Erste Liebe, Freundschaft, Frauenpower und Eiscreme — eine einfühlsame und romantische
Sommerlektüre für Fans von Jenny Han
Ein herrlicher Sommer steht für Amelia bevor, mit Sonne, Ferien, erster Liebe — und
sie darf in diesem Jahr wieder in Mollys nostalgischer Eisdiele aushelfen! Der beste
Sommerjob überhaupt! Jeder in Sand Lake kennt die kleine Eisdiele der alten Molly
und ihre außergewöhnliche Eissorte Home Sweet Home. Für eine Kugel dieser Köstlichkeit
warten die Leute jeden Sommer geduldig in langen Schlangen. Denn Mollys Eis macht
glücklich, schmeckt süß, erfrischend, nach dem Gefühl, an einem heißen Sommertag in
einen See zu springen. Als Molly stirbt, steht für Amelia fest: Sie muss die alte
Eisdiele retten! Eine köstliche, sommerliche Lektüre über ein Mädchen, das über sich
hinauswächst und zu sich selbst findet.
Siobhan Vivian
Stay Sweet
Aus dem Amerikanischen von Jessika Komina und Sandra Knuffinke
Carl Hanser Verlag
Für Marie
Heute Abend sind neunzehn Mädchen zum See gekommen, und alle hatten einen Löffel dabei. Letzte Woche waren es sechzehn und in der davor elf. Vor einem Monat noch waren wir gerade mal zu viert.
Nachdem ich vom Rad gestiegen war, blieb ich noch einen Moment im Schutz der Bäume stehen und beobachtete die anderen. Die meisten kannte ich gut, einige weniger, und ein paar kamen nicht einmal aus Sand Lake. Nicht dass das eine Rolle spielen würde.
Sie hatten ihre Decken dicht an dicht auf dem Sand ausgebreitet, als wollten sie eine riesige Patchworkdecke bilden, ihre Sandalen ausgezogen und zu einem Haufen aufgetürmt. Sie reichten Zeitschriften herum, Life und die neueste Ausgabe von Seventeen, machten einander die Haare und plauderten, während langsam die Sonne unterging und sie auf mich warteten.
Mein Herz klopfte wie wild.
Und vielleicht hätte ich mich sogar wieder davongeschlichen, wenn Tiggy mich nicht entdeckt hätte. Sie kam angerannt und grinste übers ganze Gesicht. Mehr Mädchen bedeuten nämlich weniger Arbeit an der Eismaschine. Tiggy beklagt sich schon nach einer Minute Kurbeln, dass ihr der Arm wehtut, aber sobald das Eis fertig ist, hat sie sich noch jedes Mal wieder erholt. Ich hingegen sah nur noch mehr Leute, die ich heute Abend enttäuschen würde.
Tiggy hob meine Tasche aus dem Fahrradkorb. Ich folgte ihr und entschuldigte mich bei allen für die Verspätung. Während ich den Behälter meiner Eismaschine mit meinen Zutaten befüllte, versuchte ich, die Erwartungen ein wenig zu dämpfen. Die Mädchen waren letzte Woche so begeistert von meinem Vanilleeis gewesen, und ich hätte ihnen liebend gern noch einmal welches gemacht, aber die Zuckerration waren schon wieder gekürzt worden, und Mutter hat mir verboten, an ihren Vorratsschrank zu gehen.
Also hab ich den ganzen Nachmittag versucht, die Sahne mit etwas anderem als Zucker zu süßen. Ich probierte es mit Honig, Apfelsaft, sogar mit geraspelten Karotten aus unserem Gemüsegarten. Und ich muss gestehen, dass es Spaß machte, so herumzuexperimentieren und eine Testportion nach der anderen anzurühren und zu kosten, jede einen Schritt näher am gewünschten Ergebnis. Doch mir lief die Zeit davon, und irgendwann musste ich mich auf den Weg zum See machen. Dabei war ich mir ganz und gar nicht sicher, ob mein letzter Versuch überhaupt essbar war.
Die Mädchen schienen das alles nicht so wichtig zu nehmen, was schön und gut gewesen wäre, wenn ich es nicht selbst so wichtig genommen hätte. Wichtiger, als ich je gedacht hätte.
