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Mami
– Staffel 12 –

E-Book 1838-1847

Bentlage Felicitias
Sina Holl
Isabell Rohde
Eva-Maria Horn
Annette Mansdorf

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-843-5

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Leseprobe:
Doppelband

Leseprobe

Michaela Dornberg ist mit ganzem Herzen in die bezaubernde Welt des Sonnenwinkels eingedrungen, sie kennt die so sympathische Familie des Professors Auerbach mit dem Nesthäkchen Bambi inzwischen schon besser als jeder andere. Die geliebte kleine Bambi wird in den neuen Romanen für besondere Furore sorgen, und eine erfrischend engagierte junge Ärztin wird den Sonnenwinkel gehörig aufmischen.

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Wenn Mami und Papi streiten…

Unruhig wälzte sich die neunjährige Jana in ihrem Bett hin und her. Sie konnte keinen Schlaf nach dem Streit der Eltern am Abend zuvor finden, immer und immer wieder mußte sie an das wütende Schreien des Vaters und das Weinen der Mutter denken.

Es war nicht das erste Mal gewesen, daß sich Robert und Silvia lautstark stritten, wenn sie meinten, daß die Kinder schliefen. Doch mit jedem Mal wurden die Streitgespräche heftiger und länger.

Janas siebenjähriger Bruder Alexander, kurz Alex genannt, war wie so oft schon verstört in das Bett seiner älteren Schwester gekrochen, als die ersten lauten Worte unten aus dem Wohnzimmer zu hören waren. Nun schlief er fest, und Jana hatte nicht das Herz, ihn zu wecken und in sein eigenes Zimmer zu schicken.

Vorsichtig, um nicht den Kleinen zu wecken, schwang Jana die Beine aus dem Bett und schlich aus dem Zimmer. Nun war alles still in dem modernen Einfamilienhaus, denn es war weit nach Mitternacht.

Ganz leise öffnete Jana die Tür zum elterlichen Schlafzimmer und warf einen Blick auf die schlafende Mutter – der Platz des Vaters war leer. Doch das war kein Grund zur Besorgnis, denn nach einem Streit pflegte Robert Kirstein im Gästezimmer zu übernachten.

Beruhigt stellte Jana wenig später fest, daß auch der Vater schlief. Nach einem kurzen Abstecher in die Küche, wo sie einen Schluck Mineralwasser trank, ging Jana wieder zurück in ihr Zimmer. Alex hatte nicht mitbekommen, daß seine Schwester auf Erkundungsgang gewesen war.

Die größte Sorge der Geschwister war, daß sich die Eltern eines Tages scheiden lassen könnten; beide hatten Angst, daß es dazu kommen würde. Doch solange die Eltern unter einem Dach schliefen, konnten die Kinder beruhigt sein.

Zärtlich kuschelte sich Jana an Alex’ Rücken und schlief endlich auch ein…

*

Erschrocken sah Silvia Kirstein in den Badezimmerspiegel. Ihr Gesicht sah vom Weinen verquollen aus, und dabei hatte sie an diesem Vormittag einen wichtigen Gerichtstermin.

Die Kinder schienen zu ahnen, daß mit der Ehe etwas nicht stimmte, doch auch sie brauchten nicht zu sehen, daß ihre Mutter geweint hatte.

Silvia wusch sich das Gesicht mit viel kaltem Wasser und schminkte es danach. Nun sah man ihr kaum noch die Spuren der Nacht an.

Robert hatte schon längst das Haus verlassen, als Silvias Wecker klingelte. Der erfolgreiche Immobilienmakler zog es meistens vor, in einem Café zu frühstücken anstatt mit seiner Familie.

Bevor Silvia die Kinder weckte, bereitete sie das Frühstück vor und konnte dabei kaum die Tränen zurückhalten. Wie sollte das weitergehen mit Roberts ständigen Frauengeschichten?

Nicht, daß Robert jemals erwähnte, wo er seine Abende verbrachte – aber Silvia hatte schon so oft den Geruch eines billigen Parfüms oder Lippenstiftspuren an seinen blütenweißen Hemden gefunden, daß sie sich ausrechnen konnte, daß er mal wieder gelogen hatte, als er kurz anrief und behauptete, daß es wegen eines wichtigen Geschäftsessens später werden würde, bis er nach Hause kam.

Robert Kirstein hatte nie etwas abgestritten, wenn ihn Silvia auf seine Frauengeschichten ansprach – und das machte sie noch wütender. Nicht einmal den Versuch unternahm er, zu leugnen oder zerknirscht zuzugeben, daß so etwas nie wieder vorkommen würde.

Silvia hatte gerade ihr Jurastudium beendet, als ihr Robert Kirstein über den Weg gelaufen war. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt darunter gelitten, daß ihre große Liebe Stefan Winter, ebenfalls ehemaliger Jurastudent, sich von ihr getrennt hatte.

Im Gegensatz zu Silvia, deren Traum es war, eines Tages eine erfolgreiche Rechtsanwältin zu sein, wollte Stefan Richter werden. Um diesen Berufswunsch realisieren zu können, mußte er in eine andere Stadt ziehen.

Silvia hatte gebeten und gebettelt, doch zu bleiben, aber Stefan war damals so ehrgeizig gewesen, daß er nach dem Verstand und nicht nach dem Herzen entschied. Er schwor Silvia zwar, ihr zu schreiben oder anzurufen, doch schon nach wenigen Wochen verlief die Geschichte im Sande.

Als Silvia nur wenig später dann den gutaussehenden, zehn Jahre älteren Robert Kirstein kennenlernte, befand sie sich in einem seelischen Tief, so daß sie sich gerne von dem charmanten Immobilienmakler von ihrem Kummer ablenken ließ.

Als er sie bat, seine Frau zu werden, willigte sie sofort ein. Zu seiner großen Freude gestand ihm Silvia kurze Zeit später, daß sie schwanger war. Zwei Jahre später, nach Jana, wurde Alexander geboren, und die Familie war komplett.

Doch schon nach sehr kurzer Ehezeit stellte Silvia entsetzt fest, daß Robert sie betrog. Zunächst ließ sie nichts darüber verlauten, doch als Robert immer wieder Affären hatte, stellte sie ihn zur Rede.

