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Jaromir Konecny

DU WÄCHST
FÜR DEN GALGEN

Ein Roman in Geschichten

edition lichtung

Impressum

eBook-Ausgabe 2019

© lichtung verlag GmbH

94234 Viechtach Bahnhofsplatz 2a

www.lichtung-verlag.de

Fotos Umschlag und innen: Archiv Jaromir Konecny

eBook ISBN 978-3-941306-96-7

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Unbefugte Nutzungen wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übetragung können zivil- und strafrechtlich verfolgt werden.

Die gedruckte Ausgabe ist in der edition lichtung erschienen:

1. Auflage 2019

© lichtung verlag GmbH

ISBN 978-3-941306-92-9

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie unter www.lichtung-verlag.de.

INHALT

Große Träume

Meine Oma will nicht mehr mit mir spielen

Wie man zu einem Witz wird

Forschungsreisende von der Hundebude

Die beste Sodovka der Welt

Das magische Auge

Pflückglück und Blumenblau

Idioten im Schwimmbad

Sex im Sozialismus

Mutters Ramsch

Vaters Gurken

Es muss nicht immer Kaviar sein

Allzu viel ist ungesund

Ich hätte den Dichter heiraten sollen

Der Bock

Die Friedenstaube

Schola ludus

Wer seine Glorie kennt

Wenn eine Geschichte erzählt worden ist

Mein Karma

Warum ich Schriftsteller wurde

Tischsitten des Proletariats

Mutterherz

Mutter, Mord und Dostojewski

Rote Ernte

Reich oder romantisch

Der Liebe Zeit

Liebe zu Liba

Gleiche Witze

Das Scheitern vor dem Ziel

Die Blicke der Ladenmädchen

Die Ichliebedichzusagenphobie

Das Geschlechtsleben der Revolutionäre

Drei Orangen für dich

Der Held im Manne

Überraschung

Wenn Frauen sich messen

Das Raucher-Dilemma

Solange die Sprache lebt, ist der Mensch nicht tot

Harte Männer

Der Walzerkönig oder Die Geschichte eines Fotos

Der Datenschutz im Sozialismus

Das Lachen der Frauen

Belgrad 1976 – das Familiendrama in Mähren

Wie meine Mutter meine wahre Berufung entdeckte

Schau, was er im Westen macht

Männer und Technik

Bist du wirklich Doktor?

Guckgedanken in der Sauna

Anleitung gegen Liebeskummer oder Eine Mutter fürs Leben

Über den Autor

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Große Träume

In meiner ersten Erinnerung bin ich vier Jahre alt: Vor Kurzem musste ich das hunderttürmige Prag, meine Geburtsstadt, für das tausendhündige Schamberg tauschen, ein Städtchen in Nordmähren. Aus jedem Hof bellte ein Hund meine Mutter und mich an, als wir in das Geschäft für Baumaterialien gingen, wo Mutter damals arbeitete.

„Warum arbeitest du jetzt, Mama?“

„Damit du mit deiner Oma spielen kannst“, sagte sie.

„WAUWAU!“ Manche Hunde kamen mir größer als die Zäune vor, hinter denen sie hin und her liefen: geifernd und bellend. „Wenn du nicht brav bist, springt der Wolf über den Zaun und verschlingt dich wie eine Himbeere“, würde meine Oma in meiner zweiten Erinnerung sagen.

In meiner ersten Erinnerung musste ich zum Glück keine Himbeere spielen: An diesem Tag hatte meine Oma sich von mir frei genommen. Ich stand im Hof des Baumaterialien-Geschäfts, um mich herum spießten Berge aus Ziegeln, Kacheln und Betonplatten die Wolken auf. Überall beluden Lastwagenfahrer ihre Laster. Feiner weißer Staubnebel hüllte uns ein.

Erst in der Zigarettenpause legte sich der Staub etwas. Im Sozialismus fand die Zigarettenpause jede halbe Stunde statt und dauerte genau eine halbe Stunde, sodass du nach der Schicht nicht wusstest, ob du in der Arbeit warst oder in der Pause.

Ein Riese von einem Mann warf mich hoch. Sein Bizeps aufgepumpt wie die Reifen seines Lasters. Gleich würde ich noch Jahre vor Neil Armstrong auf dem Mond landen – doch ich landete nur auf der Schulter des Riesen. Sein Stoppelbart kratzte an meinen Oberschenkeln. Schon damals wusste ich, wie Frauen sich fühlen, wenn ihnen ein Mannsgesicht zwischen die Schenkel gerät.

