Wenn das eigene Zuhause zu einem Ort der Angst und der Unmenschlichkeit wird, ist es kein Zuhause mehr. Josef ist 11, als er 1939 mit seiner Familie aus Deutschland vor den Nazis fliehen muss. Isabel lebt im Jahr 1994 in Kuba und leidet Hunger — auch sie begibt sich auf eine gefährliche Reise in das verheißungsvolle Amerika. Und der 12-jährige Mahmoud verlässt im Jahr 2015 seine zerstörte Heimatstadt Aleppo, um in Deutschland neu anzufangen. Alan Gratz verwebt geschickt und ungemein spannend die Geschichten und Schicksale dreier Kinder aus unterschiedlichen Zeiten. Er erzählt unsentimental und gerade dadurch ergreifend. Ein zeitloses Buch über Vertreibung und Hoffnung, über die Sehnsucht nach Heimat und Ankommen.
Alan Gratz
Vor uns das Meer
Drei Jugendliche. Drei Jahrzehnte. Eine Hoffnung
Aus dem Englischen von Meritxell Janina Piel
Carl Hanser Verlag
Für John Gratz
Josef
Krach! Bum!
Josef Landau saß aufrecht im Bett, sein Herz raste wie wild. Dieses Geräusch — es hörte sich an, als hätte jemand die Wohnungstür eingetreten. Oder hatte er das nur geträumt?
Angestrengt horchte er in die Dunkelheit. Er hatte sich noch nicht an die Geräusche dieser neuen Wohnung gewöhnt, dieser kleineren Wohnung, in die er und seine Familie hatten umziehen müssen. Ihre alte Wohnung konnten sie sich nicht mehr leisten, seit die Nazis seinem Vater verboten hatten, als Anwalt zu arbeiten, weil er Jude war.
Auf der anderen Seite des Zimmers schlief Ruth, Josefs kleine Schwester, noch immer tief und fest. Josef versuchte, sich wieder zu beruhigen. Vielleicht hatte er doch bloß einen Albtraum gehabt.
Da hörte er draußen vor seinem Zimmer ein Schlurfen und Ächzen.
Jemand war in der Wohnung!
Josef drückte sich auf seinem Bett gegen die Wand, die Augen weit aufgerissen. Aus dem Nebenzimmer ertönte ein schepperndes Geräusch — klirrrrr!
Ruth wachte auf und schrie. Schrie in blanker Angst. Sie war erst sechs Jahre alt.
»Mama!«, rief Josef. »Papa!«
Riesige Schatten kamen ins Zimmer gestürmt. Um sie herum schien die Luft zu knistern, aufgeladen wie die Umgebung eines Funkmasts. Josef versuchte, sich in der Ecke seines Betts zu verstecken, doch Schattenhände griffen nach ihm. Schnappten ihn. Er schrie noch lauter als seine kleine Schwester, erstickte ihren Schrei in seinem. Panisch trat und schlug er um sich. Einer der Schatten fasste ihn am Knöchel und zog ihn mit dem Gesicht nach unten über sein Bett. Josef krallte sich am Bettlaken fest, doch die Hände waren zu stark. Er hatte solche Angst, dass er in die Hose machte, die warme Flüssigkeit lief an seinen Schlafanzugbeinen herunter.
»Nein!«, schrie Josef. »Nein!«
Die Schatten warfen ihn zu Boden. Ein anderer Schatten zog Ruth grob an den Haaren hoch und schlug sie.
»Sei still!«, brüllte der Schatten und schleuderte Ruth neben Josef auf den Boden. Der Schock brachte sie zum Schweigen, doch nur für einen Augenblick. Dann weinte sie noch heftiger, noch lauter.
»Sei leise, Ruthchen, leise«, flehte Josef sie an und nahm sie schützend in die Arme. »Sei bitte leise.«
Sie kauerten sich zusammen, während die Schatten Ruths Bett nahmen und es gegen die Wand warfen. Krach! Das Bett zerbrach. Die Schatten rissen Bilder von den Wänden, zogen Schubladen aus den Kommoden, schmissen Kleider umher. Sie zerschmetterten Lampen und Glühbirnen. Verängstigt klammerten sich Josef und Ruth aneinander, ihre Gesichter von Tränen überströmt.
Schließlich packten die Schatten sie wieder und zerrten sie ins Wohnzimmer. Wieder stießen sie Josef und Ruth zu Boden, dann knipsten sie die Deckenlampe an. Als sich Josefs Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah er die sieben fremden Männer, die in sein Zuhause eingedrungen waren. Ein paar von ihnen trugen normale Kleidung: weiße Hemden mit hochgekrempelten Ärmeln, graue Hosen, braune Wollmützen, Lederstiefel. Doch die meisten trugen die braunen Hemden und roten Armbinden mit Hakenkreuz der Sturmabteilung, Adolf Hitlers Kampftruppe.
Josefs Eltern waren ebenfalls im Zimmer, sie lagen auf dem Boden, zu Füßen der Braunhemden.
»Josef! Ruth!«, schrie Mama, als sie die beiden sah. Sie stürzte auf ihre Kinder zu, doch einer der Männer packte sie am Nachthemd und zog sie zurück.
»Aaron Landau«, sagte ein SA-Mann zu Josefs Vater. »Du arbeitest noch immer als Anwalt, obwohl das Berufsbeamtengesetz von 1933 Juden die Ausübung dieser Tätigkeit verbietet. Für dieses Verbrechen gegen das deutsche Volk wirst du in Schutzgewahrsam genommen.«
Josef schaute seinen Vater voller Panik an.
»Das ist alles nur ein Missverständnis«, antwortete Papa. »Wenn Sie mir Gelegenheit geben würden, es Ihnen zu erklären —«
Der Mann ignorierte Josefs Vater und nickte den anderen Eindringlingen zu. Daraufhin zerrten zwei der Männer Papa hoch und schleiften ihn zur Tür.
»Nein!«, schrie Josef. Er musste etwas tun. Er sprang auf, griff nach dem Arm von einem der Männer, die seinen Vater wegtrugen, und versuchte, ihn fortzuziehen. Zwei andere Männer rissen Josef weg und hielten ihn fest. Verzweifelt kämpfte er gegen ihren Griff an.