Normalerweise lesen diejenigen von uns, die Briefe von ihren Jungs erhalten haben, den anderen daraus vor, während wir uns an der Kurbel abwechseln. Aber diesmal schlug ich beiläufig vor, das doch lieber sein zu lassen, denn ich wusste, dass Marcys Familie schon seit fast einem Monat nichts von ihrem Bruder Earl gehört hatte. Aber Marcy bestand darauf und brachte sogar ein schwaches Lächeln zustande. Es ist schon erstaunlich, wie geübt wir alle mittlerweile darin sind, Stärke vorzutäuschen, selbst wenn wir kurz vor dem Zusammenbruch stehen.
Zum Glück las Dot als Erste, und wir anderen konnten uns kaum halten vor Lachen. Unglaublich, wie frech dieser James Pearson ist. Seine Mutter würde feuerrot anlaufen, wenn sie wüsste, dass er Dot angebettelt hat, ihm ein Bild von sich im Unterkleid zu schicken.
Ich las aus Waynes letztem Brief vor. Darin beteuert er, seine Kameraden und er litten genauso unter der Trennung wie wir Mädchen zu Hause. Und er freue sich, dass wir uns die Zeit mit unseren Eiscremeabenden vertrieben, bis wir uns wiedersähen, denn wenn wir einsam und traurig seien, vergehe sie auch nicht schneller.
Voller schlechtem Gewissen faltete ich die Seiten wieder zusammen. Zwar drücke ich auf jeden Brief, den ich ihm schicke, einen Lippenstiftkuss und besprühe den Umschlag mit so viel Parfüm, dass es hoffentlich bis ans andere Ende der Welt reicht — dadurch brauche ich alle paar Wochen eine neue Flasche Beau Catcher für sieben Dollar fünfzig —, aber ich selbst schreibe Wayne immer nur furchtbar uninteressantes Zeug. Entweder erzähle ich von meinen Eisrezepten oder beschwere mich über Mutter, die fest entschlossen ist, aus unserer Hochzeit das gesellschaftliche Ereignis von Sand Lake zu machen, sobald der Krieg vorbei ist.
Vielleicht sollte ich Wayne auch ein Foto von mir schicken. Nicht im Unterkleid natürlich. Dafür muss er schon bis zur Hochzeitsnacht warten. Lieber im Badeanzug, die Haare gelockt und aufgesteckt wie Betty Grable. Das würde ihn bestimmt aufheitern.
Jedenfalls, nachdem wir mit den Briefen fertig waren und einander über den Klatsch der letzten Wochen auf den neusten Stand gebracht hatten — Streit mit den Eltern, die Knappheit hübscher Kleider in den Geschäften, die neueste Wochenschau —, kam Tiggy wieder mit der Idee, ich sollte meine Eiscreme bei der Wohltätigkeitsveranstaltung des Roten Kreuzes verkaufen, die ihre Mutter organisiert.
Ich warf ihr einen ärgerlichen Blick zu, schließlich hatte ich ihr schon erklärt, dass ich das für keine gute Idee hielt. Und zwar nicht nur, weil die Zuckerrationen immer weiter schrumpfen. Was ich an unseren Eiscremeabenden so mag, ist, dass sie privat sind, nur für uns.
Aber sie beachtete mich gar nicht und bat stattdessen die Mädchen um Vorschläge, was ich auf mein Transparent schreiben könne, das ja jeder Essensstand brauche, und diese Diskussion zog sich so lange hin, bis das Eis fertig war.
Ich versuchte, nicht hinzuhören. Mein Magen hatte sich zu einem Knoten zusammengezogen, als ich den Deckel der Eismaschine abschraubte und die Kurbel herauszog. Wenn das Eis nun grauenhaft schmeckte, dachte ich insgeheim, würde Tiggy mich wohl zumindest nicht mehr drängen, es zu verkaufen.
Tiggy kroch auf allen vieren zu mir und versenkte ohne Umschweife ihren Löffel im Bottich. Sie verdrehte genießerisch die Augen und stieß ein so lang gezogenes »Mmmmmm« aus, dass die anderen Mädchen aufgeregt zu quietschen anfingen und sich um mich scharten. So etwas hätten sie noch nie gegessen, schwärmten sie mit großen Augen und strahlten. Was denn da drin sei? Was war das bloß für ein Geschmack?
Die wollen bestimmt nur höflich sein, dachte ich, bis der Behälter wieder bei mir anlangte.
Es schmeckte tatsächlich großartig.
