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Aniela Jaffé

Aus C.G. Jungs letzten Jahren

und andere Aufsätze
(bisher erschienen unter dem Titel:
„Aufsätze zur Psychologie C.G. Jungs“)

 

 

DAIMON

VERLAG

 

Das vorliegende Buch ist eine Neuauflage des bisher unter dem Titel „Aufsätze zur Psychologie C.G. Jungs“ erschienenen Bands von Aniela Jaffé. Ein Teil der Beiträge ist erstmals im Rascher Verlag, „Aus Leben und Werkstatt C.G. Jungs“ erschienen. Die Quellen der verschiedenen Aufsätze sind im Vorwort ausführlich angegeben.

 

2. Auflage

 

ISBN 978-3-85630-973-2

 

Copyright © 2020, 1987 Daimon Verlag, Einsiedeln

 

Umschlaggestaltung: Joel T. Miskin

Umschlagfoto: © Aniela Jaffé

Foto der Autorin: © Bobhin

 

Inhalt

Vorwort

Aberglaube

Parapsychologie: Erfahrungen und Theorie

Okkultismus und Spiritismus

Synchronistische Phänomene

Die Alchemie

Die Einheitswirklichkeit und das Schöpferische

Erich Neumann und C.G. Jung

C.G. Jung und die Eranos-Tagungen

Erinnerungen aus C.G. Jungs letzten Jahren

In dem Aufsatz „Erinnerungen“ erwähnte Werke von C.G. Jung

 

Aniela Jaffé (1903–1991) war Analytikerin in Zürich und langjährige Mitarbeiterin C.G. Jungs. Als Herausgeberin von Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung ist sie einem großen Leserpublikum bekannt geworden. Sie hat mit ihren zahlreichen Publikationen maßgeblich dazu beigetragen, dass seine Psychologie einem breiteren Kreis näher gebracht wurde.

Ihr Interesse galt nicht nur der Analytischen Psychologie, wie viele ihrer Bücher bezeugen, sondern auch der Literatur und Parapsychologie.

Weitere Titel von Aniela Jaffé sind auf www.daimon.ch beschrieben.

 

Vorwort

Ich bin dem Daimon Verlag zu Dank verpflichtet, daß er es unternommen hat, einige bereits vergriffene oder verstreut erschienene Aufsätze von mir im vorliegenden Band neu herauszugeben und zugänglich zu machen.

Die einleitenden Bemerkungen über „Aberglauben“ erschienen in der Zeitschrift „Ex Libris“ im März 1968.

Die Aufsätze über „Parapsychologie“, „Die Alchemie“ und „Aus Jungs letzten Jahren“ entstammen dem vergriffenen Buch Aus Leben und Werkstatt von C.G. Jung (Rascher Verlag 1968, später Walter-Verlag).

Es gehörte zu C.G. Jungs wissenschaftlichem Vorgehen, daß er in seinen Schriften auf wesentliche Probleme zurückkam, sie von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtete, alte Fragen neu durchdachte und neue und differenziertere Antworten erteilte. Das macht die Lektüre seines umfangreichen Werks zu einem spannenden Erlebnis, erschwert jedoch die gründliche Kenntnis eines einzelnen Fragenkomplexes. So ist es nur natürlich, daß an Jungs Mitarbeiter und Schüler immer wieder die Bitte gerichtet wurde, ein einzelnes Thema seiner Psychologie darzustellen.

1965 wurde ich von Professor J. R. Smythies, M. D., University of Edinborough, aufgefordert, für einen Sammelband Science and ESP (Naturwissenschaft und außersinnliche Wahrnehmungen) im Rahmen der „International Library of Philosophy and Scientific Method” einen Beitrag über C.G. Jungs Erfahrungen und Forschungen auf dem Gebiet der Parapsychologie zu liefern. Der hier vorliegende Aufsatz „Parapsychologie: Erfahrungen und Theorie“ ist eine erweiterte Fassung jenes Beitrags.

Jungs parapsychologische Forschungen gehören zu den schwierigsten, vom naturwissenschaftlichen Gesichtspunkt aus jedoch wichtigsten Kapiteln seines Werks. Das von ihm aufgestellte, die Kausalität ergänzende Erklärungsprinzip der Synchronizität ermöglichte die wissenschaftliche Einordnung und das Verständnis zahlreicher bisher unerklärt gebliebener Phänomene. Aufgrund seiner Einsichten wurde die Parapsychologie zur Brücke zwischen der Psychologie des Unbewußten und der Mikrophysik.