Der Anführer der Truppe spottete: »Guckt euch den an!«, höhnte er und zeigte auf den dunklen Fleck auf Josefs Schlafanzug. »Der Junge hat sich vollgepisst!«
Sie lachten, während Josef vor Scham rot anlief. Er wand sich in den Armen der Männer und versuchte, sich loszureißen. »Bald schon werde ich ein Mann sein!«, schrie er sie an. »In sechs Monaten und elf Tagen werde ich ein Mann sein!«
Wieder lachten die SA-Leute. »Noch sechs Monate und elf Tage«, höhnte das Braunhemd. »Nicht dass sich irgendwer darum scheren würde.«
Plötzlich wurde der Mann ernst. »Vielleicht sollten wir dich dann auch schon mitnehmen und ins Konzentrationslager stecken, so wie deinen Vater.«
»Nein!«, schrie Mama. »Nein, mein Sohn ist erst zwölf, er ist doch noch ein Junge! Bitte nicht — bitte!«
Ruth umklammerte Josefs Bein und weinte. »Nehmt ihn nicht mit! Nehmt ihn nicht mit!«
Angesichts des Geschreis machte das Braunhemd ein finsteres Gesicht, dann gab er den Männern ein Zeichen. Josef schaute zu, wie sie seinen Vater fortschleiften, begleitet vom Schluchzen seiner Mutter und Ruths Weinen.
»Du solltest dir Zeit lassen mit dem Erwachsenwerden, Junge«, wandte sich der SA-Mann wieder an ihn. »Wir werden dich noch früh genug holen kommen.«
Die Nazis verwüsteten den Rest von Josefs Zuhause, sie zertrümmerten Möbel und Geschirr und rissen die Vorhänge herunter. Dann verschwanden sie genauso schnell, wie sie gekommen waren. Josef, Ruth und Mama blieben zurück und klammerten sich in der Mitte des Raums aneinander. Schließlich, als alle ihre Tränen ausgeweint hatten, nahm Rachel Landau ihre Kinder mit zu sich ins Schlafzimmer, baute ihr Bett notdürftig wieder zusammen und hielt Josef und Ruth bis zum nächsten Morgen fest in ihren Armen.
*
In den nächsten Tagen erfuhr Josef, dass seine Familie nicht die einzige war, die in jener Nacht angegriffen worden war. In ganz Deutschland waren jüdische Häuser, Geschäfte und Synagogen zerstört worden, und man hatte Zehntausende jüdische Männer verhaftet und in Konzentrationslager gebracht. Reichskristallnacht wurde sie genannt, diese Nacht.
Die Nazis hatten es zwar nicht direkt gesagt, aber ihre Botschaft war klar: Josef und seine Familie waren in Deutschland nicht mehr erwünscht. Doch er, seine Mutter und seine Schwester würden nirgendwohin gehen — noch nicht. Nicht ohne seinen Vater.
Josefs Mutter verbrachte viele Wochen damit, von einem Amt zum nächsten zu laufen, um herauszufinden, wo ihr Mann war und wie sie ihn nach Hause holen konnte. Niemand wollte ihr etwas sagen, und Josef verzweifelte bei dem Gedanken, dass er seinen Vater vielleicht nie wiedersehen würde.
Doch dann, sechs Monate nachdem man ihn mitgenommen hatte, bekam die Familie ein Telegramm. Ein Telegramm von Papa! Er war aus einem Konzentrationslager namens Dachau freigelassen worden, aber nur unter der Bedingung, dass er das Land innerhalb von vierzehn Tagen verließ.
Josef wollte Deutschland nicht verlassen, schließlich war es sein Zuhause. Wohin sollten sie gehen? Wie würden sie leben? Doch die Nazis hatten sie nun zweimal aufgefordert, aus Deutschland zu verschwinden, und die Familie Landau würde nicht dasitzen und abwarten, was die Anhänger Hitlers als Nächstes tun würden.
Isabel
Isabel Fernandez brauchte nur zwei Versuche, um das magere, bunt gescheckte Kätzchen unter dem rosafarbenen Betonziegelhaus hervorzulocken und es aus ihrer Hand fressen zu lassen. Das Kätzchen war hungrig, so wie alle in Kuba, deshalb war sein Appetit bald schon größer als seine Angst.
Das Kätzchen war so klein, dass es die Bohnen nur in winzigen Häppchen zu sich nehmen konnte. Es schnurrte laut wie ein Außenbordmotor und stieß Isabels Hand immer wieder mit seinem Kopf an, während es fraß.
»Eine Schönheit bist du ja nicht gerade«, bemerkte Isabel. Das Fell des Kätzchens war struppig und stumpf, und Isabel konnte jeden einzelnen Knochen unter seiner Haut fühlen. Die kleine Katze sah nicht viel anders aus als sie selbst: dünn, hungrig und so schmutzig, dass sie dringend ein Bad nötig hatte. Isabel war elf Jahre alt, ein hageres Mädchen, das nur aus schlaksigen Armen und Beinen zu bestehen schien. Ihr braunes Gesicht war mit Sommersprossen gesprenkelt, und ihre dicken schwarzen Haare waren für den Sommer kurz geschnitten. Sie lief barfuß, wie immer, und trug Shorts und Trägershirt.
Das Kätzchen verschlang den letzten Rest der Bohnen, dann maunzte es mitleiderregend. Isabel wünschte, sie hätte noch etwas anderes, das sie ihm geben könnte, doch die Bohnen waren schon mehr, als sie sich leisten konnte. Ihr Mittagessen war nicht viel reichhaltiger gewesen als das des Kätzchens — ein paar Bohnen und eine kleine Portion weißen Reis. Als Isabel klein war, gab es eingeteilte Essensrationen und Heftchen mit Lebensmittelgutscheinen, mit denen sich die Menschen Essen holen konnten, doch vor ein paar Jahren, im Jahr 1991, war die Sowjetunion zusammengebrochen, und Kuba war durch das Ausbleiben der sowjetischen Unterstützung völlig verarmt. Kuba war ein kommunistisches Land, genau wie Russland es früher gewesen war. Über Jahrzehnte hinweg hatten die Sowjets kubanischen Zucker für den elffachen Preis gekauft und die kleine Insel umsonst mit Lebensmitteln, Benzin und Medikamenten versorgt.
