tiefe gesprungen, wie er es in seinen jungen Gockeljahren getan hatte. Die Lederschwingen so weit wie möglich ausgebreitet und den Körperflaum in den Luftstrom gestreckt, um den Aufprall nach einem Sturz aus zehn oder mehr Metern zu lindern.
Aber das durfte er nicht. Seine Hohlknochen waren altersmorsch, da und dort hingen Speckfalten vom Hauptsack seines Körpers. Er war viel zu schwer geworden, um den Sprung ohne Blessuren zu überstehen. Außerdem durfte er kein schlechtes Beispiel für Hadrr abgeben.
Er breitete die rechte Lederschwinge aus und deutete mit der äußersten Greifkralle in Richtung Norden. In Richtung einer Siedlung, die mittlerweile nur noch von wenigen Spavnos bewohnt wurde.
»Dort bin ich aufgewachsen«, sagte er voller Stolz. »In Fichamend ...«
»... in Fichamend, dem schönsten Flecken Spavars. – Ich weiß, Papa. Das hast du mir schon hundertmal erzählt.«
»Werd bloß nicht frech, kleiner Gelegekönig! In dieser Siedlung wurde ich ausgebildet, habe meine ersten Hühner gefunden, habe die alten Kornmühlen revitalisiert und letztlich so viel Erfolg gehabt, dass ich es mir leisten konnte, in die Stadt zu ziehen. Um einer der bedeutendsten Getreidehändler Chachwims zu werden. Weil meine Greifkrallen überzeugender sind als die der meisten Konkurrenten.«
»Jaja, Papa.«
Hadrr lockerte endlich seine Lederflügel und rollte sie ein. Er zuckte dabei mit seiner vierten Greifkralle. Er bemühte sich, sie mit den dreien zu synchronisieren, die bereits einsatzbereit war.
Kibrr verstand es nicht. Warum war sein Sohn bloß so ungeschickt? Er selbst hatte es vor drei Jahren geschafft, das achte von zehn möglichen Greifpodien zu aktivieren und es mit den anderen sieben abzustimmen.
Vielleicht würde es ihm sogar gelingen, das neunte zu aktivieren, bevor der Große Schwarze Vogel über ihn kam und ihn aus seinem Gelege riss?
Es hatte in seiner Familie nie einen Neuner gegeben. Er würde in der langen Ahnenlinie einen ganz besonderen Platz einnehmen. Als einer von nicht einmal hundert Spavnos seiner Generation, die neun von zehn Greifkrallen sinnvoll einzusetzen vermochten.
Das Spiel der Hände war elementar. Wer mehr Greifkrallen einsetzte, war präsenter und überzeugender. Eine beinahe hypnotische Wirkung ging von den Bewegungen aus. Sie machten, dass das Gegenüber Vertrauen fasste und bereit war, Handel zu treiben. Aber auch, um Sympathien zu entwickeln oder auf ein Liebeswerben einzugehen.
Kibrr erzählte von vergangenen Tagen, auch wenn sich Hadrr kaum dafür interessierte. Sein kleiner Gelegekönig sah teilnahmslos aus dem Fenster und warf immer wieder rasch einen Blick auf den Gock, das Spiele-Ei, das ihn mit vielen seiner gleichaltrigen Freunde verband.
Dafür ist er wiederum geschickt genug, obwohl er bloß drei Greifkrallen einsetzen kann!
Manchmal zweifelte Kibrr an seinem Entschluss, Hadrr als Gelegekönig und damit als Nachfolger einzusetzen. Aber er konnte die besonderen Anlagen riechen, schmecken und spüren, die der Siebtgeborene mit sich brachte. Sobald er seine Greifkrallen weiterentwickelte, würde er ein äußerst geschickter Händler werden – und die Hühner seines Gelegestalls verrückt machen. Er war der geborene Hausgockel.
Unter ihnen zog die Savannenlandschaft vorüber, die Gondel schaukelte träge im Wind. Der breite Fluss im Norden, die Ficha, war an ihrem fischigen Geschmack zu erahnen.