Mit Vorliebe wandte Jung sein Interesse abseitigen und darum beunruhigenden Problemen zu, was er damit begründete, daß in Sicherheit, Gewißheit und Ruhe keine Entdeckungen gemacht werden. Ein abseitiges Thema war die Parapsychologie und ist es in vieler Augen auch heute noch. Das gleiche gilt von der Alchemie. Jung erkannte aber, daß in den Bemühungen der alten Alchemisten nicht nur die Anfänge der Chemie liegen, sondern daß der Inhalt ihrer Texte auch als eine dem Unbewußten entstiegene mystisch-religiöse Bilder- und Gedankenwelt betrachtet werden müsse. In diesem verborgeneren Aspekt liegt ihre Bedeutung für die tiefenpsychologische Forschung.

Die „Bollingen Foundation“, New York, später Princeton, beauftragte mich, für den Bücherkatalog The Mellon Collection of Alchemy and the Occult ein Vorwort zu schreiben, das dem Thema „Der Einfluß der Alchemie auf das Werk von C.G. Jung“ gewidmet sein sollte. Der in diesem Band enthaltene Aufsatz „Die Alchemie“ ist dessen erweiterte Fassung.

Der Aufsatz „Die Einheitswirklichkeit und das Schöpferische“ bildete meinen Beitrag in der Festschrift Kreativität des Unbewußten zum 75. Geburtstag von Erich Neumann (1905 – 1960), herausgegeben von der Zeitschrift „Analytische Psychologie“ (Karger-Verlag). Den Ausgangspunkt bilden Neumanns Gedanken zur „großen Erfahrung“ des Menschen angesichts des schöpferischen Werkes, in welchem das Transzendente symbolisch dargestellt und ahnend erfaßt werden kann. Der Vergleich mit entsprechenden Gedanken C.G. Jungs vermittelt einen Einblick in Ähnlichkeit und Verschiedenheit beider Weltanschauungen.

Über „C.G. Jung und die Eranos-Tagungen“ sprach ich an der Eranos-Tagung 1975 in Ascona, die im Zeichen von Jungs 100. Geburtstag stand (Eranos-Jahrbuch 44, 1975). Der Aufsatz enthält Erinnerungen an gemeinsames Erleben der Tagungen, bei welchen Jung das geistige und menschliche Zentrum bildete. Seine Beziehung zur Gründerin der Tagungen, Olga Froebe-Kapteyn (1881 – 1962) wird kurz dargestellt

Der Aufsatz „Aus C.G. Jungs letzten Jahren“ beruht auf meinen persönlichen Erinnerungen. Ich schrieb ihn auf Bitten zahlreicher Menschen, die die wissenschaftlichen Gedanken Jungs kannten und sich auch ein Bild von seiner Persönlichkeit machen wollten. Ihre Bitte war verständlich, da Jung schon während Lebzeiten zu einer Legende geworden war – eine seltsame Tatsache, an der auch das nach seinem Tod veröffentlichte Buch Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung nichts änderte. In diesem Erinnerungsbuch ist fast ausschließlich die Rede von den Erfahrungen und Entwicklungen des „inneren Menschen“ – Jung nannte ihn „Nr. 2“ –, aber nur wenig von seiner Persönlichkeit „Nr. 1“, die im Außen wurzelte und Mensch unter Menschen war. Mein Aufsatz will nichts anderes bringen als eine lose Folge von Momentaufnahmen der Persönlichkeit „Nr. 1“, Streiflichter aus den letzten Lebensjahren von C.G. Jung. Ihnen müßten allerdings noch zahlreiche andere Aufnahmen beigefügt werden, um das Bild des Menschen abzurunden.

Es sind zeitlose oder archetypische Themen, mit denen sich die einzelnen Kapitel befassen. Aus diesem Grunde ist ihr Inhalt heute noch ebenso aktuell wie zur Zeit ihrer ersten Publikation.

November 1981

Aniela Jaffé

 

Da der Band „Aufsätze zur Psychologie C.G. Jungs“ inzwischen vergriffen ist, freue ich mich, daß die darin enthaltenen Beiträge nun wieder erscheinen unter dem neuen Buchtitel „Aus C.G. Jungs letzten Jahren“.

Im Frühjahr 1987

A.J.

 

Aberglaube

„Aberglaube ist der Glaube an die Wirkung und Wahrnehmung naturgesetzlich ungeklärter Kräfte, soweit diese nicht in der Religionslehre selbst begründet sind“, so lautet die Definition im „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“, das nicht weniger als zehn Bände in Lexikonformat umfaßt. Seit dem letzten Jahrhundert zieht man vielfach den Ausdruck „Volksglaube“ vor, doch widerspricht diese Umschreibung den Tatsachen, wenn unter „Volk“ die breite Schicht der Nichtintellektuellen verstanden wird. Welcher moderne Intellektuelle nimmt es gleichgültig hin, wenn er als dreizehnter Gast zur Tafelrunde erscheint?, wenn er, den eben vollendeten Roman in der Tasche, vor der Tür des Verlegers stolpert?, wenn sein Wagen auf dem Weg zur Freundin streikt? Welcher Gebildete überspringt das Horoskop im Wochenblatt? Christophorus-Plaketten, Stofftiere, alraunenhafte Figürchen und andere Mascottes sollen – nicht nur in Volkswagen – einen Abwehrzauber gegen Unfall und Gefahr ausüben. Daß die vielfältigen Erscheinungen modernen Aberglaubens in allen sozialen Schichten, bei Männern wie bei Frauen, eine Rolle spielen, entgeht keiner aufmerksamen Beobachtung.