Doch als die Sowjetunion verschwand, blieb auch die Unterstützung aus. Die meisten Bauern in Kuba bauten nur Zuckerrohr an, aber als niemand mehr einen überhöhten Preis dafür zahlen wollte, trockneten die Zuckerrohrfelder aus, die Raffinerien wurden geschlossen, und die Leute verloren ihre Arbeit. Ohne Russlands Benzin standen die Traktoren still, und niemand konnte die Felder für den Getreideanbau nutzbar machen. Als dann auch noch die Lebensmittellieferungen ausblieben, begannen die Leute zu verhungern. Alle Kühe, Schweine und Schafe waren schon geschlachtet und gegessen worden. Es waren sogar Leute in den Zoo von Havanna eingebrochen, um die Zootiere zu essen, und selbst Katzen waren auf Tellern gelandet.
Doch niemand würde dieses Kätzchen essen. »Du bist einfach mein Geheimnis«, flüsterte Isabel.
»Hey, Isabel«, rief Iván, und Isabel fuhr vor Schreck in die Höhe. Das Kätzchen kroch schnell wieder zurück unter das Haus.
Iván war ein Jahr älter als Isabel und wohnte nebenan. Seit sie denken konnte, waren sie Freunde. Iván hatte hellere Haut als sie und dunkle, lockige Haare. Er trug Sandalen, hellbraune Shorts, ein gestreiftes kurzärmeliges T-Shirt mit Knöpfen und eine Baseballkappe mit einem aufwendig gestickten I darauf, dem Logo der Industriales, dem Baseballteam von Havanna. Er wollte eines Tages professioneller Baseballspieler werden, und tatsächlich war er schon gut genug, um diesen Wunsch nicht wie einen verrückten Traum aussehen zu lassen.
Iván ließ sich neben Isabel auf den staubigen Boden fallen. »Guck mal! Ich hab ein Stück toten Fisch für die Katze am Strand gefunden.«
Isabel schauderte bei dem Geruch, doch das Kätzchen kam eilig herbeigelaufen und fraß Iván gierig aus der Hand.
»Es braucht einen Namen«, erklärte er entschlossen. Iván gab allem und jedem Namen — den Straßenhunden, die in der Stadt umherstreiften, seinem Fahrrad und sogar seinem Baseballhandschuh. »Wie wär’s mit Jorge? Oder Javier? Oder Lázaro?«
»Das sind alles Jungennamen!«, protestierte Isabel.
»Ja, aber das sind Spieler bei den Lions, und das hier ist doch ein kleiner Löwe!« Lions war der Spitzname der Industriales.
»Iván!«, rief sein Vater von nebenan. »Ich brauche deine Hilfe im Schuppen.«
Iván sprang auf. »Ich muss gehen. Wir bauen … eine Hundehütte«, stotterte er, bevor er losrannte.
Isabel schüttelte den Kopf. Iván hielt sich für besonders schlau, doch sie wusste genau, was er und sein Vater wirklich im Schuppen bauten. Es war ganz bestimmt keine Hundehütte, sondern ein Boot, um in die Vereinigten Staaten zu gelangen.
Isabel hatte Angst, dass man die Castillos erwischen würde. Fidel Castro, der kubanische Präsident, erlaubte niemandem, das Land zu verlassen, schon gar nicht in Richtung der Vereinigten Staaten, die von den Kubanern nur el norte genannt wurden — der Norden. Wenn jemand dabei erwischt wurde, mit dem Boot nach el norte zu fliehen, würde man ihn ins Gefängnis werfen.
Das alles wusste Isabel, weil ihr Vater schon von der kubanischen Marine aufgegriffen worden war. Beim letzten Mal, als Papi versucht hatte, nach Florida zu kommen, hatte man ihn für ein Jahr ins Gefängnis gesteckt.
Von Weitem sah Isabel ihren Vater und ihren Großvater die Straße hinunter in Richtung Stadt gehen, um sich dort in der Schlange für Lebensmittel anzustellen. Sie setzte das Kätzchen wieder zurück unter das Haus und lief hinein, um ihre Trompete zu holen. Isabel liebte es, mit nach Havanna zu gehen und sich dort an eine Straßenecke zu stellen, um für ein paar Pesos Trompete zu spielen. Viel verdiente sie dabei nicht, doch das lag nicht daran, dass sie nicht gut war. Ihre Mutter sagte immer, Isabel könne die Wolken vom Himmel vertreiben. Oft blieben die Leute stehen, hörten ihr zu und klatschten oder wippten im Takt mit dem Fuß mit. Doch die Einzigen, die es sich leisten konnten, ihr ein paar Pesos zu geben, waren die Touristen, Besucher aus Kanada, Europa oder Mexiko. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die einzige Währung, die die Kubaner noch besaßen, die kleinen Lebensmittelheftchen, die man jedes Mal abgestempelt bekam, wenn man sich seine Essensration aus dem Laden holte. Da es aber ohnehin nicht genug zu essen gab, waren auch die Lebensmittelheftchen praktisch wertlos, egal ob man eins hatte oder nicht.
Isabel holte ihren Vater und ihren Großvater ein, dann trennten sie sich auf dem Malecón, der breiten Uferstraße, die sich entlang des Hafendamms von Havanna schlängelte. Die Straße wurde gesäumt von einer Reihe grüner, gelber, rosafarbener und hellblauer Häuser und Geschäfte. Die Farbe blätterte ab, und die Gebäude waren alt und verwittert, doch für Isabel sahen sie immer noch prachtvoll aus. Sie stellte sich auf die breite Promenade, auf der sich ganz Havanna versammelte. Die Leute waren zwar hungrig, doch das Leben ging weiter. Mütter trugen ihre Babys in Tragetüchern vor der Brust, Liebespaare küssten sich unter Palmen, Straßenmusiker spielten die Rumba auf ihren Gitarren und Trommeln, Jungen sprangen abwechselnd ins Wasser, Touristen machten Fotos. Das hier war Isabels absoluter Lieblingsort in der ganzen Stadt.
Sie legte eine alte Baseballkappe auf den Boden vor sich, für den unwahrscheinlichen Fall, dass einer der Touristen tatsächlich einen Peso für sie übrig hatte, dann setzte sie die Trompete an ihren Mund. Als sie zu spielen begann, schlugen ihre Finger von selbst die Noten an, die sie schon auswendig konnte. Sie spielte eine Salsa-Melodie, die sie gerne mochte, doch dieses Mal hörte sie über die Musik hinweg. Sie hörte auch über den Lärm der Autos und Lkws auf dem Malecón hinweg, über die Menschen, die sich im Vorbeigehen unterhielten, und über das Getöse der Wellen, die hinter ihr gegen den Uferdamm krachten.
