Über das Buch

Nie in seiner Kindheit war Patrik Svensson seinem Vater so nah wie beim Aalfischen. Als Erwachsener stellt er fest: Der Erinnerung an seinen Vater kommt er nicht auf die Spur, ohne nach dem Fisch zu suchen, der sie miteinander verband — und über den wir bis heute erstaunlich wenig wissen. Poetisch und spannend entwirft Svensson eine Natur- und Kulturgeschichte der Aale, von Aristoteles und Sigmund Freud über Günter Grass bis zu Rachel Carson, und verbindet sie mit seiner persönlichen Geschichte. Auf verschlungenen Wegen wird die Suche nach dem Aal zum Bild für das Leben selbst. Und Das Evangelium der Aale zu einer großen, umwerfenden Erzählung über ein sonderbares Tier und ein Leben auf der Suche.

Patrik Svensson

Das Evangelium der Aale

Aus dem Schwedischen von Hanna Granz

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Der Aal

Am Fluss

Aristoteles und der aus dem Schlamm geborene Aal

Einem Aal in die Augen blicken

Sigmund Freud und die Aale von Triest

Wildangeln

Vom Dänen, der den Laichplatz der Aale entdeckte

Gegen den Strom schwimmen

Menschen, die Aale fangen

Einen Aal überlisten

Der unheimliche Aal

Tiere töten

Das Leben unter der Oberfläche

Eine Reuse auslegen

Der lange Weg nach Hause

Ein Tor werden

Der Aal stirbt aus

In der Sargassosee

Dank

Quellen

Later in the same fields

He stood at night when eels

Moved through the grass like hatched fears

Seamus Heaney

Der Aal

Mit der Geburt des Aals ist es so: Sie findet im nordwestlichen Teil des Atlantiks statt, der als Sargassosee bezeichnet wird; ein Ort, der für die Entstehung des Aals in jeder Hinsicht geeignet ist. Denn die Sargassosee ist eher ein Meer im Meer als ein abgegrenztes Seegebiet. Wo sie beginnt und endet, ist nicht absehbar, unsere gewohnten Kriterien zur Vermessung der Welt lassen sich hier nicht anwenden. Sie liegt nordöstlich von Kuba und den Bahamas und östlich der nordamerikanischen Küste, gleichzeitig ist sie ständig in Bewegung. Mit der Sargassosee verhält es sich ähnlich wie mit einem Traum: Man kann nicht genau sagen, wann man eintaucht und wann man wieder hinausgleitet, man weiß nur, dass man drin gewesen ist.

Dieser flüchtige Charakter ergibt sich daraus, dass die Sargassosee ein Meer ohne Küsten und Inseln ist. Sie wird in allen Richtungen von mächtigen Strömungen begrenzt: im Westen vom lebenspendenden Golfstrom, im Norden von dessen Verlängerung, dem Nordatlantikstrom, im Osten vom Kanarenstrom und im Süden vom Nordäquatorialstrom. Fünf Millionen Quadratkilometer groß, bewegt sich die Sargassosee wie ein langsamer warmer Wirbel innerhalb dieses geschlossenen Kreislaufs. Was hereinkommt, gelangt nicht immer ganz leicht wieder hinaus.

Das Wasser ist tiefblau und klar und an manchen Stellen bis zu siebentausend Meter tief. An der Oberfläche treiben riesige Teppiche aus klebrigen Braunalgen, die man Sargassum oder Golftang nennt. Sie haben dem Meeresgebiet seinen Namen gegeben. Bis zu mehrere Tausend Meter lange Geflechte aus dicken Algenranken bedecken die Wasseroberfläche, schenken Leben und bieten zahlreichen Kreaturen Schutz: kleinen wirbellosen Tieren, Fischen, Quallen, Schildkröten, Garnelen und Krabben. In der Tiefe wachsen weitere Sorten Seegras und andere Pflanzen. Ein wogendes Leben im Dunkeln, wie ein Wald bei Nacht.

Hier entsteht der europäische Aal, Anguilla anguilla. Hier laichen im Frühling die ausgewachsenen Aale ab, hier legen und befruchten sie ihre Eier. Hier entsteht im Schutz tiefster Dunkelheit ein kleines, larvenartiges Wesen mit einem lächerlich winzigen Kopf und nur unzureichend ausgeprägten Augen, Leptocephalus-Larve genannt. Es sieht aus wie ein Weidenblatt, ist flach und so gut wie durchsichtig und nur wenige Millimeter lang. Das ist das erste Stadium des Aals.

Dieses durchsichtige Weidenblatt begibt sich sofort auf die Reise. Vom Golfstrom geleitet, schwimmt es Tausende von Kilometern über den Atlantik, bis es die europäischen Küsten erreicht. Es ist eine Reise, die bis zu drei Jahren dauern kann, und während dieser Zeit wächst die Larve Millimeter für Millimeter. An der europäischen Küste angelangt, durchläuft sie ihre erste Metamorphose und verwandelt sich in einen Glasaal. Das ist das zweite Stadium des Aals.

Glasaale sind, wie ihre vorherige Erscheinungsform, die Weidenblattlarven, beinahe vollkommen durchsichtige Geschöpfe, sechs oder sieben Zentimeter lang, schmal, beweglich und transparent, als könnten sich weder Farbe noch Sünde in ihren Körpern festsetzen. Laut der Autorin und Meeresbiologin Rachel Carson sehen sie aus wie »kaum fingerlange, bewegliche Glasrütchen«. Sie sind zerbrechlich und allem Anschein nach völlig schutzlos und gelten, zum Beispiel bei den Basken, als Delikatesse.