Bis nach Bims-Char waren es fast drei Stunden. Aber sie würden viel früher in einer der kleinen Zwischenstationen aussteigen und ihre monatliche Wanderschaft beginnen. Hinein in die Moorgebiete, in denen leckere Wildschlangen, Igelegel und schnabelgroße Wasserhüpfer darauf warteten, gebraten und heruntergeschlungen zu werden. In den Abendstunden würden sie es sich auf einer der vielen Hüttenstangen bequem machen, die die Naturparkverwaltung gratis zur Verfügung stellte.
Das Leben war schön.
Das Leben wäre schön, verbesserte sich Kibrr, dessen Gesichtsgefieder nun unangenehm stark juckte, wenn da nicht diese zirpenden Störenfriede aus dem All wären. Diese schrecklichen Wesen, die unsere Leben zu zerstören versuchen. Ohne dass wir wissen, was sie eigentlich von uns wollen.
3.
Einige Tage vor dem Aufprall
»Du hast Glück gehabt«, sagte ANANSI.
»Ich habe spekuliert«, widersprach Icho Tolot und wischte das Holoschachbrett beiseite, nachdem er sich die Positionen der Figuren eingeprägt und das Spiel zwischen den Hunderttausenden anderen in seinem Gedächtnis abgelegt hatte. »Ich gebe zu, dass ich im Endspiel mehrmals mein Glück herausgefordert habe. Aber die Erfahrung sagt mir, dass mir ein Spiel mit einem Damengambit in Kombination mit einer geschlossenen Imartischen Eröffnung die besten Chancen gegen dich einräumt.«
»Du weißt selbst, dass das nicht stimmt, Taravat«, widersprach die Bordsemitronik mit sanfter Stimme und verwendete dabei einen halutischen Ehrentitel. »Ich habe das terranische Schach durchgespielt. Ich habe jede denkbare Zugkombination überlegt und bewertet. Mit Weiß gewinne ich immer. Mit Schwarz gibt es eine nullkommadreiprozentige Chance, dass mein Gegner mich besiegt. Wenn er jederzeit alles richtig macht – und das hast du im Endspiel mit Entscheidungen geschafft, die du aus dem Bauch heraus getätigt hast.«
»Willst du mir den Sieg vergällen, ANANSI?«
»Keineswegs. Hast du Lust auf noch eine Partie?«
»Später vielleicht.« Icho Tolot kam auf die Beine und sah sich in der Zentrale um. Er blickte auf seine Schutzbefohlenen hinab. Die meisten waren nur halb so groß wie er.
Terraner, Epsaler, Jülziish, Oxtorner, Arkoniden und Angehörige anderer Milchstraßenvölker waren mit Kontrollaufgaben beschäftigt. Alles klappte wie am Schnürchen, es gab – wie in den Wochen und Monaten zuvor – kaum Zwischenfälle.
Langweilig.
Die RAS TSCHUBAI erledigte ihre Aufgabe hervorragend, die Rückreise in die Milchstraße war trotz der gewaltigen Dauer und den Belastungen eine Routineangelegenheit.
Weil die Schiffsbesatzung hervorragend ausgebildet und während ihrer Abenteuer in der Galaxis Ancaisin gereift war. Insbesondere ANANSIS Versagen vor der Wiedergeburt der VECU war analysiert und die Kontrollmechanismen entsprechend verbessert worden. Die an Bord verbliebenen Phersunen waren abgesetzt, die Vorräte auf einer abgelegenen und unberührten Welt ergänzt worden. Die Reise selbst verlief seitdem ereignislos.
Langweilig.
Tolot streifte über die Bedienungskonsole seines Stuhls. Er übte ein wenig zu viel Druck aus, ein rötliches Holofeld glühte auf. Er hatte das Panel beschädigt.
Ein Serviceroboter kam herbeigeschwebt und nahm sich des Problems an.
»Du bist ungeduldig, Taravat«, sagte ANANSI.