Isabel horchte auf die Clave in ihrem Spiel, diesen geheimnisvollen versteckten Rhythmus im Innern kubanischer Musik, den alle außer ihr zu hören schienen. Ein unregelmäßiger Rhythmus, der über der Melodie lag wie ein Herzschlag unter der Haut. Sosehr sie sich bisher auch angestrengt hatte, sie hatte ihn nie gehört, nie gefühlt. Nun horchte sie aufmerksam, um den Herzschlag Kubas in ihrer Musik zu entdecken.
Doch was sie stattdessen hörte, war etwas anderes: das Geräusch von zersplitterndem Glas.
Mahmoud
Mahmoud Bishara war unsichtbar, und genau so sollte es sein. Denn unsichtbar zu sein bedeutete für ihn zu überleben.
Natürlich war er nicht wirklich unsichtbar. Wenn man sich Mahmoud genau anschauen und einen Blick unter seine Kapuze werfen würde, die er immer bis tief in sein Gesicht gezogen trug, dann würde man einen zwölfjährigen Jungen mit einer langen, markanten Nase, dichten schwarzen Augenbrauen und kurzen schwarzen Haaren sehen. Er war stämmig, und seine Schultern waren breit und muskulös — trotz der Lebensmittelknappheit. Allerdings tat er alles, um seinen Körper und sein Gesicht zu verbergen, damit er nicht auffiel. Man konnte jederzeit aus dem Nichts von einer Rakete aus einem Kampfflieger getroffen werden oder von dem Raketenwerfer eines Soldaten. Der Tod konnte einen jederzeit erwischen, vor allem dann, wenn man nicht damit rechnete. Doch auffällig herumzulaufen und deshalb von der syrischen Armee oder den Rebellen entdeckt zu werden, die gegen die Armee kämpften, war blanker Leichtsinn.
Mahmoud saß in der mittleren Tischreihe in seiner Klasse, dort, wo der Lehrer ihn nicht aufrufen würde. Die Tische waren so groß, dass je drei Schüler an ihnen Platz hatten. Mahmoud saß zwischen zwei Jungen namens Ahmed und Nedhal.
Ahmed und Nedhal waren nicht seine Freunde. Mahmoud hatte keine Freunde.
Ohne Freunde war es leichter, unsichtbar zu bleiben.
Ein Lehrer ging draußen auf dem Flur entlang und läutete eine Handglocke. Mahmoud packte seinen Rucksack zusammen und machte sich auf die Suche nach seinem kleinen Bruder Walid.
Walid war zehn Jahre alt, er war zwei Klassen unter Mahmoud. Auch er hatte kurze schwarze Haare, doch mit seinen schmalen Schultern, seinen dünnen Augenbrauen, seiner flachen Nase und den größeren Ohren kam er mehr nach seiner Mutter. Seine Zähne wirkten zu groß für seinen Kopf, und wenn er lächelte, sah er aus wie ein Zeichentrick-Eichhörnchen. Nicht dass Walid noch viel lächeln würde. Mahmoud konnte sich nicht mehr erinnern, wann er seinen Bruder zum letzten Mal hatte lachen, weinen oder überhaupt irgendein Gefühl zeigen sehen.
Der Krieg hatte Mahmoud nervös gemacht, reizbar, paranoid. Seinen kleinen Bruder dagegen hatte er in einen Roboter verwandelt.
Obwohl ihre Wohnung nicht weit weg war, nahmen Mahmoud und Walid jeden Tag einen anderen Weg nach Hause. Manchmal gingen sie durch die Seitengassen — auf den größeren Straßen hielten sich oft Kämpfer der Armee auf, die wiederum ein Angriffsziel für die Rebellen waren. Außerdem waren zerbombte Häuser gut, um sich zu verstecken. Mahmoud und Walid konnten einfach zwischen den Bergen aus verbogenem Metall und zerbröckeltem Zement verschwinden, und es gab auch keine Wände mehr, die auf sie herabstürzen konnten, wenn ein Artilleriegeschoss über sie hinwegfegte. Wenn allerdings ein Flugzeug eine Fassbombe abwarf, dann brauchte man auf jeden Fall Wände. Fassbomben waren mit Nägeln und Metallsplittern gespickt, und wenn man keine Wand hatte, hinter der man in Deckung gehen konnte, wurde man in Stücke gerissen.
Es war nicht immer so gewesen. Noch vor vier Jahren war Mahmouds Heimatstadt Aleppo die größte, hellste und modernste Stadt in Syrien gewesen. Ein Kronjuwel des Mittleren Ostens. Mahmoud erinnerte sich an knallbunte Einkaufszentren, glänzende Hochhäuser, Fußballstadien, Kinos und Museen. Aleppo hatte eine lange Geschichte hinter sich — eine sehr lange sogar. Die Altstadt im Herzen Aleppos war im zwölften Jahrhundert erbaut worden, und bereits vor achttausend Jahren hatten Menschen das Gebiet um die Stadt herum besiedelt. Es war wunderbar gewesen, in Aleppo zu leben und aufzuwachsen.
Doch dann, im Jahr 2011, kam der Arabische Frühling nach Syrien.
Damals wurde er noch nicht so genannt. Niemand ahnte, dass eine ganze Welle von Revolutionen über den Mittleren Osten hinwegschwappen würde, die Regierungen stürzen, Diktatoren absetzen und Bürgerkriege auslösen würde. Alles, was die Menschen aus dem Fernsehen oder durch Posts auf Facebook und Twitter wussten, war, dass es Aufstände in Tunesien, Libyen und im Jemen gab, denen sich ein Land nach dem anderen anschloss, um seiner Regierung und der Welt mitzuteilen: »Jetzt ist Schluss!« Am Ende hatte der Arabische Frühling auch Syrien erreicht.
Doch die Syrer wussten, dass es gefährlich war, auf den Straßen zu demonstrieren. Syrien wurde von Baschar al-Assad regiert, der bereits zweimal zum Präsidenten »gewählt« worden war — nachdem es niemandem erlaubt gewesen war, gegen ihn anzutreten. Assad ließ Menschen, die nicht auf seiner Seite waren, einfach verschwinden. Für immer. Alle hatten Angst davor, was passieren würde, wenn der Arabische Frühling Syrien erreichte. Ein altes arabisches Sprichwort lautete: »Schließ die Tür, durch die der Wind ins Haus bläst.« Und genau das taten die Syrer. Während der Rest des Mittleren Ostens auf die Straße ging, blieben die Syrer zu Hause, verschlossen ihre Türen und warteten ab, was passieren würde.