Von den europäischen Küsten wandern die meisten Glasaale die Zuläufe des Meeres hinauf und passen sich unmittelbar an das Süßwasser an. Eine weitere Metamorphose findet statt, der Glasaal wird zum Gelbaal. Sein Körper wird schlangenhaft und muskulös, seine Augen dunkel mit einem markanten schwarzen Punkt in der Mitte. Die Kiefer werden breit und kräftig. Seine Kiemenöffnungen sind klein und fast vollständig verborgen. Dünne weiche Flossen ziehen sich über die gesamte Ober- und Unterseite. Seine Haut färbt sich in Braun-, Gelb und Grautönen und bildet Schuppen, die so klein und weich sind, dass man sie weder sehen noch fühlen kann, eine Art imaginärer Rüstung. War der Glasaal empfindlich und zerbrechlich, so ist der Gelbaal stark und zäh. Das ist das dritte Stadium des Aals.

Der Gelbaal wandert weiter Flüsse und Bäche hinauf. Durch flache und zugewachsene Wasserläufe kann er sich ebenso gut bewegen wie durch reißende Ströme. Er durchschwimmt trübe Binnenseen und träge Flüsse, wilde Fluten und warme kleine Teiche. Bei Bedarf kann er auch durch Sümpfe und Gräben gleiten. Von äußeren Verhältnissen lässt er sich nicht aufhalten; wenn es gar keinen anderen Ausweg gibt, schlängelt er sich über Stunden durch feuchtes Gras und Unterholz, bis er das nächste Gewässer erreicht. So gesehen ist der Aal ein Fisch, der die Voraussetzungen des Fischseins überschreitet. Vielleicht weiß er nicht einmal, dass er ein Fisch ist.

So legt der Gelbaal Hunderte von Kilometern zurück, unermüdlich und unter den widrigsten Bedingungen, bis er plötzlich entscheidet, dass er angekommen ist. An sein neues Zuhause stellt er keine hohen Ansprüche, er passt sich dem herrschenden Milieu einfach an. Dies kann ein Bach, Teich oder Binnensee mit schlammigem Boden sein, gerne darf es auch Steine und Löcher geben, damit er sich verstecken kann, sowie natürlich ausreichend Nahrung. Wenn er erst einmal ein Zuhause gefunden hat, bleibt der Gelbaal dort jahrein, jahraus und bewegt sich normalerweise nur innerhalb eines Radius von ein paar Hundert Metern. Sollte es ihn durch äußere Einwirkung doch einmal woandershin verschlagen, kehrt er so schnell wie möglich an seinen selbst gewählten Standort zurück. Aale, die im Rahmen eines Experiments eingefangen, mit Sendern versehen und mehrere Kilometer vom Fangplatz entfernt wieder freigelassen wurden, fanden innerhalb von nur einer Woche genau an den Ort zurück, wo man sie aus dem Wasser gezogen hatte. Niemand weiß, wie sie das bewerkstelligen.

Der Gelbaal ist ein Einzelgänger. Sein aktives Leben verbringt er normalerweise allein und mit der jeweiligen Jahreszeit angepassten Aktivitäten. Wenn es kalt wird, liegt er zuweilen über einen längeren Zeitraum passiv im Bodenschlamm, umschlungen von anderen Aalen, wie ein hastig aufgewickeltes Knäuel.

Auf die Jagd geht der Gelbaal vorwiegend nachts. Sobald es dämmert, löst er sich aus dem Schlamm und beginnt mit der Futtersuche. Er frisst, was ihm in die Quere kommt, Würmer, Larven, Frösche, Schnecken, Insekten, Krebse, Fische; wenn es sich ergibt, auch kleine Mäuse oder Vogeljunge. Auch Aas verschmäht er nicht.

So verbringt der Aal einen Großteil seines Lebens in gelbbrauner Gestalt, wechselnd zwischen Aktivität und Passivität. Außer der Suche nach Futter und Schutz geht er dabei keiner gerichteten Tätigkeit nach. Als wäre das Leben in erster Linie ein Wartezustand und als fände sich dessen Sinn immer mal wieder zwischendurch oder in einer abstrakten Zukunft, die nicht anders erreicht werden kann als durch Geduld.

Und es ist ein langes Leben. Ein Aal, der weder krank wird noch sich verletzt, kann bis zu fünfzig Jahre an ein und demselben Ort verbringen. Es gibt schwedische Aale, die in Gefangenschaft nachweislich über achtzig wurden. Mythen und Legenden berichten sogar von Exemplaren, die weit über hundert Jahre erreichten. Wenn einem Aal die Erfüllung seines Lebenssinns, also die Fortpflanzung, versagt wird, scheint er beinahe beliebig alt werden zu können, als könne er ewig warten.

In der Wildnis lebende Aale jedoch beschließen zu einem bestimmten Zeitpunkt, sich fortzupflanzen, normalerweise im Alter zwischen fünfzehn und dreißig Jahren. Woher diese Entscheidung kommt, wissen wir nicht, aber wenn sie erst einmal gefallen ist, endet die wartende Existenz des Aals unmittelbar, und sein Leben nimmt einen völlig neuen Charakter an. Der Aal beginnt seine Wanderung zum Meer und durchläuft gleichzeitig seine letzte Metamorphose. Das trübe, undefinierbare Gelbbraune verschwindet, seine Nuancen werden klarer und schärfer, der Rücken färbt sich schwarz, die Seiten werden silbrig mit markanten Linien, als wolle die neue Zielstrebigkeit in seiner ganzen Erscheinung zum Ausdruck kommen. Der Gelbaal wird zum Blankaal. Das ist sein viertes Stadium.

Kommt dann der Herbst mit schützender Dunkelheit, zieht der Blankaal in den Atlantik hinaus und weiter Richtung Sargassosee. Wie durch einen bewussten Akt passt sich sein Körper den Reisebedingungen vollkommen an. Die Flossen werden länger und kräftiger, damit er schneller schwimmen kann, seine Augen werden größer und blau, damit er in den dunklen Tiefen des Meeres besser sehen kann, sein Verdauungssystem funktioniert nicht mehr, der Magen löst sich auf, und er deckt seinen Energiebedarf fortan aus den vorhandenen Fettreserven. Erst jetzt bilden sich seine Geschlechtsorgane, und sein Körper füllt sich mit Rogen oder Milch. Nichts kann ihn jetzt mehr von seinem Ziel abbringen.