»Kein Wunder. Wir haben die 3453. Partie Blitzschach seit unserem Abflug aus der Peripherie von Ancaisin gespielt. Und das in hundertachtundzwanzig Tagen, während derer wir etwa hundertsechzig Millionen Lichtjahre zurückgelegt haben. Auf uns warten weitere hundertzwölf Millionen Lichtjahre gepflegter Langeweile.«
»Es gibt viel mehr zu tun als das, Taravat. Ich habe dir vorgestern einige knifflige Simulationen zum Nutzungsverzicht der Suspensionsalkoven bereitgestellt.«
Richtig. Tolot hatte kaum einen Gedanken daran verschwendet. Diese Forschungsarbeit lief auf einen Zahlen- und Datenvergleich mehrerer Rechenmodelle hinaus, der sein Planhirn tagelang beschäftigten würde.
Er wollte sich nicht darum kümmern, nicht an diesem Tag. Er brauchte Bewegung. Die Simulationshalle auf Deck 14 bot kaum Gelegenheit, sich richtig auszutoben.
Tolot fühlte eine ungewohnte Regung. Ein selten gespürtes Durcheinander in der Kombination seiner beiden Hirnteile. Das Planhirn übernahm mit ungewohnter Vehemenz die Kontrolle über seine Denkprozesse und lieferte ihm alarmierende Fakten.
Tolot verstand.
Er trat zu Cascard Holonder, dem stoisch dasitzenden Kommandanten der RAS TSCHUBAI, und sagte: »Es gibt ein Problem.«
»Ein Haluter tritt mit einem Problem an einen Terraner heran, das er selbst nicht lösen kann? Da bin ich aber gespannt.« Holonder blickte starr geradeaus auf ein Holo, das die Galaxis Ancaisin zeigte.
»Ein Vurhatu-Problem.«
Es dauerte eine Weile, bis Holonder verstand und reagierte. Er rieb sich die Augen und wandte sich Tolot zu. »Bist du dir sicher?«
»Ich werde einige Untersuchungen machen, um völlige Gewissheit zu haben. Aber ich erkenne die Anzeichen. Ich erwarte, in den nächsten Tagen in eine Drangwäsche zu rutschen.«
*
Drangwäsche.
Ein Vorgang, der auf Icho Tolots mörderisches genetisches Erbe zurückging.
Um dem Zerstörungsdrang, der in Halutern als den Nachfolgern der Bestien steckte, ein Ventil zu geben, unterliefen alle Mitglieder seines Volkes in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen die Drangwäsche. Sie ließen es, wie die Terraner es gerne nannten, mal so richtig krachen.
Wehe dem, der sich einem Haluter in dieser Lebensphase in den Weg stellte. Während des mehrtägigen Vurhatu war das Planhirn praktisch komplett ausgeschaltet, jegliches logische Denken verbannt, nur kochende Emotionen lenkten die drei Meter großen Wesen dann.
Aber noch war es nicht so weit.
»Die Drangwäsche kommt ungeplant«, sagte Tolot und hievte sich vom schweren Untersuchungstisch der Medoabteilung.
Matho Thoveno, der araische Chefmediker der RAS TSCHUBAI, drehte ihm den Rücken zu. Mit leisem Brummeln suchte er in einer Holobibliothek und fuchtelte dabei mit den Händen, als würde er unsichtbare Geister dirigieren.
Tolot wartete geduldig. Er kannte die affektierte Art des Medikers.
»Da ist es«, sagte Thoveno und zog die Buchdatei hervor. »Zwischen den Sternen lauert das wahre Leben. Verfasst von Bré Tsinga, mit Ergänzungen durch ihre Enkelin Anni K. Tsinga. Sechste Neuauflage. Das Standardwerk zur halutischen Drangwäsche.«
»Ich kenne das Buch in- und auswendig. Es ist hervorragend, aber es bringt uns in diesem Fall nicht weiter. Warum erwischt es mich gerade jetzt, um mindestens zwei Jahre zu früh?«
Thoveno antwortete nicht. Er blätterte konzentriert in der Datei, murmelte vor sich hin, wischte sich mit seinem roten Kopftuch Schweißtropfen von der hohen Stirn.
