Kinder bekommen — was bedeutet das heute? Dieses Buch bietet Argumente für alle, die
sich mit dem Kinderwunsch auseinandersetzen.
Warum wollen wir überhaupt eigene Kinder? Dürfen wir entscheiden, welche Kinder wir
bekommen und welche nicht? Ist es für Kinder irgendwann zu spät? Und welche Technologien
dürfen wir nutzen auf dem Weg zum Wunschkind? Früher entschied das Schicksal, ob wir
Kinder bekommen und welche Kinder wir bekommen. Heute ist es zunehmend steuerbar.
Vielseitig, diskussionsfreudig und zugänglich ergründen die Philosophin Barbara Bleisch
und die Rechtswissenschaftlerin Andrea Büchler, wie weit unsere Autonomie bei der
Reproduktion reicht und welche Verantwortung die neu gewonnene Freiheit mit sich bringt
— für zukünftige Mütter und Väter, für unsere Kinder, aber auch für uns als Gesellschaft.
Barbara Bleisch | Andrea Büchler
Kinder wollen
Über Autonomie und Verantwortung
Carl Hanser Verlag
Auftakt zum Gespräch
Andrea Büchler
Barbara Bleisch
1 Kinder wollen
2 Ein eigenes Kind
3 Ein Kind zu meiner Zeit
4 Nicht dieses Kind
5 Ein bestimmtes Kind
6 Ein Kind dank anderer
7 Kinder wollen — Eltern werden
Dank
Anmerkungen
Für Julia, Johanna, Selma und Tara
»Sich einen Menschen wünschen. Darum geht es. Keine Puppe, die ich mit meinem Begehren füllen, in meinem Ebenbilde formen, über die ich verfügen kann. Sondern einen Menschen mit einer wie auch immer gearteten Entstehungsgeschichte, mit Würde, mit einer Identität, mit einer Zukunft, mit einer Herkunft, die höchstens zur Hälfte und manchmal gar nichts mit mir zu tun hat. Einen Menschen, dem ich die Welt eröffnen will, der mich aber auch in ganz neue Welten einführen wird. Jedes Kind, das auf die Welt kommt, ob gewünscht oder nicht oder ob im Reagenzglas oder im Eileiter gezeugt, ist ein solcher Mensch.«
Millay Hyatt1
»In Deutschland reden die Leute gerade sehr viel über Kinder. Darüber, wer Kinder kriegt, wer sie kriegen sollte und wer besser nicht, darüber, wann man dafür zu jung ist und wann zu alt, darüber, wer Kinder adoptieren darf und wer nicht. Was Ärzte tun dürfen, damit manche Leute, die eigentlich keine Kinder kriegen können, es doch können. Wann man die Kinder, wenn man welche hat, in die Kinderkrippe schicken darf. Und ob überhaupt. Ich glaube, die Leute reden einfach deshalb so viel über Kinder, weil es immer weniger davon gibt.
Darüber wird nämlich auch ständig geredet: Warum die Leute immer weniger Kinder kriegen. Aber wenn die Leute über Kinder reden, reden sie oft gar nicht wirklich über die Kinder, sondern sie reden über sich selbst.«
Bertram Eisenhauer2
In dieses Buch sind verschiedene Reisen eingewoben. Während es entstand, lebte und arbeitete ich vorübergehend in Palo Alto, einem kleinen Ort im Silicon Valley, einer Gegend, die für Technik, Risiko und Innovation steht. Technischer Fortschritt beflügelt dort die Phantasien der Menschen. Man begegnet ihm offen, unbefangen, neugierig. Das gilt auch für die Entwicklungen der Fortpflanzungsmedizin. Bei schulischen Anlässen meiner jüngeren Tochter erzählten mir andere Eltern ungezwungen von »ihren« Embryonen, die nach der In-vitro-Fertilisation eingefroren worden waren und nun in einer nahe gelegenen Klinik lagen, von den Untersuchungen, die an diesen vorgenommen wurden, und von den Vereinbarungen über ihre Nutzung, die sie als Paar für den Fall der Trennung getroffen hatten. Die Leihmutterschaft war ein ebenso unspektakuläres Gesprächsthema und gilt in Kalifornien als eine Möglichkeit der Familiengründung, wenn keine andere zur Verfügung steht. Ich wohnte nur wenige Fahrminuten von der »California Cryobank« entfernt, einer der größten Samenbanken weltweit, die mit den Kindheitsfotos der »Spender der Woche« und mit einem umfassenden genetischen Screeningprogramm wirbt. Die »California Cryobank« sucht ihre Standorte nicht zufällig aus: In unmittelbarer Umgebung von Palo Alto liegen einige der besten Universitäten des Landes. An der renommierten Stanford University werden Frauen gesucht, die für einen Nebenverdienst ihre Eizellen »spenden«, und die IT-Firmen übernehmen die Kosten der Aufbewahrung der Eizellen ihrer Mitarbeiterinnen, damit diese für einen späteren Kinderwunsch vorsorgen und ihre Familienplanung etwas hinausschieben können.
In ganz andere Kontexte führten mich Reisen nach Indien, die mir Einblicke in die Praktiken dortiger reproduktionsmedizinischer Kliniken ermöglichten. Ihnen verdanke ich Gespräche mit Frauen über das eigene Kind oder über das Kind, das sie für andere austrugen, über persönliche Nöte, vertraute Sehnsüchte und universelle Sorgen, über große Ungerechtigkeiten und noch größere Hoffnungen. Die persönliche Begegnung mit anderen, zunächst fremden Herangehensweisen an die großen und drängenden Fragen rund um das Kinderwollen ist Herausforderung und Bereicherung zugleich. Sie macht immer wieder die kulturelle, soziale und biographische Bedingtheit eigener »Wahrheiten« deutlich und fordert dazu auf, Komplexität und Ambivalenz anzuerkennen und neue Perspektiven zu wagen.