„Was möchtest du sein, wenn du groß bist?“, fragte mich ein Kumpel des Riesen. Sicher erwarteten alle Lastwagenfahrer um uns herum, ich würde „Lastwagenfahrer“ antworten.

Ich guckte zu meiner Mama. Sie lächelte mich an, unter den Blicken der verschwitzten Supermänner in ihren ärmellosen Tank-Tops strammstehend, als hätte in diesem Stahlbad aus Blicken nur eine stramme Superfrau schwimmen können.

„Na, Jarek!“, sagte sie. „Sag Karel, was du sein möchtest.“ Sicher wollte meine Mutter von mir „Astronaut“ oder „Präsident“ oder zumindest „Einstein“ hören.

Doch ich sagte: „Rentner!“ Schon damals fand ich Arbeit zum Kotzen.

Zum Glück las meine Mutter viel. Vor allem Krimis, weil sie sich nur mit Mord und Totschlag beschäftigten und nicht mit solch unmenschlichen Sachen wie Arbeit. Oft hat meine Mutter mich in die Stadtbücherei geschleppt. Während sie dort mit der schönen Bibliothekarin Kaffee trank und über Verbrechen palaverte, spielte ich auf dem Boden mit Büchern. Glück ist, beim Spielen mit Büchern lesen zu lernen.

Seit ich lesen konnte, wollte ich kein Rentner mehr sein, ich wollte Schriftsteller werden. Ich verschlang ein Buch nach dem anderen und träumte davon, über meine Abenteuer zu schreiben: Wie ich im alten Ägypten Kleopatra aus den Fängen von Schurken rettete, am Amazonas Schmetterlinge jagte, mit Überlichtgeschwindigkeit durch die Weiten des Kosmos flog. „Das ist Blödsinn, Konecny!“, tadelte mich der Physiklehrer viel später – in der achten Klasse. „Man kann nicht schneller als Licht fliegen!“

„Ist der Raum nach Einstein gekrümmt oder nicht?“, fragte ich. „Schon, aber, …“

„Dann stellen Sie sich den Raum wie einen Pfeilbogen vor!“, sagte ich dem Lehrer. „Wir starten an einem Bogenende, okay? Sie fliegen mit der Lichtgeschwindigkeit entlang des Bogens und ich entlang der Sehne. Wer ist dann schneller am anderen Ende? Aha! Keine Ahnung von Physik, was?“ Er hat mir einen Fünfer gegeben.

Wegen meines Lesewahns wusste ich jeden Blödsinn. Meine Mutter führte mich gern Besuchern unseres Hauses vor: „Jarek, sage, wie viel ein Elefantenbaby wiegt!“

„Bis zu hundert Kilo“, sagte ich, und alle bewunderten mich, weil ich Sachen wusste, von denen nicht einmal „das Lexikon“ je etwas gehört hatte – der klügste Lehrer unserer Schule.

Meine Mutter wollte mich zu einem großen Naturwissenschaftler meißeln – in den Stein hauen für die Ewigkeit. Oft schimpfte sie mit mir, wenn mich gerade andere Sachen als Chemie und Physik interessierten, wie Fußball oder Zaubertricks oder das Jonglieren: „Du weißt von allem ein bissl, aber zusammen nix!“, plärrte sie.

„Ich möchte Schriftsteller werden, Mama!“, sagte ich.

Doch meine Mutter lachte nur: „Als Schriftsteller verdienst du kein Geld!“

Mit zwölf bekam ich von ihr zu Weihnachten einen Chemiebaukasten. Beim Experimentieren verursachte ich auf unserem Dachboden eine kleine Explosion, setzte unser Haus in Brand und musste mir von meiner Mutter einen ihrer geflügelten Sprüche anhören: „Du wächst für den Galgen!“

Doch kurz darauf war sie wieder die Frau, die gemäß ihrem Leitspruch lebte: „Jede noch so traurige Geschichte hat eine lustige Seite. Du musst sie nur finden.“

Damals fand sie zumindest eine gute Sache am verbrannten Dachboden: „Siehst du?“, sagte sie zu meinem Vater nach den Löscharbeiten. „Jarek wird ein genialer Chemiker, und damit basta.“ Doch mein Vater wollte mir wegen meines Forscherdrangs nur den Hintern versohlen.