Er schwimmt bis zu fünfzig Kilometer am Tag, zuweilen bis zu tausend Meter unter der Meeresoberfläche. Es ist eine Reise, über die der Mensch immer noch sehr wenig weiß. Vielleicht dauert sie ein halbes Jahr, vielleicht unterbricht der Aal sie aber auch und überwintert unterwegs. Man hat herausgefunden, dass ein Blankaal in Gefangenschaft vier Jahre ohne Nahrungsaufnahme überleben kann.

Es ist jedenfalls eine lange und asketische Reise, und die existenzielle Zielstrebigkeit, mit der der Aal navigiert, lässt sich durch nichts erklären. Endlich in der Sargassosee angelangt, hat der Aal ein zweites Mal nach Hause gefunden. Unter wogenden Teppichen von Seegras und Tang werden die Eier befruchtet. Dann ist der Aal fertig, seine Geschichte ist vollendet, und er stirbt.

Am Fluss

Es war mein Vater, der mir beibrachte, Aale zu fangen. Im kleinen Flusslauf, der an den Feldern seines Elternhauses vorbeifloss. Durch die Augustdämmerung fuhren wir die Landstraße entlang, die über den Fluss führte, und bogen links in einen Feldweg ein, der im Grunde nur aus zwei Traktorspuren bestand. Anschließend ging es einen steilen Hügel hinunter und dann ein Stück parallel zum Wasser. Links von uns lagen die Getreidefelder, der reife Weizen raschelte, wenn ihn das Auto streifte. Rechts von uns stand meterhohes, zischelndes Gras. Hinter dem Gras lag das Wasser, ein etwa sechs Meter breiter, ruhig dahinfließender Fluss, der sich im letzten Abendlicht wie ein silbernes Band durch die Landschaft schlängelte.

Langsam fuhren wir an der Stromschnelle vorbei, wo das Wasser aufgeregt über die Steine sprang, und dann an der krummgewachsenen alten Weide. Ich war sieben und diesen Weg schon viele Male mitgefahren. Als die Radspuren aufhörten und sich vor uns eine Wand aus undurchdringlichen Pflanzen erhob, schaltete mein Vater den Motor aus. Bis auf das leise Rauschen des Wassers war es plötzlich vollkommen still. Wir trugen Gummistiefel und Ölzeug, meine Hose war gelb, die meines Vaters rotgelb. Aus dem Kofferraum holten wir zwei schwarze Eimer mit Angelgerätschaften, eine Taschenlampe sowie eine Dose Würmer. Dann zogen wir los.

Am Ufer war das Gras nass und widerspenstig, es wuchs mir bis über den Kopf. Mein Vater bahnte uns einen Weg, und die Vegetation schloss sich über mir wie ein Dach, als ich ihm folgte. Fledermäuse jagten über den Fluss, lautlos, wie schwarze Schriftzeichen vor dem Himmel.

Nach etwa vierzig Metern blieb mein Vater stehen und sah sich um. »Hier ist es gut«, sagte er.

Eine steile, schlammige Böschung führte zum Fluss hinunter. Wenn man nicht aufpasste, konnte man ausrutschen und landete direkt im Wasser. Es wurde bereits dunkel.

Mit einer Hand schob mein Vater das Gras zur Seite und stieg vorsichtig seitwärts ab, dann drehte er sich um und reichte mir die andere Hand. Ich nahm sie und folgte ihm ebenso vorsichtig. Unten am Wasser stampften wir uns eine kleine Fläche zurecht und stellten die Eimer ab.

Ich ahmte meinen Vater nach, wie er eine Weile still dastand und auf das Wasser blickte, und bildete mir ein, ich sähe dasselbe wie er. Natürlich gab es keinerlei Möglichkeit, mit Sicherheit festzustellen, ob es wirklich ein guter Platz war. Das Wasser war dunkel, hier und da erhob sich Schilfrohr, das im Wind drohend schwankte. Alles unter der Wasseroberfläche jedoch blieb uns verborgen. Wir konnten es also nicht wissen, beschlossen aber, daran zu glauben, wie man es manchmal tun muss. Gerade beim Angeln geht es oft genau darum.

»Doch, hier ist es gut«, wiederholte mein Vater und drehte sich zu mir um. Ich nahm eine Langleine aus dem Eimer und reichte sie ihm. Er drückte den Schaft in die Erde und rollte schnell die Angelschnur auf, nahm den Haken und suchte umständlich einen dicken Regenwurm aus der Dose. Dann biss er sich auf die Lippe, musterte den Wurm im Schein der Taschenlampe, und nachdem er ihn aufgespießt hatte, hielt er den Haken hoch, tat, als spucke er zweimal, »tfff, tfff«, immer zweimal, woraufhin er die Schnur mit weit ausholender Geste auswarf. Anschließend bückte er sich und ruckelte ein wenig daran, prüfte, ob sie straff gespannt war und von der Strömung nicht allzu weit weggetragen wurde. Schließlich richtete er sich auf, sagte »na, dann«, und wir kletterten die Böschung wieder hinauf.