»In der Tat steht nichts darin, was uns weiterhelfen könnte«, sagte er nach einer Weile und schob die Datei in ihren Ordner zurück.
»Das sagte ich bereits, Matho.«
»Richtig. Aber wichtig ist, was nicht im Buch steht.«
»Das bedeutet?«
»Es gibt Einflüsse, die eine Drangwäsche verzögern oder beschleunigen können, nicht wahr?«
»Selbstverständlich. Ein Vurhatu tritt nicht periodisch auf. Äußere Bedingungen können sein Einsetzen herauszögern, aber auch beschleunigen.«
»Eben. In Bré Tsingas Werk werden mögliche Auslöser für diese Beschleunigung genannt. Es geht um besondere Trigger wie eine zu silikathaltige Ernährung über einen längeren Zeitraum. Oder mangelnde Bewegung. Oder bestimmte Reize, die von Haluter zu Haluter unterschiedlich sein können. Bei dem einen sind es besondere Farbkombinationen, bei dem anderen Atmosphärezusammensetzungen. Auch einzelne Keime und Bakterien werden als Grund für den Auslöser der Drangwäsche genannt.«
»Ich weiß«, grollte Icho Tolot. »Komm auf den Punkt!«
Matho Thoveno druckte mehrere Kärtchen aus, die Ergebnisse der vielfältigen Untersuchungen an Tolots Körper abbildeten, und betrachtete sie mit einem Stirnrunzeln.
»Was interessanterweise nicht erwähnt wird«, murmelte er, »sind Strahlenbelastungen, wie sie an Bord eines Raumschiffs nun mal vorkommen.«
»Ich habe 38,3 Prozent meiner Lebenszeit auf den verschiedensten Raumern verbracht und niemals ein vergleichbares Phänomen beobachtet.«
»Schiff ist nicht gleich Schiff. Die RAS TSCHUBAI ist in vielerlei Hinsicht etwas Besonderes. Und in einem unterscheidet es sich gravierend von anderen Raumern. Nicht wahr?«
Tolot verstand. Der Ara bewies wieder einmal, warum er dank seiner Art zu denken in der RAS TSCHUBAI unersetzbar war.
»Der Hypertransflug ... dass ich daran nicht gedacht habe.«
»Wahrscheinlich bringt die einsetzende Drangwäsche derartige Nachlässigkeiten mit sich. Aber dafür bin ja ich da. Es gibt tatsächlich statistisch relevante Hinweise, dass der Hypertransflug unterschwellige Effekte auslöst. Sie sind allerdings für sich genommen trotz ihrer nachgewiesenen Relevanz marginal und kaum anmessbar. Aber sie bauen sich nur langsam ab, vermutlich. Ich muss das weiter untersuchen, weil es nicht die ganze Antwort auf dein Problem sein kann.«
»Drangwäsche ist kein Problem«, korrigierte Tolot. »Sie ist ein Teil meiner Existenz, Teil meines Lebensrhythmus.«
»Für alle anderen Wesen an Bord ist sie ein Problem. Womöglich hat auch die Nähe zur Vektormaterie in Ancaisin als Brandbeschleuniger gewirkt. Wie auch immer: Die Drangwäsche wird sich nicht vermeiden lassen.« Matho Thoveno blickte ihn aus seinen roten Augen an, das erste Mal seit Beginn der Unterhaltung. »Ich prophezeie dir eine besonders heftige Vurhatu-Phase. Ich werde Kommandant Holonder und anderen Entscheidungsträgern an Bord des Schiffs raten, dich so schnell wie möglich irgendwo abzusetzen. Ich möchte, dass du von Bord der RAS TSCHUBAI verschwindest.«
4.
Neuer Auftrag, neues Glück
Onker Dous Leben hatte den Gipfel der Monotonie erreicht. Monotonie war gut, denn sie bedeutete, dass es an Bord der RAS TSCHUBAI ruhig war. Und Ruhe hieß für ihn weitgehend friktionsfreie Arbeitsschichten.