Doch sie hatten ihre Türen nicht fest genug zugemacht. Ein Mann aus Damaskus, der Hauptstadt Syriens, wurde ins Gefängnis geworfen, weil er sich gegen Assad ausgesprochen hatte. Ein paar Jugendliche wurden in Daraa, einer Stadt im Süden, verhaftet und von der Polizei misshandelt, weil sie Anti-Assad-Parolen auf die Wände geschrieben hatten. Und plötzlich schien das ganze Land durchzudrehen. Zehntausende Menschen strömten auf die Straßen und verlangten die Freilassung der politischen Gefangenen sowie mehr Freiheit für alle. Und Assad reagierte prompt. Er richtete seine Panzer, Soldaten und Kampfbomber gegen die Demonstranten — gegen sein eigenes Volk —, und seitdem gab es für Mahmoud, Walid und alle anderen Menschen in Syrien nichts anderes mehr als Krieg.
Mahmoud und Walid bogen in eine andere trümmerbedeckte Gasse ein als am Vortag und blieben sofort wie angewurzelt stehen. Direkt vor ihnen hatten zwei Jungen einen anderen mit dem Rücken gegen eine bröckelige Wand gedrängt und waren dabei, ihm eine Tasche mit Brot wegzunehmen, die er bei sich trug.
Mahmoud zog Walid hinter ein ausgebranntes Auto. Sein Herz raste. Solche Vorfälle gehörten in Aleppo inzwischen zum Alltag, denn es wurde immer schwieriger, in der Stadt an Lebensmittel zu kommen. Doch in Mahmoud rief diese Szene Erinnerungen an ein anderes Erlebnis wach, ein Erlebnis kurz nach Beginn des Krieges.
Damals war er gerade auf dem Weg gewesen, um sich mit seinem besten Freund Khalid zu treffen. Auf einer Seitenstraße, so wie dieser hier, hatte Mahmoud seinen Freund entdeckt, wie er von zwei älteren Jungs verprügelt wurde. Khalid gehörte zur Minderheit der schiitischen Muslime, während der Großteil der Muslime des Landes sunnitisch war. Khalid war schlau, clever. In der Schule war er immer einer der Ersten, die aufzeigten, und jedes Mal wusste er die richtige Antwort. Er und Mahmoud kannten sich schon seit Jahren, und obwohl Mahmoud Sunnit war und Khalid Schiit, hatte dieser Unterschied für sie nie eine Rolle gespielt. Sie verbrachten gerne ihre Nachmittage und Wochenenden zusammen, lasen Comics, guckten Filme und spielten Videospiele.
An jenem Tag lag Khalid auf dem Boden, zusammengerollt zu einer Kugel, die Hände schützend über seinem Kopf, während die älteren Jungen auf ihn eintraten.
»Jetzt bist du wohl nicht mehr so schlau, was, du Schwein?«, hatte ihn einer der beiden Schläger verhöhnt.
»Ihr Schiiten solltet da bleiben, wo ihr hingehört! Das hier ist Syrien, nicht der Iran!«
Mahmoud lief es kalt den Rücken hinunter, als er das hörte. Der Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten war nur ein Vorwand, in Wirklichkeit wollten diese Jungen einfach nur jemanden verprügeln.
Mit einem Schlachtruf, der Tarzan stolz gemacht hätte, hatte sich Mahmoud auf Khalids Angreifer gestürzt.
Und dann hatten sie ihn genauso übel zugerichtet wie seinen Freund.
Von diesem Tag an hatten Mahmoud und Khalid keinen ruhigen Moment mehr. Die beiden älteren Jungen wurden ihre ganz persönlichen Verfolger, die regelmäßig zwischen den Unterrichtsstunden und nach der Schule mit einer Tracht Prügel auf sie warteten.
In dieser Zeit hatten Mahmoud und Khalid gelernt, wie wichtig es war, unsichtbar zu sein. Mahmoud verbrachte den ganzen Tag im Klassenzimmer, ging nie auf die Toilette oder auf den Schulhof. Khalid beantwortete im Unterricht keine einzige Frage mehr, nicht einmal, wenn der Lehrer ihn direkt aufrief. Wenn die Schläger sie nicht bemerkten, schlugen sie sie nicht. Außerdem war Mahmoud klar geworden, dass sie für die Jungen leichtere Opfer waren, wenn er und Khalid zusammen waren. Alleine war es einfacher, unsichtbar zu bleiben. Sie hatten es einander nie direkt gesagt, aber beide hatten ihre Lektion gelernt. Innerhalb eines Jahres hatten sie sich so sehr voneinander entfernt, dass sie nicht einmal mehr miteinander sprachen, wenn sie sich auf dem Flur begegneten.
Ein weiteres Jahr später kam Khalid bei einem Luftangriff ums Leben.
In Syrien im Jahr 2015 war es besser, keine Freunde zu haben.
Mahmoud schaute zu, wie die beiden Schläger den Jungen mit dem Brot in die Mangel nahmen, einen Jungen, den er nicht einmal kannte. Er spürte, wie Zorn und Mitleid in ihm aufstiegen. Sein Atem ging schnell und heftig, seine Hände ballten sich zu Fäusten.
»Ich sollte etwas tun«, flüsterte er, doch er wusste es besser.
Kopf runter, Kapuze auf, Augen zu Boden. Der Trick war, unsichtbar zu sein. Mit der Umgebung zu verschmelzen. Zu verschwinden.
Mahmoud nahm seinen kleinen Bruder an die Hand, drehte sich um und ging einen anderen Weg nach Hause.
Josef
1 Tag weg von zu Hause
Es war, als wären sie unsichtbar.
Josef und seine Schwester folgten ihrer Mutter durch die Menschenmenge am Lehrter Bahnhof, einem der großen Bahnhöfe Berlins. Josef und Ruth trugen je einen Koffer, ihre Mutter zwei — einen für sie selbst und einen für ihren Mann. Kein Kofferträger kam angelaufen, um ihnen mit ihrem Gepäck zu helfen, kein Bahnhofsangestellter blieb stehen, um sie zu fragen, ob sie Hilfe brauchten, ihren Zug zu finden. Die Menschen waren angespannt und misstrauisch, und vor allem wollte niemand in der Öffentlichkeit mit einem Juden gesehen werden. Das hätte nämlich die gleichen Schikanen und Misshandlungen zur Folge gehabt, denen auch die Juden selbst ausgesetzt waren.