Was wir Langleinen oder Nachtschnüre nannten, war wahrscheinlich eigentlich etwas ganz anderes. Als Langleine bezeichnet man gemeinhin eine lange Schnur mit vielen Haken und Senkern dazwischen. Unsere waren von einfacherer Art. Mein Vater machte sie selbst, indem er das eine Ende eines kurzen Bretts mit dem Beil zuspitzte. Dann schnitt er einen dicken, vier bis fünf Meter langen Nylonfaden ab und befestigte ihn daran. Die Senker stellte er her, indem er geschmolzenes Blei in ein Eisenrohr goss und hart werden ließ, woraufhin er das Rohr in mehrere Zentimeter lange Stücke zersägte und Löcher hineinbohrte. Der Senker wurde zehn, zwanzig Zentimeter vom unteren Ende entfernt an der Leine befestigt, ganz unten wurde ein einzelner großer Angelhaken angebracht. Das Holzstück schlug man in den Boden, und der Haken mit dem Wurm sank auf den Grund des Flusses.

Normalerweise hatten wir zehn oder zwölf Langleinen dabei, die wir eine nach der anderen in etwa zehn Metern Abstand bestückten und auswarfen. Jedes Mal ging es die steile Böschung runter und wieder rauf, eine umständliche Prozedur. Jedes Mal waren es die gleichen Handgriffe, dieselben Gesten, dasselbe »tfff, tfff«.

Wenn die letzte Langleine mit einem Köder versehen war, gingen wir denselben Weg zurück und noch einmal im Wechsel die Böschung rauf und runter, um die Leinen zu kontrollieren. Vorsichtig fassten wir nach der Schnur, vergewisserten uns, dass noch nichts angebissen hatte, und standen dann schweigend da, ließen uns von unserem Instinkt überzeugen, dass es hier gut war, hier würde etwas geschehen, wir brauchten nur ein wenig zu warten.

Als die letzte Leine kontrolliert war, war es fast vollständig dunkel geworden. Die lautlosen Fledermäuse waren nur noch zu sehen, wenn sie durch das Mondlicht glitten, und wir kletterten ein letztes Mal die Böschung hinauf, gingen zum Auto zurück und fuhren nach Hause.

*

Ich kann mich nicht erinnern, dass wir unten am Fluss je über etwas anderes gesprochen hätten als über Aale und wie man sie am besten fängt. Ich erinnere mich nicht, dass wir überhaupt geredet hätten.

Das könnte daran liegen, dass wir es tatsächlich nicht taten. Weil wir uns an einem Ort befanden, an dem die Notwendigkeit zu sprechen begrenzt war, einem Ort, der seine Wirkung am besten entfaltete, wenn man schwieg. Die Spiegelung des Mondlichts, das flüsternde Gras, die Schatten der Bäume, das monotone Fließen des Wassers und darüber die Fledermäuse wie schwebende Sternchen. Man musste sich gewissermaßen anpassen und versuchen, ein Teil dieses Ganzen zu werden.

Natürlich kann es auch sein, dass ich mich ganz falsch erinnere. Denn das Gedächtnis ist unzuverlässig und siebt aus und verdrängt. Wenn wir uns eine bestimmte Situation vergegenwärtigen, ist nicht garantiert, dass wir uns an das Wichtigste oder Relevanteste erinnern. Vielmehr erinnern wir uns an das, was am besten ins Bild passt. Unser Gedächtnis erstellt ein Gemälde, in dem die verschiedenen Details einander ergänzen müssen. Es lässt nicht zu, dass einzelne Farben sich mit der des Hintergrunds beißen. Sagen wir also, mein Vater und ich schwiegen. Ich weiß ohnehin nicht, worüber wir hätten reden sollen.

Wir lebten nur wenige Kilometer vom Fluss entfernt, und als wir spät am Abend nach Hause kamen, zogen wir uns an der Treppe die Stiefel und die Gummihosen aus. Ich ging sofort zu Bett, schlief schnell ein, und um kurz nach fünf am nächsten Morgen weckte mein Vater mich. Sofort stand ich auf, schlüpfte in meine Klamotten, und wenige Minuten später saßen wir wieder im Auto.

Am Fluss ging gerade erst die Sonne auf. Die Morgendämmerung färbte den unteren Himmelsrand tieforange, und das Wasser strömte mit einem anderen Klang, heller und klarer, als wäre es eben erst aus sanftem Schlaf erwacht. Weitere Geräusche kamen hinzu. Eine Amsel sang, eine Stockente landete mit einem plumpen Klatschen im Wasser. Ein Reiher flog lautlos über den Fluss und spähte herab, den großen Schnabel wie einen erhobenen Dolch vor sich hertragend.

Wir liefen durch das feuchte Gras und stapften seitwärts die Böschung zur ersten Langleine hinunter. Unten angekommen, betrachteten wir schweigend die Leine, suchten nach Bewegung und Zeichen von Aktivität unter der Wasseroberfläche. Mein Vater bückte sich und legte die Hand an die Schnur. Dann richtete er sich auf und schüttelte den Kopf. Er zog die Angelschnur ein und hielt den Haken vor mir hoch. Der Wurm war abgefressen worden, vermutlich von einer hinterlistigen Plötze.

Wir gingen weiter zur nächsten Langleine, aber auch die war leer. Ebenso die dritte. Die vierte spannte sich seitwärts straff in ein Schilfrohrbüschel, und als mein Vater daran zog, saß sie fest. Er murmelte etwas Unverständliches. Nahm die Angelschnur in beide Hände und zog noch fester, ohne dass sie auch nur einen Zentimeter nachgab. Vielleicht hatte die Strömung den Haken und das Senkblei ins Schilf getrieben. Oder es war ein Aal, der den Haken verschluckt und sich samt Schnur im Schilf verheddert hatte. Wenn man die gespannte Schnur festhielt, konnte man kleine Bewegungen spüren, als würde das, was unter der Wasseroberfläche festsaß, sich für das Kommende rüsten.