Doch der wunderte sich, daß seine Frau solch einen Aufstand darüber machte und erklärte ihr kühl, daß es nichts zu bedeuten hätte – und schließlich würde das jeder Mann so machen.

Robert hatte Silvia nie soviel bedeutet wie Stefan, doch taten ihr die gefühllosen Worte weh. Sie wußte in diesem Moment, daß sich Robert nie ändern würde und sie damit leben mußte.

Als Alex drei Jahre alt war, eröffnete Silvia ihre eigene Anwaltskanzlei. Robert finanzierte großzügig Kanzleiräume und Mobiliar. Möglicherweise war dies eine Art Entschädigung für seine Seitensprünge, doch Silvia hatte nie danach gefragt. Sie genoß es, ihre Tage damit zu verbringen, in Not geratene Menschen vor dem Gericht zu vertreten. Natürlich hatte sie damals oft ein schlechtes Gewissen wegen der Kinder gehabt; sie konnte nicht mehr viel Zeit mit ihnen verbringen. Doch Alex ging bereits in den Kindergarten, und Jana würde im kommenden Jahr zur Schule kommen. Sie waren nicht mehr so klein, daß sie ihre Mutter rund um die Uhr brauchten.

Glücklich war Silvia schon lange nicht mehr, sie konnte sich zwar jeden erdenklichen Luxus für sich und die Kinder leisten, doch von Robert entfremdete sie sich immer mehr.

Nachdenklich stellte Silvia die Kaffeemaschine an. Vielleicht war eine Trennung doch besser als dieses ständige Hintergangenwerden? Schon lange sagte Silvia Robert ihre Meinung, was sie von seinen Seitensprüngen hielt, was zu immer heftigeren Streitgesprächen führte.

Sie warf einen letzten prüfenden Blick in den Flurspiegel, bevor sie ins obere Stockwerk ging, um Jana und Alex zu wecken. Als Silvia das Zimmer ihrer Tochter betrat, sah sie besorgt, daß Alex wieder bei seiner Schwester schlief.

Still blieb sie einen Moment im Türrahmen stehen und lehnte den Kopf an das kühle Holz. Immer, wenn sie und ihr Mann sich am Abend stritten, fand sie den Kleinen in Janas Bett. Wie oft hatte sie Robert gebeten, nicht so laut zu schreien, damit die Kinder nicht wach wurden – doch wenn er in Rage war, dachte er nie daran, Rücksicht zu nehmen.

Silvia machte sich keine Illusionen darüber, daß die Kinder ahnungslos waren, was die Ehe der Eltern betraf. Doch sie wußte nicht, ob es ratsam war, mit den Kindern darüber zu reden. Was sollte sie ihnen sagen? Daß ihr Vater nichts von ehelicher Treue hielt und es aus diesem Grund immer wieder zum Streit kam?

Nein, das konnte Silvia den Kleinen nicht antun. Bevor sie nun Jana und Alex sanft wachrüttelte, setzte sie eine fröhlichere Miene auf…

*

Alex war schon zu Hause, als Jana an diesem Mittag von der Schule kam.

»Frau Siegert ist krank, da ist die letzte Stunde ausgefallen«, sagte er zu seiner Schwester und beugte sich wieder über sein Schulheft, in dem er angestrengt verschiedene Buchstaben malte.

»Mama wird auch bald hier sein«, entgegnete Jana. »Hast du Hunger? Dann mache ich dir bis zum Mittagessen ein Brot.«

Alex schüttelte wortlos den Kopf und schrieb weiter. Obwohl beide Kinder in ihren Zimmern Schreibtische für die Schularbeiten hatten, zogen sie es vor, sich dafür an den Küchentisch zu setzen. Sie liebten es, in der Nähe der Mutter zu sein, wenn sie aus der Kanzlei kam und das Mittagessen zubereitete.

»Du, Jana?« fragte Alex unvermittelt und legte den Stift beiseite.

»Hm?«

»Glaubst du, daß sich Mama und Papa scheiden lassen werden?«

»Nein, ich denke, es ist normal, wenn sich Erwachsene streiten«, gab Jana schnell zurück.

»Aber von Patrick die Eltern, die haben sich auch immer gestritten – und jetzt lassen sie sich scheiden.« Alex’ Stimme klang klein und weinerlich.

Obwohl sich Robert nie viel um seine Kinder gekümmert hatte, vergötterten Jana und Alex ihn ebenso wie ihre Mutter und konnten sich nicht vorstellen, von einem Elternteil getrennt zu leben.

»Ach, Alex.« Jana trat zu ihrem kleinen Bruder. »Du mußt keine Angst haben. Mama und Papa werden sich nicht scheiden lassen.«

Der Junge hob den Kopf. »Woher willst du das wissen?«

»Ich weiß es eben«, antwortete Jana mit fester Stimme. Sie atmete auf, als sie Silvias Schlüssel in der Haustür hörte. Wie lange würde sie Alex noch beruhigen können, wie lange würde sie noch überzeugend auf ihn einreden können? Dabei hatte sie selbst doch ebenso große Angst, daß sich die Eltern trennen würden.

»Na, ihr beiden?« begrüßte Silvia ihre Kinder lächelnd und stellte den gefüllten Einkaufskorb auf die Arbeitsplatte. »Wie ich sehe, seid ihr schon fleißig bei den Schularbeiten.«

»Sieh mal, Mama.« Stolz hob Alex sein Heft hoch. »Das haben wir heute alles gelernt.«

Alex besuchte die erste Klasse der Grundschule und lernte jeden Tag etwas Neues, das er dann mittags seiner Mutter präsentierte.

»Das hast du aber schön gemacht«, sagte Silvia erfreut. »Wenn du weiterhin so fleißig bist, wirst du bald richtige Worte schreiben können.«

»Ich hatte heute keinen Fehler bei der Rechenarbeit!« rief Jana, die ihrem Bruder in nichts nachstehen wollte. »Außer mir hat nur noch ein Junge null Fehler gehabt.«

Silvia beugte sich zu Jana hinunter und nahm sie in den Arm. »Ich bin wirklich stolz auf euch. Was haltet ihr davon, wenn ich uns jetzt einen großen Topf Spaghetti koche?«

»Mit Ketchup?« fragte Alex.