Das Kinderwollen hat eine menschenrechtliche Dimension, und Kinderwünsche sind eine höchst private Angelegenheit. Wie will ich mein Leben leben, welchen Sinn will ich ihm geben? Das sind weitreichende Fragen und persönliche Entscheidungen, die freilich in bestimmten sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontexten gestellt und gefällt werden, in die staatliche Interventionen aber zu unterbleiben haben. Stellt sich allerdings die Schwangerschaft nicht spontan ein und verlässt der Zeugungsvorgang die Sphäre des Privaten, oder wird auf die Zeugung Einfluss genommen und dafür auf Genetik zurückgegriffen, oder ist die Schwangerschaft ungewollt und will die Frau sie beenden, dann ergeben sich Fragen, die auch andere betreffen und die in die Gesellschaft hineinreichen. Zwischen dem Kinderwollen und dem Elternwerden liegt eine Zeit, die heute medizinisch intensiv begleitet wird. Schon alleine die Tatsache, dass Fortpflanzungsmediziner, Gynäkologinnen, Genetiker und Hebammen beim Kinderbekommen assistieren, wirft die Frage auf, ob und, wenn ja, welche Regelungen notwendig und dem Verfahren angemessen sind. Was darf man von den Fachpersonen wollen, was dürfen sie tun? Und wer entscheidet dies aufgrund welcher Erwägungen?
Grundsätzlich dürfen wir natürlich auf unsere Sehnsüchte hören und unsere Lebenspläne verfolgen. Die persönliche Freiheit ist philosophisch wie rechtlich ein Wert von höchstem Rang. Wenn es um den technischen Fortschritt geht und darum, dass wir diesen für unsere Pläne einsetzen könnten, werden aber regelmäßig die gesetzgebenden Instanzen aufgerufen, das, was möglich ist, auf das, was möglich sein soll, einzugrenzen. Dabei sind ethische Erwägungen zentral: Gibt es moralisch gute, verallgemeinerbare Gründe, die persönliche Freiheit zu beschränken? Wie werden die Menschenwürde, die körperliche Integrität, Gleichheit und die Interessen von Kindern gewährleistet? Das Recht als normative Ordnung ist das Ergebnis von Wertentscheidungen. Rechtliche Regelungen sind allerdings nicht einfach Verschriftlichungen ethischer Erwägungen, sondern ethische Erwägungen werden zunächst auf der Bühne der Gesetzgebung in verbindliche Anweisungen transformiert. Ob und wie dies geschieht, ist in einer demokratischen und liberalen Gesellschaft nicht nur eine Frage der gesellschaftlichen Konsensfindung, sondern auch eine der spezifischen Anforderungen an eine rechtliche Norm: Ist das Interesse, das die Norm zu wahren vorgibt, legitim und gewichtig genug, um eine Freiheitsbeschränkung zu rechtfertigen? Ist diese dafür zwingend notwendig und vermag sie das legitime Interesse tatsächlich zu schützen? Und lässt sie sich in das Gesamtsystem von Normen kohärent einbinden? Geht es darum, die persönliche Freiheit in einem höchst persönlichen Bereich zu beschränken, sind die Anforderungen an die Legitimität und Plausibilität des Interesses, das dadurch geschützt werden soll, hoch. Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft und sind einer vielschichtigen Vielfalt von moralischen Vorstellungen und Lebensentwürfen verpflichtet — eine Verpflichtung, der wir mit einer Ordnung nachkommen, welche die Freiheit der einzelnen Person in existenziellen und intimen Angelegenheiten schützt.
Im Jahr 2016 durfte ich mich für den Schweizerischen Juristentag in einem Gutachten mit dem Kinderwollen aus rechtlicher Sicht auseinandersetzen. Daraus entstand die Schrift Reproduktive Autonomie und Selbstbestimmung3, die für mich zugleich Anlass zu diesem Buch war. Die rechtliche Untersuchung findet an einigen Stellen auch in dieses Buch Eingang, aber sie ist nicht sein Anspruch. Das Buch will vielmehr ein breit gefächertes, vielstimmiges Gespräch begleiten, ordnen, analysieren — und diesem eine weitere Stimme hinzufügen. Diese weitere Stimme ist aus einem Oszillieren zwischen philosophischen Erwägungen und rechtlicher Einordnung hervorgegangen, das viele unserer Diskussionen um Konzepte und Formulierungen rund um eine Ethik der Reproduktion, zu den Versprechen und Gefahren der Optionen der Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik und zu den dem Kinderwollen »einverleibten« Werten prägte. Wir haben nicht nur versucht, die Korsette und Gepflogenheiten unserer jeweiligen Disziplin zu verlassen, sondern vor allem auch eine Sprache für das gemeinsame Nachdenken und das gemeinsame Schreiben zu finden. Wir haben uns angesichts großer Komplexität um angemessene Worte bemüht und um Konsens gerungen. Das Ringen findet in diesem Buch freilich keinen Abschluss in endgültigen Antworten, sondern mündet in Auslegeordnungen und vorläufigen Interventionen, die einem Prozess des ständig erneuten Abwägens unterworfen bleiben — und in einem Aufruf zur Fortführung des Gesprächs.
Solche Erfahrungen verschafft mir auch die Arbeit in der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin der Schweiz. Seit 2016 habe ich die Freude, diese zu leiten. Die Nationale Ethikkommission ist eine interdisziplinär zusammengesetzte, unabhängige außerparlamentarische Kommission, die mit dem Erlass des schweizerischen Fortpflanzungsmedizingesetzes im Jahr 2001 ins Leben gerufen wurde und die viele Aspekte des Kinderwollens debattiert — ähnliche Beratungsgremien gibt es in den meisten Demokratien der Gegenwart. Die Nationale Ethikkommission äußert sich regelmäßig zu ethischen Aspekten der Fortpflanzungsmedizin und der Humangenetik in Form von Stellungnahmen. Werden in diesem Buch Meinungen zum Ausdruck gebracht, so sind dies aber einzig die meinen respektive die unseren — die freilich von den vielen bereichernden Diskussionen mit meinen Kolleginnen und Kollegen der Nationalen Ethikkommission profitiert haben.