Um meine Mutter zu überzeugen, dass ich ein noch besserer Schriftsteller als Chemiker war, schrieb ich mit zwölf einen Krimi für sie. Leider ist mir der Krimi so unanständig geraten, dass ich dafür von meiner Mutter zwei Wochen Hausarrest bekam. So war’s in der sozialistischen Diktatur nun mal. Schriftsteller wurden dort schon mit zwölf verfolgt.

Meine Mutter ist schon lange tot. Was würde sie aber sagen, wenn sie erfahren könnte, dass ich am Ende doch ein Schriftsteller geworden bin? Obwohl ich sogar Chemiker gewesen war, wie sie das gewünscht hatte.

Ich glaube nicht an Gott. Doch wenn es Gott und seinen Himmel gäbe, würde meine Mutter sicher jetzt auf einer Wolke stehen und runterbrüllen: „Habe ich dir nicht gesagt, dass ein Schriftsteller kein Geld verdient, du Idiot? Warum bist du nicht Chemiker geblieben?“

„Weil mir das Kochen von Geschichten viel mehr Spaß macht als das von Substanzen, Mama!“, würde ich nach oben rufen. Und dann würde ich anfangen, Geschichten über meine Mutter aufzuschreiben. Denn wenn eine Geschichte einmal aufgeschrieben wird, lebt sie für immer.

Meine Oma will nicht mehr mit mir spielen

„Oma, steh auf!“ Ich hielt die Hand von Oma Františka, der Mutter meines Vaters, und versuchte, sie vom Bett zu zerren. „Steh auf, Oma! Wir spielen!“ Doch Oma bewegte sich nicht. Mit vier war ich zu schwach, sie vom Bett herunterzubekommen.

Geschlafen hat Oma nicht – ihre Augen waren auf. Nur gelächelt hat sie komisch. Lächelte sie überhaupt? Ich kletterte zu ihr aufs Bett. „Oma! Spielen!“

Meine Mutter kam ins Zimmer gelaufen: „Komm, Jarek! Oma braucht Ruhe!“

„Oma muss mit mir spielen!“

„Oma will sich verabschieden!“, sagte meine Mutter. „Wenn jemand weggehen will, darfst du ihn nie daran hindern.“

Sie kniete sich hin und packte meine Hände: „Verstanden, Jarek? Du darfst niemals jemanden festhalten, der weggehen will.“

„Wo ist Oma dann, wenn sie weggeht?“, fragte ich.

Meine Mutter lächelte. Doch etwas anders als sonst: nicht lustig. „Hier“, sagte sie und klopfte mir auf die Stirn. „Dort bleibt deine Oma für immer. Wenn du Oma magst!“

„Klar mag ich meine Oma“, rief ich, lief nach draußen und spielte im Hof mit Hühnern.

Erst viel später las ich in Tao Te King: „Wer die Welt behandeln will, verdirbt sie, wer sie festhalten will, verliert sie.“

Wie man zu einem Witz wird

Noch jetzt erinnere ich mich daran, wie meine Mutter mich zum ersten Mal ins Schwimmbad mitnahm. Mit etwa vier. Ich habe mich sehr gewundert, weil ich sie vorher noch nie im Bikini gesehen hatte. Dann wunderte ich mich übers Schwimmbad: Überall Leute und das nahezu nackt. Bei uns zu Hause bin nur ich nackt herumgelaufen. Meine jüngste Schwester war vier Jahre älter als ich, sie ließ sich im Haus nur angezogen blicken.

Das Schwimmbad war eine sehr exotische Sache für mich. Alle Menschen auf einem Haufen im Becken.

„Geh ins Wasser, Jarek!“, sagte meine Mutter. „Dorthin, ins kleine Becken!“ So ging ich ins Wasser, war aber kurz darauf wieder zurück.

„Machtʼs dir keinen Spaß im Wasser?“, fragte meine Mutter.

„Doch!“, sagte ich.

„Warum bist du dann schon wieder draußen?“

„Ich hab keinen Durscht mehr, Mama!“

Ein Jahr später ging ich mit meiner Mutter in ein Kleidergeschäft in Schamberg. „Ist das der Junge, der das ganze Wasser im Schwimmbad ausgetrunken hat?“, rief eine Verkäuferin.