Etwas so Gutes war mir noch nie gelungen.
Die Mädchen verlangten nach einer zweiten Portion, nach einer dritten und vierten und versicherten mir, dieses Eis müsse ich einfach zum Verkauf anbieten. Daran würde ich ein Vermögen verdienen. Außerdem sei es schließlich für einen guten Zweck, für unsere Jungs.
Tiggy, die sich schon wieder einen Nachschlag nahm, schnurrte: »Jungs? Wer braucht denn schon Jungs? Das hier ist alles, was ich will«, und leckte lasziv ihren Löffel ab.
Die anderen kicherten, aber ich keuchte auf und legte Tiggy die Hand aufs Bein. »Tig, das ist es. Auf meinem Transparent könnte stehen: ›Dieses Eis ist süßer als dein Süßer.‹«
Alles verstummte. Ich schloss die Augen.
Ich könnte den Spruch in rosa Buchstaben auf weißen Musselin malen.
Die Mädchen würden ihre weißen Kleider von der Abschlussfeier anziehen und sich die Haare aufdrehen.
Wir würden die Eiscreme in Reihen arrangieren, perfekt geformte Kugeln in feinen Porzellanschälchen. Mutter würde es nicht gerne sehen, wenn ich ihr gutes Service benutzte, aber ich wusste, wie ich ihr ein schlechtes Gewissen machen konnte, um am Ende doch meinen Willen zu bekommen. Und wetten, dass die anderen ihre Mütter auch rumkriegen würden?
Wie viel konnten wir wohl für eine Portion verlangen?
Dreißig Cent?
Fünfzig?
Genau wie in diesem einen Moment, wenn man beim Kurbeln plötzlich merkt, wie Sahne und Zucker sich verbinden, fühlte ich die Idee in meinem Kopf Gestalt annehmen. Ich war glücklicher als in all den Monaten zuvor, bis ich ein Schniefen hörte und die Augen wieder öffnete.
Tiggy und die anderen saßen mit tränenüberströmten Gesichtern da.
»Tut mir leid«, sagte ich mit glühenden Wangen. »Ich hab nur so dahergeredet, bitte vergesst es einfach wieder.« Das Eis sollte doch gerade unsere Ablenkung vom Krieg sein.
Tiggy zog ihr Taschentuch hervor und tupfte sich die Augen ab. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Der Spruch passt perfekt.« Dann nahm sie meine Hand und drückte sie. »Ich glaube, das könnte ein richtiger Erfolg werden, Molly.«
Wenn es nur Tiggy allein gewesen wäre, hätte ich ihr wohl nicht geglaubt. Nicht etwa, weil sie eine Lügnerin wäre, sondern weil sie nun mal meine beste Freundin ist. Aber auch die anderen Mädchen drängten sich mit ihren Löffeln um mich, wischten sich die Tränen ab und wollten immer mehr.
Amelia van Hagen kniet in BH und Chino-Shorts auf dem Boden. Ihr braunes Haar ist säuberlich zu zwei Fischgrätenzöpfen geflochten, und auf ihrem Schoß liegt ein ausgebreitetes Poloshirt. Sie streicht es glatt, zupft einen winzigen Fussel herunter und schnipst ihn weg.
Als sie dieses Poloshirt mit dem Logo der Meade Creamery vor vier Jahren bekommen hat, hatte es genau dieselbe Farbe wie eine Kugel Erdbeereis. Heute erkennt sie selbst im schummrigen Morgenlicht, dass das Rosa zu einem viel blasseren, sanfteren Ton verblichen ist, der eher an Zuckerwatte erinnert.
In Sand Lake kann man eine Menge Ferienjobs finden, von denen jeder so seine Vorteile hat. Arbeitet man zum Beispiel als Rettungsschwimmer am See, ist man bis Oktober knackig braun. Das Einkaufszentrum dagegen ist klimatisiert, und man bekommt Mitarbeiterrabatt für den Food-Court. Als Babysitter kann man ordentlich Geld scheffeln, besonders, wenn man bei den Touristen beliebt ist. Aber Amelia hat schon immer davon geträumt, irgendwann ein Meade-Mädchen zu werden.