Viele in meinem Bekanntenkreis sind in den letzten Jahren Eltern geworden. Einige haben sich sehnlichst Kinder gewünscht und gehen in ihrer Elternschaft auf, andere hadern mit der großen Verantwortung, die sie für ihre Kinder tragen. Ich habe aber auch Freundinnen und Freunde, die nie Kinder wollten oder bei denen sich die Gründung einer eigenen Familie einfach nicht ergeben hat. Andere hätten gern Kinder gewollt, haben aber keine bekommen. Ein befreundetes Paar hat sich getrennt, weil es sich über die Kinderfrage nicht einig war. Ich bin mit einem Frauenpaar befreundet, das sich die Verantwortung für die Kinder mit einem Männerpaar teilt. Zuweilen beneide ich die vier darum, dass sie acht Großeltern haben, die die Enkel umsorgen wollen. In den letzten Jahren stand ich Freundinnen bei, die sich auf ein Kind freuten und es verloren haben. Ich erlebte das Ringen von Bekannten mit, die erfahren mussten, dass ihr Kind schwerkrank sein würde. Bevor sie sich für oder gegen einen Abbruch entschieden hatten, starb das Kind. In derselben Zeit wurde ich selbst Mutter und sah mich gemeinsam mit meinem Partner mit Fragen konfrontiert, über die ich nie zuvor nachgedacht hatte. In jener Zeit erwachte auch mein Interesse an den philosophischen Fragen, die sich im Zusammenhang mit eigenen Kindern und der Familie generell auftun: Warum wollen viele Eltern werden, warum wünschen sie sich eigene Kinder? Was ist eigentlich eine Familie angesichts der Möglichkeiten der modernen Reproduktionsmedizin? Wozu sind Eltern verpflichtet, wozu Kinder, und welche Aufgaben haben wir als Gesellschaft den jüngeren Generationen gegenüber?
Die Frage, ob wir Kinder haben wollen, betrifft unser Leben zweifelsohne grundlegend. Wer Kinder bekommt, wird verantwortlich für einen Menschen, der für lange Zeit und in manchen Fällen sogar für immer auf seine oder ihre Fürsorge angewiesen ist. Eltern eröffnen sich aber auch Erfahrungshorizonte, die ihnen vorbehalten sind. Wer keine Kinder bekommt, kann sich dagegen Freiräume bewahren, die sich für Mütter und Väter verengen. Nicht immer fügen sich die Dinge jedoch so, wie wir sie uns zurechtgelegt haben: Ein Kinderwunsch kann unerfüllt bleiben; ein Kind sich ungeplant ankündigen; eine Diagnose während der Schwangerschaft zu ungeahnten Konflikten führen. Doch selbst wenn sich das Schicksal machtvoll in unsere Pläne drängt, lassen sich heute Mittel ergreifen, es zumindest teilweise in seine Schranken zu weisen. Verfahren wie die Befruchtung im Labor, die Selektion von Embryonen oder die Eizellspende sind allerdings heftig umstritten. Bei den Fragen, um die es in diesem Streit geht, handelt es sich teilweise um rechtliche Fragen, etwa, ob wir dürfen, was wir technologisch vermögen. Rechtliche Normen werden durch demokratische Prozeduren festgelegt und schaffen einen allgemeinverbindlichen Rahmen, in dem die Einzelnen ihr Leben selbstbestimmt gestalten können. Die Regeln des Rechts sind dabei offen für Veränderung: Regelmäßig engagieren sich Menschen für eine Änderung der Gesetze in Sachen Reproduktionsmedizin. Sie fordern mehr Freiheit oder mehr Verbote, und nicht alle Regionen der Welt regeln die entsprechenden Fragen gleich.
An dieser Stelle kommen philosophische Fragen ins Spiel, die zum Gegenstand haben, wie die entsprechenden Regelungen ausgestaltet sein sollen und welche Fragen überhaupt einer Regelung bedürfen. In den entsprechenden Diskussionen wird oft Bezug genommen auf Konzepte wie Verantwortung und Autonomie, Diskriminierung und Menschenwürde, Kindeswohl und Ausbeutung. Doch was genau meint der Begriff der Menschenwürde? Wann liegt eine Diskriminierung vor? Welches Verständnis von Kindeswohl sollte dem rechtlichen Schutz von Kindern zugrunde gelegt sein? Um Fragen wie diese beantworten zu können, ist es hilfreich, rechtliche und philosophische Betrachtungsweisen zu verbinden — und genau dieses Anliegen verfolgen wir mit diesem Buch. Eine besondere Herausforderung besteht dabei in der Gefahr des Rechtsmoralismus: Das Recht darf nicht einfach eine bestimmte moralische Auffassung in Gesetze gießen, sondern muss — in liberalen Gesellschaften — unterschiedlichen Moralvorstellungen gegenüber neutral bleiben. Die moralphilosophische Argumentation muss daher alle Argumente bedenken und sorgfältig prüfen, um sich nicht dem Verdacht auszusetzen, voreingenommen und bevormundend zu sein.
Die philosophische Betrachtung muss sich dabei auch daran messen lassen, wie gut es ihr gelingt, die grundlegenden normativen und begrifflichen Fragen praxisnah zu diskutieren und ihren handlungsorientierenden Anspruch einzulösen. Oft genug wird der Philosophie unterstellt, dass sie im Elfenbeinturm verbleibe und dass ihre Überlegungen in der Theorie überzeugend, doch für die Praxis zu abstrakt und letztlich nicht brauchbar seien. Die interdisziplinäre Betrachtung, also die Verbindung juristischer und philosophischer Diskurse, vermag diesen Verdacht zu entschärfen: Sie verortet die philosophischen Überlegungen in der gesellschaftlichen Praxis und ermöglicht die Rückbindung des Rechts an seine normativen Grundlagen.
Die philosophische Betrachtung so grundlegender Fragen wie der nach dem Kinderwunsch dient aber auch einem zweiten Zweck. Sie problematisiert den Freiheitsraum, den das Recht dem Individuum zugesteht. Denn auch wenn alle rechtlichen Unklarheiten (vorläufig) beseitigt und die Freiheitsräume der Bürgerinnen und Bürger abgesteckt sind, stellt sich den Individuen nach wie vor die Frage, wie sie diese Freiheit in Verantwortung nutzen können. Was heißt es zum Beispiel, als Paar verantwortungsvoll mit einem Kinderwunsch umzugehen, wenn die Beteiligten fortgeschrittenen Alters sind oder die Umsetzung des Wunsches besondere Risiken birgt? Was bedeutet es, die Entscheidung für einen Abbruch einer Schwangerschaft verantwortlich zu fällen? Die Entscheidungen sind gerade in diesem Feld typischerweise konfliktreich und berühren tief sitzende Wertvorstellungen, zwischen denen wir uns hin- und hergerissen fühlen. Vielleicht wissen Menschen, ob sie Kinder wollen — aber oft wissen sie nicht, ob sie wollen dürfen, was dazu erforderlich sein kann.