Sie selbst hätte nicht in das kleine Becken im Schwimmbad gepasst, so viel Volumen hatte sie. Nur Bibliothekarinnen waren im Sozialismus noch dicker als Verkäuferinnen. Der Sozialismus war sehr frauenfreundlich: 40 Prozent der Frauen in der DDR waren übergewichtig.

Zwölf Jahre später, als ich 16 war, erzählte man mir in einer mährischen Kneipe den Witz über einen kleinen Jungen, seine Mutter und das Schwimmbad:

„Warum gehst du schon aus dem Wasser, Schatzi?“

„Ich habe keinen Durscht mehr, Mama!“

Meine Mutter hatte eine größere Reichweite als das sozialistische Fernsehen.

Forschungsreisende von der Hundebude

„Ich bin in Prag geboren“, sagte ich im Kindergarten mit etwa fünf meinem besten Kumpel Tonda.

„In Prag gibt’s die schönsten Weiber der Welt“, sagte Tonda. Er war fünfeinhalb und der größte Schürzenjäger im Kindergarten. Einigen Mädels hatte er schon das Herz gebrochen.

Am Nachmittag spielten wir im Hof von Tondas Oma mit Murmeln. Plötzlich schlich sich von hinten ein Gänserich an den hockenden Tonda heran und zwickte ihn kräftig in den Po.

„Autsch!“, kreischte Tonda. Er packte den Gänserich mit beiden Händen an seinem langen Hals, begann sich um die eigene Achse zu drehen wie ein Diskuswerfer im Fernsehen, und WUMM! Tonda warf den Gänserich über den Zaun.

Leider hat uns Tondas Oma aus dem Fenster ihres Hauses beobachtet. Zur Strafe kettete sie uns an die Hundebude. Zum Glück war ihr Hund schon tot.

Doch die Kinder, die aus der Schule heimgingen, waren viel brutaler: Sie blieben hinter dem Lattenzaun des Hofes stehen, zeigten auf uns und lachten uns aus.

Auch meine Schwester entdeckte uns an der Hundebude.

„Kannst du unsere Mama rufen?“, bettelte ich.

Doch sie lachte nur: „Wenn du an der Hundebude angekettet bist, kannst du nichts anstellen“, rief sie. Ich musste etwas ganz Unanständiges sagen, damit meine Schwester heimlief und unserer Mutter petzte.

Doch als meine Mutter auftauchte und mich und Tonda an der Hundebude angekettet sah, bekam sie einen Lachanfall und gackerte lauter als der Gänserich. Statt uns zu befreien, trank sie mit Tondas Oma in ihrer Küche einen Kaffee und ließ uns draußen an der Hundebude bellen. Das würde ich meiner Mutter nie verzeihen. Auch Tonda war sauer.

„Wir hauen nach Prag ab“, sagte ich ihm am nächsten Tag auf dem Heimweg vom Kindergarten.

„Klar!“, sagte Tonda. „Wenn die Erwachsenen so ungerecht sind, sollen die hier weinen. Und wir werden uns im Hotel Jalta in Prag mit schönen Damen amüsieren.“ Leider wussten wir damals nicht, dass es nach Prag 300 Kilometer waren.

Damit wir unterwegs Gesellschaft hatten, tauschte ich mit einem anderen Kumpel mein neues Dreirad gegen seinen Hund aus. So gestärkt brachen Tonda, ich und der Hund nach Prag auf.

Erst zwei Dörfer weiter fand uns Tondas Vater. Auf der Suche nach uns war er mit seinem Auto in der Umgebung hin und her gefahren.

„Ich wollte ihn erst mit dem Gürtel zu züchtigen anfangen, wenn er acht ist“, sagte mein Vater, ein alter Kommunist, nachdem mich Tondas Vater nach Hause gebracht hatte. „So wie es die sozialistische Pädagogik empfiehlt. Ich glaube aber, ich fange schon jetzt damit an.“

„Du willst ihn doch nicht für seine Neugier verprügeln?“, sagte meine Mutter. Zur Strafe las sie mir vor dem Einschlafen aus Tom Sawyers Abenteuern vor. Mit einem Lächeln im Gesicht schlief ich dabei ein.

Die beste Sodovka der Welt