»Mit Ketchup.«

Bei dem darauffolgenden Freudenschrei hielt sich Silvia lächelnd die Ohren zu. Sie war froh, daß ihr die Kinder keinen Kummer machten und sie sich auf sie verlassen konnte, wenn sie arbeitete.

Während Silvia die Einkäufe aus dem Korb nahm, wurde sie unauffällig von Jana beobachtet. Der Mutter war nicht anzusehen, ob sie noch an den Streit vom Vorabend dachte oder nicht – sie schien wie immer zu sein…

Nachdem Silvia nach dem Essen wieder zurück in die Kanzlei gefahren war, packten die Kinder ihre Sporttaschen. Alex hatte Fußballtraining und Jana ihr wöchentliches Volleyballtraining. Beide Kinder waren im Sportverein und mit Begeisterung bei der Sache.

»Du brauchst dich nicht zu beeilen, Alex«, sagte Jana, als sich ihr Bruder seine Schuhe anziehen wollte. »Das Training fängt doch erst in einer Stunde an. Wir können heute mit dem Fahrrad fahren, da sind wir dann schneller an der Turnhalle.«

Wenn es regnete, fuhren die Kinder mit dem Bus.

»Fein, dann können wir ja ein Wettrennen veranstalten. Wer zuerst an der Turnhalle ist, hat gewonnen.«

»Von wegen. Du weißt, daß uns Mama verboten hat, so schnell mit dem Fahrrad zu rasen«, bremste die vernünftige Jana ihren kleinen Bruder. »Oder willst du, daß einer von uns unter ein Auto gerät?«

»Nein«, gab Alex kleinlaut zurück. »Und ich will auch nicht, daß Mama böse auf uns ist.«

»Na, siehst du.«

»Glaubst du, daß Papa heute pünktlich nach Hause kommt?«

Jana zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Du weißt doch, daß er viel Arbeit hat.«

»Mama hat auch viel Arbeit und ist trotzdem abends hier«, maulte Alex und nahm sein Jojo zur Hand. »Aber vielleicht ist es besser, wenn Papa später kommt – dann streiten sie sich wenigstens nicht so lange.«

Jana sah den traurigen Gesichtsausdruck ihres kleinen Bruders. Daß die Eltern nicht in Frieden leben konnten, belastete ihn sehr. Doch sie überging Alex’ Bemerkung und sagte spontan: »Wenn du möchtest, leihe ich dir heute abend eine meiner Märchenkassetten.«

Sofort erhellte sich sein Gesichtchen. »Die mit dem Zauberer und der schönen Prinzessin?«

»Ja, wenn du willst. Aber jetzt müssen wir uns langsam auf den Weg machen, damit wir pünktlich beim Training sind.«

*

»Herr Sander läßt sich entschuldigen, er kommt eine Viertelstunde später, Frau Kirstein«, sagte zur selben Zeit Verena Böttcher, Silvias Sekretärin. »Soll ich Ihnen inzwischen einen Kaffee bringen?«

»Danke, das ist sehr nett«, sagte Silvia lächelnd. »Eine kleine Verschnaufpause tut mir sicherlich nach dem turbulenten Vormittag im Gericht gut.«

Tatsächlich war Silvia an diesem Tag kaum zum Nachdenken gekommen.

Das war einerseits ganz gut, andererseits mußte sie sich langsam Gedanken darüber machen, wie es mit ihr und Robert in Zukunft weitergehen sollte.

Ihr Blick fiel auf das gerahmte Foto vor ihr auf dem Schreibtisch. Es zeigte einen in die Kamera lachenden Robert, der auf jeder Seite eines der Kinder an sich gedrückt hielt.

Wehmütig lächelte Silvia. Die Aufnahme stammte aus dem letzten Urlaub in der Türkei. Die ganzen vierzehn Tage hatte sich Robert liebevoll um seine Familie gekümmert und nicht ein einziges Mal Interesse an einer anderen Frau gezeigt. Silvia war sehr glücklich gewesen und hatte gehofft, daß ihre Ehe wieder besser werden würde.

Doch schon kurz nach der Rückkehr ins kühle Deutschland ging Robert wieder dazu über, seine Abende lieber bei anderen Frauen anstatt bei seiner eigenen zu verbringen.

»Herr Sander ist jetzt da«, schnarrte Verenas Stimme plötzlich durch die Sprechanlage.

Nach einer Schrecksekunde sagte Silvia: »In Ordnung, Frau Böttcher. Schicken Sie ihn zu mir, bitte.«

Sie holte tief Luft; nun galt es, sich wieder auf ihren Beruf zu konzentrieren. Zum Grübeln hatte sie noch den ganzen Abend…

*

Silvia zuckte zusammen, als das Telefon klingelte. Schon, bevor sie abnahm, wußte sie, daß Robert am anderen Ende der Leitung war.

»Hallo, Schatz«, rief er gut gelaunt in den Hörer. »Bei mir wird es heute wieder später, also warte nicht auf mich.«

Silvia stieß ein verächtliches Lachen aus. »Laß mich raten – ein wichtiges Geschäftsessen?«

»Sei nicht so ironisch. Gib den Kindern einen Kuß von mir, ja?«

Noch bevor Silvia zu einer Antwort ansetzen konnte, hatte Robert bereits aufgelegt.

Jana bemerkte sofort den bitteren Zug um den Mund ihrer Mutter und fragte hastig: »Soll ich dir mal das Gedicht aufsagen, das ich für die Schule gelernt habe?«

»Ja, Schatz, mach das.« Silvia mühte sich ein Lächeln ab und setzte sich. Es hatte ja doch keinen Sinn, zornig zu sein und die schlechte Laune an den Kindern auszulassen.

Jana baute sich vor Silvia auf und sagte das relativ lange Gedicht ohne zu stottern auf.

Anschließend klatschte Silvia begeistert in die Hände. »Das hast du wirklich sehr gut gemacht, Jana – und das, obwohl ich dir nicht ein einziges Mal dabei geholfen habe. Sicher bekommst du morgen eine gute Note dafür.«

Die Kleine strahlte über das ganze Gesicht. Ein Lob von der Mutter war tausendmal mehr wert als ein großzügiges Taschengeld.

»Bald fangen die ersten Weihnachtsbastelnachmittage für die Eltern an«, sagte sie. »Kannst du nicht auch mal da hingehen?«

Silvia seufzte und nahm ihre Tochter in den Arm. »Du weißt doch, daß ich immer bis zum späten Nachmittag arbeiten muß.« In Gedanken fügte sie hinzu: Vielleicht wird es bald sehr wichtig sein, daß ich mein eigenes Geld verdiene.

»Aber andere Mütter kommen auch«, maulte Jana. »Die nehmen sich auch die Zeit.«

»Andere Mütter arbeiten auch nicht und können sich ihre Zeit frei einteilen. Ich kann doch nicht Klienten fortschicken oder wichtige Gerichtstermine absagen, weil ich zu einem Bastelnachmittag gehe. Das verstehst du, nicht wahr? Du bist doch schon groß.«

Janas Gesicht leuchtete wieder auf. Wenn ihre Mutter sie für ein vernünftiges großes Mädchen hielt, wurde sie immer ganz stolz. Kleinlaut sagte sie: »Ich weiß ja, daß du eine sehr wichtige Arbeit hast, Mami.«

»Na, siehst du! So, und jetzt laß uns in die Küche gehen und mal nachsehen, was wir Schönes zum Abendessen machen können. Wo steckt eigentlich Alex?«

»Der sitzt vor dem Fernseher und sieht sich mal wieder seine Lieblingsserie an«, erwiderte Jana verächtlich, die sich mehr aus schönen Büchern als aus Actionserien im Fernsehen machte.

Silvia bedauerte einmal mehr, daß sie dem Wunsch der Kinder nachgekommen war, jedem ein eigenes kleines Fernsehgerät gekauft zu haben. Wenn man bei Alex nicht aufpaßte, starrte er stundenlang auf die Mattscheibe.

»Sag deinem Bruder bitte, daß wir in zehn Minuten essen und er sich die Hände waschen soll.«

»In Ordnung, Mami!« Sofort stürmte Jana die moderne Freitreppe ins Obergeschoß.

Silvia machte sich derweil auf den Weg in die Küche. Normalerweise wurde dort nur gefrühstückt, aber wenn Robert nicht zu Hause war, wurden auch die anderen Mahlzeiten dort anstatt in der großzügigen Eßecke im Wohnzimmer eingenommen.

Seufzend lehnte sich Silvia an den Kühlschrank und schloß die Augen. Es war bereits das dritte Mal in dieser Woche, daß Robert erst spätabends kommen würde.

Als das Teewasser kochte, entschloß sich Silvia, an diesem Abend auf Robert zu warten – egal, wie spät es werden würde. Sie würde ihn vor die Wahl stellen. Entweder er machte Schluß mit seinem Junggesellenleben oder…

»Mami, kann ich ein gekochtes Ei haben?« rief Alex, noch im Flur.

»Ich auch«, echote Jana hinterher.

Silvia schmunzelte. Sie war froh, daß die Kinder ihre düsteren Gedanken verscheuchten, ohne es zu ahnen.

»Meint ihr nicht, daß gekochte Eier nicht ein bißchen schwer sind? Wie wäre es mit Rührei?«

»Au ja!« rief beide wie aus einem Mund. Rühreier mochten sie noch lieber als gekochte Eier.

»Dann werde ich mal anfangen.« Silvia stellte die Pfanne auf die moderne Cerankochfläche. Solch einen Herd hatte sie sich schon gewünscht, als sich das Haus noch im Rohbau befand. Robert hatte sie ganz allein entscheiden lassen, welche Einbauküche mit welchen Geräten sie haben wollte. Wenn es um Geld ging, war Robert sehr großzügig.

»Was wollen wir denn am Wochenende machen?« fragte Jana, während sie ohne Aufforderung den Tisch deckte. »Können wir nicht irgendwohin fahren?«

»Was meinst du denn mit ›irgendwohin‹?« fragte Silvia und schlug die Eier in die Pfanne. »Hast du eine bestimmte Vorstellung?«

»Zu der Spielzeugausstellung ins Museum«, kam es spontan zurück.

»Nein, lieber in den Vergnügungspark!« krähte Alex dazwischen.

»Nun mal langsam, ihr beiden«, gab Silvia sanft zurück. »Soviel ich weiß, ist der Vergnügungspark nur im Sommer geöffnet.«

»Aber ich will keine ollen Puppen angucken«, sagte Alex verstimmt. »Das ist langweilig.«

»Dann werden wir uns gemeinsam etwas überlegen, woran wir alle Spaß haben«, schlichtete Silvia schnell. »Es sind ja noch drei Tage bis Sonntag.«

»Wird Papa denn mitkommen?« fragte Jana plötzlich. »Oder muß er am Sonntag wieder wie letztens arbeiten?«

Silvia zögerte mit der Antwort. Möglicherweise würde Robert nach dem Gespräch, das sie mit ihm führen wollte, nirgends mehr mit seiner Familie hinfahren.

»Ich weiß es nicht, Schätzchen. So, jetzt können wir essen.«

»Kann ich vor dem Schlafengehen noch die Serie mit dem fliegenden Roboter sehen? Bitte, Mami.« Alex sah seine Mutter fast flehend an.

Jana verzog das Gesicht. »So ein Blödsinn. Einen fliegenden Roboter gibt es nämlich in Wirklichkeit gar nicht.«

»Prinzessinnen und Zauberer auch nicht!« konterte Alex sofort, denn seine Schwester liebte fantastische Märchen und Geschichten.

»Jetzt ist aber genug«, schalt Silvia sanft. Sie wußte, daß sich die Kinder nicht ernsthaft stritten, und wenn es darauf ankam, zusammenhielten wie Pech und Schwefel. »Jeder hat eben seine Lieblingssendung oder sein Lieblingsbuch. Also hört auf mit dem Gezanke.«

»Ich helfe dir nachher, die Küche aufzuräumen«, sagte Jana. »Können wir danach nicht noch eine Partie Mühle spielen, bis es Zeit zum Schlafengehen ist?«

»Einverstanden.« Silvia war ganz froh über die Ablenkung. Sie hatte sich zwar wie fast jeden Abend Unterlagen aus der Kanzlei mit nach Hause genommen, doch sie würde sich wohl kaum darauf konzentrieren können.

Als die Kinder schließlich im Bett waren, schaltete Silvia den Fernseher im Wohnzimmer an; die Stille war unerträglich für sie. Mit dem dicken Aktenordner auf den Knien saß sie auf der teuren Ledercouch, ohne einen Blick auf die Unterlagen zu werfen.

Sie starrte auf den Bildschirm. Ein junges Paar umarmte sich dort und schwor sich ewige Liebe. Genervt suchte Silvia einen anderen Sender. Filme mit verliebten Paaren konnte sie nicht mehr sehen, ohne an ihre unglücklich gewordene Ehe zu denken. Die Zeit, in der Robert sie zärtlich umarmt und gesagt hatte, daß er sie liebte, war schon lange vorbei. Silvia konnte sich kaum daran erinnern, wann er dies zum letzten Mal gesagt hatte.

Verstohlen blickte Silvia zur Uhr. Es war erst kurz vor neun, und es würde noch lange dauern, bis Robert kam…

*

Erschrocken fuhr Jana hoch. Hatte sie da eben die laute Stimme ihres Vaters gehört? Als es jedoch ruhig blieb, kuschelte sich das Mädchen wieder in ihr warmes Kissen und schloß die Augen.

Da war es schon wieder! Diesmal klang die Stimme noch zorniger und lauter als zuvor. Jana schob sich leise aus dem Bett und öffnete die Tür einen Spalt. Jetzt konnte man auch die Stimme der Mutter hören.

»Ist das dein letztes Wort?« Sie klang weinerlich, fand Jana.

»Darauf kannst du dich verlassen! Ich lasse mir von dir nicht vorschreiben, wie ich mein Leben gestalte.«

»Aber die Kinder sind doch auch noch da. Zählen wir denn gar nicht?«

Robert lachte verächtlich. »Jetzt, wo ich von deiner Lüge weiß, ist das eine etwas unverschämte Frage. Findest du nicht?«

»Es war keine böse Absicht, Robert, das mußt du mir glauben!« Silvias Stimme klang verzweifelt.

Langsam schloß Jana ihre Tür wieder und ging mit weichen Knien zum Bett zurück. Die Eltern stritten sich also schon wieder. Worum es bei den Streitgesprächen ging, wußte Jana nicht, doch sie ahnte, daß sie damit zusammenhingen, daß der Vater kaum zu Hause war.

Jana zog sich ihr Kissen über den Kopf, sie wollte nichts mehr davon hören. Doch als plötzlich die Haustür zugeschlagen wurde und kurze Zeit später das Motorengeräusch von Roberts Wagen zu hören war, setzte sie sich aufrecht hin – ihr Papa war gegangen!

Bedeutete dies, daß es nun tatsächlich zu der gefürchteten Scheidung kam? Jana stand wieder auf und verließ ihr Zimmer. Vom Wohnzimmer her konnte sie unterdrücktes Schluchzen hören.

Bevor das Mädchen hinunterging, um nach der Mutter zu sehen, warf es einen kurzen Blick in Alex’ Zimmer. Zum Glück schlief der Kleine ausnahmsweise tief.

Langsam tastete sich Jana in dem dunklen Flur die Treppe hinunter. Sie mußte unbedingt herausfinden, wie es der Mutter ging und weshalb der Vater mitten in der Nacht das Haus verlassen hatte.

Silvia saß zusammengesunken auf der Couch und hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen. Zögernd blieb Jana an der Tür stehen.

Ob es eine gute Idee war, jetzt die Mutter zu stören? Unschlüssig blickte die Kleine auf die weinende Silvia, bis sie sich einen Ruck gab und zu ihr ging.

Erst als Jana vor ihr stand, bemerkte Silvia sie. Erschrocken versuchte sie, sich das Gesicht abzuwischen und fragte: »Warum schläfst du denn nicht?«

»Ich bin aufgewacht, weil ihr so laut wart.«

Silvia zog ihre Tochter zu sich hinunter. »Tut mir leid, Schatz, wenn wir dich geweckt haben.«

»Wohin ist Papa gefahren?« fragte Jana leise. »Ich habe gehört, daß er fortgefahren ist. Kommt er nicht mehr zurück?«

Silvia schluckte hart, dann sagte sie mit zitternder Stimme: »Nein, mein Liebling, ich glaube, Papa kommt nicht zurück.«

Jana stiegen Tränen in die Augen. »Aber warum denn nicht? Weil ihr euch immer streitet?«

Silvia griff zu einem Papiertaschentuch und fuhr sich damit über das Gesicht. »Nicht, weil wir uns immer streiten, sondern…«

»Weil Papa kaum noch zu Hause ist?«

Silvia nickte mit gesenktem Kopf.

»Und deshalb hast du ihn weggeschickt?« fragte Jana ungläubig.

»Nein, Kleines, ich habe ihn nicht weggeschickt. Papa selber hat sich dafür entschieden, in Zukunft allein zu leben.«

Silvia sah ihre Tochter ängstlich mit verquollenen Augen an. »Bitte, gib nicht mir die Schuld, daß es so gekommen ist. Ich wollte immer, daß wir eine glückliche Familie sind. Glaubst du mir das?«

Jana zögerte, aber nicht lange. Für ein paar Sekunden war sie auf ihre Mutter wütend gewesen, hatte ihr insgeheim die Schuld an der Trennung gegeben.

Doch Silvia sah so unglücklich aus, wie nur jemand aussehen konnte, der dies alles nie gewollt hatte.

Spontan setzte sich das Kind neben seine Mutter und legte das Ärmchen um ihre Schulter. »Sei nicht traurig, Mama. Vielleicht wird ja doch noch alles gut.«

Silvia nickte. »Ja, vielleicht.« Doch sie wußte ganz genau, daß nichts mehr gut werden würde. Robert hatte ihr klipp und klar gesagt, daß er sich von ihr trennen würde. Ja, Silvia hatte sogar den Eindruck gehabt, daß er erleichtert gewesen war, daß sie ihn vor die Wahl gestellt hatte.

»Jetzt geh wieder ins Bett und versuche zu schlafen, ja?« sagte Silvia mit sanfter Stimme und fuhr Jana durch das zerzauste Haar. »Und sag bitte Alex noch nichts davon. Ich möchte selber mit ihm reden.«

Jana nickte. In diesem Moment wußte sie, daß die Scheidung der Eltern bereits beschlossene Sache war.

Als die Kleine wieder hinauf in ihr Zimmer gegangen war, erhob sich auch Silvia. Sie hatte nicht vermutet, daß es so weh tun würde, verlassen zu werden – und dabei konnte sie noch nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob sie Robert überhaupt noch liebte.

*

Am nächsten Morgen wunderte sich Alex über die traurigen Gesichter der Mutter und der Schwester. Er sah von einem zum anderen und fragte schließlich: »Was habt ihr beiden denn?«

Silvia warf ihrer Tochter einen flehenden Blick zu. Sie selbst wollte Alex nach der Schule behutsam beibringen, daß sein Papa aus dem Haus ausgezogen war. Es würde ein sehr bedrückendes Gespräch werden, das wußte Silvia.

Ihr erster Termin an diesem Morgen war erst um neun Uhr im Gericht, daher verließ Silvia ausnahmsweise nicht mit den Kindern gemeinsam das Haus.

Nachdem sich Alex und Jana auf den Weg zur Schule gemacht hatten, ging Silvia ins Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank. Roberts Anzüge hingen säuberlich auf ihren Bügeln, er hatte am Vorabend nichts außer seiner Kulturtasche mitgenommen.

Wo mochte er wohl übernachtet haben? Bei seiner neuesten Flamme oder in einem Hotel? Nun, es würde jedenfalls nicht lange dauern, bis er kommen und seine persönlichen Sachen abholen würde.

Silvia wußte, daß sie über den Verlust hinwegkommen würde – auch wenn sie sich das noch nicht richtig vorstellen konnte. Aber die Kinder würden lange darunter leiden, ihren Papa nur noch alle paar Wochenenden zu sehen.

Nachdenklich fuhr Silvia über den schweren Stoff eines Jacketts, das Robert besonders gern trug. Plötzlich nagten Zweifel in ihr, ob sie das Richtige getan hatte. Wäre es für die Kinder nicht besser gewesen, wenn sie alles hätte weiterlaufen lassen, ohne Robert vor die Wahl zu stellen?

Mit einer abrupten Handbewegung schob Silvia die Tür des Kleiderschrankes wieder zu. Nein, es wäre nicht besser gewesen, Roberts ausschweifendes Leben ohne Kommentar weiter zu dulden – weder für die Kinder noch für sie.

Als sie den Schlüssel in der Haustür hörte, fuhr Silvia herum. Hatte eines der Kinder etwas vergessen? Doch bevor sie ihn sehen konnte, wußte sie, daß es Robert war.

»Was machst du denn hier?« fragte er verblüfft, als er das Schlafzimmer betrat. »Warum bist du nicht in der Kanzlei?«

»Ich muß erst später ins Gericht zu einer Verhandlung. Es lohnte sich nicht, vorher noch Kliententermine zu machen«, erklärte sie und sah mit vor der Brust verschränkten Armen zu, wie Robert einen großen Koffer auf das breite Bett stellte und ihn öffnete. »Du kannst es wohl überhaupt nicht abwarten, von hier wegzukommen?«

Er sah flüchtig auf. »Das ist alles deine Schuld, das weißt du hoffentlich – und die Kinder wissen es bestimmt auch.«

Silvia lachte hart auf. »Glaubst du, die Kinder haben noch nicht mitbekommen, was sich hier abgespielt hat? Hast du gedacht, sie sind so naiv, daß sie nicht wissen, daß in unserer Ehe schon lange nichts mehr stimmt?«

Robert hielt einen Stapel Hosen in der Hand, als er erwiderte: »Hättest du mir meine Freiheiten gelassen, wäre es nie zum Streit gekommen und alles wäre weitergelaufen wie bisher.«

»Ja, das hätte dir gut in den Kram gepaßt. Zu Hause die Frau, die sich um Kinder und Haus kümmert, und…«

»Du mußt gerade reden!« fuhr Robert dazwischen. »Was du mir gestern abend gesagt hast, war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte!« Wütend warf er die Hosen in den Koffer.

Silvia drehte sich um und verließ das Zimmer. Sie wußte, es hatte keinen Zweck, mit Robert zu reden. Das würde nur zu einem weiteren Streit ausarten – und dazu hatte sie keine Kraft mehr.

Sie wartete, bis er mit dem schweren Koffer zurück ins Erdgeschoß kam. Dann fragte sie: »Was ist mit den Kindern?«

»Du bekommst das Sorgerecht, und ich zahle, was nötig sein wird. Über das Haus müssen wir uns noch unterhalten.«

»Das meinte ich nicht! Sie werden nach dir fragen. Willst du zu ihnen etwa auch den Kontakt abbrechen?«

»Natürlich nicht. Ich werde heute abend anrufen und mit ihnen reden. Am Wochenende hole ich sie, und wir unternehmen etwas. Bist du jetzt zufrieden?«

»Wie sollte ich zufrieden sein, wo du Jana und Alex dies alles antust?« fragte sie verzweifelt.

»Tja, daran ist nichts mehr zu ändern. Wie haben es die beiden aufgenommen?«

»Jana war sehr vernünftig, und Alex weiß es noch gar nicht.«

»Wie? Du hast es meinem Sohn vorenthalten, daß wir uns trennen?«

»Ich habe es heute morgen noch nichts übers Herz gebracht; er hängt besonders an dir.«

»Kein Wunder!«

Silvia überging die Anspielung. »Jana ist heute nacht von dem Lärm aufgewacht. Sie hat sofort begriffen, daß es zu Ende ist.«

»Ich denke, ihr werdet es überstehen«, gab er zurück und hatte schon den Griff der Haustür in der Hand.

»Wie kannst du nur so herzlos reden?« rief Silvia aufgebracht.

»Reg dich nicht schon wieder auf. Was ändert sich denn großartig, wenn ich nicht mehr hier lebe? Vorher war ich doch auch höchstens mal am Wochenende für die Kinder da – das will ich auch weiterhin. Ihr lebt in einem schönen Haus und müßt keinen Hunger leiden, ich denke, es gibt Schlimmeres.«

Mit diesen Worten verließ Robert Kirstein das Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Wütend blickte Silvia auf die geschlossene Tür. Robert hatte ganz recht mit seiner Behauptung, daß es ihnen finanziell nie an etwas mangeln würde – aber gab es nicht auch noch etwas anderes, was die Kinder vermissen würden? Nämlich einen Vater! Es gab sehr wohl einen Unterschied, ob er bei seiner Familie wohnte oder die Kinder am Wochenende für ein paar Stunden zu sich holte.

*

Silvia versuchte sich mit aller Kraft auf die Gerichtsverhandlung zu konzentrieren; schließlich erwartete ihr Klient nichts anderes von ihr. Es ging um einen Verkehrsunfall, und in diesem Prozeß sollte geklärt werden, ob Silvias Klient schuld daran war oder nicht.

Schließlich wurde ein wichtiger Zeuge aufgerufen. Der jedoch war nicht erschienen, und so wurde die Verhandlung auf einen späteren Zeitpunkt vertagt.

Silvia hatte große Mühe, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen.

»Es wird schon alles gutgehen, Herr Meisner«, sagte sie zu ihrem Klienten vor dem Gerichtsgebäude.

»Und wenn er jetzt ganz kneift?« fragte Herr Meisner verzweifelt. »Dann bekomme ich eine Strafe für etwas, an dem ich keine Schuld habe.«

»Darüber brauchen Sie sich nicht den Kopf zerbrechen. Der Zeuge wurde vorgeladen, und wenn er beim nächsten Mal nicht erscheint, macht er sich selber strafbar.«

Herr Meisner atmete hörbar auf und reichte Silvia die Hand. »Dann danke ich Ihnen erst einmal.«

»Ich werde Sie rechtzeitig informieren, wenn der Prozeß fortgeführt wird. Aber Sie werden auch vom Gericht Bescheid bekommen.«

Nachdem Herr Meisner beruhigt gegangen war, schlenderte Silvia langsam zu ihrem Wagen zurück. Achtlos warf sie ihren Talar auf die Rückbank und nahm ihr Handy, um in der Kanzlei anzurufen.

»Hat jemand Wichtiges angerufen, Frau Böttcher?« fragte sie, nachdem die Sekretärin abgenommen hatte.

»Nein, nur das Übliche. Ist die Verhandlung denn schon vorüber?«

»Sie wurde wegen des Fehlens eines Zeugen vertagt. Wann ist denn der erste Termin heute nachmittag?«

»Um halb vier, Frau Kirstein. Soll ich ihn verlegen?«

»Nein, nein. Ich werde pünktlich in der Kanzlei sein. Bis dann.«

Ratlos blickte Silvia durch die Windschutzscheibe, bevor sie den Motor anstellte. Es war noch lange Zeit, bis Alex von der Schule kam. Was sollte sie mit dem Rest des Vormittages nur anfangen?

Einkaufen war sie erst einen Tag zuvor, und ansonsten gab es auch nichts zu besorgen, das Silvia die Zeit vertreiben könnte. Es graute ihr, in das stille Haus zurückzufahren, das Robert vor knapp zwei Stunden für immer verlassen hatte.

Dann fuhr Silvia los; ziellos durchquerte sie die Straßen und stand schließlich doch vor ihrem Haus in der eleganten Neubausiedlung.

»Guten Tag, Frau Kirstein!« rief vom Nachbargrundstück der pensionierte Zahnarzt Dr. Räber. »Schon Feierabend?«

»Nein, nur ein geplatzter Gerichtstermin!« rief sie zurück und gab ihrer Stimme einen leichten Ton.

»Ach, sagen Sie Ihrem Mann doch bei Gelegenheit, daß ich ein Häuschen im Süden suche, ja? Vielleicht hat er ja etwas Passendes anzubieten.«

»Ich werde es ihm ausrichten, Herr Doktor.« Sie hob die Hand zum Gruß, bevor sie im Haus verschwand.

Noch wußte niemand in der Nachbarschaft von der Trennung – doch das würde sich schnell ändern. Ob es ihrem Ruf als Anwältin schadete, wenn sie geschieden war?

Kopfschüttelnd zog sich Silvia Mantel und Stiefel aus. Darüber brauchte sie sich wohl im Moment keine Gedanken zu machen, viel wichtiger war, sich genau zu überlegen, was sie Alex sagen wollte, wenn er aus der Schule kam.

Silvia sah flüchtig die Post durch. Die Mehrheit davon war für Robert bestimmt, und sie warf die Briefe achtlos auf die Ablage zurück.

In der Küche stellte Silvia das Radio an und setzte die Kaffeemaschine in Gang. Dann stellte sie sich ans Fenster und sah in das trübe Spätherbstlicht hinaus.

Wie würde Alex die Neuigkeit aufnehmen? Der sensible Junge konnte einen seelischen Schaden erleiden, wenn Silvia zu unvorsichtig war. Daß er so vernünftig wie Jana reagieren würde – damit war nicht zu rechnen.

Silvia betete im stillen, daß er nicht ihr die ganze Schuld an der Trennung in die Schuhe schob.

In diesem Moment sah Silvia ihren kleinen Sohn in seinem knallroten Anorak um die Ecke biegen und schaute verwundert zur Uhr. Richtig, Alex hatte gestern davon gesprochen, daß eine der Lehrerinnen krank war und deshalb einige Schulstunden ausfielen.

Nun hatte sie so viel Zeit mit düsteren Gedanken vertrödelt und wußte noch immer nicht, wie sie das Gespräch beginnen sollte.

Bevor Alex seinen eigenen Schlüssel ins Schloß stecken konnte, öffnete Silvia und erschrak. Der Junge hatte vom Weinen verquollene Augen – er wußte es bereits!

»Mama?« fragte er mit seiner feinen Stimme. »Wieso bist du schon hier?«

»Ein Termin wurde verschoben«, erklärte sie schnell, während sie Alex ins Haus zog. »Du siehst nicht besonders glücklich aus.«

Der Kleine stellte seine Schultasche ab und öffnete den Reißverschluß seiner Jacke. »Papa und du – ihr laßt euch scheiden, nicht wahr?« Er sah dabei nicht auf.

»Hat Jana mit dir darüber gesprochen? Ich hatte sie gebeten, mir zu überlassen, mit dir darüber zu reden«, sagte sie und machte eine hilflose Geste.

»Zuerst hat sie ja auch gesagt, sie darf mir nichts verraten. Sie war nämlich so still auf dem Weg zur Schule.«

»Und dann hat sie es doch gesagt?«

Alex sah seine Mutter bittend an. »Bitte, schimpf nicht mit Jana, Mami! Eigentlich hat sie gar nichts gesagt, ich habe sie gefragt, ob ihr euch scheiden laßt; da hat sie dann genickt.«

Silvia beugte sich zu dem Jungen hinunter und nahm ihn in die Arme. Da hatte er vor ein paar Stunden vom Ende der Familie Kirstein gehört – und seine größte Sorge war, daß seine Schwester deshalb Ärger mit der Mutter bekam.

»Ist schon gut, mein Kleiner«, sagte Silvia sanft und fuhr ihm durch das wirre Haar. »Ich werde nicht mit Jana schimpfen, das verspreche ich dir.«

»Ehrlich nicht?«

»Nein, bestimmt nicht. Magst du nicht mit in die Küche kommen? Dann koche ich dir einen Becher Kakao, und wir reden in Ruhe darüber.«

Gehorsam folgte Alex seiner Mutter und setzte sich an den Küchentisch. »Sehen wir Papa jetzt nie wieder?«

»Aber natürlich, mein Schatz! Wahrscheinlich seht ihr ihn nun sogar häufiger als vorher. Er war vorhin hier und hat gesagt, daß er am Wochenende mit euch einen Ausflug machen will.«

»Und du? Kommst du auch mit?«

Silvia zögerte. »Nein, ich werde zu Hause bleiben und mich um die liegengebliebene Hausarbeit kümmern.«

»Dann ist nichts mehr so wie früher«, stellte Alex traurig fest und starrte auf seine Hände, die in allen möglichen Filzstiftfarben leuchteten.

Silvia setzte sich neben ihn und sagte: »Ich weiß doch, daß es für uns alle nicht leicht sein wird, die Zukunft zu meistern – aber du möchtest doch nicht, daß Papa und ich dauernd streiten, oder?«

Der Kleine schüttelte wild den Kopf. »Nein, das war immer schlimm.«

»Na, siehst du. In Zukunft werdet ihr euren Vater jedes Wochenende besuchen, und dann macht ihr tolle Dinge zusammen. Ist das nicht schön?«

Alex zuckte die Achseln. »Weiß nicht. Wo wohnt Papa denn jetzt?«

Silvia zögerte einen Moment, dann sagte sie: »Keine Ahnung. Wahrscheinlich muß er sich erst eine neue Wohnung suchen.«

»Werden wir auch umziehen müssen?«

»Ich denke nicht. Ich werde noch einmal mit Papa reden wegen des Hauses. Für ihn allein wäre es ja doch viel zu groß, nicht wahr?«

»Hat Papa jetzt eine andere Frau?«

Silvia räusperte sich. Unmöglich konnte sie dem Siebenjährigen sagen, daß es mehr als eine Frau in Roberts Leben gab oder gegeben hatte. »Sicherlich wird er früher oder später eine andere Frau heiraten, aber im Moment natürlich noch nicht.«

Die Milch war heiß und Silvia froh, von dem heiklen Thema ablenken zu können. »So, nun noch das Kakaopulver einrühren, und dann ist dein Kakao fertig.«

»Mami?«

»Ja, mein Liebling?«

»Willst du einen anderen Mann haben?«

Silvia wirbelte herum. »Aber nein! Daß Papa und ich uns getrennt haben, hat nichts mit einem anderen Mann zu tun. Wir… wir lassen uns nur scheiden, weil wir uns nicht mehr verstehen.«

»Hast du Papa weggeschickt?«

»Nein, er selbst hat sich entschieden zu gehen. Und jetzt trink deinen Kakao, solange er heiß ist.«

Eine halbe Stunde später kam Jana von der Schule. Auch sie sah aus, als hätte sie geweint. Doch sie lächelte tapfer, als Silvia vorsichtig fragte, wie es ihr ginge.

»Ganz gut, denke ich.«

Nach dem Mittagessen sagte Silvia: »Wir drei müssen jetzt zusammenhalten. Das heißt aber nicht, daß euer Papa nicht mehr zur Familie gehört – auch wenn er nicht mehr mit uns zusammenlebt. Er wird trotzdem immer euer Papa bleiben. Habt ihr das verstanden?«

Beide Kinder nickten ernst. Auch, wenn sie vielleicht nicht begriffen, weshalb sich manche Erwachsene so oft zanken mußten und sich dann trennten, schienen sie zu wissen, daß beide Elternteile ihre Kinder gleichermaßen liebten und sie keinerlei Schuld an der Scheidung hatten…

*

Bereits eine Woche später hielt Silvia das Schreiben eines Kollegen in der Hand, der ihr mitteilte, daß Robert die Scheidung eingereicht hatte.

Ein einziges Mal hatte sie mit Robert am Telefon gesprochen, dabei ging es um das Haus. Silvia war erleichtert, daß er auf das Haus mit allem Mobiliar verzichtete, dafür jedoch keinen Unterhalt zu zahlen brauchte. Das war auch nicht nötig, denn Silvia verdiente selbst genügend, um sich und ihre Kinder zu ernähren.