Schon seit der Eröffnung im Sommer 1945 arbeiten in der Meade Creamery ausschließlich Mädchen. Und obwohl schon die Eiscreme allein ausreicht, um die Anziehungskraft des Ladens zu erklären, stellte Amelia sich jedes Mal, wenn ihre Eltern mit ihr in der Warteschlange standen und sie endlich weit genug vorne waren, auf die Zehenspitzen und beobachtete aufmerksam das Treiben hinter dem Verkaufsfenster. Zwar waren die Gesichter jeden Sommer andere — die ältesten Mädchen gingen weg aufs College, und die Neuen hatten sichtlich Mühe, mit dem allgemeinen Tempo mitzuhalten —, aber irgendwie herrschte in der Eisdiele immer die gleiche besondere Atmosphäre. Amelia gefiel es, wie die Mädchen miteinander redeten, ein Mix aus Codewörtern und Insiderwitzen, und wie anmutig sie sich auf so engem Raum und inmitten all der fieberhaften Aktivität bewegten. Wie viel Spaß sie miteinander zu haben schienen, trotz der Hitze und der Menschenmassen und obwohl sie zur Unterhaltung nur ein Uraltradio mit einer alufolienumwickelten Antenne hatten.
Amelia zieht sich das rosa Poloshirt über den Kopf. Es fühlt sich sogar ein bisschen an wie aus Zuckerwatte — weich und leicht, nach Tausenden von Wäschen, denn ein Meade-Mädchen führt einen endlosen Kampf gegen die Flecken: Karamell, Schokoladensoße oder der leuchtend rote Saft von Maraschinokirschen. Das Einzige, was auch nach vier Jahren noch nicht verblasst ist, ist Amelias Begeisterung darüber, dieses Poloshirt tragen zu dürfen.
Frankie Ko hatte es ihr an ihrem ersten Arbeitstag überreicht. Frankie war damals die Eisprinzessin — wie die Teamleiterin der Meade Creamery traditionellerweise genannt wird — und sonnte sich auf einem der Picknicktische, während sie auf die Neuen wartete. Ihr glänzendes schwarzes Haar war so lang wie ihre perfekt ausgefranste Jeans kurz. Sie trug knöchelhohe Söckchen mit kleinen rosa Bommeln am Saum und um jedes Handgelenk vier oder fünf geflochtene Armbänder. Sie war Halbkoreanerin, irre cool und unfassbar schön. Natürlich denkt das jede Neue in ihrem ersten Sommer von der Eisprinzessin, aber an Frankie, da ist Amelia sich immer noch sicher, kommt so schnell niemand heran.
Amelia erschaudert beim Gedanken daran, wie sie selbst aussah, als ihr Dad sie vor vier Jahren zum ersten Mal an der Eisdiele absetzte. In der Hoffnung, älter und reifer zu wirken, hatte sie den pfirsichfarbenen Lippenstift benutzt, den sie sich passend zu ihrem Kleid für den Schulball gekauft hatte. Allerdings war es ihr nicht mal in den Sinn gekommen, ihre Zahnspange rauszunehmen — die sie so gewissenhaft trug, dass die meisten ihrer Klassenkameraden noch gar nicht gemerkt hatten, dass es schon lange keine feste mehr war.
Ein paar Wochen darauf nahm Frankie sie beiseite und merkte freundlich an, sie solle es vielleicht mal mit kühleren Farbtönen probieren. Kurz darauf schenkte sie Amelia einen neuen Lippenstift — einen kirschroten mit dem Namen All Heart —, den sie bei ihrem letzten Kosmetik-Einkauf gratis dazubekommen hatte. Frankie half ihr sogar beim Auftragen, was ungefähr doppelt so lange dauerte wie vorher, als Amelia es selbst gemacht hatte. Die anderen Mädchen, die gemeinsam mit ihnen die Schicht arbeiteten, nickten zustimmend.
Frankie Ko war eine Siebzehnjährige wie aus dem Bilderbuch — eine erblühende Rose voller Selbstbewusstsein, Schönheit und Weisheit. Als Amelia nun vor dem Spiegel ihren Kragen zurechtzieht, fragt sie sich, was die Neuen wohl diesen Sommer von ihr selbst halten werden. Sie kann kaum glauben, dass sie heute genauso alt ist wie damals Frankie.
Aber so ist es nun mal — ihren Schulabschluss hat sie in der Tasche. Das Geld aus den Glückwunschkarten ihrer Verwandten hat sie für Bücher und Mensaessen und einen anständigen Wintermantel beiseitegelegt, damit sie nicht im eisigen Nordostwind von Neuengland erfrieren muss, wovor alle sie scherzhaft warnen.