Mein Vater gab alles, er zog, biss sich auf die Lippen und fluchte hilflos. Er wusste, dass es nur zwei Möglichkeiten gab, wieder aus der Situation herauszukommen, und beide hatten ihre Verlierer. Entweder bekam er den Aal los und konnte ihn herausziehen, oder er riss die Leine entzwei und ließ den Aal auf dem Grund liegen, im Schilfrohr gefangen, mit dem Haken im Rachen und dem schweren Senkblei wie einer frisch geschmiedeten Boje daran.

Diesmal schien es keine Rettung zu geben. Mein Vater machte ein paar Schritte zur Seite und versuchte es aus einem anderen Winkel, zog so fest, dass die Nylonschnur sich wie eine Geigensaite spannte. Es nützte alles nichts.

»Es klappt nicht«, sagte er schließlich und zog mit aller Kraft, sodass die Schnur mit einem lauten Knall zerriss.

»Hoffentlich überlebt er«, sagte er noch, dann gingen wir weiter, die Böschung rauf und wieder runter.

Bei der fünften Langleine bückte sich mein Vater und berührte mit den Fingerspitzen die Schnur. Dann richtete er sich auf und machte mir Platz. »Holst du ihn raus?«, fragte er.

Ich nahm die Schnur und zog sanft, spürte sofort den Widerstand, die Kraft, die auch mein Vater mit bloßen Fingern gespürt hatte. Das Gefühl kam mir bekannt vor, ich zog ein wenig fester, und der Fisch begann sich zu bewegen. »Ein Aal«, sagte ich laut.

Ein Aal versucht nicht, sich loszureißen, wie Hechte es manchmal tun, sondern bewegt sich eher schlängelnd zur Seite, wodurch eine Art saugender Widerstand entsteht. Für seine Größe ist er erstaunlich stark, und trotz seiner kleinen Flossen ist er ein guter Schwimmer.

Ich holte die Leine so langsam wie möglich ein, ohne dem Widerstand nachzugeben, wie um den Augenblick in die Länge zu ziehen. Aber die Schnur war nicht sonderlich lang, und es gab kein Schilf, hinter dem der Aal hätte Schutz suchen können. So hatte ich ihn bald draußen und sah seinen gelbbraunen, glänzenden Leib im Morgenlicht zucken. Ich versuchte ihn im Genick zu packen, er ließ sich jedoch kaum festhalten. Wie eine Schlange wand er sich bis über den Ellbogen um meinen Unterarm. Ich nahm seine Kraft eher statisch wahr, weniger als Bewegung. Wenn ich ihn jetzt fallen ließ, würde er mir durchs Gras entkommen und wieder ins Wasser gleiten, ehe ich ihn zu fassen bekam.

Schließlich gelang es uns, den Haken zu lösen, und mein Vater füllte einen Eimer mit Flusswasser. Vorsichtig ließ ich den Aal hineingleiten, der wie aus Gewohnheit gleich im Kreis zu schwimmen begann. Mein Vater legte mir die Hand auf die Schulter und sagte, es sei ein schöner Fisch. Dann gingen wir zur nächsten Langleine, leichten Schrittes die Böschung rauf und runter. Und ich durfte den Eimer tragen.

Aristoteles und der aus dem Schlamm geborene Aal

Es gibt Umstände, unter denen man sich entscheiden muss, was man glauben möchte. Der Aal ist so ein Umstand.

Wenn man Aristoteles glauben will, wird der Aal aus dem Schlamm geboren. Er entsteht wie aus dem Nichts, im Bodensediment unter Wasser, das heißt, er wird nicht von anderen Aalen gezeugt, die sich ganz normal fortpflanzen, nicht durch Geschlechtsverkehr und Befruchtung eines Eis.

Die meisten Fische, schrieb Aristoteles im vierten Jahrhundert vor Christus, legten Eier und laichten ab. Der Aal dagegen, erklärte er, bilde eine Ausnahme. Er sei weder Männchen noch Weibchen, er lege weder Eier noch paare er sich. Ein Aal schenke keinem anderen Aal das Leben. Das Leben komme irgendwo anders her.

Aristoteles schlug vor: Beobachten Sie einen kleinen Teich ohne jeglichen Zufluss über eine länger andauernde Trockenperiode. Wenn alles Wasser verdunstet und der Schlamm ausgetrocknet ist, gibt es auf dem harten Grund kein Leben mehr. Kein Lebewesen kann dort existieren, am allerwenigsten ein Fisch. Aber wenn anschließend der erste Regen kommt und der Teich sich langsam wieder füllt, geschieht etwas Großartiges. Plötzlich ist der Teich voller Aale. Plötzlich sind sie einfach da. Das Regenwasser schenkt ihnen das Leben.

Daraus folgerte Aristoteles, dass der Aal einfach zustande kommt, wie ein sich schlängelndes, rätselhaftes Wunder.

Dass Aristoteles sich für den Aal interessierte, war nicht weiter verwunderlich. Er interessierte sich für alle Lebensformen. Natürlich war er Theoretiker und Gelehrter und gilt zusammen mit Platon als Begründer der westlichen Philosophie, doch er war auch Naturwissenschaftler, zumindest nach den Maßstäben seiner Zeit. Man sagt, Aristoteles sei der letzte Mensch gewesen, der »alles wusste«, das heißt der Letzte, der alles Wissen besaß, das die Menschheit bis dahin gesammelt hatte. Unter anderem war er auch ein Vorreiter im Beobachten und Beschreiben der Natur. Sein großes Werk Historia animalium (Tierkunde) war, mehr als zweitausend Jahre vor Carl von Linné, ein erster Versuch, die Tierwelt zu systematisieren und zu kategorisieren: nach Aussehen, Körperteilen, Farben und Formen, wie sie lebten und sich vermehrten, wovon sie sich ernährten und wie sie sich verhielten. Die moderne Zoologie nimmt ihren Anfang in der Historia animalium. Diese gilt bis mindestens ins siebzehnte Jahrhundert als Standardwerk.