Die Bahnhofsangestellten und anderen Passagiere machten einen großen Bogen um die Familie Landau, rauschten an ihnen vorbei wie Wasser, das einen Stein umfloss.
Niemand wollte sie sehen.
Im Zug saßen Josef und seine Familie in einem Abteil, das mit einem J für Juden beschriftet war — damit sich nicht versehentlich ein »echter« Deutscher mit hineinsetzte. In ihre Ausweispapiere war ebenfalls ein großes rotes J gestempelt, damit jeder, der sie kontrollierte, sofort wusste, dass sie Juden waren.
Die Papiere gut verwahrt, waren sie jetzt auf dem Weg nach Hamburg. Dort würden sie Josefs Vater treffen, um gemeinsam ein Schiff zu besteigen. An dem Tag, als Papas Telegramm gekommen war, hatte Josefs Mutter für sie alle Schiffstickets nach dem einzigen Ort gekauft, der bereit war, sie aufzunehmen: eine Insel namens Kuba, am anderen Ende der Welt.
Seit die Nazis vor sechs Jahren an die Macht gekommen waren, flohen die Juden aus Deutschland. Mittlerweile, im Mai 1939, hatten die meisten Länder einen Aufnahmestopp für jüdische Flüchtlinge verhängt. Man musste eine Vielzahl von Formularen ausfüllen, einreichen und bezahlen, um überhaupt die Chance zu haben, aufgenommen zu werden. Josef und seine Familie hofften, eines Tages Amerika zu erreichen, aber einfach in den Hafen von New York City einlaufen, konnten sie nicht. Die Vereinigten Staaten ließen nur eine bestimmte Anzahl von Einwanderern pro Jahr ins Land, deshalb wollte Josefs Familie übergangsweise in Kuba leben, bis sie in Amerika einreisen durften.
»Mir ist heiß«, beklagte sich Ruth und zupfte an ihrem Mantel.
»Nein, nein«, antwortete Mama. »Du musst deinen Mantel anlassen und darfst niemals ohne ihn irgendwo hingehen, hast du verstanden, Ruthchen? Nicht, bevor wir in Kuba sind.«
»Ich will nicht nach Kuba fahren«, jammerte Ruth, als sich der Zug in Bewegung setzte.
Mama zog sie auf ihren Schoß. »Ich weiß, mein Schatz. Aber wir machen das, damit wir in Sicherheit sind. Es wird ein großes Abenteuer.«
Ruthchen wäre dieses Jahr in die Schule gekommen — wenn sie nicht alle Deutschland hätten verlassen müssen. Sie hatte strahlende, wache Augen und widerspenstige braune Haare, die sie zu einem Bob geschnitten mit einem Seitenscheitel trug. Zwischen ihren Vorderzähnen klaffte eine Lücke, die sie aussehen ließ wie ein kleines Häschen. Sie trug ein dunkelblaues Wollkleid mit einem weißen Matrosenkragen und hatte ihr weißes, aus Cord genähtes Stoffkaninchen namens Elli dabei, das sie überallhin mitnahm.
Ruth war in dem Jahr zur Welt gekommen, als Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war. Sie kannte kein anderes Leben als das, das sie gerade führten, doch Josef erinnerte sich noch daran, wie es früher gewesen war. Damals, als die Menschen sie noch wahrnahmen. Damals, als sie noch Deutsche waren.
Sie waren heute Morgen früh aufgestanden, und es war ein anstrengender Tag gewesen, deshalb schlief Ruth schon bald auf Mamas Schoß ein, und auch Mama begann zu dösen. Als Josef die beiden betrachtete, fragte er sich, ob überhaupt jemand merken würde, dass sie Juden waren, wenn sie nicht in einem jüdischen Abteil säßen und kein rotes J in ihre Ausweise gestempelt wäre.
Josef erinnerte sich an einen Tag in der Schule, damals, als er noch auf seine Schule gehen durfte. Sein Lehrer, Herr Meier, hatte ihn vor der ganzen Klasse zu sich nach vorne gerufen. Zuerst hatte Josef gedacht, sein Lehrer wollte ihn an der Tafel eine Matheaufgabe lösen lassen, doch dann rollte Herr Meier eine Karte mit Gesichtern und Profilbildern jüdischer Männer und Frauen auf und benutzte Josef als Beispiel dafür, wie man einen echten Deutschen von einem Juden unterschied. Er drehte ihn zuerst in die eine Richtung, dann in die andere, um auf die Krümmung seiner Nase und den Winkel seines Kinns zu zeigen. Bei dieser Erinnerung fühlte Josef von Neuem, wie ihm vor Scham das Blut ins Gesicht schoss. Wieder erlebte er die Demütigung, dass über ihn gesprochen wurde, als wäre er ein Tier. Ein Anschauungsobjekt. Etwas Untermenschliches.
Ohne diesen dämlichen Buchstaben J in seinem Ausweis — würde tatsächlich jemand merken, dass er Jude war?
Josef beschloss, es herauszufinden.
Leise verließ er das Abteil und ging den Gang hinunter, vorbei an den anderen jüdischen Familien in ihren Abteilen. Hinter der nächsten Tür lag der »deutsche« Teil des Zugs.
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, und seine Arme kribbelten, als er seinen Ausweis so tief wie möglich in der Innentasche seiner Jacke versteckte. Dann machte er einen Schritt durch die Tür.
Vorsichtig schlich er den Gang hinunter. Der »deutsche« Waggon fühlte sich nicht anders an als der jüdische. Deutsche Familien saßen in ihren Abteilen und unterhielten sich, lachten und diskutierten miteinander, genau wie die jüdischen. Sie aßen, schliefen und lasen Bücher, genau wie die jüdischen.
Josefs Blick fiel auf sein Spiegelbild in einem der Fenster. Braune, glatte Haare, ordentlich nach hinten gekämmt. Braune Augen hinter einer Brille mit Drahtgestell, die auf einer kurzen Nase saß. Ohren, die vielleicht ein bisschen zu weit zur Seite abstanden. Er war durchschnittlich groß für sein Alter, trug eine graue, zweireihig geknöpfte Jacke mit Nadelstreifen, eine braune Hose, ein weißes Hemd und eine blaue Krawatte. Nichts an ihm stimmte mit den Bildern auf Herrn Meiers Karte überein, mit der er der Klasse erklärt hatte, woran man einen Juden erkannte. Josef kannte auch keinen einzigen Juden, der so aussah wie auf den Bildern.