Letzte Woche kam eine E-Mail von ihrer zukünftigen Mitbewohnerin am Gibbons College — Cecilia Brewster aus Connecticut, die ein Tennisstipendium ergattert hat, englische Literatur studieren will und, zumindest bis auf Weiteres, eine Fernbeziehung mit ihrem Freund führen wird. Nach einer ausgiebigen Vorstellung eröffnete ihr Cecilia, sie hätte schon einen Minikühlschrank für ihr gemeinsames Zimmer besorgt, weswegen es toll wäre, wenn Amelia eine Mikrowelle beisteuern könnte (anbei eine überaus hilfreiche Liste von Links mit Farb- und Designvorstellungen).
Amelia weiß nicht, wie oft sie diese Mail schon gelesen hat. Cecilia scheint ganz in Ordnung, zumindest netter als die Zimmergenossinnen vieler ehemaliger Meade-Mädchen, die hin und wieder auf eine Gratiseiswaffel bei der Eisdiele vorbeikommen. Trotzdem hat Amelia noch keinen der vielen Antwortentwürfe, die sie geschrieben hat, abgeschickt, denn das käme ihr vor wie der Startschuss zu einem Rennen, bei dem sie eigentlich gar nicht mitlaufen will.
Aber leider ist Amelias letzter erster Tag in der Meade Creamery unbestreitbar der Anfang vom Ende.
»Amelia?« Cate Kopernick taucht aus einem Haufen Decken und Kissen auf dem Boden auf. Ihr langes blondes Haar hat sie locker zusammengeschlungen, sodass es ihr wie ein goldenes Lasso über die Schulter hängt. Sie schaltet kurz ihr Handy ein, zieht eine Grimasse wegen des grellen Displays und legt es wieder weg. »Willst du schon los?«
»Ich konnte nicht schlafen, war zu nervös.«
»Nervös?« Cate lacht. »Ach komm, im Ernst jetzt?«
»Jaja, ich weiß.« Amelia steht hastig auf, nimmt ihre Handtasche von der Schreibtischstuhllehne und schiebt die Füße in ihre Leinenturnschuhe.
»Ich hab dich gestern spät noch unten rumwerkeln hören.«
»Ich hab Blaubeermuffins gebacken.«
»Um zwei Uhr nachts?«
»Dachte, es ist vielleicht ganz nett, wenn ich den Mädels was Leckeres mitbringe, bevor ich die Aufgaben verteile.«
Cate verdreht die Augen. »Du musst dich nicht bei denen einschleimen. Die wissen alle, dass heute und morgen die Hölle werden.« Sie gähnt. »Lass mich kurz unter die Dusche springen, dann können wir in zehn Minuten fahren.«
»Ich nehme lieber das Fahrrad, das hilft mir, einen klaren Kopf zu bekommen. Ehrlich, leg dich ruhig wieder schlafen. Wir sehen uns dann in ein paar Stunden.«
»Moment mal! Wo ist denn deine Brosche?«
»Oh, die hab ich wohl vergessen.« Amelia, die schon immer miserabel im Lügen war, eilt zur Tür.
Cate hält sie am Fußknöchel fest. »Amelia! Lass den Quatsch.«
Mit einem halbherzigen Schulterzucken geht Amelia zu einem kleinen Kästchen, in dem sie, neben ihrem Schmuck und der Doktorhut-Troddel von ihrem Schulabschluss, eine goldene Blumenbrosche aufbewahrt, deren Blütenblätter einen klaren Glitzerstein umrahmen. Amelia hat die Brosche seit fast einem Jahr nicht mehr angerührt, nachdem sie sie im vergangenen August bekommen hat.
Wie jedes Jahr hatten sie das Ende der Saison mit einer Campingübernachtung am See gefeiert. Amelia hatte mitten im Aufbau vor ihrem störrischen Zelt kapituliert, saß nun auf dem Boden und kratzte mit Waffelbruchstücken die Schokoladeneisreste aus der großen Papptrommel, die sie alle zusammen geleert hatten.
Heather, die damals Teamleiterin war, verteilte die letzten Gehaltsschecks, die sie zuvor bei Molly Meade zu Hause abgeholt hatte. Als sie Amelias Scheck aus dem Stapel zog, hielt sie mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht inne und schüttelte den Umschlag. Amelia hörte etwas darin klimpern.