Aristoteles wurde in Stageira auf Chalkidiki geboren, einer Halbinsel mit drei fingerartig ins Ägäische Meer ragenden Landzungen. Er wuchs in privilegierten Verhältnissen auf, sein Vater war Leibarzt des mazedonischen Königs, sodass Aristoteles eine gute Bildung zuteilwurde und er großes Selbstvertrauen entwickelte. Wahrscheinlich sah sein Vater auch für ihn eine Zukunft als Arzt voraus. Doch Aristoteles wurde früh Waise. Sein Vater starb, als er zehn war, seine Mutter wahrscheinlich noch früher. Aristoteles kam zu Verwandten, die ihn als Siebzehnjährigen nach Athen schickten, wo er an der angesehensten Schule der Antike studieren sollte: Platons Akademie. Ein junger Mann, ganz allein in einer fremden Stadt, wissbegierig, brillant und voller Verlangen, die Welt zu verstehen, wie es nur jemand sein kann, der seine Wurzeln früh verloren hat. Zwanzig Jahre lang studierte er an Platons Seite und wurde ihm in vielerlei Hinsicht ebenbürtig. Als Platon aber starb und Aristoteles nicht zu seinem Nachfolger als Leiter der Akademie ernannt wurde, reiste er nach Lesbos, wo er mit großer Sorgfalt begann, die Tiere und die Natur zu erkunden. Vielleicht war dies auch der Moment, in dem er begann, über die Entstehung des Aals nachzudenken.

Man weiß nicht viel darüber, wie Aristoteles bei seinen naturwissenschaftlichen Studien eigentlich vorging. Er führte nicht Buch über seine Beobachtungen und Sektionen. Detailliert berichtete er über seine Entdeckungen und Erkenntnisse, selten jedoch darüber, wie er zu ihnen gekommen war. Dass er viele der Sektionen, die der Historia animalium zugrunde liegen, selbst durchgeführt hat, gilt jedoch als einigermaßen gesichert. Vor allem wird deutlich, dass er sehr viel Zeit auf die Beobachtung im Wasser lebender Tiere verwendete, am allermeisten des Aals. Bei keinem anderen Tier beschreibt er so ausführlich, was sich in seinem Inneren verbirgt, wie die Organe angeordnet und die Kiemen konstruiert sind.

Sobald es um den Aal geht, greift er zudem häufig andere, nicht namentlich genannte Naturforscher an. Es scheint fast, als sei der Aal schon damals Gegenstand konträrer Ansichten, Vermutungen und Konflikte gewesen. Aristoteles behauptet steif und fest, ein Aal könne keine Eier ausbilden, und wer etwas anderes erzähle, habe ihn einfach nicht genau genug untersucht. Es bestehe überhaupt kein Zweifel, so schreibt er, denn wenn man einen Aal aufschneide, finde man gar kein Organ, das geeignet wäre, Eier oder Samenflüssigkeit zu produzieren oder zu transportieren. Nichts an der Existenz des Aals gebe einen Hinweis auf seine Entstehung. Ebenso meint er, jeder, der behaupten würde, der Aal bringe lebende Junge zur Welt, sei Opfer seiner eigenen Unwissenheit, diese Erkenntnis lasse sich durch nichts belegen. Und auch wer meine, es gebe sowohl männliche als auch weibliche Aale, und als Begründung anführe, das Aalmännchen habe einen größeren Kopf als das Weibchen, liege völlig falsch; er interpretiere einfach nur unterschiedliche Arten als unterschiedliche Geschlechter.

Aristoteles hat sich eingehend mit Aalen beschäftigt, das ist offensichtlich. Vielleicht auf Lesbos, vielleicht auch in Athen. Er hat sie aufgeschnitten und ihre inneren Organe untersucht, hat nach Eiern, Fortpflanzungsorganen und einer Erklärung gesucht, wie sie denn nun eigentlich entstanden. Immer wieder hat er vermutlich ein Exemplar in Händen gehalten und überlegt, was für eine Art Wesen das wohl sein mochte. Und ist letztendlich zu dem Schluss gekommen, dass der Aal etwas Einzigartiges ist.

Die von Aristoteles weitgehend eigenständig entwickelte Herangehensweise, um Tiere und Natur zu begreifen, sollte bald die gesamte moderne Biologie und Naturwissenschaft prägen, und damit auch alle späteren Versuche, den Aal zu verstehen. Sie war in erster Linie empirisch. Allein durch die systematische Beobachtung der Natur könne man diese beschreiben, meinte Aristoteles, und nur durch ihre richtige und korrekte Beschreibung könne man sie verstehen.

Es war eine ganz neue Methode, und im Wesentlichen war sie auch erfolgreich. Viele von AristotelesBeobachtungen waren erstaunlich präzise, nicht zuletzt, wenn man bedenkt, dass sie gemacht wurden, lange bevor es den Begriff der Zoologie überhaupt gab. Vor allem bei der Erforschung der im Wasser lebenden Tiere war Aristoteles seiner Zeit voraus. So erklärte und beschrieb er Anatomie und Fortpflanzung des Tintenfischs bereits so, wie es die moderne Zoologie im zwanzigsten Jahrhundert abschließend bestätigte. Und über den Aal schrieb Aristoteles völlig richtig, dass er zwischen Salz- und Süßwasser hin und her wandere, dass er außergewöhnlich kleine Kiemen habe und nachtaktiv sei, während er sich tagsüber in tieferem Wasser verberge.