Selbstverständlich gab es immer wieder Probleme im Freizeitbereich. Ogygia, das Rekreationsdeck mit dem gewaltig großen Freizeitpark im Zentrum, stand oftmals im Brennpunkt. Wenn Rauschmittel oder Langeweile im Spiel waren – oder wenn wieder mal ein paar Terraner meinten, sich unbedingt mit einem Epsaler anlegen zu müssen.
»Versucht es bloß nicht!«, warnte Dou das Trio. »Ich müsste euch wegen Widerstands gegen die Interne Sicherheit beim Bordrat melden – und ich müsste euch vielleicht wehtun.«
»Red nicht so geschwollen daher!«, sagte Mimigo Hantubele, das Großmaul der Truppe. »Gegen drei von uns hast du keine Chance. Also geh uns aus dem Weg, Kleiner.«
Hantubele war ein notorischer Unruhestifter. Ein begabter Labortechniker zwar, aber mit einem viel zu hohen Aggressionspotenzial. Irgendwie war der Rudyner vor der Abreise der RAS TSCHUBAI bei der Aufnahme neuer Besatzungsmitglieder durchgerutscht. Kein System war perfekt. Selbst die Semitronik ANANSI beging Fehler. Weil man in den Charakter von Individuen nicht hineinschauen konnte.
»Ihr hattet genug Vurguzz für heute. Zieht euch in die Kabinen zurück und schlaft euren Rausch aus!«
»Willst uns wohl Vorschriften machen, du abgebrochener Sitzriese?«, höhnte Hantubele, während seine Kumpanen dazu johlten. »Mir reicht's endgültig mit der Bevormundung durch die Interne! Wenn ich einen draufmachen möchte, mache ich einen drauf!«
»Tu. Es. Nicht«, wiederholte Onker Dou und stellte sich möglichst breitbeinig hin. Die Konfrontation war nicht mehr aufzuhalten.
»Ich spuck dir auf die Glatze, du Quadratziegel!«, rief Hantubele, ging einen Schritt vor, schnappte nach Dou – und fuhr ins Leere. Der Zweimeterriese stolperte vorwärts und fing seinen Schwung am Stamm einer Buche ab, die in diesem Viertel Ogygias verstärkt vorkamen.
Hantubeles Begleiter erwachten aus ihrer Starre und stürzten sich ebenfalls auf Dou. Beide würden spätestens am kommenden Tag bereuen, was sie angestellt hatten. Mit dicken Köpfen würden sie zu Kreuze kriechen und sich für ihr Verhalten entschuldigen. In diesem Moment aber waren sie nicht mehr zu bremsen.
Onker Dou unterdrückte einen Seufzer. Die Monotonie war doch nicht so gut, wie er es gerne gehabt hätte. Sie bot den Besatzungsmitgliedern zu wenige Gelegenheiten, sich aneinanderzureiben.
Illustration: Dirk Schulz
Hantubele kehrte zurück. Mit einem Zornesschrei stürzte er sich auf Onker Dou.
Onker Dou schüttelte ihn ruckartig ab, streifte die Ärmel seiner sauberen Uniform hoch und erledigte seinen Job.
*
Klavs Herm Luetyens empfing Onker Dou in der Schiffszentrale. »Ich habe gehört, es gab ein wenig Ärger in Ogygia?«
»Nicht der Rede wert«, antwortete Dou knapp.
»Du hast die Situation bereinigt?«
»Ja.«
»Und ich darf wieder mal mit einer Beschwerde des Bordrates wegen des Einsatzes von unverhältnismäßiger Gewalt rechnen?«
»Ja.«
Luetyens seufzte tief. »Diese Klagen nehmen überhand, Onker.«
»Ich habe getan, was getan werden musste. Du weißt, dass wir einige Unruhestifter an Bord haben. Ich bin strikt gegen Gewalt. Aber wir müssen Grenzen ziehen.«
»Wer war es denn dieses Mal?«
»Mimigo Hantubele.«
»Ich verstehe. Und ich finde ihn in der Medoabteilung?«