Sie erstarrte. Ein Tropfen geschmolzenes Eis rann ihr über den Arm.
»Amelia«, sagte Heather. »Kommst du mal kurz her?«
Amelia erhob sich steif. Sie leckte den Tropfen ab und zwang sich zu schlucken. Nachdem sie den Pappbehälter in den Sand gestellt hatte, warf sie einen Blick zum Lagerfeuer hinüber, wo Cate, die ein ausgeleiertes Sweatshirt über ihrem Bikini trug, gerade schwungvoll ein neues Scheit auflegte, sodass die Funken flogen. Die anderen Mädchen standen mit roten Wangen um sie herum.
Amelia riss den Umschlag auf. Darin waren ihr Scheck, die Blumenbrosche und ein Eisdielenschlüssel.
»Bist du sicher, dass ich das kriegen soll?«, vergewisserte sich Amelia ungläubig. »Hat Molly irgendwas gesagt?«
Heather blickte sie an. »Amelia, ich hab den ganzen Sommer über nicht mit ihr gesprochen. Kein einziges Mal. Letzte Woche hat sie mir einen Zettel hingelegt, auf dem stand, ich soll meine Brosche dalassen. Ich hatte keine Ahnung, wen sie auswählen würde.« Sie zuckte mit den Schultern und legte Amelia ermutigend die Hand auf den Arm. »Auf dem Umschlag steht dein Name. Und die Chancen standen schließlich fifty-fifty, oder etwa nicht?«
Das stimmte zwar, aber für Amelia hatte es sich trotzdem nicht so angefühlt. Seit ihrem ersten Sommer in der Meade Creamery war sie fest davon ausgegangen, dass Cate zur Eisprinzessin ernannt werden würde, wenn es so weit war. Cate, tausendprozentig, aus tausendundeinem Grund. Und Amelia war offenbar nicht die Einzige gewesen. Sie konnte Heather ihre Überraschung am Gesicht ablesen, darüber, dass es so gekommen war, obwohl eindeutig Cate die Witzige von ihnen beiden war, diejenige, um die sich alle anderen scharten.
Jetzt kam Cate angehüpft, die gemerkt haben musste, was los war, und nahm Amelia in den Arm, um ihr zu gratulieren.
Amelia kann sich kaum vorstellen, wie schwer es für Cate gewesen sein muss, sich damit abzufinden, dass sie die Brosche nicht bekommen hat. Und der Gedanke, dass Cate deswegen vielleicht traurig war, und sei es auch nur für eine Millisekunde, versetzt ihr einen Stich. Genau wie Cates aufrichtige Freude in diesem Moment, als sie sich, das Kinn in die Hände gestützt, erwartungsvoll vorbeugt und sie herausfordernd anblickt.
»Die wollte ich eigentlich erst am Eröffnungstag tragen«, versucht Amelia sich herauszuwinden. »Dann passiert ihr bis dahin nichts.«
Cate stöhnt entnervt, rappelt sich hoch und nimmt Amelia die Brosche aus der Hand. »Deine Regentschaft als Eisprinzessin beginnt erst dann, wenn du die Krone aufsetzt.«
Amelia senkt den Kopf, während Cate den glitzernden Anstecker einen Moment lang betrachtet. Kurz darauf spürt sie ein Zupfen am Kragen. »So«, sagt Cate zufrieden. »Jetzt ist es offiziell.«
»Eigentlich hättest du es werden müssen«, protestiert Amelia wie schon unzählige Male zuvor, seit sie die Brosche bekommen hat. Cate wartet dann meistens geduldig ab, bis Amelia sich ihr schlechtes Gewissen von der Seele geredet hat, und danach geht es ihr jedes Mal besser. Als hätte sie etwas ausgesprochen, von dem sie beide insgeheim wissen, dass es wahr ist.
Diesmal jedoch schneidet Cate ihr das Wort ab. »Fang heute mal nicht davon an.« Sie schiebt Amelia vor den Spiegel. »Na, was meinst du?«
Amelia wirft ihr einen Blick über die Schulter zu. Sie weiß genau, dass sie in ihrem Leben keine bessere Freundin finden wird als Cate Kopernick.