Gerade über den Aal behauptete er aber auch völlig widersinnige Dinge, und trotz seiner systematischen Beobachtungen gelang es ihm nie, ihn wirklich zu verstehen. Er schrieb, der Aal fresse Gras und Wurzeln und manchmal sogar Lehm. Er schrieb, der Aal habe keine Schuppen. Er schrieb, der Aal werde sieben oder acht Jahre alt und könne fünf bis sechs Tage an Land überleben, bei Nordwind sogar länger. Und er behauptete, wie gesagt, dass der Aal geschlechtslos sei und aus dem Nichts entstehe. Seine erste Erscheinungsform, meinte Aristoteles, sei die eines wurmähnlichen Wesens, einer Art Regenwurm, die spontan und ohne das Zutun anderer Lebewesen aus dem Schlamm herauswachse. Dieser Wurm entstehe sowohl im Meer als auch in Flüssen und vor allem dort, wo Pflanzen verfaulen würden, und er halte sich am liebsten in flachen Mooren oder Betten aus Seegras auf, wo die Sonne das Wasser erwärme. »Es besteht nicht der geringste Zweifel, dass es sich so verhält«, schreibt Aristoteles und beendet damit jede Diskussion: »So viel zur Fortpflanzung des Aals.«

*

Alles Wissen beruht auf Erfahrung. Das war Aristoteleserste und grundlegendste Einsicht. Alle Studien über Lebewesen müssten empirisch und systematisch sein. Die Wirklichkeit müsse so dargestellt werden, wie wir sie sinnlich wahrnehmen. Zunächst stelle man fest, dass etwas ist, dann könne man sich auf die Frage konzentrieren, was es ist. Und erst, wenn man alle Fakten darüber gesammelt habe, was etwas ist, könne man sich der metaphysischen Frage zuwenden, warum etwas ist, wie es ist. Das ist die Einsicht, die seither den meisten Versuchen, wissenschaftliche Erkenntnisse über die Welt zu gewinnen, zugrunde liegt.

Warum aber gelang es ausgerechnet dem Aal, sich Aristoteles zu entziehen? Auf diese Frage scheint es keine rechte Antwort zu geben. So sorgfältig und systematisch Aristoteles den Aal auch untersuchte, kam er doch zu Schlussfolgerungen, die einem heute beinahe lächerlich unwissenschaftlich vorkommen.

Und genau das macht den Aal so einzigartig. Immer wieder sah sich die Naturwissenschaft mit Rätseln konfrontiert, aber wenige haben sich so lange gehalten wie das des Aals. Und das nicht nur, weil er — aufgrund seines seltsamen Lebenswandels, seiner Lichtscheu, seiner Metamorphosen und seines umständlichen Verhaltens bei der Fortpflanzung — ungewöhnlich schwer zu beobachten ist. Er ist darüber hinaus auf eine Weise geheimnisvoll, die beinahe bewusst und notwendig erscheint. Selbst wenn es einem gelingt, ihn zu beobachten, selbst wenn man ihm ganz nahekommt, scheint er sich doch zu entziehen. Wenn man bedenkt, wie viele Menschen Zeit und Mühe darauf verwendet haben, ihn zu studieren und Erkenntnisse über ihn zu gewinnen, müssten wir längst viel mehr über ihn wissen. Dass wir es nicht tun, ist geradezu unerklärlich. In der Zoologie spricht man deshalb gerne von der »Aalfrage«.

Aristoteles war vielleicht einer der Ersten, die ihre irrigen Annahmen über den Aal dokumentierten, aber keineswegs der Letzte. Bis in die moderne Zeit führte der Aal die Menschen immer wieder an der Nase herum, herausragende Forscher, aber auch mehr oder weniger enthusiastische Laien haben den Aal studiert, ohne ihn jedoch jemals wirklich zu verstehen. Einige der namhaftesten Wissenschaftler in der Geschichte sind an der Aalfrage gescheitert. Es scheint, als reiche bei ihm die empirische Wahrnehmung nicht aus. Als seien Beobachtung und Erfahrung für sich genommen nicht genug. Irgendwo in der Dunkelheit und im Schlamm gelang es dem Aal immer wieder, sich der Erkenntnis zu entziehen. Wo es um ihn ging, sah sich der ansonsten wissende Mensch immer wieder aufs Glauben zurückgeworfen.

In früheren Zeiten unterschied man vermutlich häufig zwischen dem Aal und anderen Fischen. Mit seinen unsichtbaren Schuppen und kaum erkennbaren Kiemen und seiner Fähigkeit, an Land zu überleben, war er etwas Eigenes, sowohl was sein Aussehen, als auch was sein Verhalten betraf. Er war so anders, dass manche glaubten, er sei in Wirklichkeit eine im Wasser lebende Schlange oder eine Amphibie. Schon Homer scheint Aale und Fische als verschiedene Wesen betrachtet zu haben. Nachdem Achill in der Ilias Asteropaios getötet und ihn am Ufer eines Flusses zurückgelassen hat, heißt es: »Ringsher schlängelten Aalund wimmelnde Fischum den Leichnam; Gierig das weiße Fett, das die Nieren umwuchs, ihm benagend.« Und selbst heute stößt man hin und wieder noch auf die Frage: Ist der Aal ein Fisch?

Diese Unsicherheit, was der Aal denn nun eigentlich sei, hat oft auch dazu geführt, dass man Abstand von ihm nahm. Die Menschen hatten Angst vor ihm oder ekelten sich. Er ist schleimig und windet sich, ähnelt einer Schlange und frisst angeblich Leichen, er bewegt sich im Verborgenen, in der Dunkelheit und im Bodenschlamm. Der Aal ist anders als andere Lebewesen, und so verbreitet und gewöhnlich er in unseren Gewässern wie auf unseren Esstischen auch immer gewesen sein mag, ist er uns in gewisser Weise doch fremd geblieben.