Die Aufgabe der Philosophie ist es nicht, anderen Menschen zu sagen, was sie tun sollen. Philosophie predigt nicht, Philosophie regt zum Selberdenken an. Sie kann aber ausloten, wie wir in systematischer Weise und hinreichend tiefgründig über fundamentale Fragen des Lebens nachdenken können. Philosophie kann uns dabei helfen, die richtigen Fragen zu stellen — und sie genau zu stellen. Dazu ist es notwendig, wie Jay F. Rosenberg schreibt, die Fragen, die uns bewegen, »in die Reichweite der Tätigkeit der Vernunft zu bringen, sie vom Herzen in den Verstand zu verlagern«.4 Die Fragen vom Herzen in den Verstand zu verlagern heißt, dem Bestreben nach Klarheit Genüge zu tun. Gerade weil es sich bei der Frage nach eigenen Kindern um Herzensanliegen handelt, brauchen wir die Hilfe des Verstandes, um konstruktiv mit ihnen umgehen zu können. Denn selten spricht das Herz mit einer Stimme; öfters sind wir innerlich zerrissen. Philosophie kann diese Zerrissenheit fassbar machen, indem sie uns dabei hilft, unsere widerstreitenden Intuitionen freizulegen und ihre Berechtigung und Tragweite nüchtern zu prüfen. Das ist ein fortwährender Prozess, der keinen Abschluss kennt und immer wieder die Bereitschaft voraussetzt, die eigene Ambivalenz zuzulassen und sich selbst zu hinterfragen. Eine so verstandene Philosophie berücksichtigt, was der Schriftsteller Markus Werner meinte, als er schrieb: »Allein das Zögern ist human.«5
Dieses Zögern ist auch diesem Buch eigen: Wohl sind klare Positionsbezüge unabdingbar, wenn es um unverhandelbare Normen geht wie jene, dass Kinder nicht zur Ware degradiert oder Frauen nicht ausgebeutet werden dürfen. Viele Fragen lassen aber verschiedene Antworten zu, die gleichermaßen berechtigt sind. Im Feld der Ethik gibt es, mit einem Ausdruck des Philosophen John Rawls, durchaus »vernünftige Meinungsverschiedenheiten«, die sich nicht dadurch auflösen lassen, dass wir dem anderen einen Denkfehler nachweisen. Dann ist es angezeigt, zunächst nach den grundlegenden Konflikten und Problemstellungen zu suchen, damit wir über diese ins Gespräch kommen können.
»Theoretisch wäre es einer der größten Triumphe der Menschheit […] wenn es gelänge, den verantwortlichen Akt der Kinderzeugung zu einer willkürlichen und beabsichtigten Handlung zu erheben.«
Sigmund Freud1
»Ein Bekenntnis zu Freiheit und moralischem Pluralismus gebietet, die reproduktive Autonomie einer Person nur dann einzuschränken, wenn das Risiko, dass jemand anderes zu Schaden käme, das zweifelsohne dringliche Interesse überwiegt, selbst entscheiden zu können, ob und wie man sich fortpflanzen will.«
Emily Jackson2
Als Sarah 25 Jahre alt ist, schreibt sie an ihrer Masterarbeit, hat viele Freundinnen und Freunde, eine glückliche Beziehung und den Kopf voller Pläne. Die Frage nach dem Kinderwunsch stellt sich ihr zu diesem Zeitpunkt nicht, sie sorgt einfach gewissenhaft dafür, dass sie nicht schwanger wird. Irgendwann später wird sie wohl schon noch Kinder wollen, wenn sie ihr Studium abgeschlossen, eine Stelle gefunden, eine gewisse finanzielle Sicherheit erreicht und noch etwas von der Welt gesehen hat. Einige Jahre später meldet sich der Kinderwunsch dann mit großer Wucht: intensiv, existenziell, unnachgiebig. Das Studium ist mittlerweile abgeschlossen, und Sarah hat eine Arbeitsstelle, die ihr gefällt. Mit einem Kind würde der berufliche Aufstieg vielleicht verlangsamt, aber Sarah ist zuversichtlich, Beruf und Familie vereinbaren zu können. Ihrem Partner Felix allerdings, mit dem sie seit zwei Jahren zusammenwohnt, gefällt es in der freien Zweisamkeit, und es steht außerdem die Möglichkeit eines berufsbedingten Auslandsaufenthalts im Raum. Erstmals in ihrem Leben spürt Sarah die Last der Entscheidung: Soll sie die Verwirklichung ihres Kinderwunsches aufschieben? Felix für ihr Vorhaben zu gewinnen versuchen, mit dem Risiko, die Verantwortung für das Kind dann doch mehr oder weniger allein tragen zu müssen? Sich von Felix trennen und hoffen, einen neuen Freund zu finden, der sich auch Kinder wünscht? Eizellen einfrieren lassen und so Zeit gewinnen? Neue Lebenspläne schmieden, in denen Kinder nicht zwingend vorkommen?
Nochmals ein paar Jahre später entscheiden Sarah und Felix gemeinsam, sich doch auf das Abenteuer Kind einzulassen. Inzwischen ist Sarah 37 Jahre alt, und das Ticken ihrer »biologischen Uhr« beunruhigt sie. Eigentlich würde sie gerne mindestens zwei Kinder haben. Eine Schwangerschaft stellt sich aber von alleine nicht ein. Der Arzt, den das Paar nach einiger Zeit aufsucht, diagnostiziert bei Sarah eine altersbedingt nur noch eingeschränkte Fruchtbarkeit. Von den ein bis zwei Millionen Eizellen, die eine Frau bei ihrer Geburt hat, ist in diesem Alter nur noch ein kleiner Bruchteil vorhanden, und die noch verbleibenden Eizellen sind oft nicht mehr von der besten Qualität. Außerdem werden bei Felix verlangsamte Spermien festgestellt. Die beiden geben sich ein weiteres Jahr Zeit: Auf den Zyklus von Sarah abgestimmter Sex, Verzicht auf Alkohol, verordnete Freiheit von Stress — es will trotzdem nicht klappen. Sarah und Felix beginnen einerseits, sich damit auseinanderzusetzen, was es für sie bedeuten würde, kinderlos zu bleiben. Andererseits befassen sie sich mit den Möglichkeiten, die die moderne Medizin bietet. Im Gespräch mit einer Reproduktionsmedizinerin erfahren sie, was in ihrem Land möglich und erlaubt ist. Auf anderen Wegen hören Sarah und Felix, was darüber hinaus in anderen Ländern angeboten wird. Ihre Geschichte lässt sich in verschiedene Richtungen weiterdenken: Sie kann mit einer Schwangerschaft und einer problemlosen Geburt in eine neue Phase eintreten. Sie kann sich aber auch als lang, hürdenreich und schmerzhaft erweisen — und viele weitere Entscheidungen mit sich bringen.
Geschichten wie diese gibt es viele. Der Kinderwunsch ist nicht irgendein Wunsch, sondern er tangiert uns Menschen in existenzieller Weise. Ihn wieder aufzugeben, hat er sich erst einmal in unser Leben gedrängt, kann eine unerträgliche Vorstellung sein — genauso wie uns auf eine unerwünschte Elternschaft einzulassen. Zur Erfüllung oder Verhinderung eines Kinderwunsches ergreifen Frauen und Männer oft alle erdenklichen Mittel, von denen immer mehr zur Verfügung stehen. Die Entwicklungen in der Fortpflanzungsmedizin und der Gentechnologie haben uns nicht nur die Möglichkeit eröffnet, größtenteils eigenmächtig darüber zu entscheiden, ob, wann und wie wir Eltern werden, sondern darüber hinaus Spielräume geschaffen, um auf die Eigenschaften unseres Nachwuchses Einfluss zu nehmen. Wo bis vor wenigen Jahrzehnten vornehmlich die Natur oder das Schicksal über die Erfüllung unserer Kinderwünsche entschieden oder diesen Wünschen unüberwindbare Grenzen gesetzt haben, lässt sich heute nicht nur planend, sondern auch korrigierend und gestaltend eingreifen.
Mit dieser neu gewonnenen Freiheit stehen wir stärker und in neuer Weise in der Verantwortung. Vor mehr als hundert Jahren prognostizierte Sigmund Freud, dass der Gipfel des Triumphs der Menschheit erreicht sein würde, wenn es uns gelänge, den »Akt der Kinderzeugung« zu einer »willkürlichen und beabsichtigten Handlung« zu machen.3 So verstanden, triumphiert die Menschheit derzeit tatsächlich. Doch erstens bleibt ihre »beabsichtigte Handlung« manchmal ohne Erfolg. Zweitens sind am Akt immer häufiger nicht nur das Paar, sondern weitere Personen — etwa die Reproduktionsmedizinerin, der Samenspender — beteiligt, die ihr Handeln genauso wie die Frau oder das Paar moralisch verantworten müssen. Drittens sind mit dem Kinder machen4, als das der Soziologe Andreas Bernard die moderne Reproduktion bezeichnet, eine Vielzahl von Entscheidungen verbunden, die die Betroffenen nicht selten in große Entscheidungsnöte bringen. Vor diesem Hintergrund müssen wir uns die Frage stellen, ob die Menschheit angesichts der genannten Fortschritte tatsächlich triumphieren darf — oder ob die neu gewonnene Freiheit auch kritisch gesehen werden muss.
Dass wir überhaupt erwägen und entscheiden können, ob wir Kinder haben wollen oder lieber kinderlos bleiben, scheint uns in unseren Lebenszusammenhängen mittlerweile selbstverständlich. Dabei wird zusehends der hinter uns liegende lange Weg vergessen, der von grundlegenden technologischen und sozialpolitischen Zäsuren geprägt war, die die Art und Weise, wie wir Kinder bekommen, radikal verändert haben. Diese Zäsuren vollzogen sich nicht geräuschlos — ganz im Gegenteil: Sie waren und sind auch heute noch begleitet von rechtlichen und ethischen Positionsbezügen, die die Chancen und Risiken der neuen Technologien ganz unterschiedlich bewerten und einordnen.
Als eine erste solche Zäsur ist die Einführung der Pille zu nennen. Sie machte die Entscheidung für oder gegen Kinder überhaupt erst möglich. Zwar hat die Geburtenkontrolle eine weitaus längere Geschichte, die bis in die Antike zurückreicht. Doch der Zugang zu mehr oder minder verlässlichen Verhütungsmethoden ist erst seit rund 50 Jahren gewährleistet — und das auch nur in bestimmten Ländern und Schichten. Mit der Möglichkeit, die eigene Fruchtbarkeit zu kontrollieren, hat sich auch der Blick auf Kinder verändert: Ein Kind zu bekommen wird seitdem nicht mehr vorrangig als Schicksal empfunden, sondern Kinder werden »gewollt« oder eben »nicht gewollt«. Eine Schwangerschaft wird entsprechend aktiv verhindert — oder aber sorgfältig geplant und wohlüberlegt in die eigene Biographie eingepasst. Rechtliche Rahmenbedingungen und gesellschaftliche Normen beeinflussen zwar weiterhin, ob, wann und unter welchen Umständen Frauen Mütter und Männer Väter werden — oder auch Frauen Väter und Männer Mütter5. Mit der Emanzipation der Frau und der gesellschaftlichen Liberalisierung wurden diese Normen immerhin aufgeweicht und machten einer Vielfalt an Lebensentwürfen Platz.
Die zweite Zäsur erfolgte mit der Einführung der In-vitro-Fertilisation, also der Zeugung im Labor: Sie machte es möglich, eine Schwangerschaft auch dann herbeizuführen, wenn sie sich spontan nicht einstellt. Das erste aus einer Befruchtung außerhalb des Körpers einer Frau hervorgegangene Kind kam 1978 in Großbritannien zur Welt. Die Geburt von Louise Brown wurde als Wunder und Meilenstein der Medizin gefeiert — jedoch auch heftig kritisiert. Die Reaktionen auf die Geburt dieses ersten »Retortenbabys«, wie es genannt wurde, fielen zunächst nämlich auch feindselig und harsch aus. Die britischen Wissenschaftler Patrick Steptoe und Robert Edwards, die dem Kind zum Leben verholfen hatten, mussten ihre Tat öffentlich rechtfertigen und verwiesen dabei stets von Neuem auf ihre ärztliche Pflicht, Hilfe zu leisten, wo sie gebraucht werde. Zeitungskommentare aus jenen Tagen zeugen von tiefgreifender Verunsicherung: Das Spiel mit der Natur sei gefährlich, seine Folgen nicht abschätzbar. In der Neuen Zürcher Zeitung vom 28. Juli 1978 hieß es: »Die aufgeworfenen ethischen und legalen Fragen lassen sich […] nicht eilig erörtern. Sie sind viel zu komplex. Sie kamen grundsätzlich schon durch die künstliche Befruchtung zur Debatte. Sie werden jetzt durch die Zeugung außerhalb des Mutterleibes erweitert und komplizierter: die Zeugung wird noch mehr entmenschlicht; die Möglichkeit der genetischen Manipulation wird größer; man wird wohl auch imstande sein, ein befruchtetes Ei nicht der Donatorin, sondern einer anderen Frau einzupflanzen.«6 Die Wochenzeitung Die Zeit schrieb wenige Tage später von einem wissenschaftlichen Sturm, »dessen ethische Ausläufer an den Grundfesten unserer Kultur rütteln«.7 Der Journalist Günter Haaf bezeichnete im besagten Artikel die wissenschaftliche Leistung der beiden Forscher zwar als unbestreitbar, sie könne aber auch auf eine »abschüssige Bahn führen«. Als Beispiele nannte er »die Einführung von Eierspendern und Eierbänken«, die Vorstellung, »Retortenkinder von Mietmüttern austragen zu lassen, einer Kaste von Gebärmaschinen«, »die Möglichkeit, Embryos künstlich zu zeugen, einzufrieren und beliebig lange zu lagern«, »die Versuchung, genetische Fixierungen zu treffen — das Geschlecht der Kinder zu bestimmen oder ihnen Eigenschaften wie Intelligenz, Augenfarbe, Gesichtszüge nach Wunsch zu verpassen«. Der Journalist forderte angesichts all dieser Ungeheuerlichkeiten, die er am Horizont aufziehen sah, den Entwurf einer neuen Ethik, begleitet von einer »breiteren, tieferen Diskussion, an der sich alle beteiligen«.
Mit Bezug auf die Zeugung im Labor als einer Technik, die Paaren zum ersehnten Kind verhilft, die auf natürlichem Weg kein Kind bekommen können, sind solch kritische Stimmen heute weitgehend verstummt. Die In-vitro-Fertilisation ist mittlerweile ein etabliertes Verfahren und eine häufig praktizierte Variante der Zeugung — was allerdings nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass sie für die Frau belastend und mit Risiken verbunden ist: Sie erfordert zur Stimulierung der Eierstöcke die Einnahme von hochdosierten Hormonpräparaten über längere Zeit hinweg, die Eizellentnahme unter Narkose und die Einsetzung einer Eizelle nach der Befruchtung. Das Verfahren wurde Anfang der 1990er Jahre mit der sogenannten »intra-cytoplasmatischen Spermieninjektion« (ICSI) noch einmal maßgeblich weiterentwickelt und sein Anwendungsbereich ausgedehnt. Diese Methode verhilft auch nahezu unfruchtbaren Männern zur Vaterschaft, weil ein einziges Spermium, das direkt in die Eizelle gespritzt wird, zur Befruchtung ausreicht.
Der Befruchtung im Labor verdanken viele Menschen ihr Leben und viele Eltern ihre Kinder. Weltweit ist jährlich von 2,4 Millionen entsprechender Behandlungszyklen auszugehen, die zu 500.000 Geburten führen. Europa ist an gut der Hälfte dieser Behandlungen beteiligt. In Ländern wie Belgien, Tschechien, Dänemark, Estland oder Slowenien kommt bereits eines von 25 Kindern mittels einer In-vitro-Fertilisation oder anderer Fruchtbarkeitsbehandlungen zur Welt, derweil deren Anteil in den USA rund 1 Prozent ausmacht.8 Die so gezeugten Kinder unterscheiden sich nach allem, was wir wissen, nicht von anderen Kindern, und wir scheinen zu einem verantwortungsvollen Umgang mit der neuen Technologie gefunden zu haben. Dabei sind viele der damals von Günter Haaf befürchteten Entwicklungen eingetreten: Die Eizellspende, die Leihmutterschaft und die Konservierung von Embryonen etwa sind heute an vielen Orten ohne weiteres möglich, werden aber weiterhin kritisch diskutiert, genauso wie der Einbezug der genetischen Diagnostik in die Reproduktionsmedizin. Die In-vitro-Fertilisation hat zu all diesen Verfahren den Grundstein gelegt: Sie hat den Zugriff auf Eizellen und Embryonen überhaupt erst ermöglicht, und damit auch deren Untersuchung und eine etwaige Selektion. Die Kritik an der Befruchtung im Labor richtet sich denn auch, wenn sie noch geäußert wird, meist nicht gegen diese Technik an sich, sondern gegen die weiteren Möglichkeiten, die sie eröffnet hat.
Dass der Kinderwunsch auch unerfüllt bleiben kann, wird angesichts der vielen neuen Möglichkeiten oft gar nicht bedacht. Tatsächlich ist heute weltweit schätzungsweise jedes sechste Paar von ungewollter Kinderlosigkeit betroffen; manche von ihnen erwägen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Infertilität liegt dabei grob gesagt zu je einem Drittel der Fälle an der Frau, am Mann oder an beiden, wobei in zehn Prozent der Fälle keine Ursache gefunden werden kann.9 Das größte Fruchtbarkeitsrisiko für Frauen ist heute der Trend zur späten Mutterschaft. Ungewollte Kinderlosigkeit ist laut Weltgesundheitsorganisation eine Krankheit, vor allem aber bedeutet sie für viele Paare zunächst Verunsicherung, Schmerz und Trauer. Betroffenen Personen steht eine ständig wachsende Palette an medizinischen, technologischen und naturheilkundlichen Hilfsmitteln zur Überwindung ihrer Unfruchtbarkeit zur Verfügung. Deren Wirksamkeit drücken Reproduktionskliniken teilweise in einer »Baby-Take-Home-Rate« aus — in der Wahrscheinlichkeit also, nach der Anwendung einer bestimmten Methode auch tatsächlich ein Kind zu bekommen. Wenn ein Paar sich Kinder wünscht, heißt das also noch lange nicht, dass es auch Kinder haben wird. Angesichts des Umstands, dass die Reproduktionsmedizin weltweit je nach Schätzung jährlich zwischen 12 und 25 Milliarden US-Dollar umsetzen soll10, scheint es nicht übertrieben, heute von einer Reproduktionsindustrie zu sprechen.
Dass manche in Anbetracht solcher Zahlen Unbehagen befällt, ist nachvollziehbar. Doch worin genau ist dieses begründet, und worauf bezieht es sich? Als die deutsche Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff im März 2014 in einer Rede im Dresdner Staatsschauspiel sagte, In-vitro-Fertilisationen, Samenspenden oder sogenannte Regenbogenfamilien mit gleichgeschlechtlichen Elternpaaren erfüllten sie mit »Horror« und »Abscheu«, sah sie durch diese »widerwärtigen« Verfahren insbesondere die Natur des Menschen und die Familie bedroht. Ihre Abscheu reichte so weit, dass sie sich zu der Aussage hinreißen ließ, »Kinder, die auf solch abartigen Wegen entstanden sind«, seien »als Halbwesen anzusehen«.11 Wie immer man zu reproduktionstechnologischen Verfahren stehen mag — sicherlich ist es unzulässig, die auf solchen Wegen entstandenen Kinder zu verunglimpfen. Lewitscharoffs Wortwahl wurde dafür auch kritisiert12, ihre Anklage der modernen Reproduktionsmedizin erfuhr aber ebenso Zuspruch. Die an die Rede anschließende öffentliche Diskussion legte vier grundsätzliche Sorgen offen, die in stets neuen Spielarten die Debatten um die Reproduktionstechnologie bis heute begleiten.
Die erste Sorge betrifft die Institution der Familie, die durch die neuen Verfahren ausgehöhlt werde, was auch das Wohl der so entstandenen Kinder gefährde. An dieser Überlegung wird deutlich, dass reproduktive Fragen immer auch eine familienpolitische Dimension aufweisen. Die stets weiter zunehmenden Möglichkeiten, durch künstliche Befruchtung oder durch die Hinzunahme fremder Samen- und Eizellen Kinder zu zeugen, bedrohen aber sicherlich nicht die Institution der Familie an sich — sie eröffnen im Gegenteil auch gleichgeschlechtlichen Paaren die Möglichkeit der Familiengründung und verhelfen Personen, die als unfruchtbar gelten, zum ersehnten Nachwuchs. Wer reproduktionsmedizinische Maßnahmen aus familienpolitischen Gründen ablehnt, bezieht sich vielmehr auf eine normative Idee von Familie, die eine Überlegenheit gegenüber alternativen Formen behauptet, die erst nachgewiesen werden müsste.
Die zweite Sorge betrifft die mangelnde »Natürlichkeit« reproduktionsmedizinischer Verfahren. Dabei bleibt allerdings notorisch unklar, was der Rückgriff auf Konzepte wie »Natur« oder »Natürlichkeit« eigentlich leisten kann und soll. Häufig werden die Begriffe rein suggestiv verwendet oder weltanschaulich vereinnahmt, was sie zwar nicht überflüssig macht, aber nach ihrer weiteren Klärung verlangt. Wogegen soll der Begriff der »Natürlichkeit« etwa kontrastiert werden: gegen das Kulturelle, das das »Natürliche« in gesellschaftlichen Kontexten stets neu formt? Gegen das technisch Gemachte und somit Artifizielle? Gegen den Wandel, der das Ursprüngliche verändert? Gemeinsam ist allen Varianten von »Natürlichkeits-Einwänden«, dass dem von Natur aus Seienden gegenüber dem von Menschen Hervorgebrachten ein systematischer Vorrang eingeräumt wird. Dieser »Natürlichkeitsbonus«13, wie der Philosoph Dieter Birnbacher es nennt, geht mit verschiedenen weiteren Annahmen einher. Zum einen werden natürliche Gefahren beispielsweise unreflektiert als geringer eingestuft als solche, die von technologischen Interventionen ausgehen. So schätzen etwa Impfgegner das Risiko, dass ihr Kind an den Nebenwirkungen einer Impfung Schaden nehmen könnte, höher ein als die Gefahr, dass es später unter der Krankheit leiden könnte, gegen die es hätte geimpft werden können — selbst wenn Studien in eine andere Richtung weisen. Zum anderen sind wir eher bereit, eine Naturkatastrophe hinzunehmen, als negative Auswirkungen einer technologischen Intervention. Hinter dieser Voreingenommenheit stecken Befürchtungen, die im Zusammenhang mit mangelnder Natürlichkeit häufig geäußert werden: etwa die Sorge, dass die Folgen einer neuen Technologie nicht hinreichend gewissenhaft abgewogen werden, oder auch das Bedenken, dass künstliche Interventionen ungeachtet ihrer Risiken erfolgen, solange sie den Interessen Dritter dienen. Die Natur ist im Vergleich zur Technik zwar vielleicht nicht sicherer, aber sie ist mit Gewissheit nicht manipulativ. Wie in anderen Lebensbereichen auch, die vom technologischen Wandel erfasst sind, ist die Frage des Vertrauens entscheidend: Darf davon ausgegangen werden, dass jene, die die entsprechenden Technologien anwenden, ihre Verantwortung hinreichend ernst nehmen? Diese Frage stellt sich mit Blick auf unsere Kinder insofern verschärft, als sie für viele zum Kostbarsten in ihrem Leben überhaupt zählen. Dabei wird das »Natürliche« oft in hohem Maße idealisiert. Die Geschichte jeder Kultur erzählt über weite Strecken die Bändigung der Natur, deren negative und oft grausame Auswirkungen wir in den Griff zu bekommen versucht haben. Unfruchtbarkeit als »natürliche« Variante der menschlichen Fortpflanzungsfähigkeit wurde beispielsweise immer schon zu überwinden angestrebt. Der Kaiserschnitt als artifizieller Geburtsvorgang mag nicht von allen gutgeheißen werden, wenn er allein aus Gründen der Planbarkeit erfolgt; in vielen Fällen ist er aber schlicht lebensrettend für Frau oder Kind. Ebenso mag die Ultraschalldiagnostik für einige zu weit gehen, wenn sie dazu dient, den Fötus vorgeburtlich zu vermessen und auf Unregelmäßigkeiten hin abzusuchen; sie dient jedoch auch dazu, mögliche Komplikationen frühzeitig zu erkennen und abzuwenden.
Bedenken der »Unnatürlichkeit« werden denn auch oft gar nicht als eigentliche Argumente vorgebracht. Vielmehr kommt in ihnen ein eher diffuses Unbehagen zum Ausdruck, das sich angesichts einer zu weit gehenden Technisierung des Kinderbekommens einstellt. So wird etwa befürchtet, seine Eigengesetzlichkeit werde unterlaufen, die Demut vor dem Wunder der Natur gehe verloren oder der Mensch mache sich einer Hybris schuldig, wenn er sich »Züchtungsphantasien« hingebe, die ihm nicht zustünden. Das Nachdenken darüber, wie wir in Zukunft Kinder bekommen dürfen und sollen, muss sich deshalb auch mit allgemeinen Befürchtungen angesichts der technischen Umwälzungen auseinandersetzen, die an das grundsätzliche menschliche Selbst- und Naturverständnis rühren. Oder wie es der Bioethiker Johann S. Ach auf den Punkt bringt: »Man versteht die — zum Teil sehr heftig ausgetragenen — bioethischen Kontroversen über Reproduktionsmedizin, Gentechnologie, Klonen und Embryonenforschung vermutlich erst dann richtig, wenn man erkennt, dass sie zugleich immer auch Kontroversen um Gesellschaftsentwürfe und Menschenbilder sind und letztlich um die zentrale Frage kreisen, welche Aspekte des Menschseins uns wirklich wichtig sind.«14 Es ist genau diese Sorge um zentrale Aspekte des Menschseins, die auch den Soziologen Hartmut Rosa in seinem Buch Unverfügbarkeit umtreibt, wenn er fragt: »Wenn es aber in meiner und der Ärzte Gewalt liegt, ob und welche Kinder ich bekomme — ändert sich dann nicht meine Beziehung zum Leben überhaupt?«15 Letztlich reden wir also, wenn wir über das Kinderwollen und über die Grenzen unserer Kinderwünsche sprechen, über uns und unser Welt- und Selbstverhältnis. So konstatiert auch der Journalist Bertram Eisenhauer im Eingangszitat in dieses Buch: »Aber wenn die Leute über Kinder reden, reden sie oft gar nicht wirklich über die Kinder, sondern sie reden über sich selbst.«16 Es ist nicht zuletzt der sehr persönliche Zugang zur Thematik, der die Diskussion über das Kinderwollen zuweilen so schwierig macht.
Mit dem Einwand der »Unnatürlichkeit« wird manchmal auch auf eine dritte Sorge Bezug genommen, die dem Wohl möglicher Kinder gilt, die mithilfe reproduktionsmedizinischer Maßnahmen gezeugt werden. So wird zum einen befürchtet, dass sich eine künstliche Befruchtung nachteilig auf die Gesundheit des Kindes, seine Interessen und die Beziehung zu seinen Eltern auswirke. Bis heute wurden allerdings weltweit schätzungsweise über acht Millionen Kinder nach In-vitro-Fertilisationen geboren — die meisten von ihnen gesund und mit nicht weniger intakten Beziehungen zu ihren Eltern als andere Kinder auch. Verschiedene Studien deuten zwar auf eine leicht erhöhte Gefahr für diese Kinder hin, zu früh geboren zu werden oder gewisse epigenetische Veränderungen aufzuweisen, die mit einem vermehrten Auftreten von Herzkreislauferkrankungen, Übergewicht und Autismus einhergehen sollen. Über die Interpretation dieser Studien ist man sich aber weitgehend uneinig. Zum anderen wird diskutiert, ob nicht das Kinderwollen an sich nachteilig für mögliche Kinder sei. Der Kinderwunsch sei einer Idee der totalen Machbarkeit und Kontrolle gewichen, das bescheidenere »Wünschen« habe dem skrupellosen »Wollen« Platz gemacht. Doch wenn wir Kinder heute nicht mehr einfach bekommen, sondern immer öfter auch planen, vermessen oder im Labor »machen«, werden sie dadurch nicht zunehmend zum »Lifestyle-Projekt« für ambitionierte Eltern oder gar zum Kunstwerk noch ambitionierterer Fertilitätsmediziner? Eltern, die ihre Kinder mit großem emotionalem und finanziellem Aufwand in die Welt bringen, könnten die Erwartung an sie haben, dass sie auch entsprechend perfekt ausfallen. Eltern, die ihre Kinder mit hohen Forderungen konfrontieren, gab es freilich immer schon. Und insofern, als die meisten heute eine Familie »planen«, sind auch die meisten Kinder »Wunschkinder«, ganz unabhängig davon, wie sie gezeugt worden sind.
Viertens wird kritisch darauf hingewiesen, dass die Dringlichkeit des Kinderwunsches gepaart mit den wachsenden Möglichkeiten, diesen mit technischen Interventionen zu erfüllen, eine Industrie befeuert habe, die Frauen zum begehrten Investitions- und Forschungsobjekt werden lasse. Gerade weil der Kinderwunsch nicht irgendein Wunsch ist, sondern auf den Wunsch nach einer bestimmten Lebensform und einem bestimmten Lebensinhalt zuläuft, ist die Nachfrage nach medizinischer Unterstützung groß, wenn spontan keine Schwangerschaft eintritt.1718