Cate schnappt sich Amelias zwei Zöpfe wie einen Lenker und dreht sie daran zum Spiegel um. »Du siehst super aus«, sagt sie und tritt zur Seite, bis sie selbst nicht mehr im Bild ist. »Genau wie Frankie Ko.«
Amelia lacht, als wollte sie sagen: na klar, aber dann betrachtet sie schließlich doch ihr Spiegelbild, oder eher das der Brosche. So klein sie auch sein mag, ihr Funkeln ist wunderschön.
Von außen macht die Meade Creamery nicht sonderlich viel her, erst recht nicht außerhalb der Saison, wenn die beiden Verkaufsfenster mit Sperrholz vernagelt sind, die Picknicktische nicht draußen stehen und der Parkplatz mit einer schweren Eisenkette abgesperrt ist. Tatsächlich ist die Eisdiele kaum mehr als eine Bretterbude, eine weiße Miniaturausgabe des Farmhauses inmitten der zugewucherten Kuhweiden im Hintergrund, mit nichts als drei dicken Kabeln, die sie vom nächstgelegenen Strommast aus mit Elektrizität versorgen. Aber für Amelia und die meisten anderen in der Stadt ist sie ein ganz besonderer Ort.
Amelia steigt von ihrem himmelblauen Fahrrad und duckt sich unter der Parkplatzabsperrung hindurch. Hinter ihr hupt es. Ein hochglanzpolierter schwarzer SUV mit vollem Dachgepäckträger und auswärtigem Kennzeichen hält am Straßenrand. Vermutlich Feriengäste, die bloß kurz in Sand Lake haltmachen, bevor sie weiterfahren zu anderen, größeren Seen — auf denen Jetskis und Rennboote erlaubt sind und wo man Ferienhäuser direkt am Ufer mieten kann.
Drinnen wird die Musik leiser gedreht und kurz darauf das Fenster runtergefahren. Dahinter kommt eine Frau mit einer überdimensionalen Sonnenbrille im Haar zum Vorschein. »Hallo, Entschuldigung! Ich weiß, es ist noch ein bisschen früh am Morgen für Eis, aber wir träumen alle schon seit letztem Sommer davon.«
Amelia muss grinsen. Diese Vorfreude kann sie absolut nachvollziehen. Sie kann es ja selbst kaum erwarten, sich endlich wieder die vier Eiscremesorten auf der Zunge zergehen zu lassen — Vanille, Schokolade, Erdbeer und schließlich den Bestseller, die einzigartige, mit nichts vergleichbare Eigenkreation der Creamery namens Home Sweet Home. »Tut mir leid, aber wir öffnen erst am Samstag wieder.«
Die Frau winkt Amelia näher heran. »Na ja … könntest du für uns nicht vielleicht eine kleine Ausnahme machen, Schätzchen? Es würde sich auch für dich lohnen.« Ihre drei Kinder auf dem Rücksitz sehen gespannt von ihren Handys auf, genau wie der Mann auf dem Beifahrersitz von seinem Tablet.
Cate würde jetzt ganz sicher irgendwas Verrücktes sagen, wie Fünfzig Dollar, nur um zu sehen, was passiert. Aber Amelia schüttelt den Kopf. »Tut mir wirklich sehr leid, Ma’am, ich würde Ihnen gern Eis verkaufen, aber es geht nicht.« Und dann fügt sie auch noch hinzu: »Dafür könnte ich nämlich gefeuert werden«, obwohl sie selbst die Teamleiterin ist.
Die Frau wirkt jedoch nicht verärgert, sondern nickt verständnisvoll, beinahe anerkennend, als hätte Amelia sie soeben in ihrer Meinung über die Eisdiele und die Menschen, die dort arbeiten, bestätigt. »Na gut, einen Versuch war’s wert. Stimmt’s?«, sagt sie freundlich und schiebt sich die Sonnenbrille zurück über die Augen. »Dann bis Samstag also!«
Amelia blickt dem SUV nach und weiß, dass die Frau es ernst meint. Von der ersten Juni- bis zur letzten Augustwoche werden die Leute, Touristen wie Einheimische, wie immer für Molly Meades hausgemachtes Eis Schlange stehen und die Autos eine halbe Meile weit am Straßenrand parken.
Noch zwei Tage bis zur Eröffnung.