Der nächste Waggon war der Speisewagen. Leute saßen an kleinen Tischen, rauchten, aßen und tranken, während sie miteinander plauderten, Zeitung lasen oder Karten spielten. Der Mann hinter dem Imbissstand verkaufte Zeitungen. Josef nahm sich eine und legte eine Münze auf die Theke. Der Imbissmann lächelte. »Na, kaufst du die für deinen Vater?«, fragte er. Nein, dachte Josef. Mein Vater ist gerade aus einem Konzentrationslager freigelassen worden.
»Nein, für mich«, antwortete er. »Ich möchte eines Tages Journalist werden.«
»Schön!«, sagte der Zeitungsmann. »Wir brauchen noch mehr Leute, die schreiben.« Er deutete mit einer Geste auf all die Zeitungen und Zeitschriften um ihn herum. »Damit ich noch mehr davon verkaufen kann!«
Er lachte und Josef lächelte. Hier standen sie und unterhielten sich wie zwei ganz normale Leute, doch Josef hatte nicht vergessen, dass er Jude war. Er hatte nicht vergessen, dass dieser Mann nicht mit ihm sprechen und lachen würde, wenn er seinen Ausweis gesehen hätte. Dann würde der Mann die Polizei rufen.
Gerade wollte Josef wieder gehen, da kam ihm die Idee, Ruth etwas Süßes mitzubringen. Seit ihr Vater seinen Job verloren hatte, war das Geld knapp, und sie würde sich sicherlich über eine kleine Überraschung freuen. Josef nahm ein Lutschbonbon aus einem Glas und fischte in seiner Jackentasche nach einem weiteren Pfennig. Dabei fiel ihm unglücklicherweise der Ausweis aus der Tasche. Er segelte zu Boden und landete mit dem großen roten J nach oben, sodass alle es sehen konnten.
Josefs Herz krampfte sich zusammen, und sofort bückte er sich, um den Ausweis aufzuheben.
Stampf. Ein schwarzer Schuh verdeckte das Papier, bevor Josef danach greifen konnte. Langsam, zitternd schaute er von den schwarzen Schuhen hinauf zu weißen Socken, braunen Shorts, einem braunen Hemd und einer roten Armbinde der Hitlerjugend. Ein Junge etwa in Josefs Alter stand über ihm, ein Junge, der geschworen hatte, für sein Vaterland zu leben und zu sterben. Er stand mit seinem Fuß auf Josefs Ausweis, die Augen vor Überraschung geweitet.
Josef wurde kreidebleich.
Der Junge bückte sich, nahm das Dokument in die Hand und fasste Josef am Arm. »Los, gehen wir«, sagte er und führte ihn zurück durch den Speisewagen.
Josef konnte kaum laufen. Seine Beine fühlten sich an wie Blei, sein Blick war verschwommen. Nachdem Herr Meier ihn in der Klasse nach vorne gerufen hatte, um zu demonstrieren, dass Juden den echten Deutschen unterlegen waren, hatte sich Josef wieder zurück auf seinen Platz neben Klaus gesetzt, seinem besten Freund in der Schule. Klaus hatte die gleiche Uniform getragen wie dieser Junge, auch er hatte sich der Hitlerjugend angeschlossen. Nicht, weil er es wollte, sondern weil deutsche Jungen und ihre Familien gedemütigt und misshandelt wurden, wenn sie es nicht taten.
Klaus hatte sich gekrümmt, so sehr hatte es ihm leidgetan, was Herr Meier mit Josef gemacht hatte.
Doch noch am selben Nachmittag wartete eine Gruppe Jungen von der Hitlerjugend vor der Schule auf Josef. Sie fielen über ihn her, schlugen und traten ihn und beleidigten ihn mit allen möglichen Schimpfwörtern. Einfach nur, weil er Jude war.
Das Schlimmste daran war, dass Klaus sich ihnen angeschlossen hatte.
Die Uniform, die sie trugen, verwandelte diese Jungen in Monster. Josef hatte es miterlebt. Er hatte seitdem alles getan, um der Hitlerjugend aus dem Weg zu gehen, doch nun hatte er sich einem von ihnen selbst ausgeliefert. Und das nur, weil er in den deutschen Teil eines Zugs gegangen war, um sich eine Zeitung zu kaufen! Er, seine Mutter und seine Schwester würden aus dem Zug geworfen werden, vielleicht würde man sie sogar in ein Konzentrationslager stecken.
Josef war dumm gewesen, und nun würden er und seine Familie dafür zahlen.
Isabel
Isabel öffnete die Augen und setzte ihre Trompete ab. Hatte sie nicht gerade Glas zerspringen hören? Die Autos und Fahrräder strömten weiter den sonnenbeschienenen Malecón entlang, als wäre nichts gewesen. Isabel schüttelte den Kopf, überzeugt davon, dass sie sich alles nur eingebildet hatte, und hob ihre Trompete wieder an die Lippen.
Plötzlich schrie eine Frau, ein Schuss fiel — peng! —, und dann brach Chaos aus.
Leute kamen aus den Seitenstraßen gerannt, Hunderte Leute. Es waren hauptsächlich Männer, viele von ihnen mit freiem Oberkörper, in der glühenden Augusthitze nur mit Shorts und Turnschuhen bekleidet. Ihre weißen, braunen und schwarzen Rücken glänzten in der Sonne. Sie skandierten Parolen, warfen Steine und Flaschen. Sie strömten in die Straßen wie Kaffeebohnen, die aus einem Leinensack rieselten, und die wenigen Polizisten auf dem Malecón waren in Sekundenschnelle überwältigt. Isabel sah, wie das Schaufester eines Gemischtwarenladens in Stücke sprang, woraufhin Männer und Frauen hineinkletterten, um Zahnpasta, Toilettenpaper und Seife zu stehlen. Irgendwo am Ende der Straße schrillte ein Alarm, hinter einem Wohnhaus stieg Rauch auf.
Havanna befand sich im Aufstand, und Isabels Vater und Großvater waren irgendwo mittendrin.
Einige Leute flohen vor dem Chaos, doch die meisten rannten mitten hinein — und Isabel schloss sich ihnen an. Autos hupten, Fahrräder wendeten und fuhren davon, Menschen waren übereinandergestürzt. Mit ihrer Trompete unter dem Arm schlängelte sich Isabel durch die Massen, auf der Suche nach Papi und Lito.