Manches galt gestern noch als Aberglaube, was heute Gegenstand wissenschaftlicher Forschung ist. „Er fürchtet, sein Stolpern habe eine üble Vorbedeutung! Er glaubt sogar an Träume, dieser lächerliche, abergläubische Mensch!“ Wer so urteilt und verurteilt, weiß nicht, daß Sigmund Freud schon vor mehr als einem halben Jahrhundert auf den Sinn von Fehlleistungen gewiesen hat, und dazu gehören Versprechen, Vergessen ebenso wie Stolpern, Fallen usw. Auch geht er an der Tatsache vorbei, daß die Sprache der Träume von der modernen Tiefenpsychologie entziffert wurde. Allerdings offenbaren Träume ihren Sinn nur einer sorgfältigen Deutung. Das „Uralte Chaldäische Traumbuch“, in dem es heißt: „von Soldaten träumen bedeutet Geldgewinn“ und „von Rosen träumen bedeutet Liebe“, vermittelt keine Wahrheit. Solange man sich an solch billige „Traumschlüssel“ hält, ist das Verdikt „Aberglaube“ am Platz. Meist steigert sich die Entrüstung der Aufgeklärten, wenn von Wahrträumen und Vorahnungen die Rede ist, obwohl die Echtheit dieser Phänomene schon längst festgestellt wurde und die Fähigkeit des Menschen, Zukünftiges zu „wissen“, in Laboratoriumsversuchen nachgeprüft worden ist. Wahrträume ebenso wie verwirklichte Vorahnungen sind aber relativ seltene, irregulär auftretende Ereignisse, und keine Wissenschaft hat es vermocht, ihnen den Charakter des Wunderbaren zu nehmen. Dies verführt immer wieder dazu, ihre Echtheit zu bezweifeln und sie ins Gebiet des Aberglaubens zu verbannen.

Als Aberglaube gilt das bekannte Deuten und Berücksichtigen äußerer „Zeichen“. Schicksal und Charakter werden aus dem Stand der Sterne, den Linien der Hand, der Lage von Tarotkarten gedeutet. In der Antike verkündeten Priester das Orakel nach dem Flug der Vögel oder aus den Gedärmen geschlachteter Opfertiere. Vor allem gelten ungewöhnliche Ereignisse – Kometen, eine Fledermaus am hellichten Tag, die zweite Blüte eines Fruchtbaumes – als Omen, als schicksalskündendes Zeichen. Als Goethe nach dem Tod Christianes noch einmal zu Marianne von Willemer reisen wollte, brach unterwegs der Wagen. Goethe nahm es als „Zeichen“, kehrte um und ließ den Plan des Besuchs für immer fallen. Sein Tun erscheint als purer Aberglaube, aber was ihn leitete, war der Glaube an unfaßliche Schicksalsmächte, und es war ihm innerstes Bedürfnis, ihre „Zeichen“ zu beachten, sich mit ihnen in Einklang zu wissen. Dabei verlor er jedoch niemals das Gefühl eigener Freiheit, nie das Bewußtsein der Distanz. Aberglaube galt ihm als „die Poesie des Lebens“. Nur wo eine zwanghafte Bindung an die „Zeichen“ besteht, wo sie angsterfüllt berücksichtigt werden, treten Enge und Fessel des Aberglaubens an die Stelle eines Weltgefühls, das im Innen und Außen, in Mensch und Kosmos bedeutsame Analogien ahnt.

Als C.G. Jung in Zentralafrika bei dem Stamm der Elgonyi weilte, beobachtete er, daß sie allmonatlich die schmale Sichel des Neumonds begrüßten und den Augenblick seines Aufgangs heiligten: sie streckten ihm die mit Speichel befeuchteten Hände entgegen, womit sie ausdrücken wollten: ich biete Dir meine Seele dar. Jung übernahm den Ritus. Wann immer die Sichel des Neumonds am klaren Himmel sichtbar wurde, begrüßte er sie nach Art der Elgonyi. War das Aberglaube? Nein, denn es geschah in spielerischer Freiheit und war getragen vom Wissen über den Sinn der symbolischen Geste. Er übernahm sie als Ausdruck der Verehrung für die Größe einer Macht, die uns unfaßlich umgibt und ebenso unfaßlich in uns lebt.

 

Parapsychologie: Erfahrungen und Theorie