Amelia wendet sich wieder der Eisdiele zu, und ihre Nervosität weicht einem neuen Gefühl — Entschlossenheit. Mit einem Blick registriert sie, was noch alles erledigt werden muss: Rasenmähen, Unkraut zupfen, der Bude einen frischen Anstrich verpassen. Bis die anderen Mädchen kommen, dauert es noch ein paar Stunden, also kann sie genauso gut schon mal loslegen. Je mehr sie jetzt allein wegschafft, desto entspannter wird die Atmosphäre sein und umso weniger wird sie später, nach der Begrüßung mit den Blaubeermuffins, delegieren müssen.
Sie zieht den Schlüssel aus der Tasche und geht ein Stück um das Gebäude herum. Überrascht stellt sie fest, dass die Tür bereits auf ist — jemand hat einen Ziegelstein in den Spalt gelegt, um sie am Zufallen zu hindern. Ein paar Schritte weiter entdeckt sie Molly Meades rosa Cadillac. Der Kofferraum steht offen. Amelia bleibt stehen, wischt sich die Hände an ihren Shorts ab und vergewissert sich, dass ihr Poloshirt ordentlich im Hosenbund steckt.
Zwar stellt Molly noch immer jeden Sommer höchstpersönlich ihre Eiscreme her, trotzdem bekommt man sie in Sand Lake kaum je zu Gesicht, nicht mal ihre Angestellten. Den Nachschub liefert sie normalerweise außerhalb der Öffnungszeiten, und wenn sie etwas möchte, ruft sie an und verlangt, die Teamleiterin zu sprechen. Die Mädchen betrachten das im Allgemeinen als weiteren Vorteil des Jobs, denn die Arbeit ist gleich viel angenehmer, wenn einem nicht ständig ein Erwachsener über die Schulter schaut. In der Meade Creamery haben sie allein das Sagen.
Auf Zehenspitzen schleicht Amelia sich näher. Die Motorhaube des Wagens ist von einer gelben Decke aus Blütenstaub bedeckt, als wäre das Auto den ganzen Frühling über kaum bewegt worden. Sie wirft einen Blick in den offenen Kofferraum und erkennt, dass Molly gerade beim Ausladen sein muss — links ist schon alles leer geräumt, während rechts noch sechs Papptrommeln voller Eis warten, auf denen in Mollys zittriger Handschrift die Sorten vermerkt sind.
Amelia wirft einen Blick auf ihre Handyuhr. Molly hat sicher nicht damit gerechnet, dass eins der Mädchen so früh aufkreuzen würde. Ob es ihr wohl lieber wäre, wenn Amelia sich noch mal verdrückt? Oder hätte sie gern Hilfe beim Reintragen? Schließlich sind diese Eiscremetrommeln alles andere als leicht. Vielleicht sollte Amelia die Gelegenheit nutzen, um Molly zu versichern, dass sie sich jederzeit an sie wenden kann, wenn sie diesen Sommer irgendetwas brauchen sollte. In ihrem Alter kann Molly doch sicher ein bisschen Unterstützung gebrauchen. Aber was, wenn das irgendwie unverschämt rüberkommt und sie dann beleidigt ist?
Amelia reibt sich den Nacken. Da ist sie gerade mal seit ein paar Stunden Teamleiterin, und schon droht ihr alles über den Kopf zu wachsen.
Sie beißt sich nachdenklich auf den Zeigefinger, bevor sie endlich den Mut fasst, zum Kofferraum zu gehen. Molly hat zumindest ein Dankeschön verdient, beschließt sie. Immerhin hat sie Amelia, wenn auch eher indirekt, die vier schönsten Sommer ihres Lebens beschert.
Sie streckt die Hände nach einer Trommel Home Sweet Home aus, um sie aus dem Kofferraum zu heben, doch die Pappe gibt unerwartet nach und der Deckel schießt hoch wie ein Korken. Ein blassgelber Schwall schwappt über den Rand und überzieht Amelias Hände sowie den gesamten Kofferraumboden mit geschmolzener, lauwarmer Eiscreme.
Amelia verzieht das Gesicht und unterdrückt ein Würgen, als ihr ein unangenehm süß-säuerlicher Geruch in die Nase steigt. Als hätte das Eis stundenlang in der Sonne gestanden.
Wenn nicht sogar tagelang.
Plötzlich schlägt ihr das Herz bis zum Hals. Sie wirft einen Blick zurück zur offenen Eisdielentür und stellt ganz langsam die klebrige Papptrommel auf den Boden.
Dann rennt sie los.