Von allen Rätseln um den Aal ist jedoch das seiner Fortpflanzung am heftigsten diskutiert worden und lange ungelöst geblieben. Erst im letzten Jahrhundert ist es gelungen, eine vernünftige, wenn auch nicht erschöpfende Antwort darauf zu finden. Viele entschieden sich zunächst, Aristoteles und seiner Theorie von den Würmern zu glauben, die von sich aus im Schlamm entstehen. Andere hielten es mehr mit dem Naturphilosophen Plinius dem Älteren, der beim Ausbruch des Vesuvs im Jahr neunundsiebzig nach Christus starb und glaubte, der Aal vermehre sich, indem er sich an Steinen reibe, wodurch sich Partikel seines Körpers ablösten, die wiederum zu neuen Aalen würden. Wieder andere folgten dem griechischen Autor Athenaios, der im dritten Jahrhundert nach Christus erklärte, der Aal sondere eine Art Flüssigkeit ab, die in den Schlamm absinke und sich in neues Leben verwandle.

Mehr oder weniger fantasievolle Theorien lösten einander ab. In Ägypten war man überzeugt, der Aal würde von selbst und aus dem Nichts entstehen, wenn die Sonne das Wasser des Nils erwärme. In verschiedenen europäischen Ländern dachte man, er entstehe aus verfaulten Pflanzenteilen am Meeresgrund oder wachse aus den verwesenden Kadavern anderer Aale. Man dachte, der Aal werde aus dem Schaum des Meeres geboren oder er entstehe, wenn die Sonnenstrahlen eine bestimmte Sorte Tau berühren, der im Frühling die Uferkanten von Seen und Flüssen bedeckt. In den ländlichen Gegenden Englands, wo die Leute ebenfalls gerne Aal fingen, war lange die Theorie vorherrschend, er entstehe, wenn ein Pferdeschwanzhaar ins Wasser falle.

So verschieden sie auch sein mögen, kreisten diese Theorien doch offenbar um denselben Gedanken. Nämlich, dass Leben aus etwas Leblosem hervorgehe, um Spontanzeugung, um das kleine Echo der Geburt des Universums. Eine Mücke, die aus einem Staubkorn, eine Fliege, die aus einem Stück Fleisch, ein Aal, der aus Schlamm geboren wird. Man nennt das gemeinhin Urzeugung, und in der frühen Wissenschaft, vor allem vor der Erfindung des Mikroskops, war es eine gängige Vorstellung. Man glaubte einfach das, was man sah, und wenn man beispielsweise ein Stück verrottendes Fleisch beobachtete und plötzlich Fliegenlarven daraus hervorkrochen, ohne dass vorher Fliegen oder Eier zu sehen gewesen waren, wie hätte man da etwas anderes glauben sollen, als dass die Larven von selbst entstanden? Ebenso hatte noch kein Mensch beobachtet, wie Aale sich fortpflanzten, und soweit man sehen konnte, hatten sie nicht einmal die Organe dazu.

Die Idee der Urzeugung führt natürlich zum Beginn allen Seins zurück, zur Entstehung des allerersten Lebens. Wenn es tatsächlich einen Anfang gab, an dem das Leben aus dem Nichts entstand (unabhängig davon, ob man göttliches Wirken oder anderes dahinter vermutet), war es vielleicht nicht ganz abwegig, sich vorzustellen, dass sich diese Urzeugung wiederholen könnte, zum Beispiel bei der Geburt eines Aals.

Wie diese Urzeugung vonstattengegangen sein könnte, hat man auf verschiedene Weise zu erklären versucht. Im Alten Testament ist die Rede von einer Art »Gotteswind«, der über die öde und leere Erde streicht und nicht nur Licht und Land und Pflanzen schafft, sondern auch alle Tiere. Die Stoiker, die antiken Philosophen, sprachen von pneuma, dem Atem des Lebens, einer Kombination aus Luft und Wärme, die sowohl für das irdische Leben als auch für die Existenz einer Seele gebraucht werde. Die Prämisse ist in jedem Fall der Glaube daran, dass leblose Materie in lebendige verwandelt werden kann, dass das Lebendige und das Tote einander bedingen und dass auch in scheinbar Totem eine Form von Leben existieren kann. Da es nicht gelang, den Aal zu verstehen und zu erklären, lag diese Denkweise nahe; der Aal wurde zu einer Spiegelung des Rätsels, worin alles Leben seinen Ursprung hat.

Was den Aal besonders macht, ist jedoch, dass wir bis heute teilweise auf Vermutungen angewiesen sind, wenn es darum geht, ihn zu verstehen. Denn auch wenn wir inzwischen glauben, alles über sein Leben und seine Fortpflanzung zu wissen — seinen langen Weg von der Sargassosee, seine Metamorphosen, sein geduldiges Warten, seine Rückkehr zu den Ursprüngen, um sich fortzupflanzen, und seinen anschließenden Tod —, auch wenn das alles wahrscheinlich so stimmt und korrekt ist, ist vieles doch immer noch reine Spekulation.

Kein Mensch hat je einen Aal beim Laichen beobachtet, keiner hat je einen Aal die Eier eines anderen befruchten sehen, keiner hat je einen Aal dazu gebracht, sich in Gefangenschaft zu vermehren. Wir glauben zu wissen, dass alle Aale in der Sargassosee schlüpfen, weil man eben dort die allerkleinsten der weidenblattähnlichen Larven gefunden hat. Keiner weiß jedoch sicher, warum der Aal darauf besteht, sich ausgerechnet dort und nur dort fortzupflanzen. Niemand weiß genau, wie er die lange Reise zurück in die Sargassosee bewältigt oder wie er dorthin findet. Man nimmt an, dass alle Aale kurz nach der Fortpflanzung sterben, weil noch nie ein Aal gefunden wurde, der nach dem Laichen noch lebte. Es ist überhaupt niemals ein ausgewachsener Aal, ob tot oder lebendig, an seinem Laichplatz angetroffen worden. Kein Mensch hat je einen Aal in der Sargassosee gesehen. Keiner kann wirklich den Sinn all seiner Metamorphosen nachvollziehen. Und niemand weiß genau, wie alt ein Aal eigentlich werden kann.