»Freiheit! Freiheit!«, riefen einige Aufständische.
»Weg mit Castro!«
»Genug ist genug!«
Isabel konnte nicht glauben, was sie da hörte. Menschen, die Fidel Castro kritisierten, wurden ins Gefängnis geworfen und verschwanden dort für immer. Doch jetzt waren die Straßen voll mit Leuten, die brüllten: »Nieder mit Fidel! Nieder mit Fidel!«
»Papi!«, schrie Isabel. »Lito!« Ihr Großvater hieß Mariano, doch Isabel nannte ihn »Lito«, die Kurzform von »abuelito« — Großvater.
Gewehrschüsse zerrissen die Luft, Isabel duckte sich. Immer mehr Polizisten kamen auf Motorrädern und in Militärfahrzeugen herbeigefahren. Der Aufstand wurde blutig. Die Demonstranten bewarfen die Polizisten mit Steinen, die Polizisten schossen in die Menge. Ein Mann mit blutigem Kopf taumelte an Isabel vorbei. Entsetzt wich sie zurück. Dann wurde sie von einer Hand gepackt — sie fuhr herum. Lito! Erleichtert warf sie sich in die Arme ihres Großvaters.
»Gott sei Dank bist du in Sicherheit!«, rief Lito.
»Wo ist Papi?«, wollte Isabel wissen.
»Ich weiß nicht, wir waren nicht zusammen, als es angefangen hat«, erklärte ihr Großvater.
Isabel drückte ihm die Trompete in die Hand. »Ich muss ihn finden!«
»Chabela!«, rief Lito. Er sprach sie mit ihrem Kosenamen an, wie immer. »Nein! Warte!«
Isabel hörte nicht auf ihn. Sie musste ihren Vater finden. Wenn ihn die Polizei noch einmal erwischte, würden sie ihn einsperren — und diesmal vielleicht für immer.
Sie schlängelte sich durch die Menschenmenge und versuchte dabei, sich so weit wie möglich von den Polizisten fernzuhalten, die sich mittlerweile in einer Reihe aufgestellt hatten. »Papi!«, schrie sie. »Papi!« Doch sie war zu klein, um etwas zu sehen, um sie herum waren zu viele Menschen.
Hoch über ihrem Kopf sah Isabel Leute auf eine große Leuchtreklametafel klettern, die an der Seite eines Hotels hing. Ihr kam eine Idee. Sie kämpfte sich zu einem der Autos durch, die in den überfüllten Straßen stehen bleiben mussten, einem alten amerikanischen Chevy mit verchromten Heckflossen, wie es sie schon vor der Revolution in den 50er-Jahren gab. Sie kletterte über die Stoßstange hoch auf die Motorhaube. Der Mann am Steuer hupte und nahm seine Zigarre aus dem Mund, um auf Isabel zu schimpfen.
»Chabela!«, rief ihr Großvater, als er sie sah. »Chabela, komm da runter!«
Isabel ignorierte die beiden Männer, drehte sich in alle Richtungen und rief nach ihrem Vater. Da! Sie entdeckte ihren Papi genau in dem Moment, als er sich aufrichtete und mit einer Flasche warf, die mitten in die Reihe der Polizisten flog. Daraufhin drängten die Polizisten auf Befehl ihres Vorgesetzten nach vorne in die Menge, verhafteten Aufständische und schlugen mit hölzernen Schlagstöcken auf sie ein.
Inmitten des Tumults packte einer der Polizisten Isabels Vater am Arm. »Nein!«, schrie Isabel. Sie sprang von der Motorhaube und bahnte sich ihren Weg durch das Chaos. Als sie bei Papi ankam, lag er zusammengerollt auf dem Boden, während der Polizist mit seinem Stock auf ihn einschlug.
Wieder hob der Beamte den Knüppel, um zuzuschlagen, doch Isabel sprang dazwischen. »Nein! Tun Sie das nicht! Bitte!«, flehte sie.
Für einen kurzen Moment wich die Wut in den Augen des Polizisten der Überraschung, doch dann kehrte der Ärger zurück. Der Mann holte aus, um auch Isabel zu schlagen, und sie krümmte sich zusammen. Doch der Schlag kam nicht. Ein anderer Polizist hielt seinen Kollegen am Arm fest! Isabel blinzelte. Sie kannte den hinzugekommenen Polizisten. Es war Luis Castillo, Iváns großer Bruder.
»Was soll das?«, fuhr der ältere Polizist ihn an.
Luis hatte keine Zeit zu antworten. Ein Pfiff ertönte, die Polizisten wurden irgendwo anders hinbeordert.
Der wütende Polizist riss sich von Luis los und zeigte mit seinem Schlagstock auf Papi. »Ich hab gesehen, was du gemacht hast«, drohte er. »Ich krieg dich. Wenn das alles hier vorbei ist, verhafte ich dich, dann wirst du für immer weggesperrt.«
Luis zog seinen aufgebrachten Kollegen weg und hatte gerade noch genug Zeit, um Isabel einen vielsagenden Blick über die Schulter zuzuwerfen.
Doch er brauchte nichts zu sagen. Als ihr Großvater ankam und Isabel half, ihren Vater wieder auf die Beine zu ziehen, hatte sie es verstanden:
Papi musste Kuba verlassen.
Heute noch.
Mahmoud
Von einer nahe gelegenen Moschee hallte der Nachmittags-Adhān, der islamische Gebetsruf, durch die zerbombten Straßen Aleppos. Die melodische, sanfte Stimme des Muezzins pries Allah und rief die Menschen zum Gebet auf. Mahmoud hatte gerade am Küchentisch über seinen Mathehausaufgaben gesessen, doch er legte unwillkürlich seinen Bleistift zur Seite und ging zum Waschbecken, um sich zur Vorbereitung auf sein Gebet zu waschen. Wieder einmal kam kein Wasser aus dem Hahn, deshalb musste er sich mit Wasser aus einer der Wasserkaraffen behelfen, die seine Mutter von einem Brunnen in der Nähe herangeschleppt hatte. Auf der anderen Seite des Zimmers saß Walid wie ein Zombie vor dem Fernseher und schaute sich einen ins Syrisch-Arabische übersetzten Zeichentrickfilm an.
Mahmouds Mutter kam aus dem Schlafzimmer, in dem sie gerade die Wäsche zusammengelegt hatte, und schaltete den Fernseher aus. »Zeit zu beten, Walid, geh dich schnell waschen!«