Über das Buch

Faschismus und Totalitarismus, Integration und Intoleranz, Migration und Europa, Identität, das Eigene und das Fremde — die zentralen Begriffe in Umberto Ecos fünf Essays könnten kaum aktueller sein. Gerade in ihrer zeitlichen Distanz zeigt sich die Stärke von Ecos Gedanken: Losgelöst vom tagesaktuellen Geschehen, scheinen in ihnen die überzeitlichen Strukturen auf, die unserem Denken und Handeln zugrunde liegen. Präzise, wortgewandt und gespickt mit persönlichen Erinnerungen rufen seine Texte die komplexe Geschichte der Herausforderungen wach, vor denen wir heute stehen.

Umberto Eco

Der ewige Faschismus

Mit einem Vorwort von Roberto Saviano

Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Vorwort

Der ewige Faschismus

Die Migrationen des dritten Jahrtausends

Intoleranz

Ein neuer Vertrag von Nimwegen

Experimente in reziproker Ethnologie

Editorische Notiz

Vorwort

Von Roberto Saviano, September 2019

Das Wort »Faschismus«, das reflexartig jedes Mal fällt, wenn wir vor einem politischen Akt stehen, der uns autoritär erscheint, vor einer klar sexistischen oder rassistischen Äußerung, ruft immer zugleich die Reaktion hervor: Was für eine Übertreibung! Wo sind die Schlägerhorden der Schwarzhemden? Wo sind die Sondergerichte? Wo die Verhaftungen? Wo die Erschießungen? Wo die Konzentrationslager? Ein berechtigter Einwand, würde ich sagen, doch einer, der den historischen Faschismus als Bezugspunkt nimmt, verstanden als die Regierungszeit Mussolinis.

Umberto Eco beschreibt hier jedoch das, was er als den Ur-Faschismus bezeichnet, das heißt die Gesamtheit jener Handlungen, Verhaltensweisen, Haltungen und Instinkte, die zwar die Dynamik des Faschismus im frühen zwanzigsten Jahrhundert ausmachten, aber seine historische Ausprägung überlebt haben und heute lebendiger sind als jemals zuvor.

Als Eco diese Seiten schrieb, wusste er noch nichts von den heutigen Populismen, aber er hatte die Warnzeichen erkannt, die auf das autoritäre Abdriften Europas hindeuteten. Seine Ausführungen sind umso wertvoller, als er keine Parallelen zum historischen Faschismus zieht. In diesem Punkt ist Eco sehr klar: Der Faschismus war keine Doktrin, sondern eine Rhetorik. Und dieser Erkenntnis liegt nicht nur seine scharfe Ablehnung der faschistischen Programme zugrunde, sondern auch ein genauer Blick auf die faschistische Rhetorik, die eher eine Rhetorik des Verlusts als eine des Gewinns ist — wenn man alles verliert, jedwede Art von Identität, die auf Kultur beruht, auf Arbeit, auf Träumen, dann bleibt einem nur die Gemeinsamkeit der Geburt, der Abstammung oder Zugehörigkeit, und man fragt sich: Bin ich in der Nachbarschaft geboren? In derselben Gegend? Mit der gleichen Hautfarbe? Mit den gleichen Gebeten? Wenn ja, dann kann es sein, dass sich ein gemeinsamer Boden auftut und dass dieser als Mittel zur Abwehr benutzt wird, um alle anderen auszuschließen.

Im Handumdrehen werden Ecos Seiten zu einer Fackel, die es schafft, diesen endlosen Niedergang zu beleuchten, den Europa gerade erlebt: den Hass, den die krisengeschüttelte Mittelschicht auf all diejenigen entwickelt, die sie ersetzen könnten, also jetzt auch die Immigranten; den Wunsch, jeden »Auswärtigen« als Feind zu betrachten — die Juden eignen sich dazu wieder einmal bestens, da sie zur Kultur des eigenen Landes gehören, aber zugleich als »Andersartige« und als Minderheit identifizierbar sind. Die gesamte einstige Propaganda der Nazis und des Faschismus kann heute genauso wieder aufgetischt werden, man braucht sie nur auf ihren plutokratischen Aspekt zu begrenzen. Die Feinde sind also die Juden mit ihrem Geld, die Juden und die Banken, nicht mehr die Juden mit ihrem blutigen Pessachfest, nicht mehr die Juden mit ihren ungesäuerten Broten, in die sie das Blut von Christenkindern geknetet haben. Die Physiognomie tritt in den Hintergrund, bis sie völlig verschwindet und durch das Bild des reichen Juden ersetzt wird, der die Geschicke der Welt nach seinem Gusto lenken kann: Soros über alles.

Kurzum, diesen Seiten gelingt es, eine entscheidende Erkenntnis aufs Knappste zusammenzufassen, nämlich was für ein riesiger Fehler es ist, den Faschismus als ein ausschließlich historisches Phänomen zu begreifen. Ein Beispiel dafür ist die Definition von »Volk«, die gerade wieder aktuell geworden ist — ein »Volk«, das nicht mehr aus Individuen besteht, das seine Delegationsmacht verliert und aus einem Ensemble von Bürgern zu einer Masse wird, die nur dann etwas wert ist, wenn sie den Willen des »Führers« befolgt. Jede abweichende Meinung ist ein Verrat, jeder Intellektuelle ist ein »Tagedieb«, jede freie Schrift, die nicht die Ansicht des »Führers« und somit des Volkes-als-Masse verherrlicht, ist Fake, das intellektuelle Produkt eines reichen Salonlinken.

Der Autoritarismus, den wir gerade erleben, hat eine neue Dynamik — eine vollkommen neue, die darauf gründet, dass Hass und als Empathie getarnte Scheinheiligkeit als authentisch gelten und dass die spontane, nicht wohlbedachte Entscheidung als genuin betrachtet wird, während die besonnene Abwägung als Waffe der Heuchler gilt, denen es nur darum gehe, »das Volk« hinters Licht zu führen, um allein den eigenen Interessen zu dienen.

Es gibt so etwas wie ein Reset, ein auf Auf-Null-Zurücksetzen all jener Kategorien, auch und vor allem semantisch, die uns einen Ausgangspunkt liefern und in erster Linie dazu dienen, uns verstehen zu lassen, woher wir kommen, damit wir dann frei entscheiden können, wohin wir gehen wollen. Ich will versuchen, das genauer zu erklären.

Ich frage mich oft, was manche Politiker damit sagen wollen, wenn sie — wie es heute allenthalben geschieht — den Tod der Ideologien verkünden. Meine Vorstellung ist, dass diejenigen, die eine Geschichte haben, ob eine politisch rechte oder linke, irgendwie daran festhalten, um sich eine gewisse Kontinuität zu bewahren. Nur wer keine Geschichte hat oder sie, wie es noch öfter vorkommt, verleugnen will, argumentiert mit Begriffen wie dem von der Überwindung der traditionellen Kategorien. Aber was heißt hier überwinden? Wodurch könnte man sie ersetzen? Was kann die Lücke füllen?

Eine Neubewertung der Begriffe, mit denen wir aufgewachsen sind und die wir mit Bedeutungen gefüllt haben, heißt nicht eine Politik wiederzubeleben, die uns enttäuscht hat, sondern etwas gänzlich anderes. Wir erforschen die Geschichte der Menschheit mithilfe von Kategorien, die zunächst einen elementaren Nutzen haben, nämlich uns eine leicht zu begreifende und zu memorierende Liste zu liefern. Wenn wir älter werden und hinzulernen, erweitern und vertiefen wir diese Liste, knüpfen Querverbindungen, machen vielleicht die Erfahrung, dass wir mit manchen Theorien nicht einverstanden sind, oder stoßen auf Neues, das den Rahmen unserer Kenntnisse modifiziert; banal gesagt, wir machen die Erfahrung der Welt, und das ändert unsere Sicht auf die Dinge. Aber von irgendetwas und von irgendwo muss man ausgehen. Ich kann mich mir nicht als einen Sechzehnjährigen vorstellen, dem man sagt: »Rechts und Links gibt es nicht mehr, wir sind jetzt wir.«

Als Erstes wäre da doch zu fragen: Was heißt wir? Wer seid denn ihr? Darauf ernsthaft zu antworten, ist sehr schwer. Vielleicht wird jemand sagen: »Wir sind wie du, und wir vertreten deine Interessen.«

Aber wie könnt ihr wie ich sein? Ich bin ein Schüler und versuche mich zu orientieren und zu begreifen, wer von euch nicht nur meine Interessen vertritt, sondern sich für das Wohl der ganzen Gesellschaft einsetzt. Denn auch wenn euch nur ein Teil des Ganzen gewählt hat, werden eure Kompetenzen und Entscheidungen letztlich doch Folgen für alle haben. In diesem Sinne habe ich als Jugendlicher die Wahlsendungen im Fernsehen verfolgt, nicht so sehr, um zu begreifen, wer meine Interessen vertreten könnte, sondern was für Leute das waren, die da gewählt werden wollten, woher sie kamen und was sie inspirierte. Ich wollte begreifen, was Politik ist, und ohne einen Blick in die Geschichte wäre es unmöglich gewesen, mich nachhaltig in meiner Zeit zu verwurzeln.

Noch bevor wir überlegen, was die Rechte und die Linke ersetzen könnte, die es angeblich beide nicht mehr gibt, nicht einmal als abstrakte Kategorien, müssten wir doch wohl klären, was wir unter »politisch« verstehen: Was heißt heute »politisch handeln«? Wir entdecken dann, dass »politisch« immer die gleiche Bedeutung hat und sich nur, je nach Kontext, verändert, erweitert und ausdehnt. Eine Stadt, eine Region, eine Nation, ein Verbund von Nationen — in jedem dieser Fälle muss alles, was die Politik betrifft, zwangsläufig darauf bedacht sein, die realen Probleme zu erkennen, und nach konkreten Lösungen suchen. Sobald wir nicht alle dieselben Probleme erkennen oder, wenn wir sie erkennen, womöglich verschiedene Lösungen vorschlagen, müssen wir letztlich zugeben, dass der ideologische Teil der Politik — also der weniger praktische, der nicht mit der Welt, wie sie ist, zu tun hat, sondern mit der Welt, wie sie unserer Ansicht nach sein sollte oder wie wir sie wahrnehmen — einen enormen Einfluss auf das konkrete Leben hat.

Ist es möglich, eine Synthese zu finden? Wahrscheinlich nein, nicht einmal wenn man einräumt, dass es konkrete Instanzen gibt, die unsere »Wunschlisten« besiegen könnten. Aber etwas drängt es mich hier zu sagen, etwas, das mit der praktischen Politik zu tun hat und mit der Vorstellung, die wir von der Welt haben: Es gibt keinen Unterschied zwischen den Menschenrechten, die man heute ungestraft missachtet, indem man die Leute mit jeder Art von Lügen verschreckt, und den Bürgerrechten, um die sich heute fast niemand in der Politik mehr kümmert.