Als 2015 Christoph Meckels Tarnkappe, Gesammelte Gedichte erschien, wurde ein Gesamtwerk sichtbar, von dem der Spiegel schrieb, es lasse sich »auch als Künstlerroman lesen … phantastisch bevölkert von Figuren aus der Bibel und den Mythen, den Lebenden und den Toten«. Christoph Meckels jetzt zum ersten Mal aus lang vergessenen Quellen gesammelte Prosa ist der andere Teil dieses Künstlerromans: Hier spricht Christoph Meckel von seiner Arbeit und seinem Leben, von der Poesie, der Kunst, von Weggefährten und von dem, »was noch nicht gemacht ist«. Eine Tür aus Glas, weit offen zeigt die große Spannweite des Schriftstellers Christoph Meckel, dicht am eigenen Leben und doch mit der ganzen Weite der Poesie.
Christoph Meckel
Eine Tür aus Glas, weit offen
Gesammelte Prosa
Herausgegeben von Wolfgang Matz
Carl Hanser Verlag
Inhalt
Eins
Das erste Buch. Ein Bericht
Papier
Eine Tür aus Glas
Der Freiburger Münsterturm
Schneeballpost
Merkmal Miniaturen. Peter Ackermann
Ein paar Sätze für Nicolas Born
Schöllkopf. Ein Gruß
Zwei
Sieben Blätter für Monsieur Bernstein
Jean Améry. Laudatio auf Irène Heidelberger-Leonard
Naftali Bezem, der Maler
Ein Vorausdenkender. Carl Einstein
Antrittsrede des Herrn Meckel
Ich gehöre zu einer verschonten Generation
Ich lebe und atme in dem, was noch nicht gemacht ist
Drei
Über das Fragmentarische
Die Kerle haben etwas an sich, Kunstfiguren, Liebliche Berge
Das bucklicht Männlein
Himphamp
Wiederholte Unkenntnis. Ein Kennenlernen italienischer Literatur
Jacke wie Hose. Darstellung eines Diebstahls
Sabotier
Die Schwere der zerstörten Welt. Hugo Simbergs verwundeter Engel
Luftraum und Himmel
Anhang
Kein Anfang und kein Ende. Erinnerung an Christoph Meckel
Editorische Notiz
Bibliographie der Erstdrucke
Eins
Das erste Buch
Ein Bericht
Der Meropsvogel ist ein Lufttier der Sage. Er entfernt sich, rückwärts fliegend, von der Stelle des Abflugs, sein Blick bleibt, solange er fliegt, auf die Stelle gerichtet. Ich bin nicht wie das Lufttier der Sage unterwegs, habe die Stelle meines Anfangs nicht aus der Erinnerung verloren und nicht ins Gedächtnis eingebrannt, denke aber gern an Ort und Zeit zurück; weil das erste bescheidene Volumen eigener Gedichte auf gute Weise zustande kam.
1955 lebte ich in München, hatte ein Studium an der Kunstakademie vernachlässigt, dann aufgegeben und arbeitete in den graphischen Werkstätten weiter. Der Freund dieser Monate war Peter Stephan, dessen Radierungen, dunkle Miniaturen, die schönste Bildwelt darstellten, die in jener Zeit gezeichnet wurde. Unsere Blätter, kleine Auflagen, kleine Formate, hingen mit Wäscheklammern befestigt an einem Kiosk der Leopoldstraße und wurden für sieben Mark verkauft. Eine sehr reiche Dame lud mich und meine Radierungen zu sich ein, fand die Blätter »recht hübsch« und meinte, sieben Mark sei zu viel Geld. Ich verschwand mit den Blättern, ging nicht mehr hin. Von meinen Gedichten wusste ich allein.
In München erschien ein hektographiertes, schmales, lokales Literaturheft mit dem Titel Die Überflüssigen Hefte. Ihr Herausgeber, Wilhelm Unverhau, war verantwortlicher Buchhändler der Universitätsbuchhandlung in der Veterinärstraße. Er war ein paar Jahre älter als ich, auf baltisch-noble Weise konziliant und sehr entschieden in der Überzeugung von dem, was ein Gedicht sei und nicht sei. Er wurde der erste Leser von 100 oder 200 Verspapieren, die ich ihm anvertraute (auf seinen Arbeitstisch im Keller der Buchhandlung packte). Als ich ihn wieder besuchte, hatte er alle Papiere gelesen und drei Gedichte für das nächste Überflüssige Heft ausgesucht. Als ich sie hektographiert vor Augen hatte, wurde mir klar, dass ich nicht Poesie sein sollende Texte, nicht Feuilletonaden oder falsche Gebete, sondern Gedichte geschrieben hatte. Es war ein dunkler, von eigenen Versen und Unverhaus Zustimmung erhellter Tag. Das Gedicht war mein Teil. Ich begann zu ahnen, was mir bevorstand.
Ein paar Wochen später machte Unverhau (der Vorname wurde von niemand in Anspruch genommen) den Vorschlag, einen kleinen Band meiner Gedichte zu drucken, das erste Buch in seinem Verlag. Ein paar Radierungen sollten reproduziert, ein Titel musste gefunden werden. Der Titel – Tarnkappe – stand für mich fest, seit ich in München ein Gedicht mit diesem Titel gemacht hatte. Im Wort Tarnkappe war zusammengefasst, was von Kindheit an Spiel und Notwendigkeit war. Das Wort war kein Programm, es wurde zum Glücksgefühl.
Tarnkappe erschien im März 1956 in einer Auflage von 300 Exemplaren, ich war 20 Jahre alt. Das quadratische schwarze Heft enthielt sieben Gedichte und vier Radierungen. Es wurde verschickt, verschenkt, verkauft und weitergereicht an lokale Sympathisanten der Poesie. Die Gedichte wurden wahrgenommen, zunächst in München, danach in Westdeutschland. Viktor Otto Stomps schlug vor, in seinem Verlag Eremitenpresse Gedichte und Prosa von mir herauszubringen. Andere Verlage meldeten sich.
Die Zeit zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg war eine gute Zeit für Lyrik, sie wurde gelesen als Stimme der Zeit und Seismograph, vor allem wahrgenommen als Poesie. Lyrik war glaubhaft, nicht weniger als alle anderen Formen gestalteter Sprache. Es war in der Nachkriegszeit undenkbar, gefragt zu werden, warum man Gedichte schreibe, Lyrik wozu. Die Frage wurde laut und dreist, als man in den westlichen Zonen betonte: Wir sind wieder wer, und Erfolg und Profit zum Maßstab machte. Erste Sattheit prägte die öffentliche und private Erscheinung der Deutschen. Der wirtschaftliche Aufschwung ermöglichte, wie es schien zu Recht, eine neue, laut behauptete Unangreifbarkeit. Es entstand die lässig vorgetragene Frage nach Sinn und Berechtigung von Gedichten, wiederholte sich auf Podien, nach Lesungen und wurde selbstgerecht diskutiert von Leuten, die Gedichte nicht brauchten, nichts wissen wollten von Energien, die erfolgreichen Fortschritt in Frage stellten. Die gute Zeit für Lyrik ging zu Ende.
Als die 300 Exemplare der Tarnkappe vergriffen waren, weitere Nachfragen eine zweite Auflage nahelegten, lehnte Unverhau ab. Er hatte eine Auflage versprochen und blieb dabei. Wir blieben dabei.
Da ich mich in den Nächten verlor,
samt meinem kalten Tod, meiner unsteten Spur
meutert mein riesiger Schatten, er kann mich nicht finden,
raunt mein lautloser Schatten, er möchte mich küssen,
murmelt mein schwarzer Schatten, er will mich verdunkeln,
ich soll zu ihm unter die Tarnkappe kommen.
Doch geborgen unter dem Schirm verfinsterter Monde
geh ich auf Abenteuer und habe viel zu tun,
ich muss mit meinem Namen leben lernen
und mit meinem Alter hausieren gehn,
ich muss für mein leeres Zimmer Blumen stehlen,
denn mein Schutzengel kommt zu mir zum Abendessen.
Papier
Seit ich zeichne, male und Holzschnitte drucke, verwende ich jedes Papier, das erreichbar ist. Bütten, Durchschlagpapiere und Makulaturen, holzhaltig dicke und hinfällig dünne Blätter, von Firmen- und Wasserzeichen geadelte Bogen und leicht getöntes, gewöhnliches Malpapier, dessen Ränder von Staub befallen, von Licht gebräunt sind. Ich zeichne auf Briefpapiere, Kartons und Pappen; machte und mache keinen Unterschied. Privatdemokratisches Papierverständnis? Unbedenklicher Umgang mit Material? Mischung aus Geldmangel, Freude, Ungeduld? Anarchische Sorglosigkeit oder fehlende Sorgfalt? Ich bin dahintergekommen: Ich weiß es nicht.
Kann man warten, Atem und Freude verzögern, Machart oder Bildwelt so lange verschieben, bis man gutes Papier gefunden hat? Es ist ein heftiger Fehler: Ich kann es nicht. Ich gebrauche, verbrauche, was vorhanden ist, altes Papier mit Falte und Eselsohr, gewöhnliches Schreibpapier auf meinem Tisch, aus Zeichenblöcken gelöste, schlaffe Seiten, und das Feinste vom Feinen ohne Gedanken an Wert. Auf Werte Rücksicht zu nehmen fällt mir schwer. Ich bin im Papierfach als Zweitklässler sitzengeblieben.
Jedes Papier, das ich verwende, besitzt Charakter und Eigenart. Sie wirken sich im Charakter des Bildes aus. Ich benutze grobes Papier mit Schrunden und Poren, gebirgigen Flächen voll heimtückisch rauer Struktur, der Stift wird abgelenkt oder unterbrochen, der Strich erscheint gerastert, die Linie stumpf. Die Bleistiftspitze verliert sich in Höhlen und Kratern, umkreist ihre Ränder und weiß nicht wohin. Es gibt ein farbenverschlingendes, mattes Papier, das saugt sich voll mit Terpentin und Tinte, und es gibt ein löschpapierartig saufendes Weißzeug, das dunkle Ränder bildet um jeden Fleck. Auf ihm kann Graphit oder Kreide wie Puder erscheinen, streusandähnlich gehäuft, man bläst sie weg. Und es gibt anonyme Papiere, wesenlos helle, herablassend indifferente, nicht leicht zu beklecksen. Dann gibt es den eis- oder schneeweißen, schlohweißen Bogen, penetrante Glätte ohne Anhaltspunkt, die der Neugier des Zeichners nichts entgegenbringt, feindschaftlich blank und leer, ein kompaktes Nichts. Es weist Aquarell, Terpentin und Tinte von sich, lässt Farbe wie Dreck auf sich kleben, soll sie doch kleben. Misanthropisches Schnöselzeug, renitentes Papier, das mit spitzen Stiften mühsam erobert wird. Es gibt Formulare, mit Unsinn bedrucktes Papier (Rundbriefe eines Vereins oder Wäschereklamen), deren Rückseite gut für schnelle Notierung ist. Und es gibt Papiere, die seit Jahren lagern, Aufheb- und Wegwerfpapiere in rutschenden Haufen, voller Flecken, Wasserspuren und Fliegendreck. Sie sind in der Vielfalt das Vergnügen des Zeichners. Er findet etwas vor und führt es weiter. Ein isoliertes Fleckchen (Rückstand aus Zufall) erscheint als Nabel des bildlichen Körpers, willkommene Mitte seines Sonnengeflechts, gern und leicht umworben von spitzen Pinseln, von Sonderbehandlung verwöhnt und ausgezeichnet, am Ende unkenntlich, mit Farbe bedeckt.
Wenn ich auf Reisen zeichnen will, verwende ich Papier, das der Zufall mir schenkt. Papiere aus Schubladen oder Gemischtwarenläden, Briefpapier der Tabakläden in der Provinz, Meterware von einer Rolle geschnitten, und Schulhefte, unliniert, ein kleines Format. In Korsika (kein Laden am Ort vorhanden) beschaffte ich mir Stöße von Amtspapier, vom Sekretär der örtlichen Perception. Er schien eine aquarellierende Tochter zu haben und hielt die Kunst für ein Ding der Möglichkeit. Im französischen Hinterland, im Haus am Gebirge, sammeln sich Tausendverschnitte misslungener Bilder, angefangene, weggelegte Papiere, geknickte, gerollte, zusammengeschobene Bogen – aussortierter Reichtum, der sorglos macht.
In Mappen und Schränken sammelt sich mein Vermögen. Dunkel und trocken liegen die Blätter da, in ungeordneten Schichten, und nie gezählt. Die nicht vorhandene Ordnung ist Wunsch und Spiel, ich entdecke immer wieder ein neues Blatt, überrasche mich selbst mit eigenen Lebenszeichen. Es ist ein Vergnügen, die Bilder vergessen zu können und auszugraben in einer Winternacht.
Unbedenklichkeit, mein heftiger Fehler – ich bin und bleibe auf ihn angewiesen. Ich weiß, dass Papiere zerfallen, sie altern schnell. Sie verbergen eine eigene Sterblichkeit. Sie nehmen die Farbe von Staub oder Wintergras an, Grau oder Gelb, Vergilbung, Verblichenheit. Unter den Farben bricht die Fläche auf. Angefressene, abgegriffene Ränder. Holz und Säure wirken sich aus als Schaden, beschleunigen ihren Verfall, der Stockfleck erscheint. Das heute hergestellte Papier stirbt schnell, ins Licht gehängte Zeichnungen altern früh, sie sind im Verlauf einer Ausstellung älter geworden, sie kommen von ihren Reisen beschädigt zurück. Knick, Riss und Fleck erscheinen unvermeidlich. Versicherung – eine graue Eminenz, sie lässt dem Kunsthändler freie Hand. Die Hand des Händlers kann sich als Pfote erweisen. Er drückt seinen Stempel, den Daumen auf das Papier.
Papiere altern in unterschiedlicher Weise. Verschmutzte Luft amüsiert sich auf ihre Kosten, sie frisst sich ein und hat sonst nichts zu tun. Die alten Erbfeinde, Fett und Feuchtigkeit, sind für hinterlistiges Nagen und Lecken bekannt. Zeit saugt die Substanzen aus, verbraucht ihre Reinheit, demonstriert Gefräßigkeit als ihr Grundgesetz. Langsam wird umgebracht, was blank und hell war. Elastische Materie liegt brüchig da. Farblose Todesfarbe Erloschenheit. Weiß, das Licht des Papiers, ist die Nahrung des Lichts, das elektrisch oder als Sonne Hunger hat.
Von Kindheit an erfahre ich dieses Verbrauchen. Meine Hoffnung ist ein gutes Papier – und mein Vertrauen – manchmal – die Reproduktion. Das alles geht unter. Mein in Papier und Farbe verwandeltes Leben, mein Vergnügen, mein Unfug, mein Wahnsinn und meine Vernunft, mein Handwerk und was als Ästhetik bezeichnet wird – das ganze Geschehen geht auf ein Ende zu, verzögert oder beschleunigt, und nicht zu vermeiden. Mein Glück, das Papier, ist sterblicher als zuvor. Diese Erkenntnis liegt meiner Arbeit zugrunde. Mit dieser Gewissheit fängt mein Zeichnen an.
Ich lebe mit meinen Augen, mit Händen und Nerven, mit meinem Handwerk, mit Werkzeugen und Papier. Der eigene Tod war von Geburt an da, die Sterblichkeit der Ware kam später hinzu. Es gibt Archive, Sorgfalt und gute Verwaltung, es gibt ein Überleben für kurze Zeit. In alledem ist Zuversicht kein Vermögen, wertloses Kleingeld, mit dem nichts gekauft werden kann. Ich verwende das beste Papier, das ist meine Zukunft. Ich benutze jedes Papier, das ist meine Freude.
Eine Tür aus Glas
Die Tür aus Glas ist im Sommer offen, auch nachts und im Regen, und wenn ich in die Gemeinde fahre, um Post zu holen und Brot zu kaufen. In meiner Abwesenheit tritt niemand ein. Es ist nicht dasselbe, wenn ich zu Hause bin. In der offenen Tür tauchen Leute auf (sie erscheinen im Winter hinter Glas), vertraute und unbekannte, erwünschte und falsche, Gesichter und Mäntel im Gegenlicht, ein Uhrenhändler im Wagen aus Marseille, ein Nachbar, der Honig bringt, um erzählen zu können, ein vom Bergweg abgeirrter Tourist. Ein Lavendelbauer kommt an Erntetagen und bittet um Hilfe. Der Gemeindediener liest die Wasseruhr und trinkt etwas Wein. Es kommen Zigeuner, die Körbe verkaufen, und es kommen zwei Damen der christlichen Redseligkeit, sie bieten Broschüren und Bibeln an. Eine Viper rutschte, als ich im Zeichnen war, grau und langsam über die Schwelle, krümmte sich an den Wänden entlang und verschwand hinter Büchern. Jahrelang bewegte sich, nachts um elf, eine Kröte hangabwärts durch das Licht. Der Marder (er scheint mein Marder zu sein) trug die Kopf- und die Schwanzhälfte eines zerlegten Gecko nacheinander an der Tür vorbei. Der Kater des Nachbarn erscheint mit einer Maus. Junge Vögel fliegen ins Zimmer, prallen ans Fenster und stürzen ab, verwirrt, betäubt, mit gebrochenen Flügeln. Elstern schwirren laut vorbei, randalierende Diebe der Vogelwelt, verschlagen und frech wie alte Füchse, und schaffen beiseite, was Licht fängt: Kupferteile, Scherben, Silberpapier. Eine Brille, lang verschwunden, wurde nach Jahren im Bach entdeckt.
Es ist ein Raum, in dem gearbeitet wird. Vor der Tür steht ein alter Tilleul, er trägt zu allem bei, was mir möglich ist. Die Türe öffnet sich in dichtes Laub (im Winter in kahles Geäst), ich atme und schlafe im Baum, in Geräusch und Schatten des Baums, in seinem Duft. Die Wurzeln wachsen unter das Fundament, die Äste berühren das Dach und scheuern im Wind an den Ziegeln. Der Baum muss gelichtet werden, ich schneide die Äste. Er filtert Hitze, Licht und Wind, lässt den Regen erzählen, wirft bewegliche Schatten auf Gras und Mauern, grünen Schatten auf Tisch und Gläser, Sonnenflecken auf das Papier. Vögel durchfliegen ihn ohne Geräusch, Bienen halten sich auf, im Schatten brummend. Im ausgehöhlten Stamm ein Nest von Hornissen, das ich nachts mit Zement verschloss.
Hinter dem Baum geht das Grasland hangaufwärts nach Süden. Unter Weißdorngestrüpp verfällt eine Mauer, die Lavendelfeld und Wiesen trennte. Wiesen und Feld sind verbraucht, voll Kraut und Dornen, das Gras ist üppig, aber verfilzt und wertlos, saftig im Frühling, im Sommer verdorrt, das Land vor Augen wird an den Hundstagen grau. Grau sind Bergrücken, Gräser und Steine, grün wie grau ist das staubige Laub.
Vom Tisch aus sehe ich nach Südosten (grüner Morgenhimmel hinter Eichen), zum Gebirge hin liegt das letzte Haus, umgeben von Hörensagen und Menschengedenken. Dort fanden Überfälle und Morde statt, dort wurde Flüchtlingen Brot und Bett verwehrt. Hinter dem Haus beginnt das Gebirge, mit Feldern der Bauern Chayron und Fort, Nussböden und Lavendelhänge, entfernter sind Quitten, Wacholder und Zedern und eine Quelle – La Dame –, die nie versiegt, eine fremde Dame stieg vom Pferd und trank. Ich kenne die Markierungen, Wege und Namen – Les Flandines, La Rourie und die Wälder von Lemps – und weiß noch viel von einzelnen Leuten, Geburt und Tod in den Häusern und Zahl der Tiere, die Säufer, die Wilderer, der Trödler Claude. Über der Landstraße – Route de Rosans – liegt der Ort Pelonne, dort wohnt der Arzt der Gemeinde, Docteur Mallié, die Dicke Marcelle und der Holzhändler Pons, dessen Tochter in Aix-en-Provence die Rechte studiert. Dahinter sind Ödgebiete, Granit und Schotter, Schluchten voll Staub, Erosion und Schlangen, große Haufengebilde aus Sand und Schiefer, sie werden »Gifte« genannt, weil dort nichts wächst.
Es ist der Übergang von der Drôme in die Alpen. Die Grenze verläuft in dem Fluss Armalauze, Wasserarmut im Strombett aus Kies und Sumpf. Dort ist der große Supermarkt des Canton (dort kaufen die Restaurants und die Bergdörfer ein), Hangars und Blechbaracken, Gelände voll Abfall, eine neue Disco, ein altes Hotel. Auf dem Hügel, von Ginster verschlungen, verfällt ein Dorf. Die Orientierungen wechseln, es ist eine Grenze, veränderte Jagdgesetze und andere Ernten, man fährt nach Norden und Osten auf andere Märkte, der Süden wird grün, er nimmt Enzian und Kornfelder auf. Das meerische Licht setzt sich fort, der Wein verschwindet, die Oliven verkümmern, der Honig ist überall.
Zum Osten hin öffnen sich steigende Ebenen, Plateaus mit Lavendel und Lavendelmühlen (duftender blauer espace an Julitagen), Sandsteinwüsten, von trockenen Schluchten zerrissen, Sahara-Inseln, von Mais und Luzernen umgeben, und Holzplätze an der Straße nach Barcelonette. Dort wird Kiefernholz auf Camions verladen, für die großen Papierfabriken im Piemont. Versteppte Wasserläufe, entlegene Orte, ein Platz, ein Brunnen, ein Château im Wind. Da sitzen Araber in der Zeit herum. Das Dorf Saint-André, eine Pilgerstation, am verschollenen Weg von Burgund nach Rom, ein Jahrtausend Säulenreste und wilde Tauben, Straßenmalven, offene Kirchentüren. Dahinter die Schafschlachterei, ein Zentrum des Berglands, Betongebäude, nach Verfaulung stinkend. Das Blut geht in den Fluss und der Abfall auf ein Gelände, das Ratten, Krähen und Hunden gehört. Dort arbeiten achtzig Leute, die Hälfte sind Schlachter, von dort kommen Maltafieber und Fleisch ins Land. Viehtransporter, rote Käfigwagen, sind auf allen Straßen im Hinterland unterwegs. Nicht weit entfernt die Klinik von Pernes-les-Bains, eine Heilanstalt, die hier Irrenhaus heißt. Wer von dort zurückkommt, hat nichts zu lachen, er ist gezeichnet, ein Schattenmensch, ein Kretin.
In der Gedankenlinie erscheinen Länder, durch die ich an hellen Tagen fuhr, Serpentinen zur Côte d’Azur, nach Turin und in die Toskana, zum Col des Tourettes und zum Col de Larche, orangefarbene Lärchen und Schnee im Juni, Manövergebiete, verfallene Garnisonen, Felsmillionen in Eis und Sonne (– weit umhergeworfene / Fundamente des Himmels), Schlangenadler über leeren Hängen, Wasserfälle, in Herbstluft schallend, eine dicke Marmotte, die im Geröll verschwand.
Und Genua, das Antonio Tabucchi mir zeigte, ein Leben in Florenz und ein Leben in Rom, Winterbesuche in Recanati, venezianische Reminiszenzen, Triest im Schnee, und Belgrad halb verhungert ohne Geld, eine Bibliothek in Neapel, ein Schlaf in Missina, die Cycladen im Wind, die Fähren und die Delphine, ein Sprung durch die Tür nach Jerusalem und ein Flug nach Asien.
Windrosenspiele, Gedankenlinien, in neunzig Richtungen der vorhandenen Welt, und für alles, was ich nicht kenne, sind Namen da. Ich kann mir davon ein paar Bilder machen und im Nichtvorhandenen sicher sein, so sicher wie der Verfasser des Fragments:
Wer sucht mit dem Streichholz
Schmetterlinge in seinen Kleidern,
als hätte er Falter auf der Haut getragen –
ganz mit Flügelstaub behaftet
Ein Tag im Winter, die gläserne Tür ist zu. Aber Glas ist eine offene Materie, sie setzt den Augen nichts Unbestimmtes entgegen. Schnee des Südens, ein flüchtiger Zauber, die Berge sind weiß bestäubt, und die Steine glänzen, die Krähe fliegt schwarz am Dach des Hauses entlang. Die umgebende Welt hält an ihrer Erscheinung fest. Das Haus hat Fenster und Türen in viele Richtung, da fliegt man nach Norden hinaus, für eine Weile.
Der Norden beginnt in der Steinumfassung des Fensters, von Mistral benagt und von Regen zerfressen, dahinter ein Mandelbaum, er ist mein Baum, hundertjährig, mit Schnee beladen, erster Baum, der im Nachwinter blüht. Bauerngärten am Hang zur route nationale, die Benzinpumpe, die Gemischtwaren von Perron. Dahinter das Flussland und die Berge des Diois, der Camping, der Friedhof, die Farm La Bonté, die steilen alten Weingärten am Montrond, der Weg nach Gardette –
Der Freiburger Münsterturm
Der Freiburger Münsterturm war für mich – von Kind an, für lange – der herrliche Gegenstand der sichtbaren Welt. Ich war oft in den Wendeltreppen gewesen, hatte vom Oktogon in die Luft gespuckt, die darunter schwingenden Glocken schlagen gesehen – ihr sechzehnfaches Dröhnen zerriss den Kopf –, war im Zimmer des Glöckners gewesen, er lebte dort oben, und glaubte an nichts so fest wie an diesen Turm. Er gab mir Gewissheit wie die Sonne, nicht auszusprechen, real, nie in Frage gestellt. Solange der Turm stand, konnte ich leben, nichts konnte mir passieren, es ging mir gut, ich vertraute ihm mehr als mir selbst, er war mein Stolz, als sei ich sein Entdecker, sein Architekt. Er erschien mir im Traum, ich umflog und bewohnte ihn, die Erinnerung ist lebendig wie wenige sonst.
Dann kam ein Bombenangriff, der Freiburg zerstörte. Der Turm blieb stehen, vom Bombenhagel umflogen, von furchtbaren Bränden gerötet, unsichtbar im Qualm, zwei Meter weit schwankend in der heißen Luft. Ich sah die Vernichtung von Littenweiler aus, einem Vorort Freiburgs, dass der Münsterturm stand, erfuhr man am nächsten Tag. Eine Nacht lang war mir übel vor Ungewissheit, mich beutelten Angst und Ohnmacht wie nichts davor. Wenn der Münsterturm weg ist, will ich nicht mehr leben, ich sagte den Satz immer wieder, er ist verbürgt. Ich erinnere mich nicht an ihn, aber an mein Befinden, Wesenstaubheit, etwas wie Irresein.
Dass der Münsterturm stand, verzauberte meine Gewissheit – der schönste Turm der Welt, ihn hatte ein Wunder erhalten. Seither träumte ich, der Turm fiele um. Der Traum wiederholte sich in dreißig Jahren: Der Turm liegt als Schuttberg da, er hat Freiburg begraben, von Trümmern zerschlagen sind Wasserspeier und Glocken, Posaunenengel, Rosetten, alles kaputt (ein Schlagwort der Nachkriegszeit in vielen Sprachen), doch schlimmer als Stein und Schutt ist die leere Luft. An der Stelle des Turms ist nichts, eine riesige Leere, ein so leerer Anblick von nichts, dass mir übel wird. Nicht begreifen, ein Schwindelgefühl meiner Kindheit. Im Krieg wurden Trümmer zum gewöhnlichen Anblick, sie waren für mich kein Thema, sie sind ein Motiv. Zutritt verboten! Einsturzgefahr! Vorsicht! Baustelle! Zutritt verboten! Der Mensch, der dort hinkam, war unbefugt. Ich war und blieb unbefugt in Trümmern zu Haus.
In den neunziger Jahren wurde bekannt, dass der Münsterturm nicht erhalten bleibt. Das bestätigt die Fachwelt – es ist kein Gerücht –, Architekten, Statiker, Baufachleute. Der rote Sandstein ist weich, ihn frisst die verseuchte Luft. Die Gefräßigkeit ist sichtbar und aggressiv und das Restaurieren am Turm so zeitraubend langsam, dass auf Dauer nichts zu bewirken ist. Die Münsterbauhütte ist ein Großbetrieb, der Turm eine Großbaustelle mit vielen Gerüsten, die an immer anderer Stelle im Freien hängt. Kein Mensch kann voraussehen, wie lange der Münsterturm steht und was einmal geschehen wird – ob er zusammenstürzt – oder Stein für Stein abgebaut und vielleicht ersetzt – durch synthetisches Material, im Lauf der Zeit – und wird der verlorene Turm genannt.
Schneeballpost
Ein Gespräch mit Christoph Meckel in Briefen mit Franz Loquai
FL: Können Sie uns etwas über Ihre Biographie erzählen? Wie könnte eine Vita Christoph Meckels aussehen?
CM (LES BAYLES, JULI 1992): Die Situation, in der ich bin, hat etwas mit Biographie zu tun. Vor acht Tagen bin ich sehr schnell, mit Schreibmaschine, Papier und ein paar Büchern aus dem Haus geflüchtet, in dem ich seit zwanzig Jahren wohne. In den Bergen hier werden hundert Hektar Busch- und Waldland von Bulldozern abgeschafft, das beginnt unmittelbar am Haus, umgebracht wird gesunder Baumbestand, Mandel- und Maulbeerbäume, Bergeichen und Pappeln; man stellt Wüste her, um sie mit Zedern zu bepflanzen, die in siebzig Jahren kleine Bäume sein werden, weil der Staat das finanziert; man würde auch Krokodile aussetzen, Affen züchten oder Konzentrationslager für Araber, Belgier und Asiaten einrichten, wenn der Staat das finanzierte; der Lärm der Bulldozer ist nicht zu ertragen; nach den Rodungen wird die Gegend nicht mehr dieselbe sein, für mich vielleicht ein Ende hier.
Ich bin jetzt in einem Weiler im Gebirge, in einem garagenartigen Anbau und versuche, meine Angelegenheiten festzuhalten. Die Situation ist nicht neu; Flucht und Vertriebenwerden, nicht freiwilliges Verlassen von Ort und Arbeit ist von Kindheit an eine Tatsache des Lebens; es waren im Krieg politische Motive (Verlassenmüssen von Häusern, Evakuierung etc.), heute sind es gewöhnliche technische auf Friedensschauplätzen: Zerstörung und Lärm; ich bin aus Wohnungen, Häusern und Hotels, aus Städten und Landschaften immer wieder geflüchtet; das Wahrzeichen von Landschaft ist heute nicht Weg, Feld, Baum, sondern – von vielen Leuten nicht bemerkt – der Maschinenpark, vom schwersten Bulldozer bis zum Spritzgerät; auf Landwirtschaftsmessen im französischen Hinterland habe ich mir die Maschinen angesehn – Killerinstrumente von unerhörter Kraft; wenn man wie ich und Millionen anderer als Kind das Dritte Reich überlebte – Obdachlosigkeit, Bombe, Hunger, Kälte etc. –, erscheinen Wechsel und Improvisation zutreffender als Sesshaftigkeit, und schöne Alte Sachen wie Wert und Würde, Einrichtung und Sicherheit sind für mich Illusion.
Zur Biographie gehört, dass ich Deutscher bin und das einmal zu akzeptieren hatte; es gehört dazu, nicht in Deutschland zu leben, sondern überall in der Welt (ich kann den Deutschen nicht die Geschichte verzeihn, die sie angerichtet haben); und es gehört dazu, Schriftsteller deutscher Sprache zu sein, was ich als Privileg erfahre: in dieser kompromittierten, heruntergewirtschafteten, in sechzig Jahren zweimal ruinierten Sprache etwas Lebendiges, Neues zu machen, aus dieser Geschichte heraus Gedichte zu machen, sie der Vergangenheit und Gegenwart entgegenzustellen – das ist zweifellos eine Chance; dagegen sind Klagen über die Wirkungslosigkeit von Kunst für mich ohne Bedeutung; ich lebte seit Ende der fünfziger Jahre in West-Berlin, zwischen zwei deutschen Staaten ein dritter Ort; ob ich in Berlin bleibe, steht dahin.
FL: Welche Orte sind in Ihrem Leben, für Ihr Schreiben und Zeichnen wichtig?
CM: Es sind Orte, Schauplätze und Landschaften, die ich kenne: Rom, New York, Mexiko, Jerusalem, Ibadan, Wüste, Inseln, Küsten überall, und vor allem Berlin, meine Metropole, mein persönlicher Limbo, vermutlich der Ort, den ich am besten kenne und daher verstehe. Es sind Orte, die ich nicht kenne, mir vorstelle: Kleinasien, Tibet, asiatische Hochebenen und Archipele. Und es sind Orte, die ich gegründet habe: Babylon-City, das Dorf Irdisch-Unkraut, Landschaften meiner Prosa und meiner Bilder; und vieles mehr.
FL: Ihre Metropole Berlin ist nunmehr gesamtdeutsch geworden. Wie erleben Sie die real nicht mehr existierende Mauer in der Stadt? Wächst da was zusammen, gibt es Auswirkungen auf Ihre Arbeiten?
CM: Durch Freundschaften war ich anhaltend und nah mit der DDR konfrontiert. Vielleicht kann ich sagen, dass ich von Da Drüben etwas mehr erfuhr als andre im Westen. Ich beobachtete – erlebte vor allem – ein Wachsen, dann Sich-Auswachsen verschiedener Mentalität und Sprache. Wenn ich das im Westen sagte, wurde ich als Pessimist bezeichnet (der Westen war und bleibt offenbar in der Beziehung zum Osten provinziell). Jetzt kann jeder erfahren, dass das stimmte. Jetzt kann jeder gegen die spirituelle Mauer schlagen oder geschlagen werden, gegen die wirtschaftliche, weltanschauliche, lebenspraktische, menschliche – diese Art von Mauer wird noch erhalten bleiben, Generationen können sich daran zerschlagen.
Osten und Westen, der Gegensatz und die Mauer, waren früh eigene Motive. Den Durchbruch der Mauer erlebte ich als Bestätigung meiner Bilder. Es passierte genau so, wie ich es Jahre früher gezeichnet hatte: Ich lief tage- und nächtelang durch eigene Bilder.
FL: Orte in der Fiktion, Autoren und Bücher, die Sie nicht missen mögen?
CM: Die Hälfte meiner Bücher ist in Berlin, die andre im Ausland; mir fehlt immer irgendwas, ein Gedicht, ein paar Bücher, sehr viele Texte, Bilder, Lexika; ein provozierender Zustand, der mir gefällt: die Bequemlichkeit des Nachschlagens wird ersetzt durch Erinnerung, Vorstellungskraft, Rekonstruktion des Fehlenden. Die eigenen Bilder sehe ich selten, entdecke sie aber gern in fremder Umgebung; sie erscheinen dort verändert oder auf neue Weise kritisch zugänglich. Autoren und Bücher, Bilder, Musiken, die ich nicht missen möchte – es sind zu viele; ich liebe Anthologien und Sammelwerke, zum Beispiel eine Histoire naturelle aus dem Jahr M.DCC.LXXXVI, entdeckte darin L’animal anonyme, das anonyme Tier, ein hasenfuchsartiges Lebewesen, das ratlos-melancholisch im Unbestimmten hockt.
FL: Was würden Sie tun, wenn Sie nicht schreiben und zeichnen könnten?
CM: Ich würde die eigene Existenz noch unbegreiflicher finden, und vielleicht in ihr nichts entdecken. Nichts mit Kunst zu tun zu haben ist eine Vorstellung, aber was für eine.
FL: Welches Ihrer Bücher halten Sie für das beste und warum?
CM: Alles Veröffentlichte entfernt sich schnell, ich brauche nicht viel davon. Dann fallen mir ein paar Zeilen ein, die ich einleuchtend finde, und es freut mich, dass sie eigene sind: »Ich brauche / ein Leben für mich / und ein Menschsein für alle« – eine mögliche Antwort auf die Frage, wie Leben, Literatur und Politik zusammenhängen – was meinen Sie?
FL: Ich finde diese Zeilen einleuchtend, haltbar, auch Ihnen entsprechend. Erscheint Ihnen eines Ihrer Bücher weniger gelungen oder mittlerweile sehr weit weg?
CM: Lieber Schneeballfreund – eine Schneeballpost ist nicht der Platz, misslungene eigene Sachen bloßzustellen. Mir genügt, dass ich sie kenne – so gut, dass ich alles weiß, was kritisch dazu geäußert werden könnte.
FL: Mit Babylon-City haben Sie sich Ihren eigenen Kosmos, in dem sich die Weltkomödie ereignet, erfunden. Welche Dynamik, welches Eigenleben hat dieser Kosmos inzwischen entwickelt?
CM: Babylon-City (BC) hat nichts mit der Weltkomödie zu tun; sie ist meine Metropole in Prosa und Poesie; dort stand ich Jasnando zum ersten Mal gegenüber; die Weltkomödie wird nicht vom Schriftsteller, sondern vom Radierer und Graphiker gemacht; das ist verwirrend für Betrachter und Leser, und ich meine es ernst, wenn ich überlege, ob ich da etwas versäumt haben könnte; wäre es besser gewesen – nicht für mich –, das Gemachte auf drei Autoren zu verteilen – o Pessoa! Dann gäbe es den Schriftsteller C. M., er könnte bleiben, der er ist; es gäbe einen Graphiker anderen Namens, den Radierer einer Weltkomödie, vieler Zyklen, Serien, Triptychen und Friese; es gäbe einen Dritten mit anderem Namen, dessen Werk aus Zeichnung und Farbe besteht, Serien von Mischtechniken, Manuskriptbildern, Miniaturen, Mappenwerken und Fliegenden Blättern; Babylon-City gehört dem Schriftsteller, nicht seinen Nachbarn; häufiger in letzter Zeit überlege ich Plan, Klima und Geographie dieses Monsters – Anlass vielleicht für genauere Beschreibung oder gezeichnete Pläne.
FL: Manche Kritiker sagen, Sie könnten es sich einfacher machen, wenn Sie keine Großprojekte in der Art Ihrer riesigen Zyklen in Angriff nehmen würden. Gelegentlich war da von Hybris oder Gigantomanie die Rede. Die kleinere Form, gleichsam das Unscheinbare und Plunderhafte, das episch Überschaubare, liege Ihnen besser. Manche meinten, eine gewisse Diskrepanz zwischen Ihrer Prosa und den Zyklen der Weltkomödie festzustellen. Was entgegnen Sie solcher Kritik?
CM: Wenn der Löwe brüllt, lass ihn doch brüllen – aber was da brüllt, scheint kein Löwe zu sein; Gigantomanie ist Merkmal des Dilettanten, eines mit Kunstabsicht beladenen, überanstrengten Individuums, dessen Wille, Vorstellung und Gestaltungskraft nicht übereinstimmen. Sind Beckmann, Faulkner, Kleist Gigantomanen? Selbst Balzac war keiner.
FL: Ist das ausgeprägte Selbstbewusstsein des Künstlers und der hohe Anspruch an sein – nennen wir’s: Lebensprojekt Ansporn und conditio sine qua non? Oder kann es sich auch zur Fußangel des Artisten auf dem Hochseil entwickeln? Sie haben sich da ja wirklich auf etwas Großes eingelassen: Wie Balzac mit seiner Comédie humaine arbeiten Sie am riesigen Entwurf einer Weltkomödie in Wort und Bild.
CM: Weltkomödie grosse fortuneEinsamer Baum, Weltende ErwartungBaum Ebene
Weltkomödie
:
:Weltkomödie
:
:
:Weltkomödie
:SäureSouterrain Anzahlung auf ein Glas Wasser Poem Die Komödien der HölleJasnandos Nachtlied Container
:Bockshorn
:Tässchen Tinteon the road
:
:
:avant la lettre
:Wir sind wieder was!
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:Jahreszeiten
:Jahreszeiten Die Trümmer des Schmetterlings L’Ordure du paradis
:Porträt Christoph MeckelShalamuns Papiere
:MessingstadtShalamuns Papiereein Fleiß
:Das Buch Jubal, Das Buch Shiralee
:au fondJiddische LiederLieder aus dem Dreckloch
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:Kunst der Erinnerung Aschegoldasche
– wo es durchgefahren war, das Fahrzeug
schnell verschwundene, blieb in der Luft ein Ton –
vielleicht war was abgeblättert, rausgefallen
Wolken, Regentropfen, Elstern,
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:Jean